Wunscherfüllung, Wunschversagung
Der Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts operiert vor dem Hintergrund einer vielgestaltigen Gattungstradition. Als verbindendes Element zum antiken homerischen Epos, zum spätantiken heliodorischen Roman wie auch zur mittelalterlichen âventiure-Dichtung und deren frühneuzeitlichen Adaptionen im Barockroman oder dem Schelmenroman gilt meist das Sujet: Ein junger Held bricht in ein ‚exotisches Anderswo‘1 auf, um eine Reihe von überraschenden Herausforderungen zu bewältigen.2 Für die einzelnen Episoden hat sich ein Motivrepertoire herausgebildet, das neben Naturgewalten (Stürme), Unfällen (Schiffbrüche), Auseinandersetzungen mit wilden Tieren oder gefährlichen Widersachern (Räuber, Piraten) auch Begegnungen mit dem Monströsen oder dem Übersinnlichen (Ungeheuer, Götter) vorsieht. Zur Ereignishaftigkeit des adventus als dem buchstäblich auf den Helden Zukommenden tritt formal die Zufälligkeit in der narrativen Aufreihung dieser Einzelereignisse.3 Um den Charakter des Unberechenbaren und Unplanbaren kreisen nicht nur Gattungsgeschichten des Abenteuerromans, sondern auch tentative Theorien des Abenteuers. Georg Simmels Bild vom Abenteurer als einem, der „auf die schwebende Chance, auf das Schicksal und das Ungefähr“ setzt,4 ist dabei in auffällig häufigem Verweis auf die Figur des Casanova konturiert, konzipiert Simmel das Abenteuer doch in Strukturanalogie zum Liebeserlebnis.5 Studien zum Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts haben hier angeknüpft, etwa wenn Harald Eggebrecht das „Abenteuer erotischer Natur“ zur Charakteristik eines Abenteuerhelden verwendet, der seinen Wünschen folgt und sie auch verwirklichen kann.6 Die Artikulation und kompensatorische Erfüllung von den im modernen Leben nicht mehr zu realisierenden (Wunsch-)träumen, sei es als „Wunschpotentiale“,7 als „Wunschphantasien der Erfüllung“,8 oder gar als „Wonnetraum aus Flucht und Ferne“,9 gilt als Faszinationskern der populären Abenteuerliteratur.
Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/1829) steht wohl kaum im Verdacht, engere Beziehungen zu dem zeitgleich etablierten Genre des Abenteuerromans zu unterhalten. Dennoch verspricht Goethe seinem Lesepublikum durchaus Abenteuerliches. Im fünften Kapitel des ersten Buchs begegnet Wilhelm Meisters Sohn Felix der um einige Jahre älteren Hersilie, die er bei Tisch fasziniert betrachtet. Sie ist sich nicht ganz sicher, wem – oder welchem Gegenstand – sein Interesse nun eigentlich gilt. Denn „als er beim Nachtisch über einen Teller Äpfel zu ihr hinsah, glaubte sie in den reizenden Früchten eben so viel Rivale zu erblicken. Gedacht, getan, sie faßte einen Apfel und reichte ihn dem heranwachsenden Abenteurer über den Tisch hinüber“.10 Das angedeutete Liebesabenteuer endet jedoch ebenso schnell, wie es begonnen hat. Felix schneidet sich beim Schälen des Apfels in den Daumen, woraufhin Hersilie ihn „mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck“ (Wj 310) verbindet und ihr Interesse schnell Felix’ Vater Wilhelm zuwendet. Ihm gibt sie im nächsten Absatz eine „Übersetzung aus dem Französischen von meiner Hand“ (Wj 310) zur Bettlektüre. Es handelt sich um die gleich danach in den Romantext eingerückte Geschichte Die pilgernde Törin, in der ein Vater und sein Sohn um eine junge Frau konkurrieren. Mit ihrem Adressatenwechsel ersetzt Hersilie nicht nur den jungen Abenteurer Felix durch seinen Vater Wilhelm, sondern verschiebt auch den Modus ihrer Begegnung von der Realität verletzbarer Körper in den Raum der Schrift.
