Der Wahn vor der Zeit des Wahnsinns war Wissensform und Mittel der Selbsterkenntnis, Begründung einer Poetik des Wirklichen und Bedingung von gesellschaftlicher Kommunikation.
Vor 1800, der Zeit vor dem Wahnsinn, ist im Begriff »Wahn« die Perspektivität der Wahrnehmung, die Aspekthaftigkeit der Wirklichkeit und die Zeitlichkeit der Dinge gefasst. In Verbindung mit dem »Witz«, dem intellektuellen Scharfsinn, wird der Wahn zu einem Instrument des kreativen Imaginierens, der Erkenntnis und Weltdeutung sowie der Selbstrefl exion. Sein Medium ist die Sprache, in erster Linie dann auch die verschriftlichte Sprache. So lässt sich eine Wahn-Poetik erkennen, die eng mit Imaginations- und Wirklichkeitskonzepten sowie Wissensund Gesprächskulturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verbunden ist.
Copyright Year:
2021
Before 1800, the German word ‘Wahn’, today associated with ‘Wahnsinn’ (madness), was situated in a quite different semantic field: In a more positive or neutral sense it reflected the perspectivity and the fragmentarity of human perception. Thus, it has been established as a central concept for premodern understanding of subjectivity, poetics, epistemology, social performance and communication as well as conceptualizations of truth.
Nina Nowakowski ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Gebiet der Älteren deutschen Literatur und Kultur an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Mireille Schnyder ist Professorin für Ältere deutsche Literaturwissenschaft (bis 1700) an der Universität Zürich.