Ökumene in Zeiten exklusiver Wahrheitsansprüche
Das Leben im Geist der Ökumene zeichnet sich in Denken und Handeln dadurch aus, dass es konfessionelle Unterschiede in eine neue – diese Unterschiede transzendierende – Perspektive stellt. Dieses Einheitsstreben muss nicht bedeuten, dass Unterschiede am Ende negiert und in einer »höheren« Einheit aufgelöst werden. Im Gegenteil: Wie die Entwicklungen in der Ökumene der vergangenen Jahrzehnte zeigen, haben sich jene Einheitsmodelle nicht bewährt, die entweder auf eine »Rückkehr« zielen, die einseitig die Anerkennung der »Häresie« der eigenen Auffassungen zur Voraussetzung hat, oder aber die eine »organische Union« anstreben, die von beiden Seiten den Verzicht auf die Beibehaltung konfessioneller Besonderheiten und die Neuformulierung eines Konsenses jenseits kontroverser Fragen verlangt.
Bewährt und weithin durchgesetzt hat sich vielmehr der Gedanke einer »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«, der bei dem im Dialog gewonnenen gemeinsamen Glaubensverständnis Raum für konfessionell eigentümliche Entfaltungen lässt.1 Als Konsensmodell entspricht ihm der »differenzierte/differenzierende Konsens«,2 der sich gerade dadurch auszeichnet, Unterschiede nicht zu eliminieren, sondern als bleibenden Bestandteil eines gefundenen Konsenses anzuerkennen.3
In ökumenischen Zusammenhängen werden Unterschiede folglich nicht absolut gesetzt und exklusiv interpretiert, sondern als Ausdruck legitimer Verschiedenheit verstanden. Der neuerlich viel diskutierte Ansatz eines »receptive ecumenism« hebt dieses ökumenische Grundverständnis besonders hervor, wenn er Ökumene als »gift exchange« beschreibt – als einen Austausch der Vielfalt konfessioneller Gaben, der in einer vorbehaltlos offenen Haltung von »hospitality« seine Voraussetzung hat.4 Ökumenische Begegnungen kennzeichnet mithin eine Hermeneutik des Vertrauens, nicht eine Hermeneutik des Verdachts
Vor diesem Hintergrund müssen Entwicklungen irritieren, für die gegenläufig zu der skizzierten ökumenischen Offenheit die Betonung der eigenen konfessionellen Identität bis hin zur konfessionellen Selbstabschließung prägend ist. Solche Entwicklungen machen sich gegenwärtig etwa in ökumenischen Dialogen bemerkbar, wenn hier ohne jede Einbeziehung des ökumenischen Gegenübers in seiner historischen und theologischen Eigenart für den eigenen konfessionellen Standpunkt ein alleiniger Wahrheitsanspruch behauptet und aus diesem Grund die Möglichkeit gemeinsamer Aussagen verneint wird. Unter dieser Voraussetzung können Formulierungen, wie sie in Communiqués üblicherweise verwendet werden, wie beispielsweise »Wir stimmen darin überein …« oder »Wir bekennen gemeinsam …«, problematisiert werden, weil sie der konfessionellen Differenz angeblich nicht hinreichend Rechnung tragen.
Gravierender noch als Stimmen dieser Art im ökumenischen Kontext sind Entwicklungen weltweit, die jegliches über die eigenen konfessionellen Grenzen hinausgehendes Engagement kategorisch ablehnen. Eigene Identität wird hier durch radikale Abgrenzung definiert, Ökumene gilt hingegen als Häresie.5 Solche Entwicklungen sind nicht marginaler Art, sie zeigen sich allerorten und nehmen kontinuierlich zu. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass sie in Zukunft die religiöse Landschaft prägen werden.6
Angesichts solcher Zukunftsszenarien kann nicht gleichgültig bleiben, wem an der Ökumene gelegen ist: Ökumene verstanden als eine historisch einmalige Bewegung, die nicht zuletzt in dem durch Krieg, Vertreibung und Vernichtung geprägten 20. Jahrhundert ihre Wurzeln hat und die durch konfessionelle Verständigung ihren Beitrag zu einem friedlichen Miteinander in Kirche und Gesellschaft leisten will. Auf die skizzierten Entwicklungen gilt es deshalb zu reagieren, was dem ökumenischen Selbstverständnis entsprechend nicht anders als durch den möglichst vorurteilsfreien Versuch geschehen kann, diese Entwicklungen genauer in den Blick zu nehmen und sie besser verstehen zu lernen.
