denn die Anfänge sind ein Reichtum / laß uns sorgen, daß goldenes / Anfängliches uns nie verläßt. / […] Vollendetheiten / sind eine Fäulnis.
Robert Walser
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In diesen Zeilen eines frühen Mikrogramms bringt Robert Walser einen gewichtigen Aspekt seines Werks auf den Punkt. Dem ‚Anfänglichen‘ wird gegenüber der Vollendung der Vorzug gegeben. Darin artikuliert sich eine Poetik der Lebendigkeit und Dynamik. Nicht Vollendung und Abschluss sind das Ziel, sondern das Anfangen. Der Anfang ist zwar in monetärer Hinsicht kein ‚Reichtum‘, da er sich nicht wie das ‚Werk‘ verkaufen lässt. Sein Reichtum besteht, wie es im Gedicht heißt, aus Nichts: „umgeben von Nichts / fang ich an begütert zu sein“ (KWA VI, 1, 174). Gerade durch die Armut des Anfangs entsteht ein Reichtum. Erzählerisch sind Walsers (mikrografische) Anfänge auch insofern reich, als sie ganz konkret zu einem Reservoir von Ideen, Konzepten und sprachlichen Wendungen werden, die zu weiteren Texten Anlass geben. Auf dem Mikrogramm 245r findet sich im Anschluss an die obigen Verse eine Geschichte, die wie folgt anhebt: „Verehrung unterbrech ich durch Kohlköpfeleien.“ (KWA VI, 1, 175) Diese „Verehrung“ lässt sich durchaus auf obige Hymne auf den Anfang beziehen. In der Verballhornung zeigt sich eine Spur, welche die übereinander notierten Mikrogramme in Bezug zueinander setzt – also ganz konkret reich ist an Anknüpfungspunkten. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von ‚Werk‘ als abgeschlossenem und ‚Schreiben‘ als unabschließbarem Prozess korrespondiert dies mit Walsers Hervorhebung der eigenen Schreib- und Erzählverfahren.1
Im Anfang begriffen sind diejenigen, die sich keinem gesicherten Grund übergeben wollen. Anfangen ist die Betonung des Möglichen, der Dynamik der Veränderung. „Vollendetheiten“ sind in dieser Hinsicht eine „Fäulnis“, weil sie das Anfangen aufheben (KWA VI, 1, 174). Was vollendet ist, fault, weil es nicht mehr aktualisiert werden kann und somit unveränderbar geworden ist. In diesem Sinn lässt sich auch Walsers Aussage in einem Brief an Max Brod vom 4. Oktober 1927 lesen, dass „[j]edes Buch, das gedruckt wurde, […] doch für den Dichter ein Grab“ (BA 2, 335) sei. Es ist etwas vom Faszinierendsten an Walser, dass er diese „Lebendigkeit in der Sprache“ (SW 20, 430) im Erzählen zu konservieren sucht. Der Anspruch schlägt sich auch in seinem in der späten Bieler bzw. der Berner Zeit entwickelten zweistufigen Erzählverfahren nieder.2
Die Prozessualität verunsichert die Bedeutung, da diese nicht länger fixiert ist, sondern an ihre Entwicklung und Inszenierung angebunden wird. Einher geht eine Relativierung des Aussagegehalts, der sich nicht mehr auf eine formelhafte Bedeutung reduzieren lässt. Dies heißt jedoch keineswegs, dass Walser die Bedeutung als solche verabschieden würde. Das Augenmerk wird auf das komplexe und lustvolle Spiel des Verschiebens von Bedeutungen gelegt, ohne die formale, gewissermaßen inhaltsleere Funktionsweise der Semiose alleine auszustellen.
