Zur Medizingeschichte im Dritten Reich gibt es reichlich Literatur, doch diese Studie geht neue Wege: Sie analysiert erstmalig im Rahmen einer umfassenden Längsstudie die Entwicklung des Gesundheitswesens von 1920 bis 1956 am Beispiel des Saargebietes und Saarlandes und zeigt während dieses Zeitraums erstens die Veränderungen und auch die Kontinuitäten der Strukturen und deren Funktionsträger, zweitens die gesetzlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung und drittens die Rolle der ärztlichen Standesvertretungen im Kontext zu den machtpolitischen Verhältnissen. Für die Zeit des Nationalsozialismus konnte die Studie mit Hilfe der im Auftrag der Autorin digitalisierten Kartei der Reichsärztekammer vom Gau Westmark aus dem Jahr 1944 die Analyse der Strukturen und der Funktionsträger über das Saarland hinaus auf den Gau Westmark ausgedehnt werden. Dadurch wurden auch das Ausmaß der während dieser Zeit begangenen Medizinverbrechen und deren verwaltungsmäßige Organisation besser sichtbar. Inwieweit und ob überhaupt die Mehrzahl der Ärzte gegen ihren ärztlichen Auftrag nicht nur Instrument, sondern auch Komplizen der menschenverachtenden NS-Politik waren, ist innerhalb der Ärzteschaft immer noch heftig umstritten. Mit dieser Frage werden unmittelbar die Identität und das politisch-moralische Gedächtnis einer ganzen Ärztegeneration berührt. Sehr sachlich zeigt Gisela Tascher auf, dass 75 % der Ärzte des Saarlandes und 78 % der Ärzte der Pfalz mit ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP oder in einem der NSDAP angeschlossenen Verbände (aus welchen Gründen auch immer, ob aus Überzeugung, Opportunismus, Karrierestreben oder Anpassung) das totalitäre System der NS-Diktatur mitgetragen haben. Auf der Basis von unveröffentlichten und neu aufgefundenen Quellen und anhand einer detaillierten Schilderung und Aufarbeitung der Karrieren einer großen Anzahl nicht nur spezifisch ärztlicher Persönlichkeiten zeigt die Autorin, wie die ärztliche Berufsausübung und damit das Arzt - Patientenverhältnis missbräuchlich für machtpolitische Zwecke des Staates oder einer Partei instrumentalisiert werden kann eine Gefahr, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Ergänzend dazu wird den jüdischen Ärzten des Saarlandes, die während der NS-Diktatur ausgegrenzt, vertrieben und vernichtet wurden, durch die Beschreibung der Lebenswege ein Denkmal gesetzt. Autorin: Gisela Tascher wurde mit dem Thema Die Entwicklung des Gesundheitswesens im Saargebiet und Saarland von 1920-1956 im Spiegel der machtpolitischen Verhältnisse im Dezember 2007 am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg bei Prof. Dr. W. U. Eckart promoviert. Die ergänzte und überarbeitete Fassung ihrer Promotionsarbeit wird im Juli 2010 beim Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, unter dem Titel Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920-1956 - Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland veröffentlicht werden. Im Rahmen ihrer Arbeit hat sie sich schwerpunktmäßig mit folgenden Fragen beschäftigt: Wie wurde die ärztliche bzw. zahnärztliche Berufsausübung vor, während und nach der NS-Diktatur machtpolitisch und ideologisch beeinflusst? Welche Rolle spielten dabei die ärztlichen bzw. zahnärztlichen Standesvertretungen? Welche Konsequenzen hatte diese Einflussnahme auf das ärztliche Therapieverhalten, auf die ärztliche Ethik und das Arzt- Patientenverhältnis? Wie steht diese Entwicklung im Kontext zur heutigen Gesundheitspolitik? Welche strukturellen, ideologischen und personellen Kontinuitäten gab es? Wie kann man durch diese historische Betrachtung ethische Grenzen im medizinischen Handeln aufzeigen? usw. Sie arbeitet als niedergelassene Zahnärztin im Saarland und hat bisher zu dieser Thematik mehrere Aufsätze veröffentlicht und Vorträge gehalten. Sie ist Mitglied des Ethikausschusses der Ärztekammer des Saarlandes und des Arbeitskreises Ethik der Deutschen Gesellschaft für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde.