Einleitung der Herausgeberin

In: Bücher und ihre Wege
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Vanessa de Senarclens
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Der Historiker Robert Darnton hat die Geschichte eines Buches als einen lebendigen Kommunikationskreislauf – „a communication circuit“1 – beschrieben, an dessen materieller Produktion, Vertrieb und Wirkung zahlreiche Akteure und Institutionen beteiligt sind: vom Autor zum Drucker und Buchhändler über private wie öffentliche Räume wie Salons, Cafés und Bibliotheken, in denen das Buch vom Leser interpretiert, diskutiert und übersetzt wird. Sie alle tragen zur öffentlichen Debatte bei, die nicht an den Nationalgrenzen Halt macht. Im 18. Jahrhundert bilden sie rege Netzwerke, die oft verborgen vor der staatlichen Kontrolle interagieren. Auf verschlungenen und oft verbotenen Wegen werden sie durch ganz Europa transportiert, von Paris nach Warschau, von Dresden bis London, von Genf nach Leipzig. Das tragbare Buch der Aufklärung („le livre portatif“), jenes nomadische Objekt, das große Enzyklopädien kondensiert, wandert von Hand zu Hand und nährt eine Konversation zwischen Liebhabern, Experten, Sammlern und Dilettanten.

Dieser Band befasst sich mit Büchern, die einem solchen lebendigen Austausch und einer entsprechenden Zirkulation entzogen sind: Bücher wurden während des Zweiten Weltkrieges in einem, bis dahin nicht bekannten Ausmaße zerstört, oder, sofern sie die Verwüstungen des 20. Jahrhunderts überlebt haben, fristen sie ihr Dasein auf Abstellgleisen, verwaist, von ihrem ursprünglichen Kontext abgekoppelt, darauf wartend, wiederentdeckt und in ein lebendiges Ganzes integriert zu werden. Wie die Voltaire-Ausgabe der „Philosophie de l’Histoire“ von 1765, die den Umschlag dieses vorliegenden Bandes ziert, sind die Bücher von der Geschichte geprägt: Mit ihrem jeweils übereinandergeklebten Exlibris tragen sie die Spuren der verschiedenen Kontexte, denen sie angehörten. Auf dem Wappen einer adligen Familie hat man in der Polnischen Volksrepublik ein modernistisches Exlibris aus der Zeit der 1960iger Jahre geklebt: Unter einer Eule, die nachts auf den Dächern einer Industriestadt thront, erahnt man noch die Umrisse des pommerschen Greifen. Die Vergangenheit lässt sich nicht ganz von der Gegenwart überdecken.

Bibliotheken werden im 18. Jahrhundert wie Basiliken mit weiten Gewölben ideal geträumt – man denke nur an die Pläne von Étienne-Louis Boullée für die französische Königsbibliothek am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie werden als Ort der Ordnung gedacht, in denen jedes Buch nach den makellosen Angaben eines Katalogs im großen gewölbten Raum auffindbar ist.2 Auf dem Prüfstand der Zeit zeigten sie sich in den folgenden Jahrhunderten, vor allem im 20. Jahrhundert, als zerbrechlich und verwundbar. In ihrer Monographie „The Library. A Fragile History“ verfolgen Andrew Pettegree und Arthur der Weduwen Größe und Verfall der Bibliotheken seit der Antike und betonen die existenziellen Herausforderungen, die ihnen der Zweiten Weltkrieg gestellt hat. Büchersammlungen waren stets bedroht, aber kein Jahrhundert war verheerender für ihre Existenz als der 20igste.3 Und keines zeigt– so die deutsch-polnische Büchermigration, die das Thema dieses Buches ist – einen so großen Schattenwurf.

Mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen 1939 wurden bis Kriegsende 1945 rund 70 bis 75 Prozent der polnischen Bibliotheksbestände dezimiert, zerstört oder verstreut.4 Gemäß einer Berechnung von 2015 überlebten von den 22,6 Millionen Bänden der polnischen Bibliotheken vor 1939 nur ein knappes Drittel.5 In seinem Aufsatz „Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“ von 1940 erläuterte Heinrich Himmler seinen Plan, die slawischen Kulturen, die er für minderwertig hielt, auslöschen zu wollen. Sie sollten in „kleine Splitter und Partikel“6 zerplatzen. Dieser Wille Nazi-Deutschlands, das polnische Kulturerbe zu zerstören, ist in Polen in so schmerzhafter wie lebendiger Erinnerung. Eine Urne mit der Asche von verbrannten Handschriften und alten Drucken versinnbildlicht in der Krasiński-Bibliothek diese brutale Zerstörungswut, die die ganze polnische Nation und ihre Kultur traf.7 Auch jüdische Bibliotheken in Schulen und Synagogen sowie private Bestände wurden nach 1939 dezimiert, sowohl im Deutschen Reich wie auch in den Zentren des jüdischen Lebens in Polen wie Warschau, Breslau und Lublin. Nach dem Krieg blieben die verstreuten Bücher oft ohne Eigentümer. Eine amerikanische „Commission on European Jewish Cultural Reconstruction“ (CEJCR), die von Hannah Arendt geleitet wurde, agiert als Verwahrer dieses „verwaisten“ jüdischen Kulturguts. In seinem Briefwechsel befasst sich der Philosoph Gershom Scholem mit der Tragödie der „heirless“ Bücher aus verstreuten jüdischen Sammlungen, die nun ohne Leser waren.8

In der Nachkriegszeit wurden in Deutschland ebenfalls Sammlungen vermisst: Nach der im August 1945 erfolgten Verlegung der deutsch-polnischen Grenze an die Oder-Neiße-Linie gelangten Millionen von Büchern aus privaten, kirchlichen und auch ausgelagerten öffentlichen Sammlungen der Preußischen Staatsbibliothek in einen neuen nationalen Kontext. Aus polnischer Perspektive wurden diese „zurückgelassenen“ Bücher aus deutschen Bibliotheken als Staatseigentum betrachtet und als solches vor weiteren Plünderungen und Zerstörungen geschützt. Polen versuchte, den Abtransport von „Trophäenbüchern“ in die Sowjetunion zu verhindern. Laut einem polnischen Gesetz vom 6. Mai 1945 galten sie als „verlassen und aufgegeben“.9 Entsprechend bezeichnet man diese Bücher aus ehemaligen deutschen Bibliotheksbeständen als „sichergestellte Büchersammlungen“ und betrachtet sie als „Kompensation“ für die Zerstörung von polnischen Archiven und Bibliotheken während des Krieges – wenn auch als eine gänzlich unzureichende und unverhältnismäßige. Die sogenannten „post-German collections“ wurden in der polnischen Wahrnehmung vor der Zerstörung und Plünderung gerettet.10

In der Bundesrepublik wie auch in der DDR und vielleicht erst recht im wiedervereinigten Deutschland sind diese Bücher aus ehemaligen deutschen Sammlungen mit Begriffen wie „Verlust“, „schmerzliche Lücke“ oder „Zerrissenheit der Nachlässe und Sammlungen“ verbunden.11 Der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, bezeichnete 2007 die Handschriften und Nachlassteile von Beethoven, Bach, Haydn, Telemann, Dürer, Luther, Kant und Goethe als „das geistige Tagebuch der Deutschen“.12 Im gleichen Jahr nannte Tono Eitel, der damalige Sonderbotschafter für die „Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter“, die Bücher die „letzten deutschen Kriegsgefangenen“.13 Sinnbild solchermaßen auseinandergerissener Bestände ist sicher die 8. Sinfonie von Beethoven: Die Handschriften des ersten, zweiten und vierten Satzes sind in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt, die des dritten Satzes „Tempo di menuetto“ in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau.14

