Kapitel 3 Allbewandert, Unbewandert

In: Aus der Welt gefallen
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Kristina Kuhn
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Wolfgang Struck
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Bevor er die Mittheilungen mit Heinrich Barths Entschluss, nach Timbuktu zu reisen, auf so spektakuläre Weise eröffnet, hat August Petermann in einem knapp zwei Seiten langen Vorwort die anthropologischen wie die epistemologischen Bedingungen beschrieben, unter denen europäische Forschungsreisende im 19. Jahrhundert in die fremde Welt aufgebrochen sind. In ihnen realisiert sich idealtypisch die wissenschaftliche Neugierde als menschliche Grundeigenschaft, als „tiefer Drang“ und „unaufhaltsames Streben nach Erkenntnis“. „Blick“ und „Intellekt“ durchdringen die „unerschöpflichen Geheimnisse der Natur, – aber das unvollkommene menschliche Wissen bleibt offenbar in der geringen Kenntniss seiner eigenen nächsten Welt, der Scholle, auf der er geboren, des Planeten, den er bewohnt.“ Im kühnen Sprung von der „Scholle“ zum „Planeten“ formuliert sich der Totalitätsanspruch einer neuen Wissenschaft, der Erdkunde, die verspricht, die ererbte Unvollkommenheit zu überwinden.

In diesem kühnen Sprung formiert sich aber auch die Rastlosigkeit, die Petermanns zentraler Operation, der Reduktion, vorausgeht, und die einen Reisenden wie Barth weitertreiben wird, kaum dass er einen so lang ersehnten Ort wie Timbuktu erreicht hat. Hier noch einmal die Passage, in der Petermann das Schicksal so vieler verschollener Forscher vorwegzunehmen scheint:

Rastlos nach dem unerforschten Innern längstgekannter Continente wandert der Mensch, trotz Seuche und Gefahr; furchtlos ob der starren Natur durchbricht er die Geheimnisse der ewig eis-umgürteten Angel-enden des Erdballs; die höchsten Gipfel der himmelanstrebenden Gebirge muss er ermessen und mit seinem meilenlangen Senkblei den Grund des Meeres, wo es am tiefsten, erfassen. Die Phänomene der Luft, der Fluth, des Innern seiner Erde muss er ergründen und auf ihre einfachen Naturgesetze reduciren; des gelben welt-regierenden Metalles verborgene Schlupfwinkel prophetisch verkünden, und die natur-gerechten Stätten der ihm unentbehrlichen Pflanzen und Thiere in Gürtel-Linien um die Erde legen.70

Petermanns Programm liest sich als Gründungsmanifest einer neuen Wissenschaft, die zwar mit ihrer Terminologie wie auch mit ihrer eigentümlich pathetischen Diktion an ältere Formationen des Wissens anzuknüpfen scheint, die sich aber ihrem Anspruch nach drastisch von diesen lossagt. Luft, Fluth und Erde sind, als Forschungsfeld von Meteorologie, Hydrographie und Geologie, nicht länger die Sphäre Gottes, des Mythos oder des Wunderbaren. Und sollten sie immer noch, wie es Hamlet beklagt, mehr Dinge enthalten „than are dreamt of in our philosophy“, dann fordern diese doch nur die Fähigkeit ihres Entdeckers heraus, sie „auf ihre einfachen Naturgesetze zu reduciren“ – so, wie es Petermann dann zwölf Seiten später, am Ende seines ersten Artikels, mit der Berechnung der Koordinaten Timbuktus tun wird.

Nicht nur der pathetische Stil deutet jedoch an, dass die Herrschaft der „einfachen Naturgesetze“ in den Mittheilungen nicht unumstritten sein wird. Es sind eben nicht Meteorologie, Hydrographie und Geologie, von denen hier die Rede ist, sondern, an sehr viel elementarere Klassifikationen gemahnend, „Luft“, „Fluth“ und „Erde“. Die Sprache von Petermanns Vorwort ist kaum die Sprache nüchterner Wissenschaft. Eher erinnert sie an das Pathos, das einen ganz anderen Versuch vorantreibt, die Antwort auf die Frage, was ist der Mensch, ebenfalls in seiner Rastlosigkeit zu suchen:

Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheuerer, als der Mensch.
Denn der, über die Nacht
Des Meers, wenn gegen den Winter wehet
Der Südwind, fähret er aus
In geflügelten saußenden Häusern.
Und der Himmlischen erhabene Erde
Die unverderbliche, unermüdete
Reibet er auf; mit dem strebenden Pfluge71

