der russische Krieg gegen die Ukraine dauert nun, Anfang Oktober 2023, schon fast 20 Monate an. Mit ihm geht die komplette Abkehr der staatlich gesteuerten russländischen Geschichtspolitik von dem einher, was man common sense nennen könnte. Ein Blick in die berüchtigten, seit 1. September 2023 gültigen Geschichtsbücher in der Russländischen Föderation lässt einen schaudern. Was diese anti-westliche (und vor allem anti-ukrainische) Version der eigenen, ach so glorreichen Vergangenheit für die zukünftige Verständigung zwischen professionellen Historikerinnen und Historikern diesseits und jenseits der Grenze bedeutet, ist nicht abzusehen. Wie soll man mit solchen Versionen der jüngsten Vergangenheit umgehen?
Im Jahr 1989 begann der einseitige Abzug der sowjetischen Truppen aus Ost- und Mitteleuropa. Dies war eine besonders unüberlegte Entscheidung [der sowjetischen Führung; K.B.], denn die Schwächung der sowjetischen Militärpräsenz in den verbündeten Ländern führte zu einer drastischen Verschärfung nationalistischer und antisowjetischer Stimmungen. Der kollektive Westen nutzte dies aus. (…) 1990 annektierte die BRD Ostdeutschland. Die DDR wurde von der BRD einverleibt.1
Nun muss diese mit imperialen und sowjetischen ideologischen Versatzstücken verbrämte Version der (gewaltsam errichteten) pax Rossica, die Vorstellung, am russischen Wesen solle die Welt genesen, die Unterrichtsräume nicht unbedingt so ungefiltert erreichen. Sie wird aber kaum zu einer Verständigung mit dem Nachbarn im Osten beitragen. Die Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in der Russländischen Föderation sind ohnehin zurzeit eingefroren und man kann nur hoffen, dass in der Zukunft wieder Bedingungen herrschen, um die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen.
Es ist in dieser Hinsicht gewissermaßen beruhigend, dass der hot shit dieses Jahres, das Wissen der Menschheit, mithin ihr common sense, geballt in der so genannten Künstlichen Intelligenz, eine dezidierte Meinung zu dieser Frage vertritt: „the Federal Republic of Germany (…) did not annex the German Democratic Republic (…) in 1990. Instead, the reunification of Germany in 1990 was a peaceful and negotiated process that led to the dissolution of the GDR and the incorporation of its territory and citizens into the FRG.“2 Ob die chinesische KI dies anders sieht, konnte leider nicht eruiert werden.
Kommen wir zu unserer diesjährigen Ausgabe: Auch in ihr geht es in einem der Aufsätze um „Nachbarschaftspolitik“ mit Moskau, konkret um sowjetische Planspiele und konkrete Maßnahmen, Mitte der 1920er Jahre Einfluss auf die lettische Innenpolitik zu nehmen. Daneben behandeln die Texte die Räte des Deutschen Ordens und ihre Netzwerke, die Situation der Pfarrfrauen in der Frühneuzeit, bildliche Darstellungen der Husaren des Großfürstentums Litauen und die neuesten Entwicklungen um die St. Petrikirche in Riga. Zwei Literaturberichte und zahlreiche Rezensionen runden unsere diesjährigen Forschungen zur baltischen Geschichte ab.
Wie immer dürfen wir uns bei zahlreichen Menschen bedanken. Übersetzt haben die Artikel und Rezensionen Anu Aibel-Jürgenson, Ene Inno und Tea Vassiljeva. Bei der sprachlichen Korrektur der deutschsprachigen Texte half Martin Pabst, die englischsprachigen lasen Gregory Leighton, den wir als neues Mitglied im Redaktionskollegium begrüßen, und James Montgomery Baxenfield. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag Brill-Schöningh lief wie immer über Diethard Sawicki, dem erneut sehr herzlich an dieser Stelle gedankt sei.
Damit bleibt uns nur, unserer geneigten Leserschaft viel Vergnügen und neue Erkenntnisse zu wünschen. Die Vorbereitungen für die nächste Nummer unserer Zeitschrift laufen schon.
3. Oktober 2022
Karsten Brüggemann
Mati Laur