In den digitalen Katalogen der Staatsbibliothek zu Berlin (StaBiKat) begegnet der Benutzer oder die Benutzerin bei der Suche nach einem Buch dem Verweis „Standort: Kriegsverlust“. Im Normalfall findet der Benutzer unter der Signatur eine Angabe, in welchem Magazin (Potsdamer Platz, Unter den Linden, Rara-Sammlung, Außenmagazin) das Buch zu finden ist und wie lange es dauern wird, es zu bestellen. Der Vermerk „Kriegsverlust“ verweist indessen auf eine Abwesenheit des Buches und erzeugt das Gefühl einer Leere.15 Der Hinweis ist als knappe Information gedacht, das Buch sei „nicht verfügbar“, allerdings wirkt es zugleich wie ein unabsichtliches Gedenken an die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Der Krieg bricht unvermittelt in die Literaturrecherche hinein. Wenn die Benutzerin jedoch zu dem Hinweis „Kriegsverlust“ auf der Webseite der Staatsbibliothek weiter recherchiert, so findet sich unter „Besitzstempel und Supralibros“ eine Belehrung über die rechtliche Dimension des Ganzen. Man liest dann: „Die Staatsbibliothek zu Berlin erhebt auf alle Materialien, die mit ihren historischen Stempeln versehen sind, Eigentumsanspruch.“16

Seit nunmehr 75 Jahren sind die deutschen Bücher in Polen – Bücher aus ausgelagerten Beständen der Staatsbibliothek, aber auch Bücher aus öffentlichen und privaten schlesischen und pommerschen Sammlungen – Gegenstand zweier völlig verschiedener und inkompatibler nationaler Erzählungen. Die Bücher sind in Universitätsbibliotheken (Łódź, Kraków, Wrocław, Warszawa, Lublin) aufbewahrt, doch oft ohne erklärenden Zusammenhang, oft unzureichend katalogisiert, ohne Angabe von Provenienz: „Verlegt, verwahrt und vergessen“.17 Von einigen wenigen Initiativen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern18 abgesehen, wird mit ihnen nicht gearbeitet, vielmehr scheinen sie auf ihre politisch-symbolische Dimension der Kriegsfolgen reduziert zu werden.19

In Anlehnung an den Begriff der „Bibliomigrancy“ stellt dieser Band Geschichten von Büchermigrationen zwischen Deutschland und Polen ab 1939 in den Mittelpunkt. Er basiert auf einer Tagung, die im März 2022 in Warschau stattgefunden hat.20 Historikerinnen und Historiker aus Polen und aus Deutschland versuchten gemeinsam, die Bücher aus ihrem toten Winkel herauszuholen und sie als lebendige Objekte der Geschichte zu betrachten, samt ihrer „Biographie“ mit ihren kulturellen, sozialen und politischen Aspekten. Der Begriff „Bibliomigrancy“ wurde von dem in Wisconsin lehrenden Germanisten B. Venkat Mani entwickelt, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Es geht in seiner Monographie um der Begriff Weltliteratur im globalisierten Zeitalter.21 Der Neologismus „Bibliomigrancy“ ist aber auch für die Geschichte des Buches innovativ und fruchtbar. Die Wortneuschöpfung, die aus dem englischen Wort „Migrancy“ abgeleitet ist, deutet nicht so sehr auf ein Ereignis hin – die Migration von einem Land in ein anderes oder von einer Sprache in eine andere – als vielmehr auf einen Zustand, der andauert und fortwährt. Bei der „Bibliomigration“ geht es um die Wege der Bücher in Raum und Zeit als auch um ihre sich wandelnde Semantisierung innerhalb geografischer, politischer, institutioneller und sprachlicher Räume.