Die Forschung tut deshalb gut daran, Walser nicht in die ‚Vollendetheit‘ überführen zu wollen. In diesem Sinn verstehen sich auch die hier versammelten Beiträge als Anfänge. Sie gehen in der Mehrzahl zurück auf die Tagung Goldenes Anfängliches vom April 2017, welche die Herausgeber an der Universität Basel ausgerichtet haben. Dabei hat sich die seit den 1990er Jahren feststellbare Diversifizierung der Robert Walser-Forschung bestätigt (vgl. RWH, 418). Die Tagungsbeiträge lassen sich den Bereichen ‚Kontexte‘, ‚Intermedialität‚ Intertextualität, Intratextualität‘, sowie der ‚Poetik und Narratologie‘ zuordnen.3
Agatha Frischmuth untersucht in Walsers frühem Angestelltenroman Der Gehülfe die Inszenierung verschiedener Muße-Erfahrungen. Diese stellen sich nicht, wie motivgeschichtlich üblich, abseits und entgegen des Arbeitsdiskurses dar, sondern inmitten einer Arbeitsumgebung. Sowohl Joseph Marti – der Gehülfe – als auch Karl Tobler – sein Arbeitgeber – funktionalisieren Arbeit zur lustvollen Tätigkeit um, indem sie nur zum Schein arbeiten, das heißt Arbeit ‚spielen‘, um ihren Müßiggang zu rechtfertigen. Diese Art von Schauspiel lässt sich mithilfe der Medientheorie von Jean Baudrillard als Simulation von Arbeit verstehen, also als ‚Hyperarbeit‘, die als Zeichen nicht auf tatsächliche, sondern nur dargestellte Arbeit verweist.
Hanspeter Affolter stellt ebenfalls den Gehülfen ins Zentrum und weist nach, wie Toblers Beziehung zu technischen Objekten zu einem Fetisch wird. Er analysiert die Funktionen technischer Errungenschaften wie des Telefons, der Eisenbahn und des elektrischen Lichts im Gehülfen allgemein und für Tobler im Besonderen. Die Untersuchung seiner Erfindungen und ihrer Verknüpfung mit dem modernen Reklamewesen zeigt, wie sie durch die Kombination von fortschrittlichen Ideen und zeittypischen Objekten verdinglicht werden.
Rebecca Lötscher streicht die Bedeutung des Biografismus-Diskurses der 1910er Jahre in Bezug auf Walser heraus. Dabei rückt der Kontext der Neuen Rundschau ins Zentrum: eine Zeitschrift, die zugleich Publikationsort von Walsers Prosastücken und Schauplatz lebensphilosophischer Debatten hinsichtlich der Fragen ist, was als Grundbaustein eines Lebenslaufs gelte und welchen Anteil die Dichtung am bedeutungsvollen Leben habe. Walsers Texte Tobold (II) und Fritz treten so in Dialog mit Diltheys Begriff des Erlebens und Simmels Konzeption des Entwicklungsrhythmus’. Dabei zeigt der Beitrag, wie Walser gerade auf der Grundlage hermeneutischer Impulse gegen die Indienstnahme der Dichtung ein Eigenleben der Poesie behauptet.
Jael Bollag zeichnet in ihrem Beitrag vor dem Hintergrund von Giorgio Agambens Konzept des Limbus Walsers ‚Poetik der Saumseligkeit‘ nach. Die Kategorie der Unbestimmtheit, die Walser so vehement verteidigt, soll dabei nicht in eine neue Bestimmtheit überführt, sondern im ‚Anderswo‘ Walsers ergründet werden. Mit Agamben werden Walsers Figuren in Jakob von Gunten und im „Räuber“-Roman vor dem Hintergrund der biopolitischen Verwaltungsgesellschaft als Bewohner des Limbus greifbar, der seit Thomas von Aquin jene Vorhölle bezeichnet, die weder dem Diesseits noch dem Jenseits zugeordnet ist.
Sarah Maaß untersucht, wie Walsers Schreiben, das Kleines, Randständiges und Minoritäres in den Blick nimmt und in ausufernder Weise zur Darstellung bringt, literarische Konventionen zugleich aufgreift und ‚ethopolitisch‘ modifiziert. So instabilisiert Walser die hegemoniale ‚Aufteilung des Sinnlichen‘. Jacques Rancières Begriff einer ‚Politik der Literatur‘ erhellt in Verbindung mit dem écriture-Begriff des frühen Roland Barthes die charakteristische ‚Amoralität‘ von Walsers Sprachspielen.