Auf diesen Versuch haben sich die Autoren und Autorinnen des vorliegenden Sammelbandes eingelassen und das Phänomen aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. Um dabei die Entwicklungen in all ihrer Disparatheit unter einem Oberthema fassen zu können, wurde der Begriff des »Fundamentalismus« gewählt, auch wenn der Begriff nicht unproblematisch ist.
Fundamentalismus – terminologische Reflexionen
Eine erste Problematik betrifft die Semantik des Begriffes. Der evangelische Theologe Michael Trowitzsch hat sie verdeutlicht, indem er eine scharfzüngig formulierte Glosse provokativ mit dem Titel überschrieben hat: »Ich bin Fundamentalist!« Trowitzsch wirft die Frage auf, ob in dem Begriff »Fundamentalismus« nicht zum Ausdruck kommt, worauf ein jeder angewiesen ist: ein festes Fundament zu haben, verlässliche Überzeugungen, die Halt geben, und ob deshalb der Begriff für die von ihm bezeichneten Phänomene überhaupt angemessen ist. Trowitzsch schreibt:
Ich bin ein Fundamentalist. Wer je in einer Situation war, den Boden unter den Füßen zu verlieren, weiß, wovon ich spreche. Ich hasse sogar Karussells und vereiste Gehwege. Ich bin Fundamentalist. Was ist denn die Alternative? Mach’s mir einmal vor, das Bodenlose. Unter all den unpassenden Wörtern, die im Umlauf sind, ist dies eines der blödesten: ›Fundamentalismus‹. Gemeint ist menschenverachtender Fanatismus und Mordgesinnung. Aber das Wort dafür, ›Fundamentalismus‹, ist semantischer Unfug. Ein diffuses öffentliches Bewusstsein gestattet sich allzu billige, irrige sprachliche Abkürzungen.7
Michael Trowitzsch steht mit seiner Kritik an dem Begriff nicht allein. Über die Semantik hinaus wird als weitere Schwierigkeit seine Komplexität genannt: dass der Begriff verwendet wird, um völlig unterschiedliche, unter einem Begriff kaum fassbare Phänomene zu beschreiben, und dass es ihm deshalb an der nötigen Präzision mangelt. Diese Kritik klingt in mehreren Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes an. Insbesondere tritt sie in dem Beitrag des Religionswissenschaftlers Vasilios N. Makrides zutage, der dem Begriff des »Fundamentalismus« konsequent den Begriff des »Rigorismus« an die Seite stellt, weil sich mit diesem sehr viel genauer zum Ausdruck bringen lasse, was unter »Fundamentalismus« im orthodoxen Kontext zu verstehen sei.
Schließlich lässt die verbreitete polemische Verwendung den Begriff als problematisch erscheinen: dass es sich um ein »dirty 14-letter word« mit »stigmatisierender Wirkung« handelt, das genutzt wird, um Individuen, Gruppen oder Organisationen möglichst nachhaltig zu diskreditieren.8 So werde der Begriff etwa zur pauschalen Abwertung von Muslimen herangezogen, indem jede Türkin mit einem Kopftuch oder jeder Ägypter mit einem Bart als »Fundamentalist« bezeichnet wird. Auch diene er autoritären Regimen als politischer Kampfbegriff, um die Unterdrückung von oppositionellen Bewegungen zu rechtfertigen, bei denen es sich um »Fundamentalisten« handeln soll.
