Die Bibel will ein Buch sein, das im Leben und durch das Leben begleitet. Dies mag banal klingen, ist es aber nicht. Zunächst einmal gilt es radikal ernst zu nehmen, dass menschliches Leben nicht anhand einer überschaubaren Zahl von immer wiederkehrenden Situationen, Problemen und Fragen, für die es klare, eineindeutige Antworten gibt, definiert und erklärt werden kann und darf. Stattdessen geht es um die größte, unüberschaubarste und komplexeste Aufgabe, die sich jedem Menschen Tag für Tag stellt, die Aufgabe, „die zu werden, die ich bin“ bzw. „der zu werden, der ich bin“.1 Dieser Aufgabe kann man, wie auch die neueste Identitätsforschung zeigt, im Verlauf des eigenen Lebens selbst nie vollständig oder gar endgültig gerecht werden.2 Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ oder gar „Wer sind wir?“ können stattdessen immer nur vorläufig sein und bestenfalls Fragmenten eines Lebens gerecht werden. Jede neue Entscheidung, jede Konfrontation mit einem neuen Problem, einem neuen Kontext, einer neuen Herausforderung kann – bis zum letzten Moment eines Lebens – das Zueinander dieser Fragmente verändern. Und dabei ist radikal ernst zu nehmen, dass es in jedem Leben Entscheidungen gibt, die mit rein logischen Argumenten oder selbst anhand ethischer Normen und Richtlinien unentscheidbar sind und bleiben müssen. Milan Kundera hat dies in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ in unübertroffener Weise formuliert:
Jeder Schüler kann in der Physikstunde durch Versuche nachprüfen, ob eine wissenschaftliche Hypothese stimmt. Der Mensch aber lebt nur ein Leben, er hat keine Möglichkeit, die Richtigkeit der Hypothese in einem Versuch zu beweisen. Deshalb wird er nie erfahren, ob es richtig oder falsch war, seinem Gefühl gehorcht zu haben.3
Konkret: Die Frage, was wäre gewesen, wenn ich mich in einer bestimmten Situation meines Lebens anders entschieden hätte, werde ich nie beantworten können. Aber auch die Frage: Was wird sein, wenn ich mich für ein Leben lang an einen bestimmten Menschen binde (oder mich nicht „traue“), wenn ich einen bestimmten Beruf (und nicht einen anderen) als den für mich und meine Begabungen geeigneten wähle, ist letztlich genauso unbeantwortbar wie die Frage, ob ich jetzt, in 15 Minuten oder einer Stunde das Haus verlassen soll und dabei vielleicht überfahren werde oder den Menschen meines Lebens kennenlerne. Diese Überlegungen sollen nicht zu Lebensangst verleiten, sondern darauf aufmerksam machen, dass „Leben“ bei allem Anschein der Planbarkeit bis ins Detail und bei aller (scheinbaren) Wiederholbarkeit von Einzelsituationen letztlich immer ein Abenteuer – im positiven wie im negativen Sinne – bleibt und als solches wahrgenommen werden darf und muss. Bereits daraus ergibt sich eine erste wichtige Folgerung für die Frage nach unserem Umgang mit der Bibel:
Zu den größten Missverständnissen im Umgang mit der Bibel, das häufig mit dramatischen Folgen einhergeht, gehört die Vorstellung, die Bibel sei in erster Linie dazu da, aus ihr wie aus einem Kochbuch allgemein gültige Rezepte für das richtige und falsche Verhalten in jeder Lebenslage zu holen. Noch schlimmer und gefährlicher wird ein solcher Umgang, wenn anhand isolierter biblischer Einzelsätze beurteilt wird, ob das Leben bzw. die Lebensform anderer Menschen Gott gefällig und angemessen ist oder nicht. Natürlich besteht die Bibel nicht nur aus Erzählungen, sondern bietet auch Gebote und Verbote, die (mehr oder minder explizit) den Anspruch stellen, Gottes Willen zu repräsentieren. Wir sollten uns aber dessen bewusst sein, dass auch sie, bewusst in konkrete Situationen hinein formuliert, immer der Auslegung bedürfen.4 Wo die Reflexion – und damit der Brückenschlag zwischen der Situation in der biblischen Erzählwelt und der Situation in der empirischen Welt, in der sie zur Anwendung gebracht werden, entfällt, können die Folgen verheerend sein. Wer dieses Prinzip ablehnt, muss sich einerseits dessen bewusst sein, dass er oder sie wahrscheinlich täglich dagegen verstößt. So machen sich Christen normalerweise keine Gedanken, wenn sie Kaninchenbraten oder Schweinefleisch verzehren (vgl. aber die Forderungen in Lev 11,6–7), und falls sie aus ethischen Gründen Vegetarier sind, dann kaum aufgrund der Forderungen des Buches Levitikus. Katholikinnen und Katholiken haben trotz Mt 23,9 normalerweise kein Problem damit, den Papst als „Heiligen Vater“ anzusprechen und sich selbst als „Lehrerinnen und Lehrer“ zu bezeichnen (vgl. aber Mt 23,10). Und obwohl 1 Tim 3,2.12 und Titus 1,6 von Bischöfen fordern, der „Mann einer Frau“ zu sein, halten Katholiken am Zölibat für Bischöfe und Priester fest.5 Mit anderen Worten: Ganz selbstverständlich, manchmal bewusst, manchmal vielleicht auch unbewusst hat sich kirchliche Praxis – aus in jedem Falle sehr unterschiedlichen Gründen – von klaren Forderungen in der Bibel entfernt. Gleichzeitig wird das eben formulierte Prinzip, dass selbst grundlegende Gebote und Verbote, die wir in der Bibel finden, immer wieder der hermeneutischen Rückfrage und Reflexion bedürfen, bereits innerbiblisch angewandt. Wenn der Jesus des Matthäusevangeliums sich in der Bergpredigt um eine Auslegung der Tora bemüht, die den Menschen zur Vollkommenheit führen soll (vgl. Mt 5,48), dann geht es ihm keinesfalls darum, dass nun Gebote der Tora an sich ungültig und überholt seien.6 Sonst würden Sätze wie die, die wir in Mt 5,17–18 lesen, keinen Sinn machen:
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.
Stattdessen geht es darum, Beispiele für Lebenshaltungen im Angesicht Gottes zu entwickeln, die dessen Willen im lebendigen Umgang mit dem in der Tora Ausgedrückten zu entdecken suchen. Dann bedarf selbst eine so zentrale Forderung wie das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18b) immer wieder der Auslegung: Das Lukasevangelium erzählt, dass Jesus einem Tora-Gelehrten begegnet, welcher wie er selbst (vgl. Mk 12,29–30 und Mt 22,37–39) Gottes- und Nächstenliebe (Dtn 6,5 und Lev 19,18) für die zentralen Gebote der Tora hält. Doch selbst hier entwickelt sich daraus die, wollen wir nicht ein euphorisches „Seid umschlungen, Millionen“ mit Liebe verwechseln, alles andere als naive Frage: Wer ist mein Nächster? (Lk 10,29). Der Jesus des Lukasevangeliums gibt darauf keine Antwort, sondern erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–36), das den Gedanken der Barmherzigkeit auch gegenüber demjenigen, von dem mich ansonsten Gruppengrenzen und Denkkategorien trennen, in den Vordergrund stellt.7 Diese Erzählung lässt sich geradezu als Illustration des in der Feldrede (Lk 6,27–36; vgl. auch die bekanntere Parallele in der Bergpredigt Mt 5,38–42) zu findenden Gebots der Feindesliebe deuten, das, aus dem Gebot der Nächstenliebe entwickelt, Parallelen bereits im Alten Testament findet. Dort lesen wir etwa: „Wenn du dem verirrten Rind oder Esel deines Feindes begegnest, sollst du das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Gegners unter der Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe“ (Ex 23,4–5) oder: „Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken, so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt, und der Herr wird es dir vergelten“ (Spr 25,21–22; vgl. aber auch Spr 24,17; Sir 28,6–7). Und doch: So großartig diese Gedanken klingen, so sehr müssen wir selbst bei ihrer Lektüre, wenn wir nicht einfach naiv mit ihnen umgehen wollen, nachdenken, ob die Situation(en), in die hinein sie formuliert sind, einfach unserer Situation entsprechen. Stammen die hier verwendeten Bilder nicht aus einer sehr übersichtlichen Welt, in der man den Esel eines sehr konkreten Feindes kennt – und in der dieser Feind direkt als Mensch begegnet? Doch was bedeuten sie in unserer globalisierten Welt, in der ganze Völker und Systeme einander zu Feinden stilisieren? Was heißt Feindesliebe in diesem Kontext? Und selbst wenn es um Einzelpersonen geht: Müssen wir auch Rechtsradikale lieben, die nicht nur mit Worten Gewalt gegen anders Denkende ausüben?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Mir geht es hier nicht um die Antworten auf diese Fragen, sondern nur darum, zu zeigen, wie sehr selbst grundlegendste biblische Gebote der Reflexion und Auslegung bedürfen!
Um wieviel mehr gilt dies dann für ethische Aussagen, die deutlich weniger grundlegend, aus Situationen heraus und in Kontexte hinein formuliert sind, die sich nicht nur dramatisch von unserer Welt unterscheiden, sondern weit hinter unseren heutigen Kenntnisstand zurückfallen: Aus Sätzen wie Lev 18,22, formuliert in eine Welt hinein, in der Sexualität und Nachkommenschaft aufs Engste miteinander verbunden werden mussten, um das Überleben der Gemeinschaft zu sichern, oder 1 Kor 6,9–10 und Röm 1,26–27 ohne weitere Reflexion zu folgern, dass die Bibel jede Form gleichgeschlechtlicher Sexualität an sich als widernatürlich ablehne und daraus Entsprechendes für unser Verhalten gegenüber schwulen und lesbischen Menschen abzuleiten sei, ist nicht nur Menschen verachtend, sondern entspricht nicht dem Gesamtbild, in dem uns etwa das 1. Buch Samuel in liebevoller Weise von der Freundschaft zwischen David und Jonathan berichtet, die ganz offensichtlich Züge homoerotischer Liebe zeigt (vgl. 1 Sam 17,55–18,4; 20,27–42).8 Natürlich erzählt der Text nicht davon, dass die beiden Geschlechtsverkehr miteinander haben. Doch wollen wir menschliche Sexualität nicht auf den Koitus beschränken, so wird doch überaus deutlich, mit welcher körperlichen Zärtlichkeit diese beiden Männer – ansonsten erfolgreiche und keineswegs zimperliche Krieger – miteinander umgehen.
Doch selbst wenn wir mit Geboten und Verboten der Bibel in reflektierter Weise umgehen, bleibt die Konzentration auf Ethik und Ethos eine traurige Verkürzung dessen, was Bibel mit uns als Leserinnen und Lesern „tun“ will. Mit anderen Worten: Die Bibel ist kaum ein allzu moralisches oder gar ein moralinsaures Buch. Sie ist auch kein Buch, das systematisch eine Glaubenslehre entwickelt. Stattdessen kann sie ihre Kraft vielleicht am besten dann entfalten, wenn sie, (wenigstens zunächst) von jeder Systematisierung befreit,9 als Buch gelesen wird, dessen Erzählungen „bewohnt“ werden wollen.10 Mit anderen Worten: Die im Kanon enthaltenen Texte erzeugen in ihrer Vielfalt, die jedoch gleichzeitig durch die eben beschriebene intertextuelle Disposition zusammengehalten wird11, eine erzählte Welt, die „bewohnt“ werden und so zu einer Veränderung der Weltwahrnehmung führen will.
Dieser grundlegende Gedanke ist keineswegs selbstverständlich und bedarf auf mehreren Ebenen der Erläuterung: Obwohl die Texte der Bibel an verschiedenen (z.T. mit realen Orten identifizierbaren, z.T. imaginierten bzw. imaginierbaren) Orten wie dem Garten Eden, dem irdischen wie dem himmlischen Jerusalem, dem Thronsaal Gottes, aber auch Ägypten, Rom oder der Insel Patmos spielen, obwohl sie solch unterschiedliche Zeiten wie den Beginn und das Ende der Welt, aber auch die (sicherlich imaginierte) Lebenszeit des Abraham wie die des Paulus umfasst, kreiert die Bibel insgesamt aufgrund der engen intertextuellen Verknüpfung ihrer Texte12 eine in sich weitgehend kohärente erzählte Welt. In dieser erzählten Welt begegnen bestimmte Handlungsträger wie z.B. Gott, aber auch Abraham, David, Eva, die Erzmütter, Jesus und andere immer wieder. In dieser erzählten Welt erscheinen dem Menschen Engel, spricht Gott zu ihnen und geschehen Wunder. Und gleichzeitig stellt diese erzählte Welt den Anspruch, zu beschreiben, wie die „reale Welt“ und das Leben in ihr wirklich sind. Mit anderen Worten: Die in der Bibel begegnenden Akteure gehen nicht einfach in historischen Fragen „Wer war König David wirklich?“ oder „Wann und unter welchen Umständen lebten Abraham, Isaak und Jakob?“, aber auch der Rückfrage nach dem historischen Jesus auf. Selbst da, wo von Ereignissen die Rede ist, deren historische Faktizität sich nicht nachweisen (oder gar widerlegen) lässt, ist das so Erzählte nicht einfach unwahr, sondern erhält seine Plausibilität dadurch, dass es – vielleicht in gebrochener, sicherlich in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich ansprechender – Weise von der Buntheit und Vielfalt menschlichen Lebens in einer Welt spricht, die trotz allem als die grundsätzlich gute Schöpfung eines zutiefst liebenden Gottes verstanden ist. Die Bibel möchte – nicht mehr, aber auch nicht weniger – als diese grundsätzliche Wahrnehmung – ihr „Vor“-Urteil13 – der Welt auf unterschiedlichen Wegen vermitteln. Dabei drücken die Worte „trotz allem“ aus, dass dabei keineswegs eine naiv-romantische Zauberwelt, in der alles gut ausgeht, kreiert wird, sondern eine Welt mit all ihren Abgründen, Fragen und ungelösten Rätseln gezeichnet ist. Und auch die Rede vom „zutiefst liebenden Gott“ klammert nicht Erfahrungen des dunklen und schweigenden Gottes aus; sie lässt stattdessen selbst den als Sohn Gottes verstandenen Jesus von Nazaret in seiner Passion Momente furchtbarster Gottesfinsternis durchleben und durchsterben.14 In der Getsemane-Szene des Markusevangeliums (Mk 14,32–42) etwa betet dieser mehrfach zu seinem Abba-Vater, aber dieser scheint zu schweigen – und seine engsten Vertrauten schlafen. Wenn man dann noch den Satz „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Mk 14,34) als Anspielung auf Ps 42,6.12; 43,5 erkennt, dann stellt sich mit den Spöttern des Psalms die Frage ein: „Wo ist denn nun dein Gott?“ (Ps 42,4). Eine Antwort auf die Frage ergibt sich erst in der eigentlichen Kreuzigungsszene: Jesus stirbt mit den Worten aus Psalm 22 – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ – auf den Lippen (Mk 15,34). Wo der Psalm als Klage- und Hoffnungspsalm ernst genommen und sich der Blick auf die Epiphanieelemente in der Szene richtet (vgl. Mk 15,38), zeigt sich: Gott ist weiter da. Daraus ergibt sich das Paradox: Obwohl Gott da ist, stirbt Jesus. Weil Gott da ist, ist seine Geschichte auf unbegreifliche Weise damit nicht beendet.15
Trotz all ihrer z.T. tiefen Dunkelheit bleibt die Welt so als „gute“, nicht verzweckte oder verzweckbare Schöpfung dieses Gottes verstanden.16 Das Bild vom Bewohnen biblischer Texte meint schließlich, dass die Leserinnen und Leser, Hörerinnen und Hörer dieser Texte sich auf die Plausibilität dieser erzählten Welt einlassen und damit beginnen, auch die Welt, in der sie leben, in dieser Weise wahrzunehmen. Damit ist, anders als das Bild vom „Bewohnen“ zu suggerieren scheint, nicht einfach ein Zustand, in dem man es sich bequem machen kann, sondern eine Vielfalt von kreativen Prozessen beschrieben. Mit anderen Worten: Biblische Texte wollen „Wahrnehmungsprozesse“ ermöglichen, „Weltaneignung“ begleiten.17 Sie stellen dabei den Anspruch, dass ihre Vorstellung von „Welt“ eine bestimmte Art zu denken anstoßen will: „Metanoia“ wird häufig als Umkehr oder gar Buße übersetzt, meint jedoch in Wirklichkeit zunächst ein „neues Denken“,18 das allerdings nicht im rein Kognitiven verbleibt, sondern die gesamte menschliche Existenz umgreift (und damit durchaus zur Umkehr führen soll). Die sich dabei entwickelnde Lebenshaltung kann dann z.B. durch die Begriffe „Pistis“ („Glauben“ im Sinne von „Trauen, Vertrauen“) und „Nachfolge“ (bis hinein in ein ganz leibliches Nach-Folgen) zum Ausdruck gebracht werden.