Mit dieser in nur wenigen Sätzen umrissenen Szene vom Verwunden und Verbinden schlägt der Beginn der Wanderjahre einerseits den Bogen zurück zur Figur der Natalie in den Lehrjahren. Die Erscheinung Natalies, die Wilhelm nach einem Überfall im Wald findet und von ihrem Arzt versorgen lässt, umlagert sich in der Imagination des lesebegeisterten jungen Helden mit Reminiszenzen aus Torquato Tassos La Gerusalemme liberata.11 Das Motiv der Verletzung weist andererseits auf das letzte Kapitel der Wanderjahre voraus, in dem Felix von seinem Vater Wilhelm zur Ader gelassen und verbunden wird. Auf der Suche nach Wilhelm stürzt der zu schnell reitende Felix von einem überhängenden Rasenstück in den Fluss, auf dem Wilhelm gerade auf einem Kahn unterwegs ist und den Sohn sogleich wiederbeleben kann. Augenfällig sind die beinahe parodistischen Variationen auf ein Motiv, das in den Lehrjahren für Wilhelms ebenso einschneidendes wie heilsames Liebeserlebnis mit Natalie steht. Nachdem der Schnitt in den Finger den verliebten Abenteurer Felix zunächst in eine Rivalenposition zu seinem von Hersilie umworbenen Vater bringt, endet er im letzten Kapitel der Wanderjahre selbst in den Armen dieses Vaters. Statt mit Kuss und Verlobung von Held und Heldin zu schließen, stellen die Wanderjahre also eine gelingende Verbindung von Vater und Sohn in Aussicht: „Wenn ich leben soll, so sei es mit dir“ (Wj 745), ruft der gerettete Felix. In dieser Paarbildung sind aber zugleich auch alle Ansätze zu romantauglichen Liebesabenteuern unterbunden.
Die am Anfang und am Ende der Wanderjahre platzierten Szenen um Felix lassen sich mithin als Miniaturen von Abenteuern lesen, die der Roman in seinen drei Büchern gerade nicht auserzählt. In der Gestalt des jungen Felix, den der Text als Abenteurer und wilden Reiter einführt, wird der potentielle Abenteuerheld nur auf den Weg geschickt, um immer wieder aufgefangen und eingehegt zu werden. Falls die Wanderjahre von Abenteuern erzählen, dann wohl nur im Modus ihres Abbruchs oder ihrer Ablenkung auf andere Bahnen. Dies gilt für die Übertragung ins Medium der aufgeschriebenen und gelesenen Erzählung (Hersilies Manuskript) wie auch für die Aussicht auf einen gesellschaftsfähigen Zustand, in dem sich Felix wieder einfinden soll. Bezeichnenderweise endet der Roman mit dem Verweis auf die am Ufer ausgelegten „Kleider des Jünglings“, mit denen man ihn „bei’m Erwachen sogleich wieder in den gesellig anständigsten Zustand zu versetzen“ gedenkt (Wj 745). Dieser Befund bestätigt sich beim Blick auf den vom Titel implizierten Protagonisten: auf Wilhelm Meister selbst.
Einen ersten Hinweis auf Wilhelms grundsätzliche Untauglichkeit für das Abenteuer liefert der Umstand, dass dieser zur spezifisch abenteuerlichen Bewegungslust durch ein von anderen auferlegtes Wandergebot gezwungen werden muss.12 Wenn sich Wilhelm widerstrebend auf die Wanderschaft macht, dann nicht als junger Held, der aus einer bürgerlichen Ordnung aufbricht, um sich in einem zivilisatorisch noch unerschlossenen Außerhalb zu behaupten. Den klassischen Abenteuerweg geradewegs umkehrend setzt die Romanhandlung nicht in der Zivilisation, sondern im wilden Gebirge ein. Und obwohl der erste Reiseweg durchaus Reminiszenzen ans Abenteuer mitführt – man lässt sich von dem rätselhaften kleinen Fitz führen, Wilhelms Sohn Felix findet in einer Felsspalte ein geheimnisvolles Kästchen – finden sich beide doch schnell im kultivierten Flachland auf einem vorbildlich bewirtschafteten Landgut wieder. Dort wird Wilhelm zum Vertrauten der Familie, die aus der bereits erwähnten Hersilie, ihrer Schwester Juliette, deren Oheim sowie einer Tante namens Makarie besteht. Die Schwestern bitten Wilhelm, ihren auf Reisen befindlichen Bruder Lenardo zur Heimkehr zu bewegen. Um Lenardo finden zu können, gibt Wilhelm seinen Sohn in eine Erziehungsanstalt, die sogenannte pädagogische Provinz.
Seinen Auftrag erledigt Wilhelm zwar wieder im Gebirge. Wie aus dem Tagebuch des nachreisenden Lenardo deutlich wird, handelt es sich aber um ein Bergtal, in dem sich Webereibetriebe angesiedelt haben, deren Produktions- und Distributionsweisen Lenardo genau beobachtet: Es ist also keine Welt der Wunder und Ungeheuer, sondern ein Musterort der frühen Industrialisierung und des regen Handels. Wenn sich Wilhelm im Verlauf des Romans an einer Universität zum Arzt ausbilden lässt, dann sind seine Wanderjahre wohl kaum ein Abenteuer. Wilhelm durchquert keinen wunderbar durchwirkten oder noch unerschlossenen Raum einer verzauberten oder wilden Natur; vielmehr bewegt er sich zwischen zwar namenlosen, aber in ihren Funktionen deutlich konturierten Institutionen des alten Europas. Zur Debatte steht in den Wanderjahren mithin nicht der Ausbruch aus den zivilisatorisch verfestigten, sondern die Einbindung in die gegebenen Strukturen.