Das Buch, das über die Fronten hinweg wandert, ist eine mächtige Metapher für die desaströsen Episoden der Geschichte, aber auch für die Widerständigkeit des Objektes. Mit ihren Migrationen, die sich in ihre Materialität eingeschrieben haben, sind die Bücher im deutsch-polnischen Kontext ein Zeugnis der Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs. Die Untersuchung der migrierten Bücher mit den übereinanderliegenden Exlibris-Schichten, den durchgestrichenen Insignien seines Eigentümers, den Spuren der Bücherwürmer,22 die Feuchtigkeit der ungeeigneten Depots, in denen es gelagert wurde, aber auch die Marginalien, die markierten Seiten einer einst geliebten Passage im Buch, hinter denen sich die Persönlichkeiten seiner Leser verbergen: All dies ist ein faszinierendes Gebiet der Buch- und der Bibliotheksgeschichte.23 In Anlehnung an die Formulierung des senegalesischen Philosophen Souleymann Bachir Diagne könnte man diese Bücher als „restless“ bezeichnen.24 Mit diesem Adjektiv bezeichnet er Gegenstände aus der Kolonialzeit, etwa die Benin-Bronzen, und betont, dass man sie nicht ohne ihre Migration- und Einflussgeschichte betrachten könne. Die Bücher sind allerdings porös und zerbrechlicher als Bronzen. Sie sind oft materiell gezeichnet von der Geschichte und fragil in ihrem Zustand.

Jenseits von Kriegskompensation oder Kriegsverlust repräsentiert die Geschichte des Buches ein bis jetzt eher vernachlässigtes Forschungsgebiet, das weiter Gegenstand einer Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland sein könnte. Nicht nur die Bücher in ihrem Kontext vor 1945 sollten Gegenstand der gemeinsamen Forschung sein, sondern ihre teils verschlungenen Wege durch das 20. und 21. Jahrhundert bis heute. Die Bücher samt ihren Migrationsgeschichten laden dazu ein, festgelegte nationale Denkmuster aufzubrechen und gemeinsame Praktiken des Erinnerns zu (er)finden. Denn auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Linie, heute die deutsch-polnischen Grenze, geht es dabei um Verlust- und Trauergeschichten. In ihrem programmatischen Aufsatz von 2017 mit dem Titel „Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe“ zeigt Bénédicte Savoy, wie Trauer dadurch transformiert werden kann, dass man die Geschichte von wechselseitiger Wirkung und Verflechtung als gemeinsames europäisches Erbe erzählt und teilt.25 Anlässlich einer Ausstellungeröffnung in 2001 in Warschau sprach der Historiker und ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski in dem gleichen Tenor:

Wie uns die Erfahrung lehrt, kann das gemeinsame Erbe auch Gegenstand von Streitigkeiten und Konflikten sein. Es kann aber auch- und die gebietet uns die Erfahrung – eine Quelle der Genugtuung über wohl genutzte Nachbarschaft sein.26

Der vorliegende Tagungsband ist in vier thematische Schwerpunkte gegliedert: Der erste und umfangreichste Teil – „Zerstörung und Zerstreuung der Bücherbestände in Polen während der Besetzung durch Nazi-Deutschland“ – befasst sich mit den immensen Zerstörungen, die Bibliotheken in Polen während des Krieges erlitten haben. Markus Eberhardt erinnert an die Bemühungen der polnischen Exilregierung in London, ihre Verluste im Bereich der Bibliotheken schon während des Krieges zu dokumentieren. Jacek Kordel ruft die Personifizierung „Büchermord“ auf, um die Gewalt zu bezeichnen, der die Warschauer Bibliotheken zur Zeit des Aufstandes in der Hauptstadt ausgesetzt waren. Jacek Puchalski beschäftigt sich mit der Zeit der Besatzung und der Kontrolle, die die Nazi-Verwaltung über die öffentliche Bibliothek in Warschau ausübte. Andrzej Mężyński setzt sich mit der ambivalenten Rolle der deutschen Bibliothekare auseinander, die zwischen ihrem professionellen Ethos und der Nazi-Ideologie schwankten. Die letzten Artikel dieses ersten Abschnitts widmen sich speziell der Zerstörung jüdischer Sammlungen: Nawojka Cieślińska-Lobkowicz bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der jüdischen Bibliotheken, deren Ausstrahlung vor dem Krieg und ihrer späteren systematischen Zerstörung durch die Nationalsozialisten. Judith Siepmann befasst sich anhand von drei Büchern, deren Werdegang sie rekonstruiert, mit der Privatbibliothek eines aus Schlesien stammenden jüdischen Kaufmanns.