Hannah Fissenebert rückt Walsers Märchen-Texte und deren Adaptionen bei Elfriede Jelinek ins Zentrum. Anhand Jelineks Prinzessinnendramen lassen sich Konvergenz und Differenz zu Walsers Schneewittchen und Dornröschen aufzeigen. Die Märchengattung wird bei Walser und Jelinek als ein Narrativ lesbar, das die Märchenadaptationen in die Tradition des deutschsprachigen Märchendramengenres stellt, das durch Intertextualität und Metadiskursivität geprägt ist.
Florian Henri Besthorn untersucht die Bearbeitung des Komponisten Michel Roth von Walsers zwei Fassungen des Spaziergangs. Er arbeitet Roths Poetik des ‚Ver-tonens‘ heraus, die gerade nicht vertonen, sondern die Komplexität des Textes in diverse Schichten der Musik transportieren will. Dies wird deutlich am Stück Der Spaziergang für zwei Baritone und Orchester von 2007, in dem Roth die zwei Fassungen Walsers von 1917 und 1920 einander dialogisch gegenüberstellt.
Dorette Fasoletti geht von Walsers Affinität zum Romantischen aus. Anhand einer vergleichenden Lektüre von Leben eines Malers in der Zeitschriftenfassung in der Neuen Rundschau (1916) und der Buchfassung in Seeland (1919) lässt sich die Entwicklung von Walsers Verhältnis zur Romantik in der Bieler Zeit nachzeichnen.
Ron Sadan verfolgt die These, dass Robert Walsers Schreiben eine Ästhetik jenseits des Buchs formuliere. 1925 erschien Walsers letzte Buchpublikation Die Rose, 1928 scheiterte ein durch Max Brod initiiertes Buchprojekt im Paul Zsolnay-Verlag. Im Fehlen von Buchpublikation nach 1925 und der auffälligen Häufung von Gedichten in der späten Berner Zeit sieht Sadan jene Ästhetik jenseits und gegen das Buch verwirklicht. Damit lässt sich eine Brücke zu Walsers frühem handgeschriebenen Gedichtband Saite und Sehnsucht schlagen.
Lukas Gloor geht von Walsers erzählerischer ‚Unordnung‘ aus. Vor dem Hintergrund der Moderne als einer Prekarisierung von Ordnung in inhaltlicher wie formaler Hinsicht wird Walser als Ordnungspraktiker und Ordnungstheoretiker lesbar. Am frühen Text Simon. Eine Liebesgeschichte lässt sich zeigen, was auch für spätere Texte bestimmend ist: Das Aufbieten und Aufbrechen von inhaltlichen wie formalen Ordnungen in einem performativen, die eigenen Verfahren auf redundante Weise figurierenden Erzählen.
Myriam Dätwyler stellt Walsers „Tagebuch“-Fragment von 1926 ins Zentrum. Dieser für Walsers Berner Zeit so bedeutsame Text, der bislang wenig kommentiert wurde, wird von unterschiedlichen Stimmen mitkonstruiert, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Eine adaptierte Form von Michail Bachtins Konzept der Polyphonie liefert ein Instrument, um das Spektrum der Dialogizität des „Tagebuch“-Fragments zu veranschaulichen.
Sarah Möller widmet sich einem bis anhin kaum untersuchten und selten vorkommenden Phänomen bei Walser: dem Gedankenstrich. Im Gedankenstrich, der Beziehung und Distanz gleichermaßen in sich trägt, kommt das Walsers Schreiben prägende Spiel mit verschiedenen Perspektiven deutlich zum Ausdruck. Sei es im Sinne einer Grenze zwischen Sprechen und Schweigen oder zwischen Kritzeln und Schreiben: Am Gedankenstrich werden selbstreflexive Momente des Schreibprozesses sichtbar. Der Beitrag nimmt Walsers sorgfältige Zeichensetzung anhand einzelner Textanalysen in den Blick und zeigt, dass der Gedankenstrich bereits für die literarischen Anfänge von Walser ein produktives Element bildet.
