Bachmanns Erzählung Ein Wildermuth unterzieht die historische Situation der Rechtsprechung in der Nachkriegszeit einer kritischen Reflexion. Der Gerichtsprozess um den Mordfall Wildermuth wird als prekäres und instabiles Gefüge erzählt, und zugleich verweisen die Reflexionen des Richters auf die Probleme der Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Der Aufsatz geht diesen rechtsgeschichtlichen Bezügen anhand der österreichischen Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen bis 1961 nach und rückt das Motiv der Erschöpfung als zentrale zeitdiagnostische Bewegung der Erzählung in den Mittelpunkt: Der Zusammenbruch des Richters und die Unterbrechung des Prozesses reflektieren indirekt die monströse Qualität des NS und seine ideologische Persistenz in der Nachkriegsgesellschaft. Das Motiv der Erschöpfung zeigt sich so als literarisches Symptom einer allgemeineren Krise von Rechts- und Urteilspraktiken.
Bachmann’s short story Ein Wildermuth develops a critical perspective on jurisdiction in the postwar period. The narrator presents the murder case-trial as an unstable structure and, at the same time, implicitly refers to the problems of ‚coming to terms with the past‘ (Aufarbeitung) with regards to the crimes of National Socialism. The essay analyzes these historical traits with regard to the NS-related legal history of the time until 1961, centering the motif of exhaustion as the focal point of Bachmann’s diagnosis: In Ein Wildermuth, the collapse of the judge and the interruption of the trial indirectly reflect the monstrosity of mass crimes as well as the ideological continuity of the NS regime in post-war society. From this perspective, the motif of exhaustion has to be read as the literary symptom of a crisis of law and judgement in general.
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Bachmann, Ingeborg (1978 [1953]): Früher Mittag, in Bachmann, Ingeborg: Werke, Bd. 1, Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. Hg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München/Zürich: Piper, S. 44 f.
Bachmann, Ingeborg (1978 [1961]): Ein Wildermuth, in Bachmann, Ingeborg: Werke, Bd. 2, Erzählungen. Hg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München/ Zürich: Piper, S. 214–252.
Bachmann, Ingeborg (1978 [1961a]): Unter Mördern und Irren, in Bachmann, Ingeborg: Werke, Bd. 2, Erzählungen. Hg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München/Zürich: Piper, S. 159–186.
Bachmann, Ingeborg (1978 [1964]): Ein Ort für Zufälle. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, in Bachmann, Ingeborg: Werke, Bd. 4, Essays. Reden. Vermischte Schriften. Hg. von Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München/Zürich: Piper, S. 278–293.
Bartsch, Kurt (1982): „Geschichtliche Erfahrungen in der Prosa von Bachmann. Am Beispiel der Erzählungen ‚Jugend in einer österreichischen Stadt‘ und ‚Unter Mördern und Irren‘“, in: Hans Höller (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann. Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. München/Wien: Löcker, S. 111–124.
Benjamin, Walter (1991 [1921]): Zur Kritik der Gewalt, in Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Aufsätze. Essays. Vorträge. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 179–203.
BGBl 123/1957: Verordnung der Bundesregierung vom 4. Juni 1957 zur Durchführung der NS-Amnestie, in: Bundesgesetzblatt, S. 772.
Botz, Gerhard (1993): „Historische Brüche und Kontinuitäten als Herausforderungen – Ingeborg Bachmann und post-katastrophische Geschichtsmentalitäten in Österreich“, in: Dirk Göttsche/Hubert Ohl (Hg.): Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposium Münster 1991. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 199–214.
Brünger, Sebastian (2017): Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit. Göttingen: Wallstein.
Gehle, Holger (1995): NS-Zeit und literarische Gegenwart bei Ingeborg Bachmann. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.
Gölz, Sabine (1992): „Buttons“, in: Substance. A Review of Theory and Literary Criticism 68, S. 77–90.
