Verunglückte Abenteurer

Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Ambivalenz des Abenteuers

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Oliver Grill
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Kritik am Abenteuer

Der Begriff des Abenteuers ist seit seiner konzeptuellen Prägung in der erzählenden Literatur des Mittelalters eng mit Vorstellungen des Glücks verbunden.1 Wie Mireille Schnyder in Bezug auf den Artusroman formuliert hat, wird das Abenteuer nicht allein durch das „Zufallsgeschehen der Fortuna“ regiert, sondern zugleich auch durch „die sælde, aus der heraus sich zum Schluss eine Geschichte als sinnvolles Gefüge, als âventiure, erzählen lässt“.2 Vergleicht man diese ursprüngliche Verschränkung von Fortuna-Glück und sælde-Glück mit den Bestimmungen in den Nachschlagewerken des 18. Jahrhunderts,3 so stellt man fest, dass dort beseligende Erfüllung und höherer Sinn wegfallen und der Aspekt der Kontingenz allein ins Zentrum rückt. Parallel zum Abbau providentieller Letztgarantien und dem Aufstieg probabilistischen Denkens4 wird das Abenteuer zum Inbegriff einer unwägbaren Unternehmung, die auf den glücklichen Zufall setzt. Definitionskern ist nun, wie etwa in Ludovicis Kaufmanns-Lexicon, der „seltsame Zufall, daran das Glück mehr Theil hat, als der Vorbedacht. […] Abentheuer erfahren haben, heißt mancherley Glücks- und Unglücksfälle überstanden haben.“5 „Avanturiers“ seien, so auch Marpergers Lexicon in der Auflage von 1755, „Leute, die in der Welt herum ziehen, um allerhand Abentheuer (Avanturen) und ungewöhnliche Begebenheiten und Glücks-Fälle zu erfahren“.6 Typischerweise gelten als solche Seeräuber und Söldner, Gaukler, Schausteller und Possenreißer sowie seereisende Kaufleute, die für ihre Waren keinen festen Abnehmer haben, sondern mit ihnen „auf Glück oder Unglück, Hazard und Gerathwohl“ handeln.7 Wo ehemals glänzende Ritter auf âventiure-Fahrt auszogen und eine gute Vorsehung das Glück dieser Fahrten lenkte, sind es nun lose Personenverbände oder lumpige Individuen aus der Klasse der Spekulanten, Gauner und Vagabunden, die mit einer gehörigen Portion Mut zum Risiko und ohne höhere Weihe durchs Leben gehen.

Im Wegfall des sælde-Versprechens und in der Ansiedelung des Abenteurers in niederen Gesellschaftsschichten ist die Kritik am Abenteuer angelegt, die für das bürgerliche Zeitalter charakteristisch geworden sein wird. Wer im blinden Vertrauen auf ein zufälliges Glück lebt, so die Stoßrichtung der Aufklärung, dem muss es entweder an Verstand oder an Moral fehlen – oder an beidem. In Zedlers Universallexikon von 1751 ist die Warnung zu lesen, dass der Abenteurer „gemeiniglich nur ein Betrüger“ sei: „Ein jeder soll sich vor dergleichen Leuten wohl in Acht nehmen.“8 Dagegen führen in den Augen der Deutschen Enzyklopädie (1778) nicht kriminelle Energien, sondern „die abgeschmacktesten Vorurtheile“ eines „schwachen Verstandes“ zu Abenteuern.9 In beiden Fällen wird der auf unkalkulierbare Risiken gestellten Lebensführung als solcher der Kredit entzogen. Das Glück des Abenteurers wird den Zeitgenossen ebenso verächtlich wie verdächtig: ein Fall mangelnder Aufklärung, der je nach Alter der Person und Schwere des Vergehens ins Ressort der Pädagogik, der Polizei oder der Irrenhäuser fällt.

Diese Kritik wäre kaum denkbar ohne das Feld, aus dem der Begriff des Abenteuers genuin stammt – das der erzählenden Literatur.10 So ist der Vorwurf der Schwachsinnigkeit offenkundig dem Don Quijote entlehnt, und jener des Betrugs vermutlich den abenteuerlichen Überlebensstrategien, die den Schelmenroman prägen. Vor allem aber zielt sie auf zeitgenössische Schreib- und Lesegewohnheiten. Nicht nur das Glück des Abenteurers wird im 18. Jahrhundert zweifelhaft, sondern auch das Glück, von Abenteuern erzählen oder lesen zu können. Denn wo die Verblendung eines schwachen Verstandes als Bedingung des Abenteuers gilt, da folgt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, dass „alles Abentheuerliche“ den Leser ernsthafter Literatur „beleidigt“.11 Besonders scharf verurteilt Johann Georg Sulzer das literarische Abenteuer, das er mit dem Romanhaften mehr oder weniger gleichsetzt,12 als eine „Art des falschen Wunderbahren, dem selbst die poetische Wahrscheinlichkeit fehlet“. Es entstamme einer Welt, „wo alles ohne hinreichende Gründe geschieht“ und sei als Produkt einer „erhitzten und vom Verstand ganz verlassenen Einbildungskraft“ besonders bei den „Völkern der heissen Morgenländer“ weit verbreitet.13 Summarisch hält dann Adelung fest, dass jemand, der auf Abenteuer aus sei, „keine bestimmte und vernünftige Lebensart“ habe und dass der „häufige Gebrauch, den die alten Romanschreiber von diesem Worte machten“, ihm „endlich einen verächtlichen Nebenbegriff gegeben“ habe.14

Es war Johann Gottfried Herder, der sich gegen Sulzer wandte und betonte, das „falsche Wunderbare“ des Abenteuers habe einst „etwas Ächtes, Wahres zum Grunde“ gehabt und „ursprünglich blos das Wohlgelingen einer kühnen Unternehmung“ gemeint.15 Sein Einwand richtet sich letztlich gegen die Produktion eines Vorurteils, wird doch das Abenteuer in den zitierten Bestimmungen erst konzeptuell entgrenzt und dann pauschal zurückgewiesen. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts formuliert die noch heute geläufige Einschätzung, wonach das Abenteuer bestenfalls als ebenso leichte wie geistlose Form der Unterhaltung seine Daseinsberechtigung hat; eine Sache, die man sich zwar zum Zeitvertreib gönnen kann, aber doch nur mit der stillen Scham desjenigen, der es eigentlich besser weiß. Weder scheint der unvernünftige und unwahrscheinliche Modus des Abenteuerlichen mit der Ratio der Aufklärung vereinbar noch – als angebliche Erfindung der heißen Morgenländer – mit dem klassizistischen Kunstideal vom gemäßigten Klima Griechenlands. Eine Lebensführung, die ohne hinreichende Gründe auf Glücksfälle und außergewöhnliche Begebenheiten setzt, kann kaum als nachahmenswert gelten, und umgekehrt scheint das literarische Abenteuer von allen Erzähltraditionen diejenige zu sein, die dem Gebot der Mimesis im Sinne einer Nachahmung des „nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Möglichen“16 am allerwenigsten verpflichtet ist.

Genau dieses Gebot aber macht Friedrich von Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman von 1774 stark, um damit die Darstellung einer inneren Entwicklung zum Primat des Erzählens zu erheben. So habe der Roman „das ganze innre Seyn“ einer handelnden Person zu erfassen und dabei eine der Natur abgelernte lückenlose Abfolge aus Ursachen und Wirkungen (natura non facit saltus) in Gestalt einer psychologisch plausiblen Motivation herzustellen, weshalb es auf die „Begebenheit selbst nie ankommen könne.“17 Die Konsequenz dieses Grundsatzes ist die Verbannung des Abenteuers aus der ihm angestammten Gattung:

Denn da die Romanendichter, um Eindruck mit ihren Begebenheiten zu machen, und die Leser in Bewegung zu setzen, zu außerordentlichen Zufällen, Entführungen, Blutschande, Verwechselungen unter dreyfachen Namen, Einbrüchen, Zweykämpfen, Verkleidungen, Gefahren zu Wasser und zu Lande; mit einem Wort, zu Dingen ihre Zuflucht nahmen, wie wir sie einen ruhmsüchtigen Lügner in Gesellschaften erzehlen hören: so wars natürlich, daß der Kopf der Leser, – und besonders der Leserinnen mit Vorstellungen angefüllt wurde, […] die die Einbildungskraft, und endlich die Sittlichkeit verderben mußten. […]

Wenn der Dichter nach jener [kausallogischen] Art seine Begebenheiten wirklich werden läßt: so werden ihm nicht allein jene Abentheuer unnütz; ein Theil derselben wird ihm auch schlechterdings unmöglich, weil sich das Wie zu denselben oft in dieser ganzen Welt nicht finden lassen würde.18

Damit spitzt Blanckenburg den allgemeinen Vorwurf des Unplausiblen und Unvernünftigen auf einen Kritikpunkt zu, der nicht nur ein übertrieben reißerisches Motivensemble meint, sondern die Narration im Roman als solche betrifft. Als inflationäre Anhäufung wunderbarer Begebenheiten verstanden, die der zitierte Satz in Form eines Motivkatalogs vor Augen stellt, ist das Abenteuer für Blanckenburg ganz und gar ungeeignet, um von der inneren Entwicklung eines Menschen zu erzählen: Es bietet kein ausreichend stabiles Syntagma hinreichender Gründe und motivierter Folgen; es ist zu unlogisch für einen stringenten Kausalnexus, zu unwahrscheinlich für eine wirklichkeitsorientierte Mimesis, und die Handlungen des Abenteurers sind zu unvernünftig, um einen psychologisch konsistenten Erzählverlauf zu tragen.