Die Erklärung für diese Aufzehrung des Abenteuers liefert der Roman in Gestalt einer modernediagnostischen Argumentation, die dem auswanderungswilligen Lenardo in den Mund gelegt ist: „Die Zeit ist vorüber wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, daß wir ungefähr wissen was zu erwarten sei“ (Wj 670). Die Reise nach Amerika, für die Lenardo dennoch wirbt, kann nicht mehr aus Abenteuerlust angetreten werden, ist die Welt des frühen 19. Jahrhunderts doch bereits zu genau erschlossen.13 Dass Amerika als Ort möglicher Abenteuer ausgedient hat, wird an Lenardos Familiengeschichte expliziert. Sein Großvater war zu einem Zeitpunkt nach Amerika gegangen, als er dort noch Neuland betreten konnte. Lenardos Vater, selbst in Philadelphia geboren, war aber nach Europa zurückgekehrt. Wenn Lenardo am Ende des Romans nach Amerika aufbricht, dann tut er dies eben nicht mehr als Pionier, der die Grenzen des Bekannten erproben und verschieben will. Vielmehr wird er das Erbe seines Großvaters antreten und damit in bereits Bestehendes zurückkehren.
Versteht man unter dem Abenteuer einen Erlebnistypus, der vom Ausbruch aus dem Bestehenden und von Begegnungen mit dem Außerordentlichen und Wunderbaren, zumindest aber mit dem Wilden und Exotischen lebt, dann distanzieren sich Goethes Wanderjahre vom Abenteuer als Erfahrungsform. Auch die Deutung des Abenteuerromans als eingelöste Wunschphantasie gleitet an den Plotmustern der Wanderjahre ab: Für Wilhelm, Felix und Hersilie, Lenardo und Susanne ist gerade keine Wunscherfüllung, sondern das im Untertitel Die Entsagenden angekündigte Programm der (freiwilligen) Wunschversagung vorgesehen.14 Trotz dieser Abkehr von allem, was zu Beginn des 19. Jahrhunderts als abenteueraffin gelten kann, unterhalten Wilhelm Meisters Wanderjahre untergründige Beziehungen zum Abenteuer – und zwar, diese These soll im Folgenden erprobt werden, zum Abenteuer als einer historischen Formation der Literatur. Sie tun dies (1) in ihrer formalen Orientierung an der homerischen Odyssee, die ihrerseits als Vorbild des hellenistischen Abenteuerromans gelten kann; sie tun dies (2) in einigen der eingelegten Geschichten, die den Typus des Liebesabenteuers in novellistischer Form bearbeiten, und sie tun dies (3) in der Figur der Makarie, in der sich wohl am deutlichsten die den gesamten Roman durchziehende Intuition artikuliert, dass das Abenteuer in der Moderne nur noch in Gestalt der Literaturgeschichte zu haben ist.
Abenteuerzeit: Die Wanderjahre als Odyssee
Felix betritt das Schloss, in dem er Hersilie kennenlernt, auf einem ungewöhnlichen Weg. Als er durch einen geheimen Mechanismus mit seinem Vater eingeschlossen wird und in einem Vorraum auf seine Befreiung warten muss, schläft der vom Warten ermüdete Felix ein. Weil er sich nicht wecken lässt, trägt man ihn „auf der tüchtigen Matratze, wie ehemals den unbewußten Ulyß, in die freie Luft“ (Wj 306). Der Vergleich des jungen Felix mit dem alten Odysseus, der auf der letzten Station seiner mühseligen Irrfahrt von den Phaiaken schlafend in ein Schiff gelegt und bis kurz vor die Küste Ithakas geschickt wird, mag am Anfang der Wanderjahre überraschen. Der Name Ulyß legt aber eine Spur aus, die zu dem größer angelegten Handlungsstrang um Wilhelms Freund Lenardo führt. Denn auch die Geschichte von Lenardo und dem sogenannten nussbraunen Mädchen namens Susanne richtet sich an der Odyssee aus. Als Lenardo seine Jugendbekanntschaft in einem abgeschiedenen Bergtal als Leiterin einer Leinenmanufaktur wiederfindet, kommt sie ihm vor wie „Penelope unter den Mägden“ (Wj 700). Der Vergleich mit der treuen Ehefrau des Odysseus, die dem Werben der Freier klug auszuweichen weiß, kollidiert zwar mit der Tatsache, dass es sich bei Lenardo und Susanne keineswegs um Verheiratete, eigentlich noch nicht einmal um Liebende gehandelt hat. Die Darstellung von Susanne als Penelope beschreibt dennoch ihre Situation zwischen der Trauer um den gerade verstorbenen Ehemann und den dringenden Wünschen des Gehülfen, an dessen Stelle zu treten. Eine von Susanne vielleicht doch gewünschte Verbindung mit Lenardo wird allenfalls angedeutet.
