„Mit ein paar jungen Enthusiasten hat man es schon jetzt nicht mehr zu tun“, erklärte im Jahr 1841 der 23-jährige Heinrich Wuttke seinem Vater,
„sondern mit der allmächtigen Wirkung der Literatur […]“.
Die heranwachsende Generation von Literaten und „Fortschrittsmännern“, zu denen Wuttke auch sich selbst zählte, werde über kurz oder lang die politische Ordnung des Deutschen Bundes „sprengen“1, und zwar mit Hilfe eines neuen, mächtigen Mittels: der Presse.
Wie deutlich Wuttke die Macht der Presse nicht nur in Bezug auf seine Zeitgenossen, sondern für ihn ganz persönlich vor Augen stand, zeigt sein Eintritt in die wissenschaftliche Öffentlichkeit zwei Jahre zuvor. „Sind Sie der Heinrich Wuttke?“, erkundigte sich in diesem Zusammenhang skeptisch Leopold Ranke, der spätere Historiograph des preußischen Staates, als er Wuttke an der Berliner Universität 1839 zum ersten Mal traf. Ja, vor ihm stand eben jener Heinrich Wuttke, der kurz zuvor mit einer geschickt lancierten Zeitungskampagne in der preußischen Öffentlichkeit einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Mit gerade einmal 20 Jahren – und einem kleinen Skandal – feierte Wuttke sein wissenschaftliches Debut. „Da sind Sie ja ein sehr gelehrter Mann“, fuhr Ranke fort. „Hören Sie, das sieht man ihnen nicht an.“2
Wuttke, der Historiker aus bürgerlichem Haus, hatte im preußischen Schlesien mit der Arbeit an seinem Ruf gerade erst begonnen. Auf dem Weg in eine akademische und journalistische Karriere wählte er nach dem Studium in Breslau und Berlin die Buch- und Pressestadt Leipzig als seinen Lebensmittelpunkt. Im konstitutionellen Sachsen versprach sich der „Fortschrittsmann“ günstige Bedingungen, um neben der wissenschaftlichen Arbeit auch als Literat erfolgreich zu werden. Und tatsächlich: Innerhalb weniger Jahre wurde er durch Presse- und Vereinsarbeit zu einem über die Stadtgrenzen weit hinaus bekannten Mann. Sein Ruf eilte ihm voraus, sodass er – mittlerweile Ordinarius der historischen Hilfswissenschaften – im Revolutionssommer 1848 ins sogenannte Vorparlament ging und mit etwas Glück wenig später auch in die Frankfurter Nationalversammlung nachrückte. Mit Hilfe publikumswirksam nationalistischer Klischees schwang er sich zum Führer einer antislawisch-nationalistischen Bewegung auf, polarisierte als Obmann und Spalter der sächsischen Vaterlandsvereine. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere präsentierte Wuttke die Verfassung für ein großdeutsches, also europäisches Großreich. In der Bundesreformdebatte der frühen 1860er mobilisierte Wuttke noch einmal alle Kräfte – doch erfolglos. Zuletzt blieb ihm zur Verteidigung seines politischen Standpunktes kein Mittel übrig als die ausschweifende, gleichwohl scharfsichtige Kritik an den Gegnern in seinem letzten Werk Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung.
Dabei war Wuttke auf den ersten Blick – wie auch Ranke es sich auszusprechen nicht verkniff – alles andere als ein imponierender Mann. Im Gegenteil, er selbst beschrieb sich in trüber Stunde seiner Mutter gegenüber als schlicht widerwärtig, der soziale Umgang fiel ihm meist schwer, sein äußeres Auftreten und vor allem seine Gesundheit ließen zu wünschen übrig. Wuttkes Familie war nicht ausreichend vermögend, um ihn ein Leben lang finanziell abzusichern. Erst seine akademische Karriere sicherte ihm Existenz und Status. Gleichwohl – oder gerade deshalb – war Wuttke ambitioniert, es in der bürgerlichen Gesellschaft des Vormärz zu etwas zu bringen, Popularität und politischen Einfluss zu gewinnen. „Seine geringen natürlichen Mittel“, konstatierte auch Wuttkes Schüler Müller-Frauenstein, „wußte der kleine schwächliche Mann […] wohlberechnet zu verwerten“3.
