Author:
Michael Brenner
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An Edom!

Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde Ich.
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
Ward dir wunderlich zu Mut,
Und die liebefrommen Tätzchen
Färbtest du mit meinem Blut!
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,
Und ich werde fast wie Du.

Als Heinrich Heine diese Zeilen in einem Brief an seinen Freund Moses Moser am 25. Oktober 1824 schrieb, hatte er die antijüdischen „Hep-Hep“-Pogrome aus dem Jahr 1819 noch allzu gut in Erinnerung.1 Was, wenn die Juden sich gegen die Gewalt durch Christen („Edom“) wehren? Was gar, wenn sie sich für Jahrhunderte lang erlittenes Unrecht rächen? Heine wusste aber auch, dass dies nicht geschehen würde und dass er Bürger zweiter Klasse bleiben würde, falls er sich nicht christlich taufen lassen oder ins benachbarte Frankreich auswandern sollte. Er tat beides.

Sieben Jahrzehnte später dichtete Theodor Herzl:

Wann erscheint mir als gelungen
Mein Bemüh‘n auf dieser Erden?
Wenn aus armen Judenjungen
Stolze junge Juden werden

Der Begründer der zionistischen Bewegung hatte sein ursprüngliches Ideal, als deutschsprachiger Schriftsteller in seiner Umwelt aufzugehen, fallenlassen, nachdem er zur Erkenntnis kam, man würde die Juden nie in Ruhe lassen. Auch er hatte zunächst erwogen, sich christlich taufen zu lassen, doch in einer Zeit des rassisch begründeten Antisemitismus nützte dies nichts mehr. So entschied er, nur ein eigener Staat kann die Juden retten. Ein Staat, in dem sie sich selbst verteidigen können. Das Wort vom „Muskeljudentum“ machte die Runde, es entstanden jüdische Sportklubs und paramilitärische Organisationen in Palästina. Stolze junge Juden ließen sich nichts mehr gefallen, setzten sich gegen Angriffe zur Wehr und rächten notfalls das Unrecht, das ihnen geschah.

Weder Heine noch Herzl konnten die Verbrechen voraussehen, die den Juden in der Mitte des 20. Jahrhunderts widerfahren sollten. Die Schoa war nicht zu vergleichen mit den Hep-Hep-Ausschreitungen zur Zeit Heines oder den russischen Pogromen zu Herzls Lebzeiten. Die Geschichte des Antisemitismus, aber auch die Geschichte der Völkermorde nahm mit dem nationalsozialistischen Judenmord eine neue Dimension an. Millionen von Männern, Frauen und Kindern wurden durch Massenerschießungen oder in Gaskammern getötet. Ein ganzer Kontinent wurde systematisch durchkämmt, um Menschen jüdischer Abstammung zu finden, hunderte oder tausende Kilometer durch Europa zu transportieren und dann umzubringen. Die wenigen Überlebenden hatten nicht nur ihre Eltern, Großeltern und Geschwister verloren, sondern sehr häufig auch ihre Ehepartner und Kinder. Europa war für sie nach dem Krieg nichts als ein großer jüdischer Friedhof, sie nannten es die blutbefleckte Erde.

Gleich nach Kriegsende drückte der Sprecher der befreiten Juden in der amerikanischen Zone des besetzten Deutschland, Samuel Gringauz, unmissverständlich aus, wofür Europa in der Vorstellungswelt der wenigen Überlebenden nunmehr stand: nicht etwa für Westminster Abbey oder Versailles, nicht für den Straßburger Münster oder die Kunstschätze von Florenz, sondern für die mittelalterlichen Kreuzzüge, die spanische Inquisition, die Pogrome in Russland und die Gaskammern von Auschwitz. Eindeutig rief er die überlebenden Juden dazu auf, dem ganzen Kontinent den Rücken zu kehren. „Adieu Europa!“ lautete sein Motto.

Doch damit allein konnten sich nicht alle zufrieden geben. Europa einfach hinter sich zu lassen, als ob nichts geschehen wäre, das hätten – so argumentierte eine Minderheit – arme Judenjungen gemacht. Aber stolze Juden hatten sich schon während die Mordmaschine lief zur Wehr gesetzt – und nun würden sie sich an den Tätern rächen. So dachte Abba Kovner, der bereits im Getto von Wilna und später in den litauischen Wäldern den bewaffneten Aufstand gegen die deutschen Besatzer führte und mit dem Ruf, „Lasst Euch nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen“ zum Widerstand aufrief.