Nur zwei bewusst sehr unterschiedlich gewählte Beispiele, die diesen Gedanken konkret illustrieren mögen, seien genannt: (1) Das 25. Kapitel des Buches Leviticus spricht davon, dass Israel in Zukunft einmal in fünfzig Jahren ein Jobeljahr einhalten soll. Das Jobeljahr ist ein Jahr der Freilassung, der Rückkehr, der allgemeinen Wiederherstellung gerechter Zustände, ein Jahr der Heiligung. Doch schon beim ersten ehrlichen Lesen der Passage stellen sich Fragen ein: Was kann ein Text, der davon spricht, dass man alle fünfzig Jahre weder säen noch ernten soll, Menschen einer Welt, in der vielen der Bezug selbst zu einfachsten Vorgängen der Natur verloren gegangen ist, heute noch sagen? Inwiefern sind seine komplizierten Bestimmungen über Rückerstattung von verlorenem Besitz und Freilassung von Sklaven heute irgendwie relevant? Wenn man zudem bedenkt, dass die Anordnungen des Buches Leviticus zum Jobeljahr wahrscheinlich nie befolgt wurden, klingt der Text vielleicht noch absurder. Hier scheint in einiger Naivität Unmögliches gefordert zu sein: Ein ganzes Jahr lang durchzusetzen, dass niemand sät und erntet, ist kaum denkbar. Ein Wirtschaftssystem, in dem Zinsen verboten sind (wie in Lev 25,36), wird genauso wenig funktionieren wie eines, das zulässt, dass Besitz an Boden und Kapital alle fünfzig Jahre auf null gestellt werden. Ganz sicher bietet Leviticus also zunächst kein Programm für wirtschaftliches Handeln – weder heute noch in der Antike. Der Text leistet jedoch etwas ganz Anderes: Er lenkt unseren Blick auf Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein müssten, die wir aber nicht immer wahrnehmen. Er spricht davon, dass Handel und Wirtschaft niemals einen anderen Menschen in eine bedrängte Lage bringen sollen. Er spricht davon, dass das Land seine (und nicht unsere) Produkte geben wird, und lenkt den Blick darauf, wie sehr die Natur auch heute noch geheimnisvolles Gegenüber bleibt. Der Text spricht davon, dass jeder, der in Not geraten ist, die Aussicht auf einen Neuanfang bekommen soll. Lev 25 scheint konkrete Forderungen zu stellen, doch eigentlich ist der Text vor allem eine Einladung: Er sperrt sich, solange man überlegt, wie und wann er konkret umgesetzt wurde. Er lädt jedoch ein, bestimmte Dinge in der eigenen Wahrnehmung zu „ver-rücken“. Ist die oder derjenige in Not ein Mensch zweiter Kategorie, vielleicht sogar eine Gefahr für mich, für meinen eigenen Reichtum und meine Sicherheit? Oder ist er oder sie ein Mensch, der oder die eine Hoffnungsperspektive braucht, um leben zu können? Sehe ich ihn/sie mit den Augen dessen, der finanziellen Gewinn machen will, als ein Objekt meiner Begierde oder als „meinen Nächsten“ und damit einen Menschen, der mich „angeht“? Wem gehört wirklich diese Welt, ihre Bodenschätze und Reichtümer? Leviticus sagt: „Es ist ja mein – Gottes – Land; denn Hinzugekommene und zeitweilige Bewohner seid ihr vor mir“ (Lev 25,23). Wo der Text Leserinnen und Leser auf solche Fragen stößt, wird er nun doch gesellschaftlich relevant: Einem auf der Ausbeutung anderer beruhenden kapitalistischen System ist damit jeder Boden entzogen.
(2) Nur im Markusevangelium finden wir das „Gleichnis von der selbstwachsenden Saat“ (Mk 4,26–29):19
Mit der Königsherrschaft Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Tag und es wird Nacht, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.
Diese Erzählung ist nur auf den ersten Blick unscheinbar. Verkürzt sie nicht auf geradezu anstößige Weise die harte Arbeit jedes Bauern, der natürlich kein Faulenzer ist, sondern sich sein tägliches Brot unter größten Mühen und Sorgen verdienen muss. Reicht es wirklich zu schlafen und zu wachen, oder müsste nicht noch viel mehr von den vielen Dingen erzählt werden, die zu tun sind, um eine gute Ernte zu garantieren? Vielleicht. Gerade deswegen aber „verrückt“ die Erzählung den Blick von Leserinnen und Lesern: Bleibt nicht trotz aller Vorstellungen von „Machbarkeit“ und „Planbarkeit“ bis heute in jeder Form der Begegnung mit dem Lebendigen, dem „Wachstum“ und „Reifen“, ein letztes, entscheidendes Element des Unbegreiflichen erhalten, an dem wir achtlos vorüberzugehen drohen? Der Text konfrontiert uns mit dem Element der „Natur“20, das selbst in den „kulturell“ kontrollierbar erscheinenden Prozessen unseres Lebens erhalten bleibt. Er lässt wahrnehmen, dass auch in Prozessen, die uns vertraut und selbstverständlich erscheinen, Elemente des Unerklärlichen, Geschenkten bleiben – und stellt dies in den Horizont des königlichen Herrschens Gottes. Wo es dem Text gelingt, auf diese Weise tatsächlich, die Blickweise von Leserinnen und Lesern zu „ver-rücken“, wo er damit Metanoia, d.h. „Umdenken“ in Gang setzt, ist so etwas wie die Suche nach einem Tertium Comparationis genauso wenig nötig wie die „Übersetzung“ von Elementen der Bildhälfte des Gleichnisses in eine Sachhälfte. Aus dem Gleichnis ist, wenn wir so wollen, eine Wundererzählung geworden – oder präziser: eine Erzählung, die im alltäglich Erscheinenden Wunderbares wahrnehmen lässt.21
Dies sind nur zwei Beispiele aus einer Unzahl von Möglichkeiten: Biblische Texte sind, so gesehen, nicht einfach Geschichtchen über die Vergangenheit, sie laden ein, die Sicht auf die Dinge zu „ver-rücken“ und damit verrückt Scheinendes zu denken, Perspektiven zu ändern, und dann Dinge zu „sehen“, die Andere nicht sehen können, wahr zu nehmen (und damit als wahr anzunehmen), was Anderen verschlossen bleibt. Das Wort „alternativlos“ gilt für die Bibel nicht, weil sie mit Gottes unendlicher Kreativität rechnet. Der Jesus des Johannesevangeliums drückt dies gegenüber Nikodemus mit den Worten aus: „das Reich Gottes sehen“ (Joh 3,3)!
Biblische Texte wollen somit zu einer neuen Sicht der Dinge, zu einer kritischen Re-Evaluation der eigenen Lebenshaltung gegenüber der Welt und dem eigenen Selbst „erziehen“. Gerade die Tatsache aber, dass sie in die verschiedensten Richtungen hin „offen“ sind (ohne deswegen grenzenlos alles zuzulassen!), macht sie zu wunderbaren Ausgangspunkten für – dann nicht mehr von außen lenkbare oder gelenkte – Prozesse der „Bildung“, in denen sich Menschen existenziell auf den Weg zu sich selbst machen. Damit aber ist ein weiterer Aspekt dessen angedeutet, was mit der Idee gemeint sein kann, dass Texte der Bibel „bewohnt“ werden wollen. Amos Oz und seine Tochter Fania Oz-Salzberger beginnen ihr wunderbares Buch „Juden und Worte“ mit dem faszinierenden Satz: „Was uns verbindet, sind nicht Blutsverwandtschaften, sondern Texte.“22 Gemeint ist: Die Frage, was es heißt, Jude zu sein, hat nicht in erster Linie mit Blutsverwandtschaft, Nationalität oder gar Religiosität zu tun, sondern bestimmt sich über das Erzählen, Weiterentwickeln und Neu-Erzählen eines gemeinsamen Bestands von Texten. Könnte dies nicht auch einen Impuls für christliche Leserinnen und Leser der Schrift bieten? Ließe sich nicht ein sehr ähnlicher Gedanke auch für die Lese-Gemeinschaften, die sich um die Texte nicht nur der Hebräischen Bibel, sondern auch des Neuen Testaments scharen, entwickeln? Ich halte dies auf verschiedenen Ebenen für attraktiv: Wenn wir diesen Gedanken ganz ernst nehmen, dann bedeutet er, die biblischen Erzählungen als Begleiter in der bereits eingangs angesprochenen Aufgabe unseres Lebens zu verstehen: Begleiter auf dem Weg, „der zu werden, der ich bin“ bzw. „die zu werden, die ich bin“. Wenn wir bedenken, dass zu den entscheidenden Eigenschaften des Menschen eine Selbstdistanz gehört, die erzählend überbrückt werden muss (Homo narrans), dann wird klar: Wir können Antworten auf die Fragen „Wer bin ich?“ und „Wer sind wir?“ nur in narrativen, d.h. erzählenden Konstruktionen nahekommen.23 Die biblischen Erzählungen zu „bewohnen“ bedeutet dann, sie für diese Konstruktionen heranzuziehen, sie in kreativer Weise zu unseren (sich im Lauf eines Lebens nicht immer bruchlos entwickelnden) Erzählungen zu machen und uns in ihnen immer wieder neu und anders zu entdecken. Die Bibel erzählt dann nicht nur zu uns, sie erzählt von uns und wir erzählen uns mit Hilfe der Bibel. Dies zu erkennen, kann schon deswegen befreiend wirken, weil sie Rollen- und Figurenmodelle anbietet, die nicht perfekt und überhöht sind, sondern voller Brüche und Umwege, die sich auch nicht einfach in Kategorien wie gut und böse einordnen lassen, sondern bunt, vielfältig und unterschiedlich sind, vor allem aber die Größe des Menschen auch in vordergründiger Schwachheit erkennen lassen. Jakob erhält das Erstgeburtsrecht durch Betrug, Joseph ist ein Träumer, die Israeliten erobern das befestigte Jericho mit Hilfe von Blasmusik, Simson ist bärenstark und fällt doch auf den einfachen Trick Dalilas herein, der Gründer der bedeutendsten Königsdynastie Israels, David, hat wohl ein Liebesverhältnis zu einem Mann, nimmt den Tod des Urija in Kauf, um Batseba skandalfrei zu gewinnen, und leidet unendlich unter dem Tode seines Sohnes Abschalom. Batseba wiederum wird wie so viele Frauen nicht gefragt, wenn ein Mann sie mit Gewalt „besitzen“ will – und die Stimme der geschmähten Prophetin Isebel aus Thyatira dringt nicht mehr zu uns durch.24 Die Königin von Saba scheint Salomo mindestens gewachsen und die Frauen um Maria von Magdala sind mutiger als offenbar alle Männer im Gefolge Jesu. Petrus, den die katholische Tradition zum ersten Papst gemacht hat, versagt bei der Passion Jesu komplett, Jesus wirkt seine Wunder vor allem auf unscheinbaren Dörfern und wird (wenigstens in der Fassung des Mk) in Getsemane von Angst ergriffen, die ihn offenbar bis zu seinem schmählichen Tod nicht mehr loslässt. Und jemanden wie Paulus würde man heute vielleicht als Fanatiker, als Spinner und Knastbruder ansehen. Dass ihn auch manche seiner Gegner in den Gemeinden als eher lächerliche Figur bezeichneten, schimmert im 2. Korintherbrief durch. Tiefer als die meisten von ihnen kann man – in den üblichen Maßstäben unseres Denkens – kaum sinken: Und gleichzeitig erheben die Erzählungen der Bibel den Anspruch, dass sich genau in ihnen die wahre Größe des Menschlichen erweist.