Ambivalenz des Abenteuers in den Lehrjahren

Mithin dient die Kritik am Abenteuer als Argument einer normativen Gattungspoetik, die zwar den Roman, nicht aber das Romanhafte will, und die mit der Abkehr vom Abenteuer zweifelsohne eine der Weichen stellt, welche den Roman in die Moderne führen werden. Dass diese Abkehr im deutschen Sprachraum insbesondere von dem später so genannten Bildungsroman vollzogen wurde, entspricht dem gängigen Bild der Literaturgeschichtsschreibung.19 Daher ist es für die Frage nach dem Verbleib des Abenteuers in der Moderne ein bedeutsamer Punkt, dass mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)20 ausgerechnet der Roman, der die Erzählung von der inneren Entwicklung des Menschen zum Gattungsparadigma ausgeprägt hat, keineswegs ohne Abenteuer auskommt. Schon ein oberflächlicher Abgleich mit Blanckenburgs Poetik führt das vor Augen: Dass die Lehrjahre den dort geforderten Kausalnexus lockern, um „in viel weiterem Umfang auch unverhoffte Begebenheiten eintreten und walten zu lassen“, weiß die Forschung seit langem;21 Reflexionen über Zufall und Schicksal ziehen sich quer durch den Roman; um Verwechslungen, unklare Identitäten und Wiedererkennungen geht es in Goethes Theaterroman ohnehin andauernd; für Einbrüche und Zweikämpfe ist Friedrich zuständig; die vielen Kostümierungen werden für Wilhelm spätestens dann zum Liebesabenteuer, als er in die Kleider des Grafen schlüpft, um der schönen Gräfin näher zu kommen; wer von Blutschande und Entführung lesen will, der blättert zu den Vorgeschichten Mignons und des Harfners; und während schließlich die Gefahren zu Wasser erst in den Wanderjahren relevant werden, machen die Gefahren zu Lande in Gestalt des Überfalls im vierten Buch eine der Schlüsselstellen der Lehrjahre aus.

Umgekehrt jedoch zieht Goethe sowohl das Konzept vom Abenteuer als Losung des glücklichen Zufalls als auch die alte sælde-Verheißung, wonach sich das scheinbar Zufällige am Ende zu einem erzählbaren Sinn fügt, konsequent in Zweifel. Wilhelms Frage, ob „zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben“ (Lj 496), bleibt ebenso unbeantwortet, wie der Roman letztlich das ganze Räsonnement über Zufall und Schicksal mit einiger Ironie als unzeitgemäße Simplifizierung bloßstellt; das Liebesabenteuer mit der schönen Gräfin bringt Wilhelm in größte Verlegenheit und den Grafen auf den Abweg des Spiritismus;22 den Brief, der die „Erzählung seiner Abenteuer“ (Lj 109) enthält, zerreißt Wilhelm, kaum dass er ihn geschrieben hat; und die prägnante Wendung von den „drei verunglückten Abenteurern“ (Lj 224), mit der Goethe die Situation Philines, Mignons und Wilhelms nach dem Überfall beschreibt, verdeutlicht auf geradezu formelhafte Weise, dass das Glück, das am Ende der Lehrjahre steht,23 für den Protagonisten auf abenteuerlichen Wegen allein nicht zu erreichen ist.

Die Lust an abenteuerlichen Motiven und Plots auf der einen Seite und das doppelte Scheitern der Hauptfigur als Abenteurer und Abenteuererzähler auf der anderen ergeben zusammengenommen ein ambivalentes Bild. In ihm kommen eine gezielte Wiederannäherung an den Traditionsbestand des Abenteuers und zugleich eine eigene kritische Distanzierung zum Ausdruck. Wie im Folgenden gezeigt wird, macht Goethe sowohl die überkommene Faszination als auch die zeitgenössische Kritik am Abenteuer für das Projekt der Geschichte einer bürgerlichen Individualentwicklung produktiv, das er mit den Lehrjahren verfolgt. Das Unterfangen, vom „innren Seyn“ des Menschen zu erzählen, hat für ihn überhaupt nur im Verein mit jenen äußeren Begebenheiten, die ihm der daran reiche Fundus des Abenteuers bietet, Sinn. Es sind abenteuerliche Zufälle und Glücksmomente, die dem Roman und der Figur eine mannigfaltige, hochkomplexe Welt erschließen – und damit als Möglichkeitsbedingung der Entwicklung fungieren und zugleich zur Modernität des Romans beitragen. Umgekehrt jedoch nehmen diese Momente nie überhand, sondern bleiben denkbar eng auf Wilhelms Sozialisation bezogen und werden sorgsam eingegrenzt. In dieser Ambivalenz ist das Abenteuer in den Lehrjahren mehr und anderes als nur Phantasma einer schwärmerischen Lebensphase, in der man sich, wie Hegel sagt, die Hörner abläuft.24 Goethe stellt es vielmehr als etwas dar, das für die Entwicklung des Protagonisten und des Romans gleichermaßen unverzichtbar ist.

Die Abenteuer der kleinen Welt

Einer der markantesten Unterschiede zwischen dem Fragment der Theatralischen Sendung (1777–1785) und Wilhelm Meisters Lehrjahren besteht bekanntlich darin, dass Goethe die chronologische Organisation der Narration aufbricht und den Roman nun medias in res beginnt, bevor er Wilhelm selbst die Geschichte seiner Kindheit nachreichen lässt. Damit richtet Goethe die Lehrjahre am Schema des Heliodor’schen Liebes- und Abenteuerromans aus, das einige Jahre zuvor bereits Wielands Agathon aufgegriffen hatte.25 Doch während Wieland das Abenteuer in Form eines an Heliodor angelehnten Piratenüberfalls als initiales Zufallsmoment nutzt,26 dient es im ersten Buch der Lehrjahre ausschließlich als Beschreibungskategorie der Lektüre- und Theatererlebnisse eines Heranwachsenden. So schildert Wilhelm seiner Geliebten, der Schauspielerin Mariane, den Eindruck, den die Aufführung des Puppenspiels von David und Goliath bei ihm als Kind hinterließ, folgendermaßen:

Den andern Morgen war leider das magische Gerüste wieder verschwunden, der mystische Schleier weggehoben, man ging durch jene Türe wieder frei aus einer Stube in die andere, und so viel Abenteuer hatten keine Spur zurückgelassen. Meine Geschwister liefen mit ihren Spielsachen auf und ab, ich allein schlich hin und her, es schien mir unmöglich, daß da nur zwo Türpfosten sein sollten, wo gestern noch so viel Zauberei gewesen war. Ach wer eine verlorne Liebe sucht, kann nicht unglücklicher sein, als ich mir damals schien!

Ein freudetrunkner Blick, den er auf Marianen warf, überzeugte sie, daß er nicht fürchtete, jemals in diesen Fall kommen zu können. (Lj 17)

Hier fällt der Begriff des Abenteuers zum ersten Mal. Vorderhand bezeichnet er das Plotelement des Zweikampfs mit einem monströsen Gegner (Goliath),27 das im Zentrum der Aufführung steht, sowie die „wunderlichen Sprünge“ (Lj 17) eines exotischen Balletts. Dabei kommen Herders Definition vom Abenteuer als „Wohlgelingen einer kühnen Unternehmung“ in Gestalt des „kleinen Überwinders“, der den „gewaltigen Riesen“ bezwingt (Lj 17), und jene Semantik des Abenteuerlich-Wunderbaren, gegen die sich die Kritik der Aufklärung so entschieden verwahrte, zusammen. Doch auch der semantische Kern des Begriffs, den der Sprachhistoriker Klaus-Peter Wegera über die „Nähe von aventure zu adventus“ im Vorgang des „Zur-Erscheinung-Kommens“ ausgemacht hat, ist hier mitzudenken.28 Denn eigentlich wird ja Weihnachten gefeiert, als das visuelle Ereignis29 des Puppenspiels das Kind in Begeisterung versetzt, bevor man es „wie betrunken und taumelnd zu Bette“ schickt (Lj 17).

