Ich wende mich an Sie mit einer Befürchtung und mit einer Hoffnung. Im Buch, das Sie jetzt in der Hand halten, beschreibe ich Ereignisse, die sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zugetragen haben. Es kreist um junge Überlebende, die die Schoa mit knapper Not zumeist als Partisanen und Untergrundkämpfer überstanden hatten. Nach dem Krieg schlossen sie sich zu einer Gruppe zusammen mit dem Ziel, den Mord an sechs Millionen ihrer Brüder mit dem Tod von sechs Millionen Deutschen zu vergelten, und sie hielten alle Deutschen für schuldig. Ein solches Ansinnen ist eigentlich nur vor dem Hintergrund der im Nachkriegseuropa herrschenden Verhältnisse zu verstehen.
Vermutlich wird die Lektüre meines Buches Ihnen nicht leicht fallen. Es spricht vom unbändigen Zorn der Juden, die ihre Familien und ihre ganze Welt verloren hatten, die erniedrigt und unsäglich gequält worden waren, die man als Untermenschen herab qualifiziert hatte. Es spricht vom Wunsch nach Vergeltung, der nicht nur in den Herzen dieser jungen Leute brannte, sondern in den Herzen all der Millionen, die unter der Knute der Deutschen zu leiden gehabt hatten.
Ich schreibe Ihnen, weil ich befürchte, das Geschehen der Schoa könnte heute, fünfundsiebzig Jahre, drei Generationen später, in der Erinnerung verblasst sein. Wer aber nicht genau weiß, was damals geschah, dem wird es schwerfallen, das Rachebegehren zu verstehen, das die Gruppenmitglieder umtrieb.
Ich schreibe Ihnen, weil ich darauf hinweisen möchte, dass es sehr schwierig sein kann, bestimmte beladene Begriffe präzise aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übertragen. Sie wissen vielleicht, dass das heute in Israel gesprochene Iwrith die Sprache der Hebräischen Bibel ist. Mindestens zweitausendfünfhundert Jahre, nachdem deren Buchstaben das erste Mal in Stein gemeißelt wurden, bedienen wir uns ihrer im Alltag der modernen Welt immer noch. Der biblische Ausdruck nakam wurde von Martin Luther mit Rache ins Deutsche übersetzt. Wer Rache fordert, wird von loderndem Zorn geleitet und ist bereit, auch außerhalb der gesellschaftlichen Rahmen zu handeln. Daneben gibt es in beiden Sprachen zusätzliche Ausdrücke wie ‚Maß um Maß‘, ‚Schuld und Sühne‘, ‚Buße für eine böse Tat‘, ‚Heimzahlung‘ oder ‚verdiente Strafe‘, mit deren Hilfe wir Vergeltungsmaßnahmen benennen können.
Ich schreibe Ihnen, weil es im Verlauf der Geschichte Juden gegenüber immer wieder Ausbrüche offener Feindseligkeit gegeben hat. Ihre Gegner beschrieben jüdische Eigenschaften und Bestrebungen nicht wie sie der Wirklichkeit entsprachen, sondern wie man sie sich vorstellte und ausmalte. (Was übrigens immer noch geschieht.) Es steht also zu befürchten, dass Extremisten aller Art, die vielleicht schon vergessen haben, wohin Extremismus zu führen droht, die hier präsentierte Geschichte benutzen, um alle möglichen Ängste zu schüren.
Aber ich schreibe Ihnen auch voller Hoffnung, denn tatsächlich unterhalten Deutschland und Israel seit vielen Jahren enge Beziehungen auf allen Gebieten des Lebens. Die Vergangenheit ist keineswegs vergeben und vergessen; sie hat sich jedem Juden eingeprägt. Es vergeht kein Tag, ohne dass die israelischen Medien uns die Schoa zumindest einmal ins Gedächtnis rufen. Die Erinnerung ist keine Verpflichtung, sie ist die Wirklichkeit, die uns immerzu begleitet. Die Gegenwart und das tägliche Leben aber besitzen eine starke, auf die Zukunft gerichtete Schubkraft, und in dieser Zukunft werden es die Angehörigen der zweiten und dritten Generation beider Länder sein, die die gegenseitigen Beziehungen nach ihren Vorstellungen gestalten.
Dies ist möglich geworden, weil die wenigen Menschen, die die Schoa überlebten, im Verein mit der damaligen zionistischen Führungsriege im Land Israel nach dem Krieg eine schicksalhafte Wahl trafen: Sie wählten den Weg des Lebens. Sie gründeten abermals Familien, sie schufen neue Gemeinschaften, sie lebten unter Juden, sie kämpften für Aufbau und Fortbestand eines jüdischen Staates. Somit hat die Judenheit als Ganze niemals Vergeltung geübt. Sie hat auf die Zukunft gesetzt, nicht auf die Vergangenheit. In dieser Wahl zeigen sich Weitsicht und moralisch-geistige Größe.
Abschließend erlauben Sie mir bitte einige Bemerkungen zum Titel Die Rache ist Mein allein. Ich habe versucht, die Beweggründe und Argumente der Nakam-Gruppe nachzuvollziehen, die eine klar erkennbare Racheaktion riesigen Ausmaßes plante, um den notorischen Anschlägen auf Juden ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Ich habe die Mitglieder persönlich kennengelernt und mich mit ihnen angefreundet. Aber niemals habe ich ihrem schrecklichen Vorhaben, sechs Millionen Menschen wahllos zu töten, zustimmen können. Ich danke Gott, dass es ihnen nicht gelungen ist. Die Hebräische Bibel legt die Rache nicht in die Hände der Menschen, sie überlässt sie dem Allmächtigen. Dementsprechend trägt mein Buch den Titel Die Rache ist Mein allein. Sein allein.
Ich danke Helene Seidler, Michael Brenner, Armin Lange, Ferdinand von Trauttmansdorff, Martin Illert und Diethard Sawicki, für Ihre Unterstützung bei der Publikation der deutschen Ausgabe meines Buches.
Dina Porat
Ramat HaScharon, Israel
Im Februar 2021