Wie bewegend und zugleich verstörend diese Erzählungen sein können, zeigt sich vielleicht anhand eines der dunkelsten Momente ihrer Auslegung: Vertreter der unmenschlichsten Ideologien des 20. Jahrhunderts hatten gerade mit diesen Erzählungen ihre Probleme. So schrieb Alfred Rosenberg (1893–1946), ab 1933 Reichsleiter im außenpolitischen Amt der NSDAP, ab 1941 Minister für die besetzten Ostgebiete und 1946 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet, gleichzeitig einer der wichtigsten Wegbereiter nationalsozialistischen Denkens, in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“, dass das Alte Testament abgeschafft werden solle, damit endlich „der mißlungene Versuch der letzten anderthalb Jahrtausende, uns geistig zu Juden zu machen,“ beendet werde. An die Stelle „der alttestamentlichen Zuhälter- und Viehhändlergeschichten“ sollten „die nordischen Sagen und Märchen treten, anfangs schlicht erzählt, später als Symbole begriffen.“25 So abfällig dieses Urteil ausfällt, eines hatte Rosenberg offenbar begriffen: Mit den Erzählungen des Alten Testaments – und sicherlich denen der gesamten Bibel – ist es nicht möglich, das Bild eines im NS-System funktionierenden Übermenschen zu kreieren und, damit verbunden, Formen eines menschenverachtenden Rassismus zu begründen.
Gewendet bedeutet dies: Die biblischen Erzählungen sind frei von Übermenschen und Superhelden, aber auch Topmodels aus dem Katalog pubertärer Männerwünsche. Dafür ist ihnen keine Form menschlicher Schwäche, aber auch keine Form wahrer menschlicher Größe fremd, die sie gerade an Punkten des Lebens zu entdecken vermag, die besonders dunkel zu sein scheinen. Und sie lässt diese Größe denen, die sich, umdenkend und deswegen neu denkend, auf sie einlassen, „sehen“: Wo andere an dem Bettler am Straßenrand vorbeigehen, erkennt das vierte Evangelium „Mensch, von Geburt an blind,“ (Joh 9,1) und entwickelt an ihm den Weg zu befreitem Mensch-Sein.26 Wo übliche Augen nur den geschundenen Körper eines Gescheiterten, des Gekreuzigten, entdecken, richtet das Johannesevangelium den Blick auf den Erhöhten, an dem Herrlichkeit Gottes erkennbar ist.
Wo die Bibel so verstanden wird, entwickeln ihre Texte Impulse für die Wahrnehmung der Welt, für die Deutung des eigenen Lebens und die Konstruktion von Erzählungen im Ringen um das eigene „Ich bin“: Gerade dadurch entstehen Frei- und Zwischenräume, die gefüllt werden müssen, um die Brücke zwischen der erzählten und der erlebten Welt zu schlagen.
Mit anderen Worten: Gerade aufgrund ihres Anspruchs, Menschen unterschiedlicher Welten, Kontexte und Situationen „anzusprechen“ und sie einzuladen, sie zu bewohnen, wohnt den Texten des Kanons eine letzte Unabgeschlossenheit inne. Umgekehrt ist es genau diese Unabgeschlossenheit, die den Transfer in Welten hinein ermöglicht, die in den biblischen Texten selbst nicht konkret genannt sind, die aber von ihnen berührt werden wollen. In diese Freiräume hinein können nicht nur die ungezählten persönlichen Erzählungen von Menschen und ihren Erfahrungen mit der Bibel sowie ihre Neuinszenierungen biblischer Texte wachsen, von denen die allermeisten nie aufgeschrieben werden, sondern auch die Erzählungen ganzer Gemeinschaften und Gruppen, die sich in die biblische Welt hineinerzählten und hineinerzählen. Wenig beachtet in diesem Zusammenhang sind z.B. Texte von der Gründung großer Kirchen, die nicht in der Bibel erwähnt sind. Viele von ihnen finden sich in apokryphen Apostelerzählungen und hagiographischen Schriften (z.T. voller Wundergeschichten, die uns heute fremd wirken). Schriften wie die Akten des Titus (aus Kreta), die Akten des Barnabas (aus Zypern), die Doktrin des Addai (aus Edessa, einst Syrien, heutiges Urfa in der Türkei), das Leben und die Wunder des Heiligen Martin von Tours (verfasst durch Gregor von Tours), das Leben der Brigida von Kildare (für das County Kildare, Irland) und viele mehr versuchen zu zeigen, wie das in den biblischen Texten erzählte Wirken Gottes, die Macht Christi oder das Wirken der Apostel und mit ihnen des Heiligen Geistes auch Welten – hier konkrete geographische Orte – erfasst, von denen in der Bibel selbst nicht berichtet wird.27 Im Grunde ist das, was wir in diesen Texten erkennen können, Teil des eben beschriebenen Prozesses: Erzählungen wie den genannten geht es nicht darum, nur aus Lust am Fabulieren phantastische Wundererzählungen zu erfinden.28 Stattdessen wollen sie Brücken bauen für Menschen und Gruppen, die sich und ihre Geschichte(n) nicht direkt in der Bibel finden, die sich also selbst in die biblische Welt hineinschreiben. Dies ist nur ein ganz kleines Beispiel von vielen, mit denen dieser Prozess beschrieben werden könnte.
So sehr diese Entwicklungen bisher übersehen und unterschätzt wurden, so sehr darf die Freude an solchen Texten, die Andersorte „jenseits des Kanons“ einnehmen,29 nicht dazu verleiten, die historische wie theologische Kritik nicht auch an diesen Texten, die Teil der Rezeptions- wie Wirkungsgeschichte der biblischen Schriften sind, zur Anwendung zu bringen.
Dies führt mich zu meinem weiteren Grundgedanken: Die Rede vom „Bewohnen“ biblischer Texte darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass jegliche kritische Distanz in der Auslegung der Texte verloren geht. Die Rezeptions- wie Wirkungsgeschichte der Bibel zeigt, dass die Auslegung der Bibel keine „harmlose Angelegenheit“ darstellt.
Dabei verstehe ich mit Ulrich Luz
unter Wirkungsgeschichte und – in der Begriffsextension fast synonym – unter Rezeptionsgeschichte das Gesamte der Spuren, welche ein Text in seiner Nachgeschichte durch Lektüren hinterlassen hat, und zwar in allen Bereichen des Lebens, also z.B. in der Theologie, in der Kunst, in der Politik, im Recht, in der Frömmigkeit, in der Philosophie usw. Beide Begriffe unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Intention: In der Relation Text – Leser akzentuiert der Ausdruck ‚Wirkungsgeschichte‘ die Seite der Leser, ihre Aktivität und ihre Freiheit zu unterschiedlichen, ihren jeweiligen neuen Kontexten entsprechenden Textlektüren. Am Begriff ‚Wirkungsgeschichte‘ liegt mir, weil er die Wirkkraft (δύναµις) der biblischen Texte heraushebt. Beide Begriffe betonen also unterschiedliche, aber komplementäre Aspekte des selben. Unter Auslegungsgeschichte verstehe ich demgegenüber einen bloßen Ausschnitt aus der umfassenderen Wirkungsgeschichte, allerdings den am leichtesten wissenschaftlich erfassbaren, nämlich die Rezeption eines Textes in sprachlichen Meta-Texten zu diesem Text, wie Kommentaren, Predigten, Dogmatiken und anderen Büchern.30
Warum nun aber ist es wichtig, sich mit der Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte biblischer Erzählungen zu befassen? Sollten wir nicht direkt „Bibel“ lesen? Tatsächlich soll die Beschäftigung mit der Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte der Bibel niemandem die direkte Bibellektüre verleiden31 – gleichzeitig uns aber von einer Reihe naiver Vorstellungen befreien, die, falls wir sie nicht ablegen, gefährlich werden können. Ich zitiere erneut Ulrich Luz: „Das wichtigste hermeneutische Ziel der Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte der biblischen Texte ist die Erhellung unserer Beziehung zu den Texten.“32 Mit dem hier verwendeten Begriff „Beziehung“ sind im Grunde einige der Gedanken aufgenommen, die oben in anderer Weise formuliert wurden: einerseits, dass jeder biblische Text auch der Distanz (und damit der Auslegung und Interpretation) bedarf, und andererseits die Vorstellung, dass biblische Texte „bewohnt“ werden wollen, also Leserinnen und Leser erwarten, die sich in kreative, durchaus auch kritische Beziehung zu ihnen setzen und sich von ihnen begleiten lassen. Nur wo wir uns unserer Beziehung zu den Texten – also einerseits unseres eigenen Standorts und andererseits unseres Gegenübers zum jeweiligen Text – bewusst sind, besteht eine Chance, Dimensionen des Rezeptionsprozesses, die nicht allein mit dem Text, sondern mit uns, unserer Geschichte, unseren Voraussetzungen, Hoffnungen und Wünschen zu tun haben, klarer in den Blick zu bekommen. Nur dann können wir auch den Gefahren allzu naiver Bibelauslegung aus dem Weg gehen.