So hält die „kleine Welt“ (Lj 22 u. 23) des Marionettentheaters für Wilhelm eine ebenso wunderbare wie beglückende Advents-Erscheinung bereit, die allerdings nur deshalb als Abenteuer qualifiziert, weil das Kind noch nicht hinter den Vorhang dieser Welt geblickt hat. Aus der halb sentimentalen, halb ironischen Perspektive des jugendlichen Selbsterzählers, der diesen Blick natürlich längst getan hat, ist das erste kindliche Abenteuer dagegen Ausdruck einer unwiederbringlich verlorenen Naivität.30 Gleichwohl erlaubt der Repräsentationsakt des Erzählens eine Vergegenwärtigung, wie die Übereinstimmung zwischen dem vergangenen Zustand („betrunken und taumelnd“) und gegenwärtigen („freudetrunkener Blick“) deutlich macht. Wilhelm selbst betont gegenüber Mariane: „Aber unaussprechlich glücklich fühl’ ich mich jetzt, da ich in diesem Augenblicke mit dir von dem Vergangnen rede, weil ich zugleich vorwärts in das reizende Land schaue, das wir zusammen Hand in Hand durchwandern können.“ (Lj 17) Über diesem Glücksmoment hängt jedoch bereits das dunkle Omen des Bildes von der verlorenen Geliebten, das die Trennung von Mariane andeutet, obwohl Wilhelm nicht glaubt, dass er in eine solche Situation – die typisch für den spätantiken Roman wäre31 – kommen könnte. Aus der ironischen Sicht der externen Erzählinstanz ist jedoch auch dieses Glück vergangene und verspielte Naivität. Das Ereignis des Abenteuers, das in Wilhelms Selbsterzählung in der Tat beseligendes ‚Eräugnis‘ ist, und das Erzählen davon fallen somit weder in eins, wie bei der âventiure,32 noch gänzlich auseinander, wie bei der Abenteuerparodie des Cervantes. Vielmehr handelt es sich an dieser und an späteren Stellen bei den als Abenteuer bezeichneten Geschehnissen um Momente intensiven Erlebens, Rezipierens und Erzählens, die im ironischen Nachhinein der jeweiligen Erzählsituation auf ihren illusorischen Kern hin transparent werden, ohne dass dies dem Einfluss, den diese Momente auf die weitere Entwicklung Wilhelms nehmen, Abbruch täte. Im Gegenteil: Die Differenz zwischen der inszenierten bzw. erzählten Fülle („so viel Abenteuer“) und der Leere danach („keine Spur“, „verlorne Liebe“) führt zu einem dringenden Bedürfnis nach Wiederholung, das Wilhelm fortan antreibt.33

Dass es Goethe damit grundsätzlich um die Verschränkung von Abenteuerrezeption34 und bürgerlicher Sozialisation zu tun ist, zeigt der weitere Verlauf der Selbsterzählung. Nachdem Wilhelm einige Zeit später über die Marionetten verfügen darf, beginnt er mit ihnen zu experimentieren: „Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald eine andere Gestalt gewann“, nämlich jene der „Oper mit ihren manichfaltigen Veränderungen und Abenteuern“ (Lj 23). Von Anfang an verärgert darüber, dass „der Glücksprinz“ David „so zwergmäßig gebildet sei“ (Lj 13), weitet Wilhelm den engen Kreis der Puppen- und Kinderwelt auf größere Bühnen aus. Auch für sich selbst sucht er größere Vorbilder. Er verkleidet sich und seine Spielkameraden als antike „Miliz“, und, so Wilhelm weiter,

der Anblick so vieler gerüsteter Gestalten mußte in mir notwendig die Ritterideen aufreizen, die seit einiger Zeit, da ich in das Lesen alter Romane gefallen war, meinen Kopf anfüllten.

Das befreite Jerusalem, davon mir Koppens Übersetzung in die Hände fiel, gab meinen herumschweifenden Gedanken endlich eine bestimmte Richtung. […] Besonders fesselte mich Chlorinde mit ihrem ganzen Tun und Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins, taten mehr Wirkung auf den Geist, der sich zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob ich gleich ihren Garten nicht verachtete.

Aber hundert und hundertmal […] sagte ich mir die Geschichte des traurigen Zweikampfs zwischen Tancred und Chlorinden vor. (Lj 26 f.)

Wilhelm stellt sich vor, „Tancreden und Reinalden [zu] spielen“, identifiziert sich letztlich aber nicht mit Tassos heroischem âventiure-Ritter, den es in Armidas Zauberreich verschlägt, sondern mit dem traurigen Ritter Tankred, der die gegnerische Kriegerin Chlorinde unerwidert liebt und irrtümlich tötet.

Der Weg, den Wilhelms Abenteuerrezeption nimmt, beginnt also beim Kampf David gegen Goliath, geht über die Abenteuer der Opernbühne, die vagen Ritterideen und Lektüren in alten Romanen (worin auch das Gleichnis von der verlorenen Geliebten wurzelt) und läuft auf die wirkmächtige Imagination des traurigen Zweikampfs zwischen Tankred und Chlorinde zu, in der alle vorherigen Stationen gleichsam aufgehoben sind.35 Auch dieser Zweikampf selbst durchläuft eine gattungspoetisch akzentuierte Transformation. Er bedeutet in Wilhelms Augen keine epische, sondern eine tragische Konstellation. Tankred sei, „vom Schicksal bestimmt […], das was er liebt überall unwissend zu verletzen“ (Lj 27). Der Versuch, diese ‚Tragödie‘ auf die Bühne zu bringen, kippt wiederum ins Komische: Weil Wilhelm vergessen hat, seinen Kumpanen Redeanteile zuzuweisen und weil er als Tankred in seiner „eignen Rede endlich als dritte Person“ vorkommt, muss er „unter großem Gelächter“ die Bühne verlassen und stattdessen – Zweikampf durch Zweikampf ersetzend, aber darüber wieder zum kleinen Mann werdend – das altbekannte Stück von David und Goliath36 improvisieren: „Ein Unfall, der mich tief in der Seele kränkte. Verunglückt war die Expedition“ (Lj 29). Der Lapsus und das große Gelächter lassen die episch-tragische Helden- und Größenphantasie ins Zwergmäßige der kleinen Welt zurückfallen.

Auch der vermeintliche Treuebruch Marianes am Ende des ersten Buches bedeutet für Wilhelm tragisches Scheitern und tiefe Kränkung zugleich, auch sie macht ihn zum „verunglückten Freund“ (Lj 75).37 Sein „ganzes Dasein“ sei „an der Wurzel getroffen“ (Lj 76), fasst der Erzähler Wilhelms kritischen Zustand zusammen. Um dem Jugendfreund, dem angehenden Kaufmann Werner, diesen Zustand begreiflich zu machen, wählt Wilhelm ein Bild, in dem Unfall und Unglück gleichgesetzt werden:

O mein Bruder […], sie [Mariane] war mir bei meinen heimlichen Anschlägen der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist; gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Fuße seiner Wünsche. Es ist auch nun für mich kein Trost, keine Hoffnung mehr! (Lj 84)

Wilhelm bringt hier seinen bereits im Ansatz gescheiterten Plan, heimlich mit Mariane fortzugehen und sie auf „ritterschaftliche“ Weise (Lj 65) zu heiraten, zur Sprache. Die „kühne Unternehmung“ (Herder) des Abenteurers kippt in einer Art Katabasis in die Semantik des Abstürzens und der Hoffnungslosigkeit. Wilhelm schreibt dem Abenteuer eine tragische Fallhöhe ein, die diesem eigentlich nicht zukommt, und nutzt es als Ausdruck einer niederschmetternden Wunschversagung.38

Auf diese Weise wird die signifikante Paarung von Abenteuer und Unglück gebildet. Sie erweist sich weniger als Goethes Beitrag zu einer Kritik am Abenteuer nach Maßgaben der Aufklärung, sondern vielmehr als Ergebnis eines innerdiegetisch sorgfältig ausgestalteten Rezeptionsweges bzw. Entwicklungsprozesses, an dessen vorläufigem Ende die tragische Umdeutung des Topos vom Glück des Abenteurers steht. Weder trägt das Abenteuer eine konkrete Inhalts- oder Formvorgabe in den Roman ein, noch gerät es dem Protagonisten zur fixen Idee.39 In einem Prozess der Wechselwirkung beeinflussen abenteuerliche Vorstellungen vielmehr Wilhelms Entwicklung und Selbstverständnis ebenso, wie umgekehrt diese Entwicklung die abenteuerlichen Vorstellungen modifiziert. Goethe setzt das Abenteuer als Spielregel im Sozialisationsspiel des Bildungsromans in Szene40 und senkt es tief in das erzählte Leben ein. So wie die Lehrjahre von der Formung des Lebens41 und zugleich von der Umformung prägender Rezeptionseindrücke erzählen42 – eine Umformung, die diese Eindrücke lebendig hält und literarische Motive als Movens des Lebens gelten lässt –, so verschränken sie auch Abenteuerrezeption und Entwicklungsgeschichte.

Damit liefert Goethe sicherlich eine valide Antwort auf die Frage, was das Abenteuer in der bürgerlichen Moderne sein kann: Erlebniskategorie, Jugendlektüre, Entwicklungsstimulus, Chiffre naiver Wunschträume, Ironisierungsmittel … Doch wie der weitere Verlauf des Romans zeigt, geht Goethe um einiges darüber hinaus: Die Abenteuer, die Wilhelm im zweiten Buch erlebt, ermöglichen diesem nicht nur die Überwindung seiner Lebenskrise, sondern eröffnen ihm zudem den Zugang zu einer Welt jenseits der engen Bürgersstuben, Hinterzimmer und Bühnenräume. Zugleich erweist sich auf discours-Ebene ausgerechnet das vermeintlich unterkomplexe Erzählschema des Abenteuers als das narrative Vehikel, das den Lehrjahren jene vielschichtige, von komplexen Zusammenhängen und offenen Möglichkeiten konstituierte Diegese erschließt, die Goethes Roman überhaupt erst zu einem modernen Roman im starken Sinne macht.

Die Abenteuer der großen Welt

Als Wilhelm sich von Mariane betrogen glaubt, gibt er den Gedanken, aus den bürgerlichen Verhältnissen seines Elternhauses auszubrechen, auf. Nach einer akuten seelischen und körperlichen Krankheitsphase ist er „überzeugt, daß jene harte Prüfung vom Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden“ sei. Wilhelm wendet sich „völlig resigniert“ vom Theater ab und dafür „mit großem Eifer den Handelsgeschäften“ zu (Lj 78). Das Aufbegehren gegen den väterlichen Lebensentwurf scheint beendet. Statt den Philister Goliath erschlagen zu haben und mit der Geliebten entflohen zu sein, kommt Wilhelm bemerkenswert früh bei jenem rationalen Arbeitsethos der bürgerlichen Moderne an, das Franco Moretti als das Gegenteil allen Abenteuers ausgemacht hat.43

Für Hegel wäre mit dieser Eingliederung in die „bestehenden Verhältnisse“ das „Ende solcher Lehrjahre“, die das Individuum zum Subjekt erziehen, im Grunde erreicht.44 Doch die Lehrjahre fragen nicht nach einem resignativen, sondern nach einem regenerativen Weg aus der Krise.45 Ein Impuls aus der Sphäre des Bürgertums stößt diesen Weg an: „Man“ habe „Wilhelms Abreise zum zweitenmal“ beschlossen, „wir finden ihn auf seinem Pferde […] dem Gebirge sich nähern, wo er einige Aufträge ausrichten sollte.“ (Lj 85) Nach der kleinen ökonomischen „Expedition“ (Lj 41) im ersten Buch, die im Unterschied zur theatralen Expedition der Tasso-Aufführung nicht verunglückte, wird Wilhelm erneut vom Vater entsandt, um Schulden einzutreiben. Das wirkt zunächst wenig abenteuerlich, obschon der Auftrag durchaus Abenteuerpotential hat, wie von Werners Loblied auf die Kaufmannszunft zu erfahren war: Reizend sei der Anblick eines Schiffes, „das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt“ (Lj 39 f.). Doch nicht die Vorstellung vom Merchant adventurer46 begleitet Wilhelms Reise. Vielmehr sind es die in der Phase der Resignation zurückgedrängten Vorstellungen aus der Jugendzeit, die seinen Aufbruch ins Abenteuerliche hinüberspielen:

Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahndung, wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten. (Lj 86)

Während das schauende, spielende und tagträumende Kind mehr oder weniger statisch „über der kleinen Welt schwebte“ und „brütete“ (Lj 22 f.; meine Hervorh.), ist die Welt, die nun vor Wilhelm liegt, weder von oben zu überblicken noch auf Dramenplots reduzierbar; sie ist kein umgrenztes Spielfeld der Einbildungskraft, sondern fordert eine Bewegung in der Horizontalen ein, die unabsehbare Erfahrungen, in der Tat merkwürdige Begebenheiten und neue soziale Kontexte mit sich bringen wird. Wilhelm „wollte die Gelegenheit nicht versäumen, die große Welt näher kennen zu lernen“ (Lj 152), heißt es später; und im sogenannten Bildungsbrief kann er dann an Werner schreiben: „Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst.“ (Lj 289)

Wilhelms Reise steht von Anfang an im Zeichen dieses Sich-Einlassens auf die Welt, ohne das die Weiterentwicklung der Figur wie auch des Romans nicht denkbar wäre. Dabei ist jeder Schritt, den Wilhelm im zweiten Buch tut, einer, mit dem er sich weiter von Werners Bild der glanzvollen Rückkehr in den Heimathafen entfernt. Sein neuerlicher Aufbruch stellt sich als Auftakt einer abenteuerlichen Kursabweichung ohne Heimkehr heraus. Nachdem er die ersten Stationen im Gebirge auftragsgemäß absolviert hat, verlässt er die ihm vorgeschriebene Route und reitet stattdessen in ein „heiteres Landstädtchen“ im Flachland, um „sich und seinem Pferde […] einige Erholung zu verschaffen.“ Hier, in der „fruchtbaren Ebene“ (Lj 89), wo schon topografisch gesehen keine tragischen Stürze und melancholischen Anfälle zu befürchten sind, trifft Wilhelm auf Philine, die Max Kommerell einmal als „Geist des Abenteuers“ bezeichnet hat.47 Auf mythologischer Ebene wirkt dieser Geist wie eine Mischung aus Venus und Fortuna,48 doch erweist sich gerade Philine als eine durch und durch gegenwärtige Figur aus Fleisch und Blut, die der Mythos allenfalls grundiert und die insofern auch weniger als Geist, denn als Verkörperung des Abenteuers zu bezeichnen wäre.

Wilhelms erste Begegnung mit dieser Figur ist in eine Szene unverbindlicher Galanterie gefasst, die Lösung und Erleichterung konnotiert: Philine sitzt mit „nachlässig aufgelösten“ Haaren an einem Gasthausfenster und lässt Wilhelm um einen Blumenstrauß bitten, den dieser zuvor „mit Liebhaberei anders band“. Vermittelt über den „leichten Boten“ Friedrich macht Wilhelm „der Schönen ein Kompliment“ und schenkt ihr den Strauß. Über dieses „artige Abenteuer“ (Lj 89 f.) vergisst Wilhelm Zweck und Ziel seiner Reise und überlässt sich einem „unbestimmten Schlendern“ (Lj 139). Mit solchen ungerichteten Bewegungen setzen traditionellerweise Abenteuer ein – man denke an den âventiure-Ritter, der die Zügel seines Pferdes fahren lässt – und das gilt unter veränderten Vorzeichen auch für Wilhelm. Ziellos bewegt er sich durch die Topografie der Wirtshäuser, Hinterzimmer, Marktplätze und idyllischen Landschaften. Dabei kommt er mit jenem fahrenden Volk in Kontakt, für das im 18. Jahrhundert die Bezeichnung ‚Abenteurer‘ üblich war – mit herumziehenden Artisten und Akteuren der Wanderbühnen.49 Den Artisten entreißt er das „wunderbare Kind“ (Lj 96) Mignon, indem er sich erst im „Zorn“ und mit „Gewalt“, dann mit rhetorischen Mitteln gegen deren Anführer behauptet (Lj 101 f.). Er lernt den Schelm Friedrich und den Lebemann Laertes kennen, die dem vorbelasteten Zweikampfmotiv durch ihre Fechtübungen und Scheinduelle eine spielerische Leichtigkeit zurückgeben. Zusammen mit Philine und Laertes führt Wilhelm über mehrere Kapitel hinweg das, was der Erzähler nicht ohne Ironie das „lustige Leben unsrer drei Abenteurer“ (Lj 106) nennt.

So wird aus der spontanen Kursabweichung eine ausscherende Bewegung, die für Wilhelm über die Begegnung mit dem ‚losen Mädchen‘ Philine zur Expedition im Wortsinne – zu einer Losbindung50 – gerät; genauer: zu einem unwillkürlichen Prozess des Sich-Ablösens vom Ort der eigenen Herkunft und den Verpflichtungen des väterlichen Auftrags, von oikos und nomos. Philine verkörpert nicht nur eine abenteuerliche Lebensführung, sondern überhaupt eine andere Finanz-, Zeit- und Affektökonomie. Der Gedanke, dass man Geld oder Zeit sparen oder investieren soll, liegt dem freigiebigen und „verwegenen Mädchen“ (Lj 122) ungefähr so fern wie der Gedanke, dass erotische Attraktion auf Familiengründung hinauslaufen muss. Wie Goethe mit dem aufgelösten Haar und dem neu gebundenen Strauß andeutet, arrangiert er über die Einführung Philines zugleich die narrative Ordnung des Romans neu, indem er bis auf weiteres von dramatischen oder teleologischen Mustern absieht und die analeptische Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart zugunsten einer chronologischen Reihe abenteuerlicher Episoden auflöst. Der Roman folgt hier weniger dem Prinzip von Ursache und Wirkung im Sinne Blanckenburgs, sondern vielmehr einem abenteuertypischen Prinzip der Akkumulation schillernder Begebenheiten. „Auf diese Weise“, so hat Eberhard Lämmert solche Erzählverfahren beschrieben, „wird der Kreis der Abenteuer, der Schauplätze, aber auch der Probleme vergrößert, und die einfache Addition von Ereignissen und Schicksalen verstärkt die Buntheit des erzählend eingefangenen Lebens.“51 So wie die ungeduldige Philine immer wieder zur Eile drängt, so besteht auch der Fortgang der Narration im zweiten Buch aus einer ebenso raschen wie losen Folge unterhaltsamer Episoden, die nicht aufgehen in ihrer Funktionalität für Wilhelms Entwicklung. Sie stehen im Gegenteil für ein gelockertes Realitätsprinzip und weisen in ihrem bunten und anzüglichen Kolorit einen ‚romanhaften‘ Überschuss auf, der sich selbst zu genügen scheint, aber gerade dadurch die erzählte Welt und Wilhelms Horizont erweitert. Dass sich dieser Überschuss der episodischen Erzählweise selbst verdankt, unterstreicht Goethe mehrmals, etwa wenn Philine und Laertes in der Waldwirtschaft allerhand „lustige Geschichten, Mißverständnisse und Prellereien zu erzählen“ haben (Lj 99), oder wenn ein Seiltänzer namens Narciß „mit der größten Aufrichtigkeit seine [erotischen] Abenteuer zu erzählen“ beginnt, bevor Wilhelm diese „Indiskretion“ unterbindet (Lj 103).

Während also zuvor Wilhelms Abenteuerimagination über das Tankredische Unglück in die Vorstellung von tragischer Verstrickung, Schuld und Katastrophe kippte, bewirkt das „artige Abenteuer“ mit Philine nun eine Art Schubumkehr und setzt Wilhelm – und zugleich die Form des Romans – zurück auf die Spur des Romanhaft-Abenteuerlichen. Aus Sicht der Aufklärung wäre das als Rückfall in die Motivbestände und Erzählregister der Vormoderne zu bewerten und auch in psychologischer Hinsicht scheint das Lustprinzip hier überhand zu nehmen. Auf Handlungsebene dagegen vermag der Rückgriff aufs Abenteuer Wilhelm aus seiner Resignation herauszureißen und in eine wahrlich „bunte Gesellschaft“ (Lj 90) zu bringen, die vom rationalen Arbeitsethos des Bürgertums ebenso wenig etwas wissen will wie von tragischen Selbstdeutungen. Das Abenteuer, das Philine verkörpert, besitzt die bemerkenswerte Eigenschaft, Wilhelm über kleinere und größere Umwege, sprunghafte Einfälle und spielerische Episoden mit einer Welt jenseits der eigenen Kinderstube bekannt zu machen – eben jener „Welt, die vor ihm liegt“ und die Goethe zu einer modernen Romanwelt zu gestalten sich hier allererst anschickt.

Mit Blick auf den Protagonisten beschreibt Max Kommerell diese Funktion des Abenteuers wie folgt:

Er [Wilhelm] läßt sich herauslocken aus der Innerlichkeit des Deutens und Entwerfens in das Abenteuer der Welt, er spielt mit den Zufällen, damit das Schicksal mit ihm spiele, seine Seele sich mit Leid und Erfahrung sättige, sein Geist für die Wirklichkeit mündig werde. / So ist die Haltung des Abenteurers, der in die Welt als eine unentschlossene, die Neugier reizende und gefährliche Welt hineinreitet, zwar mit der inneren Bestimmung zum Abenteuer, aber das einzelne Abenteuer nicht planend, sondern hinnehmend und von ihm überrascht …52

Der Übergang von der bürgerlichen Sozialisation ins Abenteuer bedeutet für Wilhelm demnach sowohl einen Zugewinn an Welt als auch eine Entlastung von sich selbst. Sein Erholungsritt in das heitere Landstädtchen läuft auf eine Kursabweichung hinaus, die ihm nicht nur Urlaub vom Erwerbsleben gewährt, sondern ihn auch umgekehrt dem Leben allererst wiedergibt. Er liest und imaginiert nicht, sondern erweitert seinen Erfahrungsraum, indem er die Welt, die sich an der Seite Philines vor ihm auftut, auf sich zukommen lässt: eine offene Zukunft des Möglichen, deren Glücksversprechen vorerst darin besteht, nicht viel über sie nachdenken zu müssen. Doch nicht nur der Figur eröffnet das Abenteuer neue Entwicklungsspielräume, sondern auch dem Roman. Es produziert in bemerkenswert hohem Tempo jene Vielfalt an Figuren, Ereignissen, Handlungen und neuen Konstellationen, die Goethe fortan als schier unerschöpfliches Reservoir für die weitere Gestaltung der Diegese und der Handlungsverläufe dient. Im Abenteuer findet Goethe für seine Geschichte von der inneren Entwicklung des Menschen ein Modell, das dieser Geschichte die Möglichkeit der Realisierung einer möglichen Welt eröffnet.53 So unverzichtbar das Abenteuer für die weitere Entwicklung der Figur ist, so konstitutiv ist es auch für die Lehrjahre als Roman.

Verunglückte Abenteurer

Der Entlastungseffekt, den das Abenteuer für Wilhelm hat, lässt allerdings noch im zweiten Buch spürbar nach. Wilhelm denkt schon bald „sehr verstimmt“ an Mariane: „Alle seine alten Wunden waren wieder aufgerissen“ (Lj 98, 113). Und auch die Ökonomie der Verschuldung und die alten Theaterträume kehren mit dem Hinzukommen des Ehepaars Melina, durch welches das „lustige Leben unsrer drei Abenteurer […] auf mehr als eine Weise gestört“ wird (Lj 106), wieder. Über die Verlagerung und Weiterentwicklung dieses gestörten Abenteurerlebens im dritten Buch wäre einiges zu sagen. Doch die entscheidende Wende, auf die ich hier abschließend eingehen möchte, vollzieht sich erst im vierten Buch, nämlich dann, als Wilhelm als Abenteurer verunglückt.

Dieser Teil der Romanhandlung beginnt mit der Übersiedelung der Theatertruppe in eine reiche Kleinstadt. Obwohl Marodeure in der Gegend ihr Unwesen treiben, überredet Wilhelm die kleine Gruppe, den „gefährlichen Weg“ (Lj 227) zu riskieren. Die Theatertruppe bewaffnet sich, fühlt sich dabei der „reizenden Wirtschaft eines Zigeunerhaufens“ ähnlich und beneidet diese „wunderlichen Gesellen“ um ihre Berechtigung, die „abenteuerlichen Reize der Natur zu genießen“. Auch der Anblick der Theatertruppe selbst sei beinahe „bis zur Illusion romantisch“. Auf einer Waldlichtung angekommen, üben sich Wilhelm und Laertes erneut im Fechten, denn „sie wollten den Zweikampf darstellen, in welchem Hamlet und sein Gegner ein so tragisches Ende nehmen.“ (Lj 220 f.) Doch dann fällt ein Schuss und damit wird aus Zweikampf und Zigeunerleben der blutige Ernst eines Überfalls, bei dem sich Wilhelm zwar tapfer, aber vergeblich zur Wehr setzt und bald verwundet zu Boden sinkt, während seine Gefährten fliehen.

Dieses Geschehen wird vom Erzähler mehrfach als „Unfall“ (Lj 223 u. 227) bezeichnet, denn er galt, wie man etwas später erfährt, eigentlich einer anderen Personengruppe. Das an sich abenteuertypische Plotelement des Überfalls erweist sich damit weder als sinnstiftende Bewährungsprobe noch gar als „tragisches Ende“ – sondern schlicht als kontingentes Ereignis mit unrühmlichem Ausgang „in Zeiten des Krieges“ (Lj 191). Statt selbst Teil eines Abenteuerplots zu sein, gerät der Überfall zum Unfall für das Abenteuer der Reise, für Wilhelms Zweikampfobsession und für das abenteuerlich-romanhafte Erzählregister gleichermaßen. Er beendet als Wirklichkeitseinbruch das „lustige Leben unsrer drei Abenteurer“ unumstößlich und Wilhelm muss fürchten, „nach so vielen ritterlichen Abenteuern“ nun wieder in einem „schülerhaften Ansehen“ zu erscheinen (Lj 265). Das bedeutet jedoch nicht, dass Goethe auf Ebene der Figurenpsychologie auf einen Effekt der Desillusionierung hinauswollte, wie das Geschehen nach dem Überfall zeigt. Als Wilhelm wieder zu sich kommt, befindet er sich „in der wunderbarsten Lage“ (Lj 222), nämlich in Philines Schoß, Mignon zu seinen Füßen:

Unsre drei verunglückten Abenteurer blieben indes noch eine Zeitlang in ihrer seltsamen Lage, niemand eilte ihnen zu Hülfe. […] Endlich da ihnen ihr Wunsch gewährt ward, und Menschen sich ihnen näherten, überfiel sie ein neuer Schrecken. Sie hörten ganz deutlich einen Trupp Pferde in dem Wege herauf kommen, den auch sie zurück gelegt hatten, und fürchteten, daß abermals eine Gesellschaft ungebetner Gäste diesen Walplatz besuchen möchte, um Nachlese zu halten.

Wie angenehm wurden sie dagegen überrascht, als ihnen aus den Büschen, auf einem Schimmel reitend, ein Frauenzimmer zu Gesichte kam […]. (Lj 224)

Dass diese Frau Natalie heißt, erfährt Wilhelm erst viel später. Hier wird sie als „schöne Amazone“ bezeichnet. Wie ein entferntes Echo der Jugendlektüren tritt sie in einem „weiten Mannsüberrock“ gekleidet und von „Rittern“ begleitet an Wilhelm heran.54 Als dann ein Chirurg Wilhelms Wunden versorgt und der erneut besinnungslos zu werden droht, bedeckt ihn die schöne Amazone mit ihrem Mantel: „In diesem Augenblicke […] wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht“ (Lj 224, 226).