Kuretsidis-Haider, Claudia (2001): „Der Fall Engerau und die Nachkriegsgerichtsbarkeit. Überlegungen zum Stellenwert der Engerau-Prozesse in der österreichischen Nachkriegsjustizgeschichte“, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien, S. 67–90.
Meyer, Imke (1998): „‚Ein Schandgesetz erkennt man, nach dem alles angerichtet ist‘: Täter-Opfer-Konstellationen in Ingeborg Bachmanns Erzählung ‚Unter Mördern und Irren‘“, in: Modern Austrian Literature 31, Nr. 1, S. 39–55.
Müller-Dietz, Heinz (2003): „Der Richter und die Wahrheit – Eine Reminiszenz an Ingeborg Bachmanns Erzählung ‚Ein Wildermuth‘“, in: Hermann Weber (Hg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Berlin: BWV, S. 145–156.
Ohler, Wolfgang (1998): „Wahrheit als Geschichte. Eine prozessuale Alternative zum Aufschrei des Richters Wildermuth“, in: Heike Jung (Hg.): Das Recht und die schönen Künste. Heinz Müller-Dietz zum 65. Geburtstag. Baden-Baden: Nomos VG, S. 63–75.
Radbruch, Gustav (1946): „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung. Jg. 1, Nr. 5, S. 105–108.
Schmitz-Emans, Monika (1995): Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München: Fink.
Schneider, Jost (1999): Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns. Erzählstil und Engagement in Das dreißigste Jahr, Malina und Simultan. Bielefeld: Aisthesis.
Stadler, Wolfgang (2007): „… Juristisch bin ich nicht zu fassen.“ Die Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwälte 1945–1955. Wien/Zürich: LIT.
Töller, Ursula (1998): Erinnern und Erzählen. Studie zu Ingeborg Bachmanns Erzählband „Das dreißigste Jahr“. Berlin: Erisch Schmidt.
Vismann, Cornelia (2011): Medien der Rechtsprechung. Hg. Von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski. Frankfurt/M.: S. Fischer.
Weigel, Sigrid (1999): Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien: Paul Zsolnay.
Wolf, Christa (1989 [1966]): „Die zumutbare Wahrheit. Prosa der Ingeborg Bachmann“, in: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. München/Zürich: Piper, S. 96–107.
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Bachmanns Erzählung Ein Wildermuth unterzieht die historische Situation der Rechtsprechung in der Nachkriegszeit einer kritischen Reflexion. Der Gerichtsprozess um den Mordfall Wildermuth wird als prekäres und instabiles Gefüge erzählt, und zugleich verweisen die Reflexionen des Richters auf die Probleme der Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Der Aufsatz geht diesen rechtsgeschichtlichen Bezügen anhand der österreichischen Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen bis 1961 nach und rückt das Motiv der Erschöpfung als zentrale zeitdiagnostische Bewegung der Erzählung in den Mittelpunkt: Der Zusammenbruch des Richters und die Unterbrechung des Prozesses reflektieren indirekt die monströse Qualität des NS und seine ideologische Persistenz in der Nachkriegsgesellschaft. Das Motiv der Erschöpfung zeigt sich so als literarisches Symptom einer allgemeineren Krise von Rechts- und Urteilspraktiken.
Bachmann’s short story Ein Wildermuth develops a critical perspective on jurisdiction in the postwar period. The narrator presents the murder case-trial as an unstable structure and, at the same time, implicitly refers to the problems of ‚coming to terms with the past‘ (Aufarbeitung) with regards to the crimes of National Socialism. The essay analyzes these historical traits with regard to the NS-related legal history of the time until 1961, centering the motif of exhaustion as the focal point of Bachmann’s diagnosis: In Ein Wildermuth, the collapse of the judge and the interruption of the trial indirectly reflect the monstrosity of mass crimes as well as the ideological continuity of the NS regime in post-war society. From this perspective, the motif of exhaustion has to be read as the literary symptom of a crisis of law and judgement in general.
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