Zunächst einmal verhilft uns Rezeptionsgeschichte zu der Erkenntnis, wie sehr die Bibel geworden ist. Oder – in anderen Worten: Wir sprechen zwar von „der“ Bibel an sich. Diese jedoch gibt es gar nicht, sondern nur eine Vielzahl von Bibeln. Der übliche Standort der Fragestellung, wie es denn dazu kam, dass wir heute eine Sammlung von Büchern besitzen, die wir Bibel nennen, welche aus zwei Teilen, dem Alten und dem Neuen Testament, besteht, die uns heute üblicherweise als Übersetzung in unsere Landessprache vorliegt und welche in die Form eines (heute in großen Auflagen produzierten) Codex gebunden ist, liegt in der Biblischen Einleitungswissenschaft. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie die einzelnen Bücher des Kanons entstanden sein mögen und wie aus einer Vielzahl von Schriften schließlich ein Kanon des Alten sowie Neuen Testaments geworden ist. Bereits diese Beschäftigung macht sehr deutlich, dass die Bücher der Bibel nicht einfach „vom Himmel gefallen“ sind. Und doch verhilft uns die rezeptionsgeschichtliche Fragestellung, hier noch einen entscheidenden Punkt weiterzugehen: Sie zeigt uns, dass auch der bereits bestehende Kanon und mit ihm die Bibel auch nach ihrer Entstehung eine „Geschichte“ hat.33 Dies wiederum lässt sich auf verschiedenen Ebenen konkretisieren. Vielleicht zuallererst mag rezeptionsgeschichtliche Forschung dafür sensibilisieren, wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir heute mit einer mehr oder minder für jedermann zugänglichen und lesbaren Bibel arbeiten können. Dies zeigt bereits der Blick in die uns überlieferten konkreten Artefakte, in vielen Fällen Fragmente, die biblischen Text enthalten. Bereits diese sind nicht einfach Bibel, sondern gehören als Abschriften von uns heute nicht mehr zugänglichen Vorlagen zur Rezeptionsgeschichte der Bibel. Sie würden nicht existieren, wäre den auf ihnen überlieferten Texten nicht eine gewisse Wertschätzung entgegengebracht worden, welche ohne den Akt von Lektüre und Deutung nicht denkbar ist. Wo wir diese Handschriften der Antike wie des Mittelalters als Teil der biblischen Rezeptionsgeschichte ernst nehmen, verraten sie uns noch mehr: Sie machen uns nicht nur bewusst, wie sehr der Text, den wir als „Bibel“ bezeichnen, bei aller Stabilität noch im Detail veränderbar blieb, und sie machen deutlich, welche Mühe es bedeutete, auch nur einen Teil dessen, was wir heute selbstverständlich als Bibel in die Hand nehmen, zu produzieren. Dies gilt bereits für viele der ältesten Papyri, umso mehr aber für die großen Vollbibeln, die uns ab dem 4. und 5. Jahrhundert zugänglich sind und von denen übrigens keine präzise den Umfang unseres heutigen Kanons hat. Und schließlich bieten viele dieser Handschriften als Artefakte bereits Informationen darüber, wie ihr Text von ihren Herstellern wie auch konkreten Lesern rezipiert wurde, d.h. Verbesserungen im Text, Marginalia, Einleitungen, aber auch Illustrationen, die zeigen: Die „Bibel“ an sich gab und gibt es nicht, sondern nur „Bibeln“ – und all diese sind bereits Teil biblischer Rezeptionsgeschichte. Der Gedanke, dass es „Bibel“ ohne Rezeptionsgeschichte im Grunde gar nicht gibt, zeigt sich aber – und auf anderer Ebene – auch da, wo wir bedenken, dass ein Text ohne Leserinnen und Leser, d.h. ohne Rezeptionen, ein Text, der nicht „wirkt“, toter Buchstabe bleibt. Wollen wir so weit gehen, mit Umberto Eco „Text“ als eine „träge Maschine“ zu verstehen, die erst im Lesevorgang bzw. in Lesevorgängen aktiviert wird,34 dann wird die Bibel somit erst dadurch, dass sie gelesen (oder breiter: rezipiert) wird, vom toten Buchstaben zum Text, der spricht. Wenn man es so will: Die Bibel an sich mag zwar existieren; ohne Rezeptionen aber bleibt sie tot. Rezeptionsgeschichte der Bibel ist somit die Geschichte des „Lebendigwerdens“ der Bibel in verschiedensten Kontexten, die Geschichte dessen, wie die Bibel in immer neuen Rezeptionsvorgängen geradezu immer neu als Sinn stiftender Text „erschaffen“ wurde und wird. Umgekehrt wird damit aber auf ganz grundlegende Weise deutlich, dass es eine Rezeption der Bibel jenseits oder an der Geschichte ihrer Rezeptionen und ihrer Performanzen vorbei nicht geben kann. Dies mag in vielen, vielleicht den allermeisten Fällen vollkommen unbewusst geschehen. Diese Tatsache – wie auch die darüber hinaus gehende Frage, wie bisherige Rezeptionen meine eigene beeinflussen – zu reflektieren, jedoch „bringt“, um es mit Hans Georg Gadamer zu formulieren, „etwas vor mich, was sonst hinter meinem Rücken geschieht.“35 Wo wir ernst nehmen, dass Bibelrezeption keine „harmlose Angelegenheit“ darstellt, wird klar, wie wichtig dieser Prozess der Bewusstwerdung ist.
Diese Gedanken wiederum führen zu einem weiteren, ganz entscheidenden Punkt, an dem wir nicht vorbeigehen dürfen. Wenn die Bibel nicht jenseits ihrer Rezeptionsgeschichte zugänglich ist, so stellt sich auch die Frage neu, was dies für unser Verständnis des in der Bibel erkennbaren Gotteswortes bedeutet. Die häufig mit dem II. Vatikanischen Konzil verbundene Formel „Gottes Wort im Menschenwort“36 kann dann nicht einfach dabei stehen bleiben, dass die Autoren der jeweiligen biblischen Texte „inspiriert“ waren. Macht die Tatsache, dass der biblische Text in all seinen Rezeptionen erst als Text „lebendig“ wird, es nicht geradezu notwendig, darüber nachzudenken, welchen Anteil die vielen, miteinander verbundenen, aufeinander aufbauenden, aber auch sich voneinander absetzenden Rezeptionen der Bibel an der Inspiration haben? Können wir dann weiterhin „Inspiration“ als auf einen Punkt der Vergangenheit – nämlich der Produktion der jeweiligen Bücher – konzentriert verstehen oder müssen wir nicht so weit gehen, von einer „Inspiration des Lesers“ und „der Leserin“ (oder der Gemeinschaft der Lesenden) zu sprechen?37 Dies wiederum ergibt weitere, höchst spannende Gedanken: Inspiration ist dann als ein (von Gott her geschenkter), keineswegs einliniger oder gleichmäßig verlaufender Prozess anzusehen, der bis heute andauert, ja andauern muss, will das Wort Gottes in der immer neu zu schaffenden Bibel sprechen.38 Gleichzeitig liegt Gottes Sprechen in den Texten der Bibel damit nicht einfach nur in der Vergangenheit – und wurde ein für alle Mal in den Texten konkreter Autoren der Vergangenheit niedergelegt. Gott hat nicht einfach in den Worten der Bibel gesprochen. Gottes Wort ereignet sich vielmehr in Momenten der Rezeption und Performanzen der Bibel. Dabei gilt immer zu berücksichtigen: Wir verstehen Gottes Wort als Menschenwort in der Bibel, dürfen aber nie unser sich daraus ergebendes Menschenwort – sei es in Auslegungen, Predigt oder Lehre – als Gotteswort autorisieren.