Wuttkes politische Karriere vollzog sich in den Strukturen der bürgerlichen Vereinswelt und Presseöffentlichkeit, deren Möglichkeiten er mit wechselndem Erfolg für sich zu nutzen versuchte. Er profitierte vom Sog der Revolution und den spezifischen ideologischen Neigungen seiner Zeit, scheiterte mit seinen politischen Zielen schließlich am Mangel der nötigen Ressourcen sowie den konkreten Machtverhältnissen in Sachsen und im Deutschen Bund. Gleichwohl glückte ihm der Aufbau einer soliden bürgerlichen Existenz als Ehemann, Ordinarius und renommierter Leipziger Bürger, die von Wuttkes politischem Scheitern unbeschadet blieb und die ihrerseits auf seine politische Karriere stabilisierend wirkte.
Zwar fragt diese biographische Studie nach den Handlungsstrategien und Argumentationsweisen eines einzelnen Mannes. Doch dabei soll ein Bild der ihn umgebenden „Bürgerwelt“4 und ihrer politischen Kulturen entstehen – und zwar weit entfernt von bürgerlicher Selbstbestimmung, vernünftigem Diskurs und achtungsvoller Humanität, die von der Forschung zuweilen dort verortet wurden.5 Vielmehr entfaltet sich ein lebhafter Eindruck von Überlegenheitsdünkel und Aggressivität, von Pathos und Ränkespiel, von Manipulation, Macht und – Ohnmacht.
Heinrich Wuttke in die verschiedenen Stationen seines Lebens hinein zu folgen, erlaubt es nicht nur, die historische Person zu verstehen. Am Beispiel Wuttkes lässt sich nachverfolgen, auf welche Weisen in der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Vormärz und Reichsgründung um die Deutungshoheit über Gesellschaft und Politik gekämpft wurde – und die daraus resultierende konkrete politische Macht. Es zeigt sich Wuttkes Lebenswelt als eine solche, in der nicht nur Machtverhältnisse in Frage standen, sondern in der auch Machtfaktoren sich zu ändern begannen: Popularität, kommunikative Reichweiten und Rhetorik gewannen mit den Medien und anderen Kommunikationsräumen als neue Zentren des gesellschaftlichen und politischen Wandels immer mehr an Bedeutung.
Zur Rekonstruktion der betrachteten Lebenszusammenhänge Heinrich Wuttkes dienen veröffentlichte Quellen wie Zeitungsartikel und andere Publikationen Wuttkes und seiner Zeitgenossen, Parlaments- und Vereinsdokumentationen. Die Forschung zu Wuttkes Leben und Wirken selbst beschränkt sich auf wenige Beiträge. Lediglich im Umfeld der Universität Leipzig ist Wuttke genauer bekannt; hier findet er Beachtung als bekannte Persönlichkeit der Stadtgeschichte6 oder als Wissenschaftsorganisator an der Leipziger Alma Mater7. In Leipzig sind außerdem entstanden ein Übersichtsartikel zu Wuttkes Person8, eine kommunikationswissenschaftliche Diplomarbeit mit biographischem Ansatz9 und eine Arbeit zu Wuttkes „Geschichtswerk“10. Es liegen zudem zwei ältere Beiträge vor: Eine Biographie des Autors Joachim Müller, 1960 in der DDR erschienen, mit dem Ziel, Wuttke als Scheiternden bei der Umsetzung eines frühsozialistischen Programms darzustellen11, und der ADB-Eintrag von Wuttkes Schüler Georg Müller-Frauenstein12. Durch Müller-Frauenstein erschien auch die einzige posthume Ausgabe einer kleineren Arbeit Wuttkes.13 Im Rahmen der Erforschung der Reichsgründung fand Wuttke als Vertreter eines demokratischen Nationalismus Beachtung.14 Zudem sind einige Lexikonartikel zu Wuttke zugänglich.15 In der historischen Publizistik- und Kommunikationsforschung ist Wuttke ein vielzitierter Autor, wobei seine Veröffentlichungen zur zeitgenössischen Presse als „Schlüsselwerk“16 der Kommunikations- und Pressegeschichte, weniger seine Person und die Funktion seiner Texte im Vordergrund stehen.17 Neben diesen Arbeiten zu Teilaspekten von Wuttkes Leben und Werk beruht die vorliegende Studie auf Korrespondenz und Notizen aus Wuttkes persönlichem Nachlass sowie einer der Forschung weitestgehend unbekannten Familienchronik aus der Feder seiner Ehefrau Emma Wuttke-Biller.18 Beide erlauben nicht nur eine die Forschung ergänzende, zum Teil revidierende Einschätzung der genannten Kontexte, sondern zuweilen sehr persönliche Einblicke in Wuttkes Motivlage und Handlungsstrategien.