Der zweite Teil des Buches – „Wechselnde Kontexte: Die Migration von Büchern und Sammlungen nach dem Zweiten Weltkrieg“– enthält Beiträge zu den Büchern, die nach der Veränderung der deutsch-polnischen Grenzen ab 1945 verlagert wurden. Es handelt sich um die evakuierten Depots der Staatsbibliothek ab 1941, aber auch um Bücher aus privaten und öffentlichen Sammlungen in Schlesien und Pommern, die nach Kriegsende polnischen Bibliotheken in Warschau und Krakau, aber auch in Toruń, Lodz, Lublin und Wrocław zugeteilt wurden. In der Stadt Lodz, deren Universitätsbibliothek 1945 eingeweiht wurde, bildeten die deutschen Bestände den Hauptteil der Abteilung für alte Bücher. Cora Dietl und Tomas Ososiński beschäftigen sich in ihren jeweiligen Artikeln mit seltenen Exemplaren aus ehemaligen privaten pommerschen Sammlungen. Die von ihnen untersuchten Bände verdeutlichen den Reichtum der in Polen verstreuten Bestände, aber auch die Anstrengung der historischen Rekonstruktion, die damit einhergeht, dass sie sich heute in einem völlig anderen institutionellen Kontext als ihren ursprünglichen Sammlungen befinden. Der Artikel von Wiesław Sieradzan befasst sich mit der Bibliothek in Toruń, wo die Bestände aus ehemaligen deutschen Bibliotheken dazu beitrugen, Forschungsarbeiten und einen didaktischen Ansatz in vielen wissenschaftlichen Disziplinen der polnischen Nachkriegszeit zu begründen. Dagmara Binkowska beleuchtet den Fall der Migration ohne geografische Verschiebung am Beispiel der Bibliothek von Danzig, deren wechselnder politischer Status die Art und Weise bestimmte, wie ihre Bestände in den verschiedenen politischen Perioden wahrgenommen wurden.

Im dritten Teil – „Geschichte der Verluste aus deutscher Perspektive“ – geht es um die Frage, wie die DDR, die alte Bundesrepublik und dann auch das vereinigte Deutschland in den Nachkriegsgenerationen mit der Frage der verlorenen Bücher und Sammlungen umgingen. Wie verfährt man mit Kriegsverlusten, die von Nazi-Deutschland verursacht wurden? Der noch immer gegebene Hinweis „Kriegsverlust“ im Katalog der Staatsbibliothek ist Gegenstand einer lexikalischen und diachronen Analyse der Herausgeberin, die sich indirekt mit der deutschen Trauer befasst. Petra Figeac geht auf die Bedeutung der rabbinischen Sammlungen in der Staatsbibliothek zu Berlin vor dem Krieg ein, die – was für ein Paradox! – ebenfalls von den Nazis evakuiert wurden, um sie vor den Bomben, die auf die Stadt fielen, zu schützen. Sie befinden sich heute größtenteils in Krakau, während ihre Kataloge immer noch in Berlin sind. Dominik Erdmann beleuchtet die ebenfalls verstreuten Bestände des Alexander von Humboldt und wertet die Autographen aus der Sammlung von Varnhagen aus. Gilbert Gornig blickt auf die wendungsreiche Geschichte der Bibliothek der „Danziger Naturforschenden Gesellschaft“ zurück und gibt als Experte für öffentliches Recht Anregungen zum Thema Kulturerbe, definiert durch die Charta der UNESCO als „common heritage of mankind“.