Zunächst fächert Goethe also über den Abenteuertopos des gefährlichen Wegs die Motivik und Semantik des Wunderbaren und Romanhaften in voller Breite auf, bis beides durch den Kontingenzeinbruch verabschiedet und in ein ironisches Licht gerückt wird. Damit vollzieht er die von der Ästhetik der Aufklärung geforderte Austreibung des Abenteuers aus dem Roman mit den figurativen Mitteln des Abenteuers und im Roman selbst. Doch statt Wilhelm dadurch als Möchtegernhelden und Schwärmer bloßzustellen, hält er ihm sozusagen den Mantel der schönen Amazone hin. Als Abenteurer verunglückt Wilhelm zwar, doch folgt auf diesen Unfall weder kränkendes Gelächter, wie auf die verunglückte Tasso-Expedition, noch bedeutet er für Wilhelm einen wiederkehrenden „Schrecken“, wie er die Figuren zunächst „überfiel“, als sie die Reiter kommen hören. Goethe, der beim Schreiben der Lehrjahre die Campagne gegen die französische Revolutionsarmee bereits mitgemacht hatte,55 wusste, was er seiner Figur nicht zumuten wollte: Aus dem abgebrochenen Abenteuerweg sollte keine kriegsbedingte Traumatisierung und keine zweite Lebenskrise für Wilhelm werden. Stattdessen überdeckt die strahlende Erscheinung der schönen Amazone den Gewalteinbruch und seine Folgen. Der Überfall mündet in einen Augenblick intensiven Erlebens, der die schockartige Plötzlichkeit des Geschehens56 wie auch Wilhelms Verwundung in das Ereignis einer heilsamen Vision überführt. Dabei kehren alle Abenteuerspuren aus dem ersten Buch zum prägnanten Moment verdichtet wieder: Erneut macht sich die semantische Nähe von aventure und adventus in einer epiphanieartigen Erscheinung bemerkbar; als von Rittern flankierte Amazone wirkt Natalie wie eine Inkarnation der „Ritterideen“ Wilhelms, insbesondere natürlich der Tasso’schen Chlorinde; und schließlich erinnert sie auch an Chlorindes eigenes literarisches Vorbild, nämlich an Heliodors Chariklea, so wie sie sich im Eingangstableau der Aithiopika nach einem „plötzlichen Überfall“ durch Piraten wie eine göttliche „Erscheinung“ über ihren verwundeten Geliebten beugt.57

Diese Epiphanie aus dem Geist der Abenteuertradition prägt Wilhelm stärker als alle Verletzungen, Krisen und Desillusionierungen zusammen. In der Abenteuerfantasie des Protagonisten bleibt ein Kontingenzbegehren wirksam, das den Zufall nicht fürchtet, sondern ihn in Reaktion auf prosaische Verhältnisse als glückliches Ereignis, säkulares Wunder oder individuelle Bewährungsprobe geradezu herbeisehnt. Die objektive Frustration dieses Begehrens ändert nichts an der prägenden Kraft, die es gerade im Moment der Frustration entfaltet. „Unaufhörlich“, so heißt es drei Kapitel später, „rief er sich jene Begebenheit zurück, welche einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Gemüt gemacht hatte“ (Lj 233). Wie einst die Tasso-Lektüre den „herumschweifenden Gedanken“ Wilhelms eine „bestimmte Richtung“ gab, so stattet nun den unbestimmt Schlendernden die Begegnung mit der schönen Amazone mit einem neuen Begehrensziel und überhaupt mit neuer Zielstrebigkeit aus: „Er wollte nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fortsetzen, sondern zweckmäßige Schritte sollten künftig seine Bahn bezeichnen“ (Lj 236). Die Welt, die nun vor Wilhelm liegt, hat gleichsam die abenteuerliche Schwebe der Möglichkeiten verlassen, der Horizont des Romans konkretisiert sich: Wilhelm geht zu Philine, die noch immer für ein „wunderbares Abenteuer“ (Lj 337) gut ist, auf Distanz, bringt seine Theaterkarriere bei Direktor Serlo voran und nähert sich dessen Schwester Aurelie. Als Philine dann im letzten Kapitel des fünften Buches die Theatergesellschaft verlässt – mit ihr fehlt „eine Art von Bindungsmittel fürs Ganze“ (Lj 344) – und Aurelie stirbt, kommt es zu einer weiteren Entsendung, die als Losbindung fungiert. Diesmal soll Wilhelm eigentlich nur Aurelies Brief an Lothario, der ihr einst das Herz brach, übermitteln, doch ans Theater zurückkehren wird er daraufhin nie wieder. Stattdessen schließt er sich dem Kreis der Turmgesellschaft um Lothario an und fasst dort bald „die Hoffnung, nach so langer Zeit, wieder eine Spur seiner Amazone zu finden“ (Lj 430).

Wenn es für Wilhelm ein Schicksal gibt, so ist es dieses: Losgeschickt werden und weder zurückkehren noch ankommen, wo und wie es gedacht war, sondern über vielerlei Ablenkungen, Zufälle und spontane Entschlüsse in neue, unvorhergesehene Kontexte hineingeraten. Dabei machen sich die Verknüpfungen zu den alten Kontexten meist erst nachträglich bemerkbar. Im Falle der Spurensuche nach der schönen Amazone wird nun die Rekonstruktion solcher Verknüpfungen selbst zum Programm – ein Fährtenlesen ganz und gar unabenteuerlicher Natur, das Goethe als mühsamen, auch für die Leser schleppenden Weg durch ein reichlich unübersichtliches Beziehungs- und Verwandtschaftsgeflecht darstellt. Im Rahmen der Archivpoetik, für die die Turmgesellschaft bekanntlich steht, arbeitet Wilhelm zusammen mit den Mitgliedern des Turms eine Vielzahl von Bekenntnissen, Lebensläufen, Vorgeschichten und Fallgeschichten durch,58 was ihn schließlich in einen Zustand resignierter Erschöpfung versetzt. Aus diesem lähmenden Zustand heraus sieht er sich außerstande, das verfahrene Verhältnis zwischen Lothario, Therese, Natalie und sich selbst zu lösen. Das gelingt erst der Intervention Friedrichs, der mit seinen „eulenspiegelhaften Anspielungen“ (Lj 605) und frivolen Ungezogenheiten zwar Wilhelms „Unglück auf den höchsten Grad“ treibt (Lj 607), jedoch dafür sorgt, dass Wilhelm mit Natalie am Ende die Verbindung eingeht, die als „Augenblick des höchsten Glückes“ (Lj 610) den Roman beschließt.

Keineswegs will dieses finale Glück der Lehrjahre als sælde verstanden sein, aus der heraus sich die zahlreichen Kontingenzmomente in Wilhelms Entwicklungsgeschichte zu einer sinnhaften Abenteuererzählung und zum Lebensschicksal fügen würden. Selbst wenn man der Pseudo-Schicksalsinstanz der Turmgesellschaft ein hohes Maß an Lenkungsmacht zugesteht, ist das offenkundig nicht der Fall. Zum einen entziehen sich sowohl die kontingente Erstbegegnung mit Natalie als auch die sprunghafte Figur Friedrichs dieser Lenkung ganz grundsätzlich. Und zum anderen hat das, was Goethe im siebten und achten Buch darstellt, insgesamt mit Abenteuern nur noch entfernt etwas zu tun. Die wenigen Abenteuer, die hier Erwähnung finden, sind nicht mehr Teil der Diegese, sondern kommen im Rahmen der Archivpoetik als Gesprächsgegenstand oder Binnenerzählung der Nebenfiguren vor, etwa das „sehr angenehme Abenteuer“ Lotharios, das dieser Jarno erzählt (Lj 465). Diese Erzählungen halten das Abenteuer als Vorstellungs- und Erlebnismuster nicht lebendig, sondern eher schon und beinahe buchstäblich wird es dadurch zu den Akten der Institution gelegt. Wilhelm selbst situiert Goethe dabei betont außerhalb der Abenteuersphäre. Statt weitere Abenteuer zu erleben, soll er erst im Auftrag Lotharios eines „dirigieren“ (Lj 440), was er höchst widerstrebend tut. Und später findet Wilhelm für das „Abenteuer“ seiner „zweifelhaften Vaterschaft“, das er erzählen möchte, nur „gleichgültige“ Zuhörer (Lj 494).

Auch die bunte Vielfalt der romanhaft-abenteuerlichen Welt verengt sich wieder zur „kleinen Welt“, als welche die Turmgesellschaft, in genauer Symmetrie zum Marionettentheater im ersten Buch, zweimal bezeichnet wird (Lj 494). Wie zu Beginn spielt die Handlung nun wieder hauptsächlich in Innenräumen und verharrt dabei auch insofern an Ort und Stelle, als sie andauernd von kürzeren und längeren Binnenerzählungen unterbrochen wird. Das Auswanderungsprojekt verschafft dieser in die höhere Region des Turms verlegten kleinen Welt zwar einen denkbar weiten Horizont, doch „Abenteuer“ sollen sich an diesem Horizont gerade nicht abspielen:

Nach Amerika? versetzte Wilhelm lächelnd; ein solches Abenteuer hätte ich nicht von Ihnen erwartet, noch weniger daß Sie mich zum Gefährten aussehen würden.