Friedrich Hölderlin übersetzt so, ein halbes Jahrhundert bevor Petermann den Menschen als Forscher in die Endlosigkeit aufbrechen lässt, Sophokles’ Antigonä. Wenn er dabei die Sprache bis an die Grenze der Verständlichkeit treibt, dann kommt darin einerseits das Unverständnis gegenüber dem Pathos der griechischen Tragödie zum Ausdruck, das ein modernes Publikum nurmehr mühsam nachvollziehen kann. Andererseits ist es aber auch schon der „Chor der thebanischen Alten“, der nur mit Unverständnis auf den Menschen, im Singular und mit bestimmtem Artikel, blicken kann, der alles an Ungeheuerlichkeit überbietet, indem er sich die Natur untertan macht und doch ein Getriebener bleibt: „Allbewandert, Unbewandert“.72

Für Petermann, der sich das Pathos Hölderlins gleichsam ausborgt, um seinen Menschen, den Forscher, wiederum im Singular und mit bestimmtem Artikel, auf den Weg ins Ungewisse zu schicken, scheint nichts Unverständliches mehr in dem Trieb dieses Menschen, die Erde zu erforschen, zu markieren und auszubeuten. Dennoch kann er ihn offenbar nicht erklären, sondern nur pathetisch formulieren – oder eher: beschwören. Auch wenn das Feld, auf dem der Mensch sich bewegt, nunmehr verwissenschaftlicht erscheint, bleibt dieser selbst ein Getriebener, „Allbewandert, Unbewandert“. „Rastlos“ und durch einen formelhaft wiederholten Imperativ getrieben, muss der Mensch, den Petermann als Forscher redefinieren möchte, „ermessen, erfassen, ergründen“ und schließlich „reduciren“, um dann erst „prophetisch verkünden“ zu können. Der Wille zum Wissen macht ihn zu einem Getriebenen und zugleich zu einem Aggressor, der, beständig jene Übertretung wiederholend, mit der Dantes Odysseus die moderne Episteme begründet,73 in Regionen vordringt, die ihm bis dahin – aus welchen Gründen auch immer – verschlossen waren, um der Erde ihre Geheimnisse und ihre Schätze zu entreißen. Gleichsam von selbst versteht es sich, dass dieser Mensch ein Mann und ein Europäer ist. In den Erzählungen, in denen die Mittheilungen von der Entschleierung der Erde, von der schrittweisen Reduktion ihrer Geheimnisse und Wunder auf einfache Naturgesetze, berichten und in denen sie diese Erde zugleich als Natur neu konzeptualisieren, wird die Rastlosigkeit immer wieder auf Abwege führen, in Sackgassen, ins Nichts – etwa in den Staub Timbuktus. Hier zeigt sich, dass die Reduktion auf einfache Gesetze keineswegs das letzte Wort der neuen Wissenschaft sein wird, sondern dass jene vielmehr über ihre einfachen Gesetze in ungeahnte Komplexitäten hinausgetrieben wird, bis gegen Ende von Petermanns Jahrhundert die Physik, die ab dann die klassische heißen wird, kollabiert, um als Quantenmechanik oder Relativitätstheorie wieder neu zu entstehen – ein Prozess, von dem gerade auch die Geowissenschaften betroffen sind. Petermanns Gegenwart bleibt damit eingespannt zwischen einer Vergangenheit und einer Zukunft, die sich der Reduktion widersetzen. Und eben hier finden sowohl das Abenteuer, das einem auf Reisen in die fremde Welt konstituierten Wissen nur schwer auszutreiben ist, als auch die heterogenen Wissensbestände, die frühneuzeitliche Wissenschaft und Literatur angehäuft haben, und nicht zuletzt die damit verbundenen Formen der Darstellung ihr Refugium.