Der letzte Teil des Bandes ist der Rekonstruktion von Beständen gewidmet: „Virtuelle und literarische Rekonstruktionen“. Theresa Mallmann erläutert die Vorgehensweise von Historikerinnen und Historikern am Beispiel der Bibliothek des Schriftstellers Ludwig Tieck und blickt auf Kapitel europäischer Buchgeschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konstantin Hermann denkt als Bibliothekar über den Status von Digitalisaten im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen nach. Michael Hagner verfolgt den Weg eines einzigartigen Buches, das er in einem Antiquariat in Tel Aviv gekauft hat, und weist mit diesem Parcours darauf hin, dass die Archive des Lebens anderer Menschen weiterhin zu uns sprechen und uns betreffen.

Die Konferenz, die diesem Buch zugrunde liegt, wurde finanziell sehr großzügig durch die „Deutsch Polnische Wissenschaftsstiftung“ (DPWS) und das „Deutsche Historische Institut“ Warschau (DHI) gefördert. Beiden Institutionen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dank gebührt auch Simone Buckreus, die die deutschen Artikel des Bandes korrigiert hat.

Literaturverzeichnis

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Darnton, Robert: What is the history of books, in: Daedalus 111, 1982 (3), S. 65–83, S. 67.

2

Chartier, Roger: L’ordre des livres. Lecteurs, auteurs, bibliothèques en Europe entre XIVe et XVIIIe siècle, Aix en Provence 1992.

3

Pettegree, Andrew/der Weduwen, Arthur: The Library. A Fragile History, London 2021, insbesondere: das Kapitel 16 mit dem Titel: „Surviving the twentieth century“, ebd., S. 323–349; Fabian, Bernhard: The book in totalitarian context, in: Comparative criticism 23, 2001, S. 20–34; Ovenden, Richard: Burning the Books: A History of the Deliberate Destruction of Knowledge, Cambridge/MA 2020.

4

Siehe Markert, Werner (Hg.): Osteuropa-Handbuch. Polen, Köln 1959; Bieńkowska, Barbara: Losses of Polish Libraries During World War II, Warsaw 1994; Zacharska, Marzena/Pirozinski, Jan (Hg.): Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa, Bd. 6: Polen und Bulgarien, Hildesheim 1999; Mężyński, Andrzej: Biblioteki Warszawy w latach 1939–1945 [Warsaw’s Libraries in the years 1939–1945], Warsaw 2010; Kowalski, Wojciech/Kuhnke, Monika: Looted and Restituted: Polish Ministry of Foreign Affairs’ Efforts to Restitute Poland’s Cultural Property Lost During World War II, Ministry of Foreign Affairs, Warsaw 2015.

5

Siehe Pirozynski, Jan: Bestände aus der früheren Preußischen Staatsbibliothek in Polen, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXIX, 1992 (1993), S. 113–126; Pirozynski, Jan/Ruszajowa, Krystyna: Die nationalsozialistische Bibliothekspolitik in Polen während des zweiten Weltkrieges, in: Vodosek, Peter/Komorowski, Manfred (Hg.): Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Wiesbaden 1989, S. 199–232.

6

Himmler, Heinrich: „Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, Jg. 5, Heft 2, Dokumentation: Denkschrift Himmlers über die Behandlung der fremd-völkischen im Osten, Mai 1940, 1957, S. 196–198, hier 196.

7

Siehe Abbildung S. 38.

8

Siehe in diesem Band: Nawojka Cieślińska-Lobkowicz: „Sammeln, um zu zerstören Die Vernichtung der deutschen und polnischen jüdischen wissenschaftlichen Bibliotheken“, S. 86–119.

9

Sierzputowski, Bartłomiej: Public international law in the context of post-German cultural property held within Poland’s borders. A complicated situation or simply a resolution?, in: Leiden Journal of International Law 33 (4), 2020, S. 953–968.