Aufgrund dieser kritischen Einwände wurde in der Forschung immer wieder die Frage aufgeworfen, die auch wir uns im Institut für Ökumenische Forschung in Strasbourg bei der Beschäftigung mit diesem Thema gestellt haben: ob es nicht konsequent wäre, auf die Verwendung des Begriffes gänzlich zu verzichten. Wenn eine möglichst objektive Analyse angestrebt wird, so scheint ein Begriff untauglich, der in der heutigen Verwendung eine Abwertung dessen impliziert, was Untersuchungsgegenstand sein soll.
Will man allerdings auf den Begriff verzichten, so sieht man sich der Schwierigkeit gegenüber, eine geeignete sprachliche Alternative zu finden: Welcher Begriff käme in Frage, um an die Stelle des Begriffes »Fundamentalismus« zu treten?
Der von Michael Trowitzsch genannte Begriff des »Fanatismus« – wie ähnlich auch die Begriffe des »Extremismus« und »Radikalismus« – scheint zwar Phänomene, die üblicherweise als »fundamentalistisch« bezeichnet werden, in Hinsicht auf die Verabsolutierung der vertretenen Ansichten und das inhärente Gewaltpotential treffend zu charakterisieren, allerdings wären mit diesen Begriffen allein die Phänomene unzureichend beschrieben.
Der Begriff »Traditionalismus« weist zwar auf die betonte Rückbindung an bestimmte Überlieferungen hin, impliziert jedoch nicht, dass dies auch zu Gewalt führen kann. Auch lassen sich unter »Traditionalismus« schwerlich jene Strömungen fassen, die sich im Gegensatz zu einer Bindung an die Tradition streng an die Heilige Schrift gewiesen sehen.
Der von Vasilios N. Makrides verwendete Begriff des »Rigorismus« lässt sich aufgrund seiner Verbindung mit einem spezifischen, historisch verankerten orthodoxen Glaubensverständnis nicht einfach auf andere konfessionelle oder religiöse Kontexte übertragen.
Gleiches gilt für den in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägten Begriff des »Integralismus«. Abgesehen davon, dass er nicht weniger polemisch als der Begriff des »Fundamentalismus« konnotiert ist, wird er, wie die römisch-katholische Theologin Sonja Angelika Strube in ihrem Beitrag aufzeigt, in der Regel mit einer bestimmten Form römisch-katholischer Auseinandersetzung mit der Moderne assoziiert. Auch er eignet sich deshalb nicht als generelle Alternative zum Begriff des »Fundamentalismus«.
Vor diesem Hintergrund drängt sich der Begriff des »Fundamentalismus« wieder auf. Für ihn lässt sich immerhin geltend machen, dass er sich als Terminus in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Religionswissenschaft, Soziologie etc.) etabliert hat. Auch ist er historisch klar zu verorten, wie der Beitrag des Kirchenhistorikers Mark Granquist in diesem Sammelband (Abschnitt II) zeigt. Dabei kommt er als Selbstbezeichnung christlicher Gruppierungen von seiner Intention her dem nahe, was Michael Trowitzsch in dem Begriff ausgesagt findet. Mit Recht argumentiert zudem der Religionssoziologe Martin Riesebrodt, dass aus dem unpräzisen und inflationären Gebrauch des Fundamentalismusbegriffs nicht notwendig der Verzicht auf seine wissenschaftliche Verwendung folgen muss. Denn dann, so Riesebrodt, müsste man »gleichermaßen Begriffe wie Kommunismus, Faschismus, Rassismus oder Feminismus ad acta legen, mit denen ja auch … unverantwortlich umgegangen wird.«9 Die missbräuchliche Verwendung kann demnach kein Grund dafür sein, den Begriff des »Fundamentalismus« zu ersetzen, nötig ist vielmehr seine begriffliche Präzisierung.
