Das politische Klima der Bundesrepublik Deutschland wie auch anderer dem Westen zugerechneter Länder hat sich in jüngster Zeit deutlich aufgeheizt. Rechtspopulistische Parteien und Bewegungen erhalten massiv Zulauf, zugleich mobilisiert sich vielerorts Widerstand und Protest gegen „rechts“. In manchen Aufrufen wird vor einem Wiedererstehen des Nationalsozialismus gewarnt, andere Stimmen erinnern mahnend an die Weimarer Republik und ihr Ende. Besorgte Zeitgenoss:innen fragen sogar: Droht das Scheitern auch der zweiten deutschen Demokratie?
Dieser Frage muss sich die Geschichtswissenschaft ebenso stellen wie die politische Bildung. Aufgabe der historischen Wissenschaft ist zunächst die nüchterne Analyse, aber auch das Aufzeigen von Ge- und Misslingensbedingungen der Demokratie als Staats- und Lebensform in der Gesellschaft, ohne dabei simple und unzutreffende historische Analogien herzustellen.
Aus dieser Überlegung entstand in Zusammenarbeit zwischen der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, den beiden Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe, der Universität Münster sowie der katholischen Bildungsstätte Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath die Idee, dem erst schleichenden, schließlich dramatischen Niedergang der Weimarer Demokratie noch einmal unter einer spezifischen Fragestellung besondere Aufmerksamkeit zu widmen und dabei einen Faktor in den Blick zu nehmen, der bisher in Zusammenhang mit dem Sturz der Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 sehr wenig beachtet worden ist: die Rolle des politischen und kirchlichen Katholizismus.
Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie hat vielfältige Ursachen. Eine wesentliche liegt nach allgemeiner Überzeugung im Kampf der alten reaktionär gesinnten konservativen Eliten des Kaiserreichs in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft gegen die neue republikanisch-demokratische Ordnung. Besagte Eliten werden ganz überwiegend dem altpreußischen Kulturprotestantismus zugeordnet. Demgegenüber wird die katholische Bevölkerungsminderheit im Reich als republikfreundlicher und gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus eindeutig ablehnend eingestellt wahrgenommen. Tatsächlich waren die Wahlergebnisse von Deutschnationaler Volkspartei (DNVP) und NSDAP in den mehrheitlich katholischen Regionen des Deutschen Reiches klar unterdurchschnittlich, und die Zentrumspartei als politischer Arm des Katholizismus fungierte von 1919 bis 1932 als staatstragender, stabilisierender Faktor der Republik. Gleichwohl gab es im weltlichen Katholizismus sowie in der katholischen Kirche selber konservativ bis reaktionär eingestellte Kräfte, deren Ziel in einer Überwindung der ‚mechanischen Massendemokratie‘ und der Etablierung eines autoritären Ständestaats bestand. Nationalistische Wehrverbände wie der Stahlhelm und die DNVP wurden dabei als Bundesgenossen, Hitler und die Nationalsozialisten zum Teil als nützliche Instrumente bei der Beseitigung der republikanisch-demokratischen Ordnung betrachtet. Zwar blieben die Exponenten dieser Richtung innerhalb des Zentrums oder als Katholiken in der DNVP in der Minderheit und allgemein eher im Hintergrund, dennoch sollte ihr Einfluss nicht unterschätzt werden; schließlich besiegelte spätestens 1932 die Übernahme der Reichskanzlerschaft durch einen ihrer Wortführer, Franz von Papen, das Ende der Weimarer Republik.
In einer wissenschaftlichen Fachtagung vom 19. bis 21. Mai 2022 in Herzogenrath wurde daher unter dem Titel „Gefährdete Demokratie – Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik“ nach dem Anteil des Rechtskatholizismus am Untergang der ersten deutschen Demokratie gefragt: nach inhaltlichen wie regionalen Schwerpunkten der seinerzeitigen rechtskatholischen Akteur:innen, nach ihrem Selbstverständnis, ihren Netzwerken und Verbindungen in die deutsche Amtskirche, aber auch in den Vatikan und in andere europäische Staaten, nach ihrer kirchlichen und gesellschaftlichen Verankerung, nach ihrer daraus resultierenden Relevanz für das Ende der parlamentarischen Demokratie und die Errichtung der NS-Diktatur, nach ihrer Funktion als „Scharnier“ zwischen katholischer Kirche und NS-Ideologie und schließlich nach den historischen Kontinuitäten, welche vom intransigenten Flügel des deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit über die „Neue Rechte“ der Bundesrepublik bis zu den rechtspopulistischen Ideologien der Gegenwart führen. Im Hintergrund stand dabei auch die sehr aktuelle Frage, wie ein demokratisches Staatswesen in einer hochentwickelten pluralen Gesellschaft binnen weniger Jahre in eine totalitäre Diktatur umkippen konnte.
Die Vorträge der Herzogenrather Tagung bilden zusammen mit den von ihnen aufgeworfenen Fragen die Kernelemente des vorliegenden Sammelbandes. Die Herausgeberin und Herausgeber hoffen, dass der Band die Diskussion darüber, woran die Weimarer Republik letztlich gescheitert ist und welche Schlüsse sich daraus für unsere heutige Demokratie und ihre Gefährdungen ziehen lassen, mit neuen Einsichten und Impulsen bereichern kann.
Münster, Düsseldorf, Herzogenrath und Köln im Februar 2024
Olaf Blaschke Markus Köster
Guido Hitze Georg Mölich
Manfred Koerber Julia Paulus