Rezeptionsgeschichte kann uns, wo wir sie konkret betreiben, dafür sensibilisieren, wie wenig der Text der Schrift einfach identisch mit dem Wort Gottes ist. Dieser bereits auf Johann Salomo Semler zurückgehende Gedanke39 wird in all seiner Tragweite erst dann bewusst, wenn wir uns vor Augen führen, welche Gräuel mit Hilfe biblischer Texte argumentativ begründet wurden und werden. Ich denke an die Verwendung biblischer Argumente zur Diskriminierung von Gegnern, Minderheiten, Frauen, anders Denkenden und anders ihr Leben Gestaltenden, zur Rechtfertigung der Sklaverei, im Nationalsozialismus, der Apartheid und vieler anderer Schrecken mehr.40 Wenn selbst ein kaum für seine literarische Bildung bekannter Mensch wie Donald Trump Nordkorea „Fire and Fury“41 – und damit letztlich einen Atomkrieg – androht, dann spielt er, vielleicht ohne dass das ihm oder all seinen Anhängern bewusst sein mag, auf Jes 66,15 aus der Vision vom Ende der Zeiten an: „Ja, seht, der Herr kommt wie das Feuer heran, wie der Sturm sind seine Wagen, um in glühendem Zorn Vergeltung zu üben, und er droht mit feurigen Flammen“ (vgl. auch Lev 10,2; 2 Kön 1,10–12; 2 Thess 1,8). Welch ungeheure Hybris dahinter steht, sich damit selbst an die Stelle Gottes zu setzen, um in biblischer Anspielung die mögliche Vernichtung eines ganzen Volkes anzukündigen, sollten wir besser nicht ausloten: Doch auch dies ist Teil der Rezeptionsgeschichte der Bibel – und gerade solche Formen der Rezeptionsgeschichte waren und sind vielleicht besonders einflussreich. Sie lehren uns, dass der Buchstabe der Bibel alleine niemals an sich schon Gottes Wort ist, sondern zum Tod bringenden – ich möchte sagen diabolischen – Wort werden kann. Bibelauslegung ist wahrlich keine „harmlose Angelegenheit“! Gerade deswegen aber zwingt Rezeptionsgeschichte die Bibelauslegung zur Verantwortung und lädt gleichzeitig zur Demut ein: Der Blick in den Reichtum biblischer Rezeptionsgeschichte hat neben dem auch von Ulrich Luz angedeuteten Effekt, eine notwendige Distanz zur Bibel als Objekt der Untersuchung zu schaffen,42 im besten Falle auch die Folge, Interpretinnen und Interpreten zur Demut einzuladen, ja sie dazu anzuhalten. Diese Demut kann sich aus verschiedenen Aspekten rezeptionsgeschichtlichen Arbeitens speisen: Ich bin selbst zwar zutiefst davon überzeugt, dass wir nicht mehr auf kritische historische Forschung verzichten dürfen, ja halte es für entscheidend, auch rezeptionsgeschichtliche Forschungen mit Hilfe der Mittel historischer Kritik durchzuführen.43 Doch gleichzeitig halte ich es aber für falsch zu glauben, dass ein angemessenes Verständnis der Bibel erst und nur mit Hilfe historischer Kritik möglich war und ist. Der Blick etwa in antike Auslegungen des Neuen Testaments zeigt einerseits, dass manches, was wir bis heute als (angebliche) Erkenntnis moderner historischer Kritik verteidigen müssen, bereits in der Antike bekannt war, vor allem aber andererseits, dass und wie sehr Exegese des 20. und 21. Jahrhunderts trotz unbestreitbaren Erkenntnisgewinns in bestimmten Bereichen hinter Aspekte antiker Bibelauslegungen zurückfallen kann. Dies lässt sich an einer ganzen Bandbreite von Beispielen belegen: Während sich bis heute (z.T. durchaus renommierte) Autoren finden, die – dann meist aber ohne detaillierte Sprachanalyse – dafür plädieren, dass die Johannesapokalypse durch den gleichen Autor wie das vierte Evangelium verfasst wurde (und dann meistens Johannes, den Sohn des Zebedäus, für den Verfasser halten), hat die entscheidenden Argumente, die viertes Evangelium und Apokalypse voneinander distanzieren, bereits im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung Dionysios von Alexandrien (Bischof von 248–265 n.Chr.) erbracht.44 Weil auch Eusebius von Caesarea der Johannesoffenbarung gegenüber reichlich skeptisch gewesen zu sein scheint, sind diese Argumente in seiner Kirchengeschichte (h.e. VII, 25) ausführlich zitiert: „Aus dem Charakter jenes und dieser Bücher,“ so Dionysios, „aus der Art der Sprache und dem, was man die Durchführung des Buches nennt, schließe ich auf eine Verschiedenheit der Verfasser“ (h.e. VII 25,8).45 Es folgen Beobachtungen zum literarischen Charakter der Sendschreiben aus Offb 2–3 im Vergleich zu den Johannesbriefen, zur Sprache sowie zu wichtigen Aspekten der Theologie, in denen sich zwar Johannesevangelium und Briefe als eng verbunden zeigen, jedoch eine deutliche Differenz zur Johannesapokalypse zutage tritt. So sehr das Urteil des Dionysios dazu beigetragen haben mag, dass die Offenbarung des Johannes in den Kirchen des Ostens Schwierigkeiten hatte, sich als kanonisch durchzusetzen, so sehr bietet der gleiche Dionysios, häufig übersehen, im Grunde gleichzeitig auch einen theologischen Ansatzpunkt an, um mit dem von ihm aufgeworfenen Problem umzugehen:
Ich … möchte nicht wagen, das Buch zu verwerfen; denn viele Brüder halten große Stücke auf dasselbe. Ich möchte vielmehr glauben, dass das Urteil über die Schrift sich meiner Vernunft entzieht. Ich vermute nämlich, dass die einzelnen Sätze einen verborgenen und ganz wunderbaren Sinn in sich schließen. Wenn ich die Worte auch nicht verstehe, so ahne ich doch, dass ein tieferer Sinn in denselben liege. Ich messe und beurteilte sie nicht nach meiner eigenen Klugheit, lege vielmehr dem Glauben ein höheres Gewicht bei und halte die Worte für zu erhaben, als dass sie von mir begriffen werden könnten. Und ich verwerfe nicht, was ich nicht erfasst, bewundere es im Gegenteil umso mehr, eben weil ich es nicht begriffen habe (Eusebius, h.e. VII 25,4–5).
Natürlich drückt Dionysios damit eine gewisse Distanz zur Apokalypse aus und natürlich mögen wir uns schwer damit tun, dass er – sei es nun ganz ernsthaft oder sei dies reine Rhetorik – sich weigert, ein auf seiner Vernunft basierendes „Urteil über die Schrift“ abzugeben. Mit dem Gedanken, dass der Text, auch wenn er nicht auf den Apostel Johannes der Evangelien zurückgehen kann, trotzdem „einen verborgenen und ganz wunderbaren Sinn in sich schließen“ mag, ist im Grunde auch heutiger Exegese ein Weg gewiesen: Warum besteht denn noch heute in manchen Kreisen solch große Sorge wegen der Ergebnisse moderner Pseudepigraphieforschung, wenn es zur Beurteilung der Qualität doch auf ihren Sinn – d.h. die theologische Qualität ihres Inhalts – und nicht auf die Frage, wer ihn wohl verfasst haben mag, ankommt?46 Bereits die Gedanken des Dionysios könnten einen Ansatzpunkt liefern.
Während die Diskussion um den Verfasser der Apokalypse im Grunde nur eine Frage der biblischen Einleitungswissenschaft berührt, gehen andere Beobachtungen deutlich weiter. Wo antiken Exegesen mit Respekt begegnet wird, kann sich auch der Sinn für hermeneutische Zugänge wie Typologisierung und Allegorisierung, die uns heute – in manchen Punkten sicherlich nicht zu Unrecht – als problematisch erscheinen mögen,47 erschließen. Vor allem aber kann uns der Blick in Spitzenleistungen antiker Exegese die Augen dafür öffnen, an welchen Stellen Auslegungen unserer Zeit unter z.T. erheblichen Mängeln leiden: Wenn wir heute nach den Nachbardisziplinen der biblischen Wissenschaften gefragt werden, so denken wir wahrscheinlich zunächst an Griechische Philologie, Alte Geschichte, Judaistik und vielleicht – je nach Schwerpunkt – dann noch an Papyrologie, Literaturwissenschaften oder Religionsgeschichte. Wenn wir nur das erste Buch aus Origenes’ großem Kommentar zum Johannesevangelium ansehen, in dem sich Origenes alleine auf die Bedeutung des Begriffs Logos aus Joh 1,1 konzentriert, wird klar, was wir heute weitgehend verloren haben: den engen Bezug mit der aktuellen und aktuellsten Philosophie.48 Dies mag natürlich historisch verschiedenste Gründe haben: Zu erkennen, wie selbstverständlich beide Disziplinen jedoch für einige der besten Denker der Alten Kirche zusammengehörten und sich gegenseitig beeinflussten, nötigt nicht nur höchsten Respekt ab und relativiert unsere Leistungen, sondern stellt uns gleichzeitig vor eine weitere große Aufgabe.