10

Siehe Nowicki, Ryszard: Legal regulation concerning the preservation and protection of library collections in Poland after World War II, in: The Studies into the History of the Book and Book Collections 15, 2021 (4), S. 488–496. Siehe auch Gortat, Jakub: Berlinka. Ein besonderer deutsch-polnischer Erinnerungsort, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017 (2018), S. 105–128.

11

Breslau, Ralf: Verlagert verschollen vernichtet … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerte Bestände der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1995; Schochow, Werner: Bücherschicksale: Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung-Zerstörung-Entfremdung-Rückführung, Berlin/New York 2003.

12

Lehmann, Klaus-Dieter: „Seit 1945 in Polen Das Geistige Tagebuch der Deutschen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.11.2007.

13

Schuller, Konrad: Streit um die „Beutekunst. Goethe in Krakau“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.7.2007.

15

Einige Statistiken dazu: Eine Suche im online-Katalog Stabikat der Staatsbibliothek zu Berlin mit Suchschlüssel „Standort/ Hauskennung“ = 4 (Kriegsverlust) ergab am 8. Mai 2023 734.140 relevante Treffer; mit Suchschlüssel: Standort/ Hauskennung“ = 8 (Kriegsbedingt verlagert) 19.192 Treffer.

16

Besitzstempel | Staatsbibliothek zu Berlin (staatsbibliothek-berlin.de) (2.5.2023).

17

Siehe Senarclens, Vanessa de: Verlegt, verwahrt und vergessen. Die Bücher aus den ehemaligen deutschen Bibliotheken in Polen, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 74, Oktober 2020, S. 77–84.

18

Siehe u.a. Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź, Łódź 2018; Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata, Ososiński, Tomasz (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź. Ausstellungskatalog, Łódź 2022; oder Das Alexander von Humboldt Portal: https://humboldt.staatsbibliothek-berlin.de/ (9.5.2023), das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der Staatsbibliothek zu Berlin und der Biblioteka Jagiellońska: siehe Erdmann, Dominik/Jaglarz, Monika: Der Nachlass Alexander von Humboldt in der Jagiellonen-Bibliothek, Bibliotheca Iagellonica. Fontes et Studia 37, Krakau 2019.

19

Siehe dazu u.a Gortat, Jakub: „Berlinka“. Ein besonderer deutsch-polnischer Erinnerungsort, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017 (2018), S. 105–128.

20

Dieses Buch enthält die Beiträge der Konferenz: „Das „Bibliomigratorische“ im deutsch-polnischen Kontext seit dem Zweiten Weltkrieg“, die am Deutsches Historisches Institut Warschau (DHIW), von 31. März bis 1. April 2022 stattgefunden hat.

21

Siehe Mani, B. Venkat: Recoding World Literature Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books, New York 2017. Siehe auch ders., Art. „Bibliomigrancy“, in: D’haen, Theo/Damrosch, David/Kadir, Djelr (Hg.): The Routledge Companion to World Literature, London 2011, S. 283–295.

22

Siehe Senarclens, Vanessa de: Les vers à soie et les vers dévoreurs des livres: luxe et morbidité des ‚insectes changeant‘ dans l’œuvre de Voltaire, in: Cornfield, Penelope/Overhoff, Jürgen/Stockhorst, Stefanie: Human-Animal Relations and Their Cultural Representations in the 18th Century, Amsterdam/New York 2021.

23

Siehe Fabian, Bernhard: Über die Zukunft des Buches, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 169, 2003 (1), S. 3–15.

24

Bei einer Diskussion, die am 5. September 2019 in New York (Columbia) stattfand: https://french.columbia.edu/events/repairing-invisible-kader-attia-conversation-souleymane-bachir-diagne

25

Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin 2018.

26

Tomaszewski, Andrzej: Kulturgüter-Kulturerbe-Kulturbesitz, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXXVIII, Berlin 2001 (2002), 38, S. 167–173, hier: S. 173.

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Bücher und ihre Wege

Bibliomigration zwischen Deutschland und Polen seit 1939

Series:  FOKUS, Volume: 12

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