Wenn Sie unsern Plan ganz kennen, versetzte Jarno, so werden Sie ihm einen bessern Namen geben, und vielleicht für ihn eingenommen werden. (Lj 564)

Dass dieser bessere Name für etwas, das Abenteuer weder heißen noch sein soll, nicht so leicht zu finden ist – vielleicht lautet er Makarie?59 –, steht auf einem anderen Blatt bzw. in einem anderen Roman. Hier festzuhalten bleibt, dass der Wendepunkt des verunglückten Abenteuers im vierten Buch einerseits und die Archivierung des Abenteuers in den Büchern sieben und acht andererseits die Abkehr von einem Erlebnis- und Erzählmuster in Szene setzen, auf das sowohl der Protagonist als auch der Roman in der kritischen Phase ihrer Entwicklung angewiesen waren. Diese Spannung begründet auf makrostruktureller Ebene die Ambivalenz des Abenteuers in den Lehrjahren. Sie erstreckt sich aber auch auf die Mikrostruktur des Endes. Als sich das „höchste Glück“ einstellt, hallen die artigen Abenteuer mit Philine so vernehmlich nach, dass Wilhelm Friedrich darum bitten muss, ihn nicht an „jene Zeiten“ zu erinnern (Lj 610). Ins Große gerechnet bezeichnet dieser bei aller Anstrengung nicht gänzlich zu unterdrückende Nachhall den Stand des Abenteuers in der Literatur der Moderne. In Goethes Roman aber hat dieses Echo eine konkrete Funktion: Es unterstreicht, dass das Ende trotz seiner psychologischen Plausibilität kein Schlussglied einer lückenlosen Motivations- bzw. Kausalkette ist, wie sie Blanckenburgs Romantheorie fordert, sondern auf nur unzureichenden Gründen fußt. Das Abenteuer erweist sich als imaginäre Zahl der Lehrjahre – als Quadratwurzel einer negativen Größe, mit der man im modernen Roman durchaus rechnen kann.

1

Mein persönliches Glück ist es, diese und weitere Überlegungen in der Münchner Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“ zur Habilitationsschrift ausarbeiten zu können. Mein Dank gilt Martin von Koppenfels, Inka Mülder-Bach sowie all jenen Kolleginnen und Kollegen, die mir wichtige Anregungen gegeben haben.

2

Mireille Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, in: Im Wortfeld des Textes, hg. v. Gerd Dicke, Manfred Eikelmann u. Burkhard Hasebrink, Berlin u. New York: de Gruyter 2006, S. 369–375, hier S. 371. Vgl. dies., „Âventiure. Auf dem Weg zur Literatur“, in: Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre, hg. v. Martin von Koppenfels u. Manuel Mühlbacher, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, S. 61–78, hier S. 61–63.

3

Versammelt und ausgewertet hat diese Einträge Jürgen Fohrmann, Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart: J. B. Metzler 1981, S. 182–186. Zur Geschichte des Abenteuerbegriffs vgl. Hans Hofmann, „Historische Wandlungen des Erlebnisphänomens ‚Abenteuer‘“, in: Weimarer Beiträge 1 (1977), S. 72–88.

4

Siehe Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen: Wallstein 2002 sowie Peter Schnyder, Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels. 1650–1850, Göttingen: Wallstein 2009, S. 143–182.

5

„Abentheuer, Ebentheuer“, in: Carl Günther Ludovici, Eröffnete Akademie der Kaufleute, oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon, 2., vermehrte u. verbesserte Aufl., Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf und Sohn, 1767 f. [1752–1756], 1. Theil, Sp. 46 f.

6

„Avanturiers“, in: Paul Jacob Marperger, Curieuses und reales Natur- Kunst- Gewerck- und Handlungs-Lexicon, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch 1755 [1712], Sp. 180 f.

7

„Avanturiers“, in: Marperger, Handlungs-Lexicon, Sp. 180 f. Siehe dazu Fohrmann, Abenteuer und Bürgertum, S. 182 f.

8

„Avanturier“, in: Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1732–1754, zweiter Supplementband, Sp. 679 f.

9

„Abentheuer, Ebentheuer“, in: Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Varrentrapp, Sohn und Wenner 1778–1807, Bd. 1, Sp. 31.

10

„Es gibt keine âventiure, die nicht erzählt ist.“ Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, S. 370.

11

„Abentheuerlich“, in: Höpfner, Deutsche Encyclopädie, Bd. 1, Sp. 32.

12

Vgl. „Romanhaft (redende Kunst)“, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Biel: Heilmann 1777, Bd. 2.2, S. 543 f.

13

„Abentheuerlich (Dichtkunst)“, in: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 1, S. 3 f.

14

„Abenteuer, Abenteuerlich, Abenteuerlichkeit, Der Abenteurer“, in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2. vermehrte u. verbesserte Ausg., Leipzig: G. J. Göschen 1811. Nachdruck mit einer Einführung und Bibliographie von Helmut Henne, Hildesheim u. New York: Georg Olms 1970, Bd. 1, Sp. 26 f.

15

Johann Gottfried Herder, „J. G. Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 22.1 (1774), S. 592, hier S. 15.

16

Aristoteles, Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982, S. 29.

17

Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert, Stuttgart: J. B. Metzler 1965, S. 259–267 u. S. 305.

18

Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 307 f.

19

Der Bildungsroman habe den „wahllosen Variationen des Abenteuerromans […] ein Ende gesetzt“. Bruno Hillebrand, Theorie des Romans, überarbeitete u. erweiterte Aufl., München: dtv 1980 [1972], S. 113. Siehe auch Rolf Grimminger, „Roman“, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. dems., Bd. 3, zweiter Teilband: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, München: dtv 1984, S. 635–716, hier S. 641–647 und Volker Klotz, Abenteuer-Romane. Eugène Sue, Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe, Karl May, Jules Verne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 218–224.

20

Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, 21 Bde. in 33 Teilbänden, hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm, München u. Wien: Carl Hanser 1985–1998, hier Bd. 5, hg. v. Hans-Jürgen Schings. Die Zitate werden unter der Sigle ‚Lj‘ im fortlaufenden Text nachgewiesen und ggf. grammatikalisch angeglichen.

21

Eberhard Lämmert, „Regelkram und Schöpferlaune. Goethes erzählte Romantheorie“, in: Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen, hg. v. dems. u. Dietrich Scheunemann, München: edition text + kritik 1988, S. 49–70, hier S. 59.

22

Vgl. dazu Inka Mülder-Bach, „Das Abenteuer der Novelle. Abenteuer und Ereignis in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und der Novelle Goethes“, in: von Koppenfels/Mühlbacher (Hgg.), Abenteuer, S. 161–188, hier S. 161–164.

23

Über das Glück der Lehrjahre wurde viel diskutiert. Vgl. Gerda Röder, Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman, München: Hueber 1968, bes. S. 124–146; Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983; Hans-Jürgen Schings, „Symbolik des Glücks. Zu Wilhelm Meisters Bildergeschichte“, in: Johann Wolfgang von Goethe: One Hundred and Fifty Years of Continuing Vitality, hg. v. Ulrich Goebel u. Wolodymyr T. Zyla, Lubbock: Texas Tech Press 1984, S. 157–177.

24

Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bde. 13–15, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, hier Bd. 14, S. 220.

25

Vgl. Cornelia Zumbusch, „Nachgetragene Ursprünge. Vorgeschichten im Roman (Wieland, Goethe, Stifter)“, in: Poetica 43 (2011), S. 267–299; Thomas Borgstedt, „Wilhelm Meisters Lehrjahre und das Heliodorische Romanschema“, in: Heliodorus redivivus. Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen Aithiopika-Rezeption der Frühen Neuzeit, hg. v. Christian Rivoletti u. Stefan Seeber, Stuttgart: Franz Steiner 2018, S. 217–229; Felicitas Igel, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ im Kontext des hohen Romans, Würzburg: Ergon 2007.

26

Wieland überführt die anfängliche Zufallsverkettung, die er dem spätantiken Roman entnimmt, allerdings in folgende Reflexion Agathons: „Wie ähnlich ist alles dieses einem Traum, wo die schwärmende Phantasie, ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abentheur zu dem andern […] fortreißt?“ Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon, erste Fassung von 1766/1767, in: ders., Sämtliche Werke. Oßmannstedter Ausgabe, hg. v. Klaus Manger u. Jan-Philipp Reemtsma, Berlin u. New York: de Gruyter 2008 ff., Bd. 8.1, bearb. v. Klaus Manger, S. 27.

27

Zum „immer gleichen Mittel des Zweikampfes“, zu dem die Âventiureritter greifen, um Ehre zu erlangen oder wiederherzustellen, siehe Jutta Eming, „Sirenenlist, Brunnenguss, Teufelsflug: Zur Historizität des literarischen Abenteuers“, in: Abenteuer. Zur Geschichte eines paradoxen Bedürfnisses, hg. v. Nicolai Hannig u. Hiram Kümper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, S. 53–82, hier S. 63.