Fundamentalismus – eine Definition
Eine solche Präzisierung ist in einem aufwendigen Projekt der American Academy of Arts and Sciences (AAAS) unternommen worden. Unter der wissenschaftlichen Leitung des Historikers R. Scott Appleby und des lutherischen Theologen Martin E. Marty sind hier in einem sich über mehrere Jahre erstreckenden Zeitraum (1987–1995) unter Beteiligung internationaler Experten im globalen Maßstab »Familienähnlichkeiten« (Ludwig Wittgenstein) zwischen fundamentalistischen Bewegungen unterschiedlicher Religionen (darunter Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus) untersucht worden. Die Ergebnisse dieser breit angelegten und empirisch gestützten Untersuchung liegen in fünf voluminösen Bänden vor.10
R. Scott Appleby stellt in seinem Beitrag für diesen Sammelband (Abschnitt I) die im Rahmen des Projekts gewonnene elaborierte Definition von »Fundamentalismus« vor – und damit eine der am stärksten rezipierten und auch am meisten diskutierten Thesen zum gesamten Themenkomplex. Wenn diese Definition in dem vorliegenden Sammelband den anderen Beiträgen vorangestellt ist, so soll darin nicht zum Ausdruck kommen, dass ihr die Funktion einer Art Leitdefinition zukommt. Zwar wird in manchen der nachfolgenden Beiträge darauf zurückgegriffen, in anderen Beiträgen wird sie jedoch modifiziert, in wiederum anderen werden ganz eigene Definitionen von »Fundamentalismus« vorgestellt. Wie die Ausführungen von R. Scott Appleby allerdings zeigen, handelt es sich um eine Definition, die aufgrund ihrer differenzierten Begründung auf breiter empirischer Basis zur Kenntnis genommen haben sollte, wer sich mit dem Thema befasst.
Bemerkenswert an dieser Definition erscheint zunächst, dass Fundamentalismus hier nicht auf eine bestimmte konfessionelle oder religiöse Gestalt enggeführt wird, etwa auf einen Fundamentalismus protestantischer Prägung, wie ihn Mark Granquist für das frühe 20. Jahrhundert beschreibt. Denn was für diesen Fundamentalismus charakteristisch ist, wie die Überzeugung von der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift und das Festhalten an bestimmten Glaubenssätzen (Jungfrauengeburt, leibliche Auferstehung Christi, Wiederkunft Christi), trifft auf andere konfessionelle oder religiöse Gestalten nicht zu, die gleichwohl Analogien aufweisen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, hier ebenfalls von »Fundamentalismus« zu sprechen. So lässt sich der Begriff etwa auch auf solche Religionen anwenden, deren Schriften in einem anderen Sinn als heilig gelten, als das in den monotheistischen Religionen der Fall ist (wie z.B. in Hinduismus oder Buddhismus).
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Definition liegt darin, dass Fundamentalismus als Phänomen der Moderne begreifbar wird, als eine religiöse Erscheinung, die in ihrer dezidierten Ausrichtung gegen die Moderne zugleich Ergebnis der Entwicklungen in der Moderne ist. Mit dem Begriff der »Moderne« ist allerdings ein komplexes Themenfeld aufgerufen, weshalb sich bei näherer Beschäftigung mit dem »Fundamentalismus-Projekt« gerade in diesem Zusammenhang Fragen stellen. Plausibel bleibt es dennoch, wenn in dem Projekt der »Fundamentalismus« nicht als Übergangsphänomen beschrieben wird, als ein Restbestand aus vergangenen Zeiten, der sich im Zuge fortschreitender Entwicklung verlieren wird, sondern als ein Signum unserer Gegenwart. So gehören typische Vertreter des Fundamentalismus nicht unbedingt zu Gruppierungen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen. Darunter finden sich vielmehr auch Angehörige gesellschaftlicher Eliten, wie beispielsweise Fachleute moderner Technologien aus dem Ingenieurwesen oder dem IT-Bereich.