Damit wird wenigstens ansatzweise deutlich, was ich meine: Wo Rezeptionsgeschichte mit der notwendigen Ernsthaftigkeit betrieben wird, werden wir zwar immer wieder zunächst einmal mit der Fremdartigkeit der Sicht des anderen auf die Bibel konfrontiert werden und in manchen Fällen werden wir uns gar schwertun, diese zu verstehen. Aus der Fremdheit der anderen Perspektive unmittelbar darauf zu schließen, dass jene dumm, begrenzt oder falsch sein müsse, zeugt jedoch nur von der eigenen Begrenztheit. Wir werden weiterhin manches, vielleicht auch vieles kritisch betrachten dürfen (und müssen), an anderen Stellen aber auch über unsere eigenen „blinden Flecken“ und unsere Begrenztheit des Blicks staunen. Dabei kann und wird sich zeigen, dass es große Auslegungen der Bibel auch jenseits der Gruppe und Konfession gibt, die wir vertreten.49 Dies ist in heutiger Exegese über die Grenzen der Konfessionen hinaus Gott sei Dank schon sehr selbstverständlich. Und immer wieder zeigt sich auch, dass große Auslegungen nicht nur von Menschen stammen, die sich selbst als Christinnen und Christen bezeichnen. Die Arbeit an der Rezeptionsgeschichte der Bibel zeigt uns somit, wie sehr die biblischen Texte größer sind als nur eine ihrer Interpretationen. Vielleicht auch dies kann uns sensibel machen für den faszinierenden und doch zugleich so verstörenden Gedanken, dass uns in der Auslegung der Bibel wahrhaftig das Wort des einen Gottes in Vielfalt geschenkt sein kann. So schön dieser letzte Gedanke klingen mag, so wenig dürfen wir ihn einfach allzu naiv an das Ende unserer Überlegungen stellen. Ich habe bereits angedeutet, wie sehr uns rezeptionsgeschichtliche Forschungen auch für die Abgründe und Gräuel sensibilisieren können, die sich mit der Auslegung der Bibel verbinden konnten und weiterhin verbinden. Wir sollten es uns dabei nicht zu leicht machen und die schlimmsten Formen des Missbrauchs nicht nur außerhalb unserer eigenen Zunft suchen. Natürlich ist die Reichweite einer exegetischen Schrift zunächst einmal gering und natürlich sind es zunächst einmal nicht Exegeten, die ein Gesetz unterschreiben, das Menschenleben zerstört, oder die den Knopf betätigen, mit dem eine Bombe gezündet wird. Und doch zeigt uns der Blick auch in die jüngere Geschichte der Auslegung der Bibel, wie sehr sich auch Wissenschaftler in den Dienst menschenverachtender Systeme stellten. Berühmt und berüchtigt ist natürlich das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche Christentum“50. Ich denke nicht, dass die sich wissenschaftlich gebenden Veröffentlichungen dieses Instituts wirklichen oder gar direkten Einfluss auf die Politik der Nationalsozialisten hatten. Die Tatsache aber, dass (nicht nur im Eisenacher Institut) in wissenschaftlichem Gewande Antisemitismus als ein Anliegen der Bibel dargestellt wurde, dürfte sicherlich dazu beigetragen haben, dass manch Gläubige/r sich leichter damit tat, sein „Christentum“ nicht als Widerspruch zu nationalsozialistischem Denken aufzufassen. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen (und ist m.E. kaum ausreichend erforscht), welchen Einfluss das Denken von antisemitischen Exegeten dieser Zeit auch nach 1945 auf Kirche(n) und Verkündigung hatte. Wie weit ist das berühmte Differenzkriterium zur Erforschung des historischen Jesus des (politisch eigentlich unverdächtigen, ja 1937 sogar einige Zeit in Gestapo-Haft genommenen) Ernst Käsemann nicht auch ein Produkt seiner Zeit?51 Immerhin werden Jesus und Judentum hier doch (wenigstens unterschwellig) sehr deutlich voneinander getrennt. Wie sehr sind auch Aspekte heutiger Verkündigung noch immer z.T. ganz unbewusst davon betroffen?52 Und wie viel unbewusste Erinnerung an Propaganda totalitärer Systeme steckt dahinter, wenn heutige kritische Christinnen und Christen nichts mit dem Gedanken des „Opfers“ anfangen können, weil sie die Vielfalt biblischer Vorstellungen von „Opfer“, ohne es zu wissen, (unbewusst) mit dem verwechseln, was ein menschenverachtender „Führer“ als „Opfer für das Vaterland“ forderte?53
Der kritische Blick in die Rezeptionsgeschichte lehrt uns: Die Auslegung der Bibel hat Kulturen geprägt, Menschen verändert, Denk- und Lebensmöglichkeiten erschaffen – und auch solche zerstört. Die Auslegung der Bibel hat ihre Rolle bei Kirchenspaltungen gespielt und ihnen folgend, zu schwerem Leid geführt.54 Sie ist auch aus heutigen gesellschaftlichen Diskursen kaum wegzudenken – und das ist zunächst einmal gut so. Wenn und wo jedoch Bibel auf unterschiedlichste Weise und in verschiedensten Kontexten ausgelegt, interpretiert, herangezogen, gebraucht und missbraucht wird, sind auch die Vertreterinnen und Vertreter der wissenschaftlichen Exegese in die Verantwortung genommen, kritisch ihre Stimme zu erheben und als evangelische, katholische und orthodoxe Christinnen und Christen einzutreten für Interpretationen, die im wahrsten Sinne des Wortes evangelisch, katholisch und orthodox, d.h. der guten Nachricht für alle in richtiger Weise verpflichtet sind.55
Diese Rede lehnt sich an S. Ben-Chorin, Die Tafeln des Bundes – Das Zehnwort am Sinai, Tübingen ²1987, 19–20 an, der von der Israel im Sinaibund gegebenen Aufgabe „Werde, was du bist!“ spricht.
Hierzu auch knapp die Gedanken bei J. Straub, Identität, in: F. Jaeger/ B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Stuttgart/Weimar 2011, 277–303 (mit ausführlichen Literaturangaben). Vgl. S. Alkier, Identitätsbildung im Medium der Schrift, in: M. Grohmann (Hg.), Identität und Schrift. Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung, BThS 169, Göttingen 2017, 105–162.
M. Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt a. M. 452015, 42.
Hierzu die Gedanken in Kapitel III.2.
Zur Auslegungsgeschichte dieser Passage vgl. D.G. Hunter, ‚A Man of One Wife‘: Patristic Interpretations of 1 Timothy 3:2, 3:12, and Titus 1:6 and the Making of Christian Priesthood, in: ASE 32/2 (2015), 333–352.
Vgl. auch die Gedanken von Stefan Alkier zur intertextuellen Disposition des Matthäusevangeliums in IV.1.
Auch der Jakobusbrief erkennt, dass das Gebot der Nächstenliebe mit Hilfe des Gedankens einer Partei ergreifenden Barmherzigkeit erweitert werden muss. Vgl. hierzu P. Wick, Zwischen Parteilichkeit und Barmherzigkeit! Jak 2,1–13 und die elaborierte Ethik des Jakobusbriefes, in: ASE 34/2 (2017), 443–456.
Hilfreich zu dieser Frage T. Hieke, Kennt und verurteilt das Alte Testament Homosexualität?, in: S. Goertz (Hg.), „Wer bin ich, ihn zu verurteilen?“ Homosexualität und katholische Kirche, Freiburg u.a. 2015, 19–52, und ders., Die Männer von Sodom. Keine Homosexualität in Genesis 19 und anderswo, in: ders./K. Huber (Hg.), Bibel falsch verstanden, Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt, Stuttgart 2020, 64–71. Vgl. auch S. Alkier, Kann denn Liebe Sünde sein?, in: Ders./K. Dronsch (Hg.), Aids. Ethische Perspektiven, Berlin/New York 2009, 341–358.
Dies ist kein Widerspruch zu der von Stefan Alkier formulierten Idee der Makropropositionen innerhalb der Bibel.
Ich habe diesen Gedanken im Gespräch mit meinem Freund Cosmin Pricop formuliert.
Siehe vorher Kapitel IV.1.
Siehe vorher Kapitel IV.1.
Dieser Begriff ist hier keineswegs in einem negativen Sinne verwendet. Wir alle haben Vorurteile und müssen sie haben, weil wir ohne sie nicht denken können. Problematisch werden Vorurteile nur da, wo sie unreflektiert bleiben.
Besonders die Markuspassion lässt sich in dieser Weise lesen.
Vgl. auch ähnliche Überlegungen bei Stefan Alkier in IV.2, dort aber zum Matthäusevangelium.
Man könnte, anders formuliert, auch davon sprechen, dass die Bibel den Blick auf die Sakramentalität der (Schöpfungs-)Wirklichkeit eröffnen will. Diese Formulierung greift Gedanken von G. Greshake, Gott in allen Dingen finden. Schöpfung und Gotteserfahrung, Freiburg 1986 und K. Koch, Gottlosigkeit oder Vergötterung der Welt? Sakramentale Gotteserfahrungen in Kirche und Gesellschaft, Zürich 1992 auf.
Damit sind sie eigentlich „Erziehungstexte“, die Bildungsangebote machen bzw. aufgrund derer sich Prozesse der Bildung entwickeln können. Hierzu weiterführend die Gedanken in dem geplanten Band „Bildung“ im Jahrbuch für Biblische Theologie 2020.
Ich verdanke diesen Gedanken Stefan Alkier. Vgl. auch die Überlegungen in dem Beitrag T. Nicklas, Buße tun heißt „Um-Denken“! Neutestamentliche Perspektiven, in: S. Demel/M. Pfleger (Hg.), Sakrament der Barmherzigkeit. Welche Chance hat die Beichte?, Freiburg 2017, 383–400. Vgl. auch S. Alkier, Lasst ab von euren Verfehlungen, oder: Umdenken mit dem Markusevangelium, in: J. Kelhoffer/T. Nicklas/M. Seleznev (Hg.), The Gospel of Mark. Narrative, History and Theology, Tübingen 2021 [im Druck].
Zur folgenden Kurzinterpretation dieser Erzählung vgl. auch T. Nicklas, Transparent für Gottes Wirken. Natur in den synoptischen Evangelien, in: JBTh 34 (2019) [im Druck: erscheint 2021].
Ich verstehe hier mit G. Schiemann, Natur – Kultur und ihr Anderes, in: F. Jaeger/B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2011, 60–75, hier: 60, Natur als das gegenüber der „Kultur“ andere, den „vom Menschen nicht geschaffene[n], d.h. weder hergestellt noch handelnd hervorgebrachte[n] Teil der Wirklichkeit“.