Nicht nur die Forscher sind einer für sie selbst kaum zu beherrschenden Dynamik ausgesetzt, sondern auch die Zeitschrift, die Petermann konsequent auf Aktualität verpflichtet. Wenn er sich die Aufgabe stellt, „auf sorgfältig bearbeiteten und sauber ausgeführten Karten das Endresultat neuer geographischer Forschungen zusammenfassen und graphisch veranschaulichen“ zu wollen und dabei zugleich „besonders wichtige neue Entdeckungen immer sofort, oder möglichst schnell unseren Lesern vorzulegen“,74 dann beschreibt das ein Nebeneinander und Aufeinanderbezogensein von Karten und Texten, das wesentlich zum Erfolgsrezept der Mittheilungen gehört. Es bedeutet aber auch, dass Petermanns ‚Endresultate‘ immer nur vorläufig sein können; eine Vorläufigkeit, die nicht nur die Dynamik moderner Wissenschaft im Sinne eines offenen Forschungsprozesses widerspiegelt, sondern auch der Eigendynamik einer monatlich erscheinenden, an ein möglichst breites und heterogenes Publikum adressierten Zeitschrift geschuldet ist. Die Karten, so verspricht Petermann, sollen „mit besonderer Rücksicht darauf entworfen werden, dass sie allen Besitzern von Stieler’s Hand-Atlas, Berghaus’ Physikalischem Atlas, und anderen aus der Anstalt hervorgegangenen Kartenwerken ein fortlaufendes leicht zugängliches Supplement in handlicher Form gewähren“. Karten erscheinen weiterhin als „Endzweck“, aber das verleiht ihnen keineswegs Dauer. Sie sind in einen Prozess ständiger Revision einbezogen. Damit allerdings stellt sich das Verhältnis der Kartenbeilagen der Mittheilungen zu den Atlanten nicht ganz so harmonisch dar wie von Petermann behauptet. Atlanten sind nicht nur Sammlungen von Karten, sie sind auch meist teure und repräsentative Bücher, die auf eine längere Haltbarkeit angelegt sind. Der Offenheit des Forschungsprozesses kommt eher das in die Zukunft gerichtete Periodikum entgegen als der auf Abgeschlossenheit und Dauer angelegte Atlas oder die ‚vom Ende her‘ erzählte Narration, für die Barths monumentaler Reisebericht idealtypisch einstehen kann. Oder, andersherum: Was den Prozess ermöglicht und vorantreibt, ist besonders die Eigendynamik eines Mediums, das sich weniger in die Vergangenheit als auf die Zukunft hin entwirft.

Vor allem aber ist dieses Medium von einer Gegenwart geprägt, in der eine (populär-)kulturelle Forderung nach Sensation und Abenteuer den Willen zum Wissen, das Begehren nach der zukünftigen, perfekten Karte, überlagert. Was die Leserinnen und Leser der monatlich erscheinenden Hefte gleichsam in Echtzeit verfolgen können, ist nicht nur der Prozess, in dem die weißen Flecken der Landkarten – vermeintlich für immer – mit Wissen angefüllt werden, sondern sie nehmen auch am dramatischen Schicksal und nicht selten am zeitweiligen oder endgültigen Verschwinden der Forscher Anteil, an ihrem ‚Aus-der-Welt-Fallen‘, das dann in aufwendigen Suchaktionen präsent gehalten werden konnte. In solchen periodischen Unterbrechungen konstruiert und konturiert die moderne Geographie ihr eigenes Gegenstück: eine Welt der blank spaces, die den Prozess der Forschung anziehen, aber auch (buchstäblich) ins Leere laufen lassen. Jene Abstraktion, der sich die Karte verdankt, nämlich die Übersetzung von Erfahrung in Daten („reduciren“), ermöglicht und provoziert also zugleich neue Imaginationen, die, anders als die alten Mythen, welche ihr Refugium jenseits der Wissenschaft zugewiesen bekommen haben, untrennbar mit der Forschung selbst verbunden sind. Die Abstraktion, die in der Wissenschaft wie in der Ästhetik zu einem Motor moderner Visualisierungsstrategien werden wird, erweist sich dabei selbst als Imagination. So weisen die Karten einerseits zurück in die Welt phantastischer Geschichten, andererseits voraus in zunehmend abstrakt modellierte Weltbilder. In der Figur des Verschollenen, einer Figur der Monatszeitschrift, erzeugt die Entzauberung der Welt ihren eigenen Zauber. Diese Figur entfaltet sich weniger in den Karten als in den Artikeln und Geographischen Notizen, die Monat für Monat sechzig bis achtzig Seiten füllen. Hier wird der Endzweck suspendiert.