Als ein wichtiges Indiz für die Modernitätsthese des Fundamentalismus kann dabei geltend gemacht werden, dass der für fundamentalistische Strömungen charakteristische Rückgriff auf Überlieferungsstücke sich sowohl in der Art und Weise des Rückgriffs als auch in der Auswahl der Themen spiegelbildlich zu einem für die Moderne typischen Verständnis von Pluralismus verhält: dass entgegen einer inkommensurablen Vielfalt von Wahrheitsansprüchen und Lebensentwürfen Unfehlbarkeit für die eigenen Überzeugungen beansprucht wird und gerade jene Themen in den Mittelpunkt gestellt werden, die im religiösen wie gesellschaftlichen Kontext besonders strittig sind. Fundamentalismus ist demnach nicht durch Weltflucht und Abgeschiedenheit gekennzeichnet, sondern ist selbst eine Form von »public religion«, die sich ihren Platz im »public space« durch gezielte Fundamentalopposition zu erobern und zu verteidigen sucht.
Mit Letzterem klingt ein weiterer wichtiger Aspekt der Fundamentalismus-Definition an, der hier abschließend erwähnt sei: das Motiv des Kampfes. Fundamentalistische Gruppierungen sehen sich demnach in eine Situation hineingestellt, in der ein substantieller Verlust droht, gegen den mit aller Macht angegangen werden muss. Dies allerdings geschieht nicht mit einem rückwärtsgewandten Blick in die Vergangenheit, sondern von einer Zukunft her, die Rechenschaft für gegenwärtiges Handeln verlangt. Es ist das in vielen Variationen vorliegende Modell eines Chiliasmus/Millenarismus, das hier maßgeblich ist. Von dieser Zukunftsperspektive her werden Exklusivitätsansprüche und Gewaltanwendung legitimiert.
Fundamentalismus – Phänomene
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes zielen darauf, die Forschungsdiskussion zum Fundamentalismus durch Fallstudien zu erweitern. Mit dem Sammelband wird folglich nicht beansprucht, eine umfassende Bestandsaufnahme aktueller Entwicklungen zu bieten, wohl aber anhand relevanter Fallbeispiele einen differenzierten Blick auf ein weltweit verbreitetes Phänomen in seinen verschiedenen konfessionellen und religiösen Ausprägungen zu ermöglichen.
Eine Gruppe an Beiträgen widmet sich zu diesem Zweck exemplarisch Entwicklungen in verschiedenen geographischen Regionen (Abschnitt III):
Ndanganeni P. Phaswana gibt Einblick in die Situation in Afrika und zeigt am Beispiel Südafrikas die Ambivalenzen dessen auf, was mit guten Gründen als »Fundamentalismus« bezeichnet werden kann. So lassen sich die »Jesus People« von ihren theologischen Überzeugungen her eindeutig als »fundamentalistisch« einordnen, zugleich jedoch gehörte diese Gruppe weißer Südafrikaner zu den erklärten Kritikern des Apartheid-Systems. Dieses System wiederum wurde aus dem Ausland von einflussreichen Personen und Gruppen aus dem fundamentalistischen Spektrum insbesondere der USA unterstützt. Zur Charakterisierung der gegenwärtigen Gestalt verweist Phaswana auf Debatten über moralische Fragen (hier insbesondere zum Thema »Homosexualität«), insbesondere aber auch auf islamistisch motivierte Terrorakte. Aufgrund der zutage tretenden Kompromisslosigkeit und Gewaltbereitschaft attestiert Ndanganeni P. Phasawana dem Fundamentalismus, »Afrikas Plage« zu sein.
Sivin Kit lenkt den Blick auf Asien und macht deutlich, wie komplex sich in dieser multiethnischen und multireligiösen Weltregion mit einer hohen sozialen und politischen Dynamik das Thema »Fundamentalismus« darstellt. Er konzentriert sich auf Myanmar, Malaysia und Südkorea als Länder mit einer religiös und politisch stark voneinander abweichenden Ausgangslage. Angesichts auch heute noch verbreiteter Vorstellungen von einer ausgeprägten Friedfertigkeit asiatischer Religionen erscheint insbesondere die Darstellung der Rohingya-Krise in Myanmar aufschlussreich – als Beispiel dafür, wie Gewalt im Namen des Buddhismus gerechtfertigt wird.