Die Beobachtung, dass die klassische Formgeschichte das „Wunderbare“ in den Schriften der Bibel zu sehr auf einige wenige Texte isoliert sieht, geht auf S. Alkier zurück. Vgl. ders., Das Kreuz mit den Wundern oder Wunder ohne Kreuz? Semiotische, exegetische und theologische Argumente wider die formgeschichtliche Verkürzung der Wunderforschung, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, WUNT 339, Tübingen 2014, 515–544.
A. Oz/F. Oz-Salzberger, Juden und Worte, Berlin 32015, 13. Vgl. auch A.a.O., 15: „Es geht uns nicht um Steine, Stämme und Chromosomen. Man muß weder Archäologe, noch Anthropologe oder Genetiker sein, um jüdische Kontinuität auszumachen und zu untermauern. Man muss kein orthodoxer Jude sein. Man muss überhaupt nicht jüdisch sein. Übrigens auch kein Antisemit. Nur ein Leser.“
Knappe Gedanken hierzu bei A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 42017, 9–12.
Spannende weitere Beispiele – gerade von Frauenfiguren – bei I. Fischer, Für das Leben lernen wir – und das Leben lehrt uns. Zu Kontexte, Inhalten und Bildungsverläufen im Alten Testament, in: JBTh 34 (2019) [im Druck: erscheint 2021].
Übernommen aus T. Nicklas, Vom Umgang mit biblischen Texten in antisemitischen Kontexten, in: HTS 64/4 (2008), 1895–1921, hier: 1900.
Zu „Erzählungen vom Mensch-Sein“ im Johannesevangelium vgl. T. Nicklas, Mensch sein und Mensch werden im Johannesevangelium, in: J. Frey/ U. Poplutz (Hg.), Taufe und Heil im Johannesevangelium (BThSt), Göttingen 2021 [im Druck].
Hierzu ausführlicher, T. Nicklas, Neutestamentlicher Kanon, christliche Apokryphen und antik-christliche „Erinnerungskulturen“, in: NTS 62 (2016), 588–609 sowie ders., Das Bierwunder von Kildare und andere spätantike Transformationen biblischer Wundererzählungen, in: U. Eisen/H. Mader (Hg.), Rede von Gott in Gesellschaft. Multidisziplinäres (Re)Konstruieren antiker Kontexte (NTOA), Göttingen 2021 [im Druck].
Natürlich soll auch das Erzählen an sich Freude bereiten!
Ich spiele hier auf den Titel des von mir geleiteten Regensburger Projekts „Jenseits des Kanons. Heterotopien religiöser Autorität im spätantiken Christentum“ an.
U. Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, 361.
Vgl. auch die Gedanken von Christos Karakolis in Kapitel III.3.
Luz, Theologische Hermeneutik, 400.
Zur weiteren Entfaltung dieses Gedankens vgl. T. Nicklas, Kanon und Geschichte. Eine Thesenreihe, in: Sacra Scripta 15 (2017), 90–114, sowie ders., The Interaction of Canon and History, in: I. Saloul/J.W. Van Henten (Hg.), Martyrdom. Canonisation, Contestation and Afterlives, Heritage and Memory Studies, Amsterdam 2020, 33–54.
Vgl. U. Eco, Lector in Fabula: Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München/Wien 1998, 63–64. Ähnlich auch J.S. Petöfi, Explikative Interpretation. Explikatives Wissen, in: ders./T. Olivi (Hg.), Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung – From verbal constitution to symbolic meaning, Papiere zur Textlinguistik 62, Hamburg 1988, 184–195, hier: 184 (erwähnt auch in III.1).
H.G. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: ders., Gesammelte Werke II, Tübingen 1987, 247.
Wichtige Gedanken u.a. bei K. Lehmann/R. Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (QD 266), Freiburg 2014.
Vgl. hierzu natürlich den wichtigen Band von U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994. Dass Körtner damit nicht alleinsteht, sondern es kirchliche Traditionen gibt, die Inspiration nicht nur auf der Ebene der Entstehung des Textes ansetzen, thematisiert auch Luz, Theologische Hermeneutik, 110, der einen „auf den Leser bezogenen Inspirationsgedanken“ an verschiedenen Orten der Kirchengeschichte ausmacht: „Dieser Gedanke ist z.B. für das geistliche Verstehen der Schrift bei Origenes und in der von ihm geprägten Ostkirche wichtig. Bei den Reformatoren ist er für Luthers Gedanken der ‚inneren Klarheit‘ und für Calvins Lehre vom testimonium internum Spiritus Sancti grundlegend.“
Siehe auch ähnliche Gedanken in Kapitel III.2.
Vgl. hierzu z.B. die Überlegungen von Luz, Theologische Hermeneutik, 125–127 sowie C. Markschies, Epochen der Erforschung des neutestamentlichen Kanons in Deutschland. Einige vorläufige Bemerkungen, in: E.-M. Becker/S. Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion: Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2012, 578–604, hier: 582–587.
Spannende weiterführende Gedanken z.B. bei W.M. Swartley, Slavery, Sabbath, War and Women. Case Issues in Biblical Interpretation, Scottdale, Penn. – Waterloo, Ont. 1983, sowie H. Avalos, Slavery, Abolitionism and the Ethics of Biblical Scholarship, The Bible in the Modern World, Sheffield 2013; zum Problem Bibelauslegung und Antisemitismus vgl. z.B. T. Nicklas, The Bible and Anti-Semitism, in: M. Lieb/E. Mason/J. Roberts (Hg.), The Oxford Handbook of the Reception History of the Bible, Oxford 2011, 267–280 [Lit.].
Die Aussage wurde bekanntlich zum Titel des Bandes von M. Woolff, Fire and Fury in the Trump White House, London 2018.
Vgl. Luz, Theologische Hermeneutik, 402: „Das Studium der Wirkungsgeschichte biblischer Texte verhindert eine vorschnelle und naive Gleichzeitigkeit mit den biblischen Texten.“
Dies ist ein Grundanliegen des Projekts „Novum Testamentum Patristicum“. Hierzu weiterführend A. Merkt in Zusammenarbeit mit T. Nicklas und J. Verheyden, Das Novum Testamentum Patristicum (NTP): Ein Projekt zu Erforschung und Auslegung des Neuen Testaments in frühchristlicher und spätantiker Zeit, in: Early Christianity 6 (2015), 573–595.
Weiterführend z.B. G. Kretschmar, Die Offenbarung des Johannes: Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend, Stuttgart 1985, 77–79, sowie M. Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,14), EKK XXIV/1; Göttingen/Düsseldorf 2017, 120.
Übersetzungen des Eusebius nach H. Kraft, Eusebius von Caesarea. Kirchengeschichte, Darmstadt 62012 [1981].
Zu einem möglichen Argumentationsweg aus heutiger Perspektive vgl. z.B. T. Nicklas, Neutestamentliche Pseudepigraphie und Fiktionalität. Eine Diskussion mit Eckart Reinmuth, in: S. Alkier/C. Böttrich (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 185–204.
Zu Problemen typologischer und allegorischer Exegesen für das jüdisch-christliche Verhältnis vgl. z.B. die Überlegungen bei H.-G. Schöttler, Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum, Judentum – Christentum – Islam 13, Würzburg 2016, 50–73 (und später) mit einer Vielzahl von hilfreichen Beispielen.
Einführend z.B. A. Fürst, Origenes – der Schöpfer christlicher Wissenschaft und Kultur. Exegese und Philosophie im frühen Alexandria, in: ders., Von Origenes und Hieronymus zu Augustinus, AKG 115, Berlin/Boston 2011, 81–114.
Siehe auch die Gedanken in Kapitel III.2.
Hierzu z.B. die Beiträge bei R. Deines/V. Leppin/K.-W. Niebuhr (Hg.), Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte), Leipzig 2007.
Vgl. z.B. das Bild, das sich aus dem Band von J. Adam/H.-J. Eckstein/H. Lichtenberger (Hg.), Dienst in Freiheit: Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008 ergibt.
Während ich diesen Text schreibe, liegt vor mir ein ganz aktuelles Arbeitsblatt für den Religionsunterricht an Grundschulen, welches Grundschülern vermitteln soll, dass Pharisäer und Schriftgelehrte „Feinde Jesu“ (und zwar ganz grundsätzlich) gewesen seien.
Zu dieser Verbindung vgl. jetzt die Beobachtungen bei E. Lorenz, Ein Jesusbild im Horizont des Nationalsozialismus. Studien zum Neuen Testament des ‚Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘ (WUNT II.440), Tübingen 2017, 342–347.
Ich denke an die Wirren im byzantinischen Reich um die Annahme des Konzils von Chalcedon, aber auch den sich zunächst einmal an die Spaltungen nach der Reformation anschließenden Dreißigjährigen Krieg. Natürlich sind diese Katastrophen nicht direkt und alleine religiös zu begründen, aber stehen doch mit den jeweiligen kirchlichen Entwicklungen in engem Zusammenhang. All dies darf aber nicht dazu führen, dass die Kirchen die Bibel als „gefährliches Buch“ einfach wegschließen. Ich verweise hierzu auf den Beitrag von Christos Karakolis (III.3).
Zur Frage eines Ethos verantworteter Exegese vgl. auch T. Nicklas, Verantwortete Exegese. Reflexionen (auch) anhand der Geschichte der Jesusforschung, in: T. Fornet-Ponse (Hg.), Jesus Christus. Von alttestamentlichen Messiasvorstellungen bis zur literarischen Figur. Ökumenische Beiträge aus dem Theologischen Studienjahr Jerusalem, Jerusalemer Theologisches Forum 25, Münster 2015, 73–90.