Wie also Heinrich Wuttke versuchte, in der Bürgerwelt politische Macht zu erlangen, welche Handlungs- und Diskurskulturen ihm dort begegneten und wie er sie selbst prägte, das sollen die folgenden Kapitel zeigen. Ihnen vorangestellt seien einige theoretische Überlegungen zur Biographie als Methode; ein Fazit schließlich resümiert die Ergebnisse.
WUTTKE-BILLER, EMMA. Chronik der Familien Wuttke u. Biller. Dresden-Blasewitz 1904–1909. SLUB, Handschriftensammlung. Msrc. Dresd. App. 128, Kapsel I, Konv. 5, S. 159.
Ebd. Konv. 4, S. 105.
MÜLLER-FRAUENSTEIN, GEORG. Wuttke, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 44. Leipzig 1898, S. 569–572.
NIPPERDEY, THOMAS. Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 2013.
So etwa in den Studien Thomas Nipperdeys – vgl. etwa seine Einschätzung des bürgerlichen Vereins als „Freiheitsraums“ – oder auch in neueren Arbeiten zur Geschichte des Bürgertums. Zitat aus NIPPERDEY, THOMAS. Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: DERS. (Hg.) Gesellschaft, Kultur, Theorie: gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 174–205, S. 195. Vgl. auch SCHIEWE, JÜRGEN. Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland. Paderborn 2004 und SCHÄFER, MICHAEL. Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung. Köln 2009. Zur „humanen“ Seite des Nationalismus vgl. etwa DANN, OTTO. Nationen und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München 1993.
S. etwa SCHÖTZ, SUSANNE. Geschichte der Stadt Leipzig. Vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg. Leipzig 2018.
S. HUTTNER, MARKUS. Disziplinentwicklung und Professorenberufung. Das Fach Geschichte an der Universität Leipzig im 19. Jahrhundert, in: DERS. Gesammelte Studien zur Zeit- und Universitätsgeschichte. Münster 2007, S. 397–484; ZWAHR, HARTMUT UND BLECHER, JENS. Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Das neunzehnte Jahrhundert 1830/31–1909. Leipzig 2011 und den Professorenkatalog der Universität Leipzig, herausgegeben vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar der Universität Leipzig, https://research.uni-leipzig.de/catalogus-professorum-lipsiensium/leipzig/Wuttke_1306.
BLECHER, JENS UND TODTE, MARIO. Johann Karl Heinrich Wuttke (1818–1876), in: REINER GROSS UND GERALD WIEMERS (Hgg.). Sächsische Lebensbilder. Band VI. Stuttgart 2009, S. 799–830.
MARKS, ANDRÉ. Heinrich Wuttke (1818–1876) – Professor, Politiker und Publizist – eine Biographie. Intentionen und Gehalt von „Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung“ (Diplomarbeit). Leipzig 2000. Die Diplomarbeit versucht, mit Wuttkes Lebenserfahrungen Entstehung und Thesen des Zeitungsbuches zu erklären.
TODTE, MARIO. Studien zum Geschichtswerk von Heinrich Wuttke (1818–1876). München 2010. Die Arbeit genügt wissenschaftlichen Standards größtenteils nicht.