Nochmals auf andere Weise ist davon auch die Geographie betroffen, die lernen muss, dass die physikalische, kartographische Entschleierung der Welt mit kulturellen Mystifikationen verbunden ist. Mit der Verortung Timbuktus – und sei es mit Hilfe des GPS – ist sein Mythos keineswegs verschwunden. Davon, und davon, wie ein Mythos aus Sprache entsteht, handelt der 2004 erschienene Roman Der einzige Ort des österreichischen Schriftstellers Thomas Stangl, der noch einmal in Barths „Stadt ohne Herrn und mit vielen Herrn“ zurückkehrt, die hier als Stadt der vielen, sich überlagernden, einander widersprechenden Geschichten erscheint. Diese Geschichten widersetzen sich der einen Geschichte, der Meistererzählung, ebenso wie einer wissenschaftlichen Reduktion, in der „die Namen […] sich von geheimnisvollen Chiffren in bloße Bezeichnungen zu verwandeln“ drohen – ein Reduktionsspiel, in dem „das Fremde und der eigene Traum von der Fremdheit […] auf dem Spiel“ stehen. Der einzige Ort, das ist noch einmal Timbuktu. Bei Stangl entspringt der Mythos des Ortes aus der Verschlungenheit einer Überlieferung, oder besser, einer Vielzahl von Überlieferungen, von den nordafrikanischen Griots über griechische und römische Geschichtsschreiber und Geschichtenerfinder bis zu Berichten der ersten Reisenden, die ihn im 19. Jahrhundert erreichen, aber auch bis hin zu gegenwärtigen Bildern. Der Mythos des Ortes entspringt aus den Abgründen der Zeiten und der Sprachen, dem „Feld von Möglichkeiten zwischen dem Realen und dem Imaginären“.

Zunächst ist da das Bild einer Stadt ohne Menschen (so scheint es aus dieser Entfernung, nach diesem Zeitmaß), niemand stellt sich den Blicken entgegen; da sind nur Häuser aus Lehm und Straßen, durch die sich der Sand schiebt, in Schichten von unterschiedlicher Dichte und Festigkeit; flüchtige weiche Muster, Schleifen und Spiralen formen sich, Riffe und Wellenkämme steigen für einen Augenblick aus der Tiefe auf, um dann zu brechen und wieder zu versinken, die Grenze zwischen Boden und Luft verschwindet; in gelben Wolken treiben die Sandkörner, endlose Insektenschwärme, durch die Gassen, Dünen schieben sich an die Mauern und Tore heran, klettern sie hoch. Eine Stadt mit verschiedenen Namen, ineinandergeschichtete Bilder: In Salah, die Stadt mit dem Namen Salziges Auge, die langsam, vom Wind getrieben, weiterwandert, denn während am einen Ende der Stadt die Häuser unter der Wüste versinken, entstehen sie am anderen immer neu; Ghadames, wie ein einziger verwinkelter Bau, vor Jahrtausenden in einen Felsen eingeschnitzt, die Stadt der Schatten; dann Tombuctoo, umkreist von Ruinen, mit gleichförmigen Häusern, die sich unter den wiederkehrenden Stürmen ducken, mit Straßen, die von Jahr zu Jahr ansteigen, als wollte die Wüste sich an die Stelle der Menschen setzen, in die Innenräume vordringen, sie ausfüllen, ersticken und bewahren.75

Sätze, die sich in einer Art Sog aus sich selbst herauszuwinden, Perioden, Worte, die sich aneinanderzuketten scheinen, die kaum ein Satzzeichen – Punkt, Komma, Strich – zu dulden scheinen und sich so dem Atemholen ähnlich entgegenstellen wie der heiße, staubige Wind der Wüste: Es ist der eigentümliche Duktus seiner Sprache, in der Stangl an den Ort zurückfindet, an dem Heinrich Barth im Dezember 1853 aus seiner Welt zu fallen droht – weit, unendlich weit entfernt in Raum und Zeit von jenen Londoner, Hamburger, Berliner und Gothaer Schreibstuben, in denen seine Reise dann ihre ordentliche literarische Gestalt finden wird. „Der einzige Ort“ ist auch der Ort jenes Briefs, den Barth im Dezember 1853 in Timbuktu verfasst hat. Hier ist, sehr viel stärker als in seinem gedrucktem Reisebericht, der Sog zu spüren, in dem die Sätze sich aus sich selbst herauszuwinden scheinen – und, wie der staubige Wind der Sahara, dem Atem kaum Zeit und Raum lassen.

70

Mittheilungen 1855, S. 1. Petermanns Vorwort ist häufig zur Explikation seines Programms zitiert worden, beispielsweise von Imre Josef Demhardt, Vom geographischen Magazin zur populären Fachzeitschrift – die einflussreichsten Jahre von PGM bis zum Ersten Weltkrieg, in: PGM 148.6 (2004), S. 10-19, hier S. 11, allerdings kaum eingehender als Text sowie in seinen Konsequenzen für die folgenden Beiträge betrachtet worden.

71

Friedrich Hölderlin, Antigonä [1804], in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, hg. v. D. E. Sattler, Bd. 16, Basel/Frankfurt a. M. 1988, S. 299.

72

Ebd., S. 301.

73

Vgl. oben, S. 10.

74

Mittheilungen 1855, S. 2.

75

Thomas Stangl, Der einzige Ort, Graz 2004, S. 11, S. 5.

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