Die ‚klassische‘ französische Tragödie des 17. Jahrhunderts ist als Liebestragödie zu begreifen, in der (partnerschaftliche) Liebe erstmals wesensbestimmende Funktionen für die Konzeption von Handlungen und Figuren übernimmt. Nicht zufällig koinzidiert dies historisch mit fundamentalen Veränderungen der Geschlechterordnung, in deren Zuge sich ein dezidiert galantes Theaterpublikum herausbildet. Gattungsgenealogisch ist mit der Liebestragödie indes ein erhebliches Problem aufgeworfen, insofern sie in ein Spannungsverhältnis zum antiken Gattungsmodell tritt, das keine Liebestragödie im eigentlichen Sinne kennt. Die tradierte Bindung der Tragödie an einen Begriff ‚starker‘ Männlichkeit wird kategorisch aufgesprengt, um neue ‒ männliche und weibliche ‒ Handlungsspielräume auszuloten. Die Liebestragödie wird damit als genuiner Beitrag Frankreichs zur Gattungsgeschichte der Tragödie und zugleich als privilegierter Ort der Verhandlung gesellschafts- und geschlechterpolitischer Fragen lesbar.
Copyright Year:
2024
In French seventeenth-century tragedy, love ‒ for the first time in the history of the genre ‒ plays a pivotal role in the conception of action and characters. By coming into tension with the ancient idea of tragedy, the French love tragedy explores new dimensions of (both male and female) heroism and becomes a privileged place for the discussion gender-political questions.
Hendrik Schlieper ist Juniorprofessor für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn. Seine Forschung konzentriert sich auf die romanischen Literaturen und Kulturen seit der Frühen Neuzeit mit methodischen Schwerpunkten in den Gender Studies, den Postcolonial Studies und der Intermedialitätsforschung.