MÜLLER, JOACHIM. Das politische Wirken Heinrich Wuttkes (1818–1876). Leipzig 1960.
MÜLLER-FRAUENSTEIN, Wuttke. Mit Ausnahme der Arbeit von TODTE sind die genannten Studien zu Wuttke maßgeblich in die vorliegende Arbeit eingeflossen.
WUTTKE, HEINRICH. Zur Vorgeschichte der Bartholomäusnacht, hrsg. von Georg Müller-Frauenstein. Leipzig 1879.
JANSEN, CHRISTIAN. Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867. Düsseldorf 2000; der Vollständigkeit halber sei auch genannt LENHARD-SCHRAMM, NIKLAS. Konstrukteure der Nation. Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49. Münster 2014, S. 119ff. Diese Arbeit ist aus einer Masterarbeit entstanden; sie untersucht Wuttkes Nationskonzept.
BEST, HEINRICH UND WEEGE, WILHELM. Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Düsseldorf 1996. S. 367ff; DVORAK, HELGE. Biographisches Handbuch der Deutschen Burschenschaft, hrsg. v. CHRISTIAN HÜNEMÖRDER. Bd. 1: Politiker. Heidelberg 2005, S. 393ff; CHAMBERS, WILLIAM UND ROBERT. Chambers’s Encyclopedia. A Dictionary of Universal Knowledge. Vol. X. London u. a. 1901, S. 758.
GERHARDT, HARTWIG. Heinrich Wuttke (1876), in: CHRISTINA HOLTZ-BACHA UND ARNULF KUTSCH (Hgg.) Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden 2002, S. 448–451.
OTTO GROTH etwa stellte Wuttke als einen der wichtigsten Pressehistoriker des 19. Jahrhunderts vor, nannte Wuttkes „Geschichte der deutschen Zeitschriften“ eine „Hauptquelle für die Geschichte der damaligen politischen Presse Deutschlands“, s. DERS. Die Kritiker und Reformer der freien Presse – Heinrich Wuttke, in: DERS. Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. München 1948. S. 12 und 209ff.
Nachlass Heinrich Wuttke im Stadtarchiv Dresden (SAD), 16.1.5; im Folgenden SAD, NL HW; und WUTTKE-BILLER, EMMA. Chronik der Familien Wuttke u. Biller. Dresden-Blasewitz 1904–1909. SLUB, Handschriftensammlung. Msrc. Dresd. App. 128, Kapsel I. Auf mehr als 1600 Seiten im frühen 20. Jahrhundert auf der Grundlage von Familienkorrespondenz und ab den 1850er Jahren zudem aus der eigenen Erinnerung handgeschrieben, handelt es sich bei der Chronik nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern um ein Ego-Dokument oder Selbstzeugnis, in dem Emma Wuttke-Biller nachträglich ihre eigene Identität für die Lektüre ihrer Enkel (re-)konstruierte. Zweifel an der Faktizität der Informationen, die sich aus Retrospektive, notwendiger Subjektivität und autobiographischer Selbstkonstruktion der Verfasserin, die sich zudem als Kinderbuchautorin versuchte, ergeben, lassen sich indes auf ein bestimmbares Maß reduzieren. Wörtliches Zitieren, die sorgfältige Angabe von Abfassungsdaten, -orten und Verfassern, sowie das Kennzeichnen eigener Kommentierung deuten wenn auch nicht auf die Vollständigkeit, so doch auf eine korrekte Übernahme aus der Korrespondenz hin. Die einzige der Verfasserin bekannte Veröffentlichung, die die Chronik zu Forschungszwecken verwendet hat, ist BRIGITTE, EMMRICH. Ein früher sozialgeschichtlicher Blick auf das Volksleben: der Nationalökonom Robert Wuttke (1859–1914) und seine „Sächsische Volkskunde“, in: Jahrbuch für Volkskunde. N.F.26 (2003), S. 101–120, Die Benutzerakten der SLUB weisen noch vier weitere Benutzer nach.