Rasend vor Zorn sahen er und die Mitglieder seiner Gruppe sich nach der Befreiung mit dem Ausmaß der Katastrophe konfrontiert. Wie konnte man danach ein normales Leben führen? Wie konnte man diese in der Geschichte einzigartigen Verbrechen vergessen und vergeben? Der Antisemitismus war ja mit dem 8. Mai 1945 nicht verschwunden. In Polen wurden nach dem Krieg noch Hunderte von Juden umgebracht. Im besetzten Deutschland wurden die Hauptverbrecher zwar in den Nürnberger Prozessen vor Gericht gestellt, aber die Millionen am Mord beteiligten Menschen liefen zumeist frei herum, planten neue Karrieren, setzten einfach ihre alten fort oder flohen mit Hilfe der Alliierten und des Vatikan nach Argentinien oder Ägypten. Bolek Ben-Ja’akov, ein Nakam-Mitglied aus Częstochowa, fasste die Auffassung seiner Mitkämpfer zusammen, wenn er feststellte: „Wenn auf einen Massenmord wie die Schoa keine Reaktion erfolgt und die Deutschen meinen, wir hätten uns beruhigt, war das Massaker dann vielleicht gerechtfertigt und sollte zu Ende geführt werden?“

Und Hanoch Bartov gab die Sehnsucht vieler Mitgliedern der Jüdischen Brigade, die kurz vor Kriegsende als Teil der britischen Armee nach Italien aufbrachen, wieder. Sie sehnten sich „nach einer einzigen großen jüdischen Rache. Nur einmal sein wie die Tataren. Wie die Ukrainer. Wie die Deutschen. Alle von uns, alle, denen das Herz blutet, […] wir alle zusammen gehen in eine Stadt und brennen sie nieder, eine Straße nach der anderen, ein Haus nach dem anderen, ein Deutscher nach dem anderen.“ Es war die von Heinrich Heine ausgedrückte Sehnsucht, einmal so zu sein wie Edom. Und wie bei Heine blieb sie auch hier Fiktion.

Die Gefahr, dass eine Geschichte wie diese von antisemitischer Seite heute aufgegriffen wird, um alte Vorurteile von jüdischer Rachsucht und Brunnenvergiftung wieder aufzuwärmen, kann man leider nicht ausschließen. Man kann solchen Stimmen nur empfehlen, sich die Berichte über die unzähligen Untaten genau anzusehen, die diese kleine Gruppe von verzweifelten Menschen dazu führte, ihre Pläne zu entwickeln. Der Unterschied liegt nicht nur darin, welche Verbrechen zuerst geplant wurden, sondern dass die Verbrechen an den Juden unter der Beteiligung von Millionen Deutscher und anderer Europäer über Jahre hinweg tatsächlich ausgeführt wurden, während die Vergeltungspläne nie die Zustimmung der politisch Verantwortlichen fanden und am Ende recht unspektakulär im Sande verliefen.

Das Überraschende an der Reaktion der überlebenden Juden war ja nicht, dass es Rachegedanken gegenüber den Deutschen gab, dass eine Gruppe wie Nakam (Rache) existierte oder dass sogar eine – am Ende dilettantisch ausgeführte – Racheaktion gegen deutsche Kriegsgefangene stattfand. Das Überraschende ist, wie schon oftmals in der Forschung gesagt, die Tatsache, dass es bei allem verständlichen Vergeltungsbedürfnis so wenige Racheaktionen gab. Aus der Sicht der Heutigen betrachtet, sind die geplanten Aktionen von Abba Kovner und seiner Gruppe irrsinnig, verbrecherisch und mit der jüdischen Ethik unvereinbar – und waren es gemäß der jüdischen Führungsriegen in Palästina und weltweit auch damals schon. Das bedeutet aber nicht, dass Historiker sie ad acta legen sollten. Wie Dina Porat in diesem Buch schreibt, besteht das Wesen der Geschichtsforschung darin, „die Motivationen der Handelnden zu ergründen, sich in die Menschen einer bestimmten Periode, die nicht die unsere ist, hineinzuversetzen und sich vorzustellen, was sie empfanden und wie sie auf das Zeitgeschehen reagierten.“

Dies ist Professor Dina Porat in diesem Buch hervorragend gelungen. So schwer es uns fallen mag, wir versetzen uns bei der Lektüre ihres Buches für einen Moment in die Verzweiflung von Menschen, die ihre Heimat, ihre gesamten Familien und letztlich auch ihren Sinn zum Weiterleben verloren hatten. Die hier akribisch aus Archivmaterialien und zahlreichen Interviews unternommene Rekonstruktion der historischen Vorgänge um die Gruppe der Nokdim (Rächer) liest sich wie eine Detektivgeschichte. Man mag mitunter vergessen, dass es sich um die wahre Geschichte eben dem Tode entronnener und verzweifelter Menschen handelte. Für sie gab es keine Alternative zu einer zumindest symbolischen Vergeltung des unermesslichen Unrechts. Diese lag für sie so klar auf der Hand, dass einer ihrer Mitglieder, Jitzchak (Pascha) Avidov später feststellte: „Selbst Jesus hätte zur Nakam-Gruppe gehört, wenn er die Schoa erlebt hätte.“

Michael Brenner

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"Die Rache ist Mein allein"

Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam. Aus dem Hebräischen übersetzt von Helene Seidler. Mit einem Geleitwort von Michael Brenner und einem Nachwort von Armin Lange