Europa schließlich steht im Mittelpunkt des Beitrages von Gisa Bauer. Sie weist darin einerseits auf die internationalen Verflechtungen fundamentalistischer Bewegungen hin, die sich im Sinne einer »politisierten Religion« auch über konfessionelle Grenzen hinweg zur Verteidigung gemeinsamer Werte zusammenschließen können. Die Kampagne gegen die Frauenordination in Lettland stellt hier ein illustratives Beispiel dar. Andererseits verdeutlicht Gisa Bauer die Besonderheit des in Europa begegnenden Fundamentalismus und führt sie auf die spezifischen historischen Bedingungen – mit bis heute prägenden staatskirchlichen Strukturen – zurück. Diese Form des Fundamentalismus gelte es genauer in den Blick zu nehmen und damit die im »Fundamentalismus-Projekt« aufgestellte These eines »fundamentalismusschwachen Gürtels« in Europa einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Eine weitere Gruppe an Beiträgen befasst sich mit dem Fundamentalismus unter dem Gesichtspunkt seiner Ausprägung in verschiedenen Religionen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Christentum in unterschiedlicher konfessioneller Gestalt (Abschnitt IV).
Von fundamentalistischen Tendenzen im römischen Katholizismus handelt der Beitrag von Sonja Angelika Strube. Sie weist darauf hin, dass der Ausgangspunkt hier ein anderer als bei der Untersuchung eines biblizistisch ausgerichteten protestantischen Fundamentalismus sein muss, dass hier vielmehr ein »Traditionalismus« im Mittelpunkt steht, der, wie sie am Beispiel der Piusbruderschaft St. Pius X. (FSSPX) erläutert, auf die »pianische Epoche« und den sie grundierenden Antimodernismus zurückgreift. Als wichtige Ursache für Fundamentalismus im religiösen wie im politischen Kontext macht sie dabei einen von ihr genauer beschriebenen »Autoritarismus« geltend.
Der Protestantismus ist Schwerpunkt in dem Beitrag von David Bouillon. Dieser Beitrag stellt insofern eine Besonderheit dar, als David Bouillon hier begründet, warum er sich selbst in einer gewissen Nähe zu Strömungen sieht, die als »fundamentalistisch« bezeichnet werden. Im Zentrum stehen für ihn dabei Fragen biblischer Hermeneutik, der Konflikt zwischen einer historisch-kritischen und einer geistgeleiteten Exegese, der sich nicht einfach auflösen lasse. In seiner Analyse der in Belgien, Frankreich und der Schweiz geführten Debatten macht er eine auf Abgrenzung (»Kampf«) setzende Rhetorik auf der Seite derjenigen aus, die fundamentalistische Gruppierungen für diese Art der Rhetorik kritisieren. Einerseits gehe es um die Marginalisierung von fundamentalistischen Tendenzen, andererseits finde eine permanente Auseinandersetzung mit diesen statt. Die hier zutage tretende Widersprüchlichkeit liegt Bouillon zufolge darin begründet, dass die Abgrenzung vom Fundamentalismus für die Kritiker des Fundamentalismus in den Prozess der eigenen Identitätsfindung gehört.
Die oft – wie beispielsweise auch im »Fundamentalismus-Projekt« – unterschätzte Bedeutung von »Rigorismus/Fundamentalismus« für den orthodoxen Kontext legt Vasilios N. Makrides in seinem Beitrag dar. Ihm geht es darum aufzuzeigen, wie durch ein spezifisches, im Begriff der »Orthodoxie« (im Sinne von exklusiver »Rechtgläubigkeit«) liegendes Verständnis bereits historisch eine fundamentalistische Tendenz angelegt ist, die sich bis in die Gegenwart hält, und wie es in diesem Zusammenhang zu Vereinseitigungen (»Hyper-Orthodoxie«) kommt, die zu massiven innerorthodoxen Konflikten führen. Trotz der betonten Exklusivität sind transkonfessionelle Überschneidungen allerdings nicht ausgeschlossen. Sie treten etwa darin zutage, dass, wie Vasilios N. Makrides beschreibt, in den sich betont orthodox verstehenden Kreisen auf Literatur zurückgegriffen wird, die gleichfalls in fundamentalistischen Kreisen protestantischer Herkunft rezipiert wird.