Garam Choi untersucht das Thema des Dienens und seinen Zusammenhang mit Walsers eigentümlicher Schreibweise, die Sätze scheinbar ohne besonderen Zusammenhang ineinander verschlungen fortzuführen. Dieser Sachverhalt stellt sich in der Modalität des Verweilens und des Umherwanderns dar und wird mit einer philosophisch-poetologischen Methodik der Spur und des Spurenlesens greifbar.
Charles Vanette erprobt einen Ansatz der Kognitionstheorien aus der phänomenologischen Psychologie zum besseren Verständnis von Walsers Sprachsensibilität. Walsers Schreiben scheint dem Klang einzelner Worte, ihrer sekundären und tertiären Bedeutungen und der daraus entspringenden Wortspiele und -spielereien zu gehorchen. Entsprechend erfordert der kreative Prozess des Schreibens eine geistige Flexibilität, welche die ungewöhnlichen und außerordentlichen linguistischen Assoziationen des Autors ermöglicht. Kognitionstheorien bieten eine Möglichkeit, so Vanette, Walsers Schreibstil neu zu interpretieren.
Robert Walser war schon zu Lebzeiten ein ‚writers writer‘. Diesem Umstand wird auch in diesem Band ansatzweise Rechnung getragen: Zwei Autoren setzen sich – ganz im Sinn einer „Produktionsmetapher des Raubes“ (Hobus) – literarisch mit Walsers Werk auseinander. Während Daniela Dill Walser in drei Repliken umkreist, mischt Pino Dietiker in seinen Briefen an Frau Schneider die wissenschaftliche und die literarische Tätigkeit in einer lust- und humorvollen Art und Weise. Die Texte gehen auf die im Rahmen der Tagung erfolgte Lesung Walsers Vibes zurück; sie betonen den Aufführungscharakter und Aspekte der Mündlichkeit, sind also stark an der Spoken Word-Tradition orientiert.4
Die Herausgeber bedanken sich beim Forschungsfonds der Universität Basel und dem Doktoratsprogramm Literaturwissenschaft der Universität Basel, der Elisabeth Jenny-Stiftung und der Robert Walser-Stiftung Bern für die finanzielle und ideelle Unterstützung der Tagung und des vorliegenden Bandes. Den Herausgebern der Robert Walser-Studien sei herzlich für die Aufnahme in die Reihe gedankt, ebenso dem Wilhelm Fink Verlag.
April 2019, Lukas Gloor
Literatur
1. Siglenverzeichnis
BA: Robert Walser: Werke. Berner Ausgabe. Hg. v. Lucas Marco Gisi, Reto Sorg, Peter Stocker u. Peter Utz. Berlin: Suhrkamp 2018ff.
KWA: Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld, Schwabe 2008ff.
RWH: Lucas Marco Gisi (Hg.): Robert Walser-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart: Metzler 2015.
SW: Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985–1986.
2. Sekundärliteratur
Fattori, Anna: Forschungsgeschichte. In: RWH, S. 417–426.
Fuertes, Raúl: Ein Wald aus Bäumen. In: Narr Literaturmagazin 25 (2018), S. 97–102.
Hobus, Jens: Poetik der Umschreibung. Figurationen der Liebe im Werk Robert Walsers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.
Schwerin, Kerstin Gräfin von: „Vollendetheiten sind eine Fäulnis“. Zum Fragmentcharakter von Robert Walsers mikrografischen Entwürfen. In: Anna Fattori u. Kerstin Gräfin von Schwerin (Hg.): „Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa“. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Heidelberg: Winter 2011, S. 87–110.
Walt, Christian: Improvisation und Interpretation. Robert Walsers Mikrogramme lesen. Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld 2015.
Vgl. Schwerin: Vollendetheiten sind eine Fäulnis.
Vgl. Walt: Improvisation und Interpretation.
Die folgenden Zusammenfassungen beruhen in ihrer Grundlage auf den Zusammenfassungen der Autorinnen und Autoren.
Für eine literarische Auseinandersetzung mit Walsers Spaziergang im Park, die ebenfalls im Rahmen der Tagung präsentiert wurde, vgl. Fuertes: Ein Wald aus Bäumen.