28

Klaus-Peter Wegera, „‚mich enhabe diu âventiure betrogen‘. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von âventiure im Mittelhochdeutschen“, in: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension, hg. v. Vilmos Ágel u.a., Tübingen: Niemeyer 2002, S. 229–244, hier S. 233 f. Wegera spricht vom „Sichtbarwerden“, die hier zitierte Präzisierung stammt von Peter Strohschneider, „âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze“, in: Dicke u.a., Im Wortfeld des Textes, S. 377–383, hier S. 377 f.

29

Siehe dazu David E. Wellbery, „Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman. (Wieland, Goethe, Novalis)“, in: Das Ende. Figuren einer Denkform, hg. v. Rainer Warning u. Karlheinz Stierle, München: Wilhelm Fink 1996, S. 600–639, bes. S. 617.

30

Vgl. Zumbusch, „Nachgetragene Ursprünge“, S. 282. Der Blick hinter die Kulissen selbst ändert allerdings wenig, weil Wilhelm „sich noch von der Kehrseite der Bühnenillusion verzaubern lässt.“ Albrecht Koschorke, „Identifikation und Ironie. Zur Zeitform des Erzählens in Goethes Wilhelm Meister“, in: Empathie und Erzählung, hg. v. Claudia Breger u. Fritz Breithaupt, Freiburg i.Br., Berlin u. Wien: Rombach 2010, S. 173–185, hier S. 178.

31

Vgl. Michail Bachtin, Chronotopos, aus dem Russischen v. Michael Dewey. Mit einem Nachwort v. Michael C. Frank u. Kirsten Mahlke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 10.

32

Das Verhältnis von Abenteuererfahrung und -erzählung ist von der Mediävistik differenziert dargelegt worden. Vgl. Strohschneider, „âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln“, S. 379 f. sowie Eming, „Sirenenlist, Brunnenguss, Teufelsflug“, bes. S. 75.

33

Nach David Wellbery rührt das daher, dass die Aufführung „die Leerstelle (die Leere der Stelle) mit der Fülle ihrer Schein-Präsenz auslöscht“, wobei diese Leerstelle als Rätsel des eigenen Ursprungs konstitutiv nicht behebbar sei. Wellbery, „Die Enden des Menschen“, S. 620 f.

34

Der lesende Romanheld sei Ausdruck dafür, „daß Lektüre Abenteuer birgt und verspricht“. Friedhelm Marx, Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Heidelberg: C. Winter 1995, hier S. 10.

35

Dass Tassos Epos so erfolgreich war, weil es intensiv mit den abenteuerlichen Stoffen des Romanzo arbeitete, zeigt Sergio Zatti, The Quest for Epic, übers. v. Dennis Looney, Toronto: Toronto University Press 2016, S. 135–159.

36

Wie Goethe kaum entgangen sein dürfte, wird der Heidenkrieger Argante in Koppens Übersetzung, die Wilhelm liest, als „Goliath, der Riese“ bezeichnet, als dieser im sechsten Gesang gegen Tankred zum Zweikampf antritt. Johann Friedrich Koppen, Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1744, S. 157 (VI/23).

37

Zur tragischen Selbstdeutung vgl. Hans-Jürgen Schings, „Wilhelm Meisters schöne Amazone“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141–170. Zur narzisstischen Kränkung siehe Hörisch, Gott, Geld und Glück, S. 38 f.

38

Dass das Abenteuer im populären Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts für die Erfüllung unrealistischer Wunschträume steht, hat die Forschung immer wieder betont. Vgl. z.B. Bernd Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen: Max Niemeyer 1983, S. 4.

39

Vgl. Ivar Sagmo, Bildungsroman und Geschichtsphilosophie. Eine Studie zu Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Bonn: Bouvier 1982, S. 18 f.

40

Im Sinne von Gerhard Kaiser u. Friedrich A. Kittler, Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978.

41

Vgl. Rüdiger Campe, „Form und Leben in der Theorie des Romans“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. v. Armen Avanessian, Winfried Menninghaus u. Jan Völker, Zürich u. Berlin: Diaphanes 2009, S. 193–211.

42

Vgl. Schings, „Wilhelm Meisters schöne Amazone“, S. 143 et passim. Ähnlich Wilhelm Voßkamp, Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin: Berlin University Press 2009, S. 74.

43

Franco Moretti, The Bourgeois. Between History and Literature, London u. New York: Verso 2013, S. 32 f. Der Gegensatz von Abenteuer und Arbeit wurde zuvor schon von Gert Ueding, Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 70–76 und Paul Zweig, The Adventurer. The Fate of Adventure in the Western World, London: J. M. Dent & Sons 1974, S. 5 f. betont.

44

Hegel, Ästhetik, Bd. 14, S. 220.

45

Vgl. Schings, „Wilhelm Meisters schöne Amazone“, bes. S. 156.

46

Vgl. Moretti, The Bourgeois, S. 25–29.

47

Max Kommerell, „Wilhelm Meister“, in: ders., Essays, Notizen, Poetische Fragmente, aus dem Nachlass hg. v. Inge Jens, Olten u. Freiburg i.Br.: Walter 1969, S. 81–186, hier S. 100.

48

Vgl. Hannelore Schlaffer, Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart: J. B. Metzler 1980, S. 3 f.

49

Vgl. Werner Welzig, „Der Wandel des Abenteurertums“, in: Pikarische Welt. Schriften zum Europäischen Schelmenroman, hg. v. Helmut Heidenreich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969 [1963], S. 438–454.

50

Das Verb ‚expedieren‘, von dem sich die militärische, später auch wissenschaftliche Expedition ableitet, ist seit dem 15. und bis ins 19. Jahrhundert hinein als ökonomischer Begriff geläufig. Er meint so viel wie ‚abfertigen, erledigen‘ und ist aus lat. expedire, ‚losmachen, befreien‘ abgeleitet. Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25., durchgesehene u. erweiterte Aufl., bearbeitet v. Elmar Seebold, Berlin u. Boston: de Gruyter 2011, S. 267.

51

Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, 8., unveränderte Aufl., Stuttgart: J. B. Metzler 1993, S. 45 f.

52

Kommerell, „Wilhelm Meister“, S. 104 f. Die Art, wie Kommerell diesen Teil der Lehrjahre beschreibt, erinnert an Schlegels Über Wilhelm Meister (1798), der dort ebenfalls betont, dass sich hier eine „neue Welt“ eröffne. Friedrich Schlegel, „Über Wilhelm Meister“, in: ders., Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, hg. v. Ernst Behler u. Hans Eicher, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1988, Bd. 2, S. 159. Zu Kommerells Lektüre der Lehrjahre vgl. David Wellbery, „Einweihung ins Leben. Anmerkungen zu Kommerells Aufsatz über Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Lektürepraxis und Theoriebildung. Zur Aktualität Max Kommerells, hg. v. Christoph König u.a., Göttingen: Wallstein 2018, S. 91–105.

53

Nach Hans Blumenberg liegt die „Möglichkeit des Romans“ der Neuzeit im Anspruch begründet, „nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt“ unter vielen möglichen Welten „zu realisieren“. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Nachahmung und Illusion, hg. v. H. R. Jauß, 2. durchges. Aufl., München: Wilhelm Fink 1969, S. 9–27, hier S. 19 (Hervorh. im Original).

54

Vgl. dazu grundlegend Schings, „Wilhelm Meisters schöne Amazone“.

55

Vermutlich hatte Goethe sich im Feldlager bei Mainz Notizen zur Fortführung seines Romanprojekts gemacht. Vgl. den Kommentar in der verwendeten Ausgabe, S. 617.

56

Zur Plötzlichkeit als Charakteristikum der Abenteuerzeit siehe Bachtin, Chronotopos, S. 15.

57

Heliodor, Die Abenteuer der schönen Chariklea [Aithiopika], übers. v. Rudolf Reymer, mit einem Nachwort v. Niklas Holzberg, Zürich: Artemis & Winkler 1950, S. 9–11. Wie Chlorinda ist Chariklea eine Äthiopierprinzessin, die auf wundersame Weise mit heller Hautfarbe geboren wurde, weil ihre dunkelhäutige Mutter während der Schwangerschaft die bildliche Darstellung einer hellhäutigen Frau betrachtete. Vgl. Marc Föcking, „‚Male o bene, non so‘. Torquato Tasso und Heliodors Aithiopika“, in: Rivoletti u. Seeber (Hgg.), Heliodorus redivivus, S. 79–92.

58

Vgl. Friedrich A. Kittler, „Über die Sozialisation Wilhelm Meisters“, in: Kaiser u. ders., Dichtung als Sozialisationsspiel, S. 13–124, hier S. 99–114 sowie Johannes F. Lehmann, „Kontinuität und Diskontinuität. Zum Paradox von ‚Bildung‘ und ‚Bildungsroman‘“, in: IASL 41.2 (2016), S. 251–270, hier S. 260.

59

In diese Richtung geht der Vorschlag von Cornelia Zumbusch in vorliegendem Band.

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