Der Band schließt mit zwei Beiträgen zum islamischen Fundamentalismus (Abschnitt V).
Ghassan el Masri zeigt in seiner Analyse die komplexen ideologischen Entwicklungen (von säkular-sozialistischen bis hin zu theopolitisch-apokalyptischen Ansätzen) auf, die der Gründung des Islamischen Staates (IS) vorangegangen sind und seine Ausrichtung geprägt haben. Die Kernthese lautet dabei, dass sich im Zuge der geschichtlichen Entwicklung bis hin zur Gründung des IS die Neukonzeption einer sunnitischen Eschatologie herausgebildet hat, die eine eigene politische Vision für den Nahen Osten formuliert und damit in Konkurrenz zu anderen islamischen wie christlichen Eschatologien tritt. Fundamentalismus in diesem Kontext bedeutet Ghassan el Masri zufolge die Verbindung eines wörtlichen Schriftverständnisses und eines historistischen Zugangs mit einer spezifischen eschatologischen Ausrichtung, wobei Gewaltanwendung nicht einen peripheren Aspekt darstelle, sondern ein konstitutives Element.
Alexi Chehadeh legt in seinem Beitrag den Schwerpunkt auf den Sudan als einen erst im 20. Jahrhundert gegründeten sunnitisch-islamistischen Staat. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen die Anschauungen des Staatsgründers Ḥasan Abdallah at-Turābī – welches Konzept einer islamischen Gesellschaft dieser hat, wie er das Verhältnis von Politik und Religion bestimmt, welche Rechte er Andersgläubigen zugesteht. Alexi Chehadehs besonderes Interesse gilt dabei der Frage, welche Dialogmöglichkeiten im Rahmen des von at-Turābī formulierten Ansatzes bestehen. Sein Ergebnis ist ernüchternd: Zugestanden werde allein ein »informativer Dialog«, der über die Richtigkeit der eigenen Anschauungen belehrt.
Fundamentalismus als ökumenische
Herausforderung – Handlungsoptionen
Wie die Beiträge dieses Sammelbandes anschaulich vor Augen führen, stellt der Fundamentalismus einen summarischen Begriff für eine komplexe Vielfalt religiöser Gegenwartsphänomene weltweit dar, die strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen.
Ökumenisch besteht die erste Herausforderung durch den Fundamentalismus deshalb darin, diese Phänomene möglichst genau zu beschreiben. Weil sie sich bei näherer Betrachtung als ein »moving target« darstellen, gilt es die jeweiligen Spezifika herauszuarbeiten. So macht es für eine ökumenische Begegnung einen erheblichen Unterschied, ob sich das Gegenüber einem biblizistischen Schriftverständnis, einem lehramtlichen Traditionalismus oder einem ethischen Rigorismus verpflichtet weiß. Auch ist von zentraler Bedeutung, ob der zutage tretende Fundamentalismus vor allem auf religiöse Motive zurückzuführen ist oder aber ökonomische, soziale und politische Faktoren ausschlaggebend sind: Wenn sich ein Fundamentalismus aus einem bestimmten konfessionellen Selbstverständnis heraus entwickelt, wie es Vasilios N. Makrides für Strömungen innerhalb der Orthodoxie beschreibt, stellt sich die Lage anders dar, als wenn massive Gewalterfahrungen im Hintergrund stehen, wie sie Ghassan el Masri für die Genese des Islamischen Staates namhaft macht. Auch wenn folglich beim Fundamentalismus als einer »politisierten Religion« religiöse und politische Dimension stets eng verquickt sind, so hindert das nicht, ja verlangt vielmehr, dass im Bemühen um ökumenische Verständigung jeweils geklärt wird, auf welchem Feld man sich bewegt und ob das Problem überhaupt ökumenischer Natur ist. Einen genaueren Einblick in fundamentalistische Strömungen zu gewinnen, ihre Argumentationsstrategien und ihre Beweggründe besser verstehen zu lernen, ihre Bedeutung realistischer einzuschätzen, ohne sich hierbei von der von Sonja Angelika Strube benannten Tendenz zur »Kunstrasenbewegung« zu irrtümlichen Schlüssen verleiten zu lassen, das ist ein erster Schritt.
Im ökumenischen Kontext kann es dabei jedoch nicht bleiben. Wenn denn Ökumene bedeutet, eine Art kategorischer Imperativ zum Dialog zu sein, dann muss als nächster Schritt folgen, das direkte Gespräch mit fundamentalistischen Gruppen zu suchen. Wie die vorliegenden Beiträge zeigen, muss es um die Gesprächsaussichten dabei nicht unbedingt schlecht bestellt sein. Denn anders als von dem orthodoxen Theologen Vasilios Thermos, der jede Form von Fundamentalismus für pathologisch hält,11 wird in den Beiträgen den beschriebenen fundamentalistischen Strömungen die Rationalität der Argumentation nicht gänzlich abgesprochen. Mit George M. Marsden lässt sich der Fundamentalismus danach vielmehr als ein anti-intellektuelles Phänomen mit durchaus intellektuellem Anspruch interpretieren.12
Die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn auf der einen Seite nur ein »informativer Dialog« angestrebt wird, hat Alexi Chehadeh in seinem Beitrag deutlich gemacht.
Andererseits haben in den Anfängen der Ökumene selbst nicht wenige Dialoge stattgefunden, die allein den Zweck verfolgten, den Dialogpartner zu »informieren«. Erst im Zuge oft langjähriger Kontakte sind daraus Dialoge geworden, die ganz anderen Paradigmen folgen und gemeinsamer ökumenischer Verständigung dienen. Insofern kann die Geschichte der Ökumene selbst Anlass zu Hoffnung geben und das Engagement beflügeln, sich auf unwegsames Gelände zu begeben und das Gespräch mit jenen zu suchen, die meinen zu wissen, warum für sie ein ökumenisches Gespräch nicht in Frage kommt.13
Bibliographie
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– Meyer, H. (2000): Die Prägung einer Formel. Ursprung und Intention, in: Wagner, H. (ED.): Einheit – aber wie? Zur Tragfähigkeit der ökumenischen Formel vom »differenzierten Konsens«, Quaestiones Disputatae 184, Freiburg i.Br. et al. 2000, S. 36–58.
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– Rahner, J.: Paradigmenwechsel? Ökumene vor neuen Herausforderungen, Una Sancta 74, 2019, S. 69–80.
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– Wagner, Th.: Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft, Stuttgart 2021.
– Wasmuth, J.: Formel, Methode, Ziel? Einige Überlegungen zum differenzierten Konsens, Catholica 75, 2021 (im Druck).
Vgl. Meyer (1998), S. 101–119.
Vgl. Id. (2000).
Dazu im Einzelnen Rinderknecht (2016); Wasmuth (2021).
Vgl. Pizzey (2019).
Vgl. demgegenüber den von Daniel Munteanu herausgegebenen Sammelband Munteanu (2021).
Vgl. Rahner (2019), S. 76, die Philip Jenkins mit den Worten zitiert: »For the foreseeable future … the dominant theological tone of emerging world Christianity is traditionalist, orthodox, and supernatural. This would be an ironic reversal of most Western perceptions about the future of religion.«
Trowitsch (2019), der Untertitel lautet: »Warum wir keine mitläuferischen Floskeln brauchen, sondern christliche Deutlichkeit«.
So Buchholz (2017), S. 14f.
Riesebrodt (2001), S. 52.
Vgl. Marty/Appleby et al. (eds.). (1991; 1993a; 1993b; 1994; 1995).
Thermos, V.: Fundamentalism. Theology in the service of Psychosis, Public Orthodoxy, 30. Mai 2018,
Vgl. Marsden (2006), S. 212–228.
Zu dieser Haltung vgl. Wagner (2021), dazu Spiegel, H.: »Der Dichter und der Neonazi«. Im schlimmsten Feind den Menschen sehen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. April 2021,