Das hier aufscheinende Interesse an der Odyssee könnte nun nicht nur dem dort tradierten und im Rahmen des Romans auf irritierende Weise reproduzierten mythischen Bildbestand, sondern eher der narrativen Formation des homerischen Epos gelten.15 Tatsächlich ergeben sich wichtige Parallelen zwischen der Ereignisanordnung der Wanderjahre und der Odyssee. Wie die Odyssee zeigen auch die Wanderjahre in ihrem Anfangsbild einen Wendepunkt im Leben eines Helden mittleren Alters. In der Odyssee ist dies der Beschluss der Götter, den auf der Insel der Kalypso festsitzenden Odysseus im neunzehnten Jahr seiner Abwesenheit endlich nach Hause zu lassen. In den Wanderjahren ist der Wendepunkt in die Raumsymbolik verlagert. Die Wanderjahre beginnen „an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell nach der Tiefe wendete“ (Wj 263). Der mit einer Wendung in die Tiefe begonnene Weg wird Wilhelm – wenn auch auf Umwegen – an den sozialen Ort führen, den er gerne einnehmen möchte. Denn Wilhelm tritt bereits mit dem Plan, sich zum Arzt ausbilden zu lassen, in den Roman ein und verfolgt dieses Ziel trotz des vom Bund der Entsagenden auferlegten Wandergebots. Die Willkür der Götter, insbesondere der Zorn des Poseidon, der Odysseus auf Irrwege schickt, bevor er ihn nachhause und auf seinen Thron zurückkehren lässt,16 ist in den Wanderjahren in eine ethisch-pragmatische Selbstverpflichtung überführt.
Die strukturellen Reminiszenzen reichen noch weiter. Wie die Odyssee haben auch die Wanderjahre nicht nur einen, sondern zwei Helden. In der Odyssee macht sich Odysseus’ Sohn Telemach auf, um seinen Vater zu suchen und ihn, wenn möglich, heimzuholen. In den Wanderjahren sucht zwar nicht der Sohn nach dem Vater, allerdings ist der Vater-Sohn-Konstellation eine weitere Aufteilung eingeschachtelt. Wilhelm, darin selbst dem homerischen Telemach vergleichbar, erhält ja den Auftrag, die Wiederkehr Lenardos vorzubereiten und die dafür nötigen Erkundigungen einzuziehen. In den Wanderjahren werden offenbar zentrale Handlungsfolgen der Odyssee aufgetrennt, vervielfacht und neu verbunden. Die Wanderjahre tun dies in einem temporalen Gesamtarrangement, das sich strukturell aber erstaunlich eng an der narrativen Organisation der Odyssee orientiert.17 Statt den Weg des Odysseus von Troja nach Ithaka in chronologischer Folge abzulaufen, setzt die Odyssee knapp zehn Jahre nach dem Ende des trojanischen Kriegs ein. Die ersten Gesänge etablieren die um Odysseus’ Sohn Telemach gruppierte Handlung, die das Problem der den Hof und Penelope belagernden Freier im kritischen Moment des zwanzigsten Jahrs von Odysseus’ Abwesenheit entwickelt. Dieses Problem wird dann in den letzten zehn Gesängen mit Odysseus’ Eintreffen in Ithaka und dem Mord an den Freiern gelöst. Von dem, was gemeinhin als die Abenteuer des Odysseus bezeichnet wird – die Begegnungen mit den Lotophagen, mit dem Kyklopen Polyphem, mit Kirke und Kalypso sowie Odysseus’ Gang in die Unterwelt –, ist erst im neunten bis zwölften Gesang die Rede. Die der Heimkehr vorangehenden zehn Jahre der Irrfahrt finden sich somit nicht am Anfang, sondern in der Mitte des Epos, stark gerafft und in einer analeptischen Schleife zusammengezogen. Das, was man für den eigentlichen Gegenstand der Odyssee halten könnte, ist also nur als Vorgeschichte präsent.
Über eine analeptische Erzählstruktur, wenn auch in verdeckter Form, verfügen auch die Wanderjahre. Denn genau besehen wechseln die novellistischen Einlagen nicht von einer fiktiven Welt in die andere, sondern springen in der erzählten Zeit. In Josephs autobiographischen Berichten Heimsuchung und Lilienstengel, in Lenardos Erinnerung an Das nußbraune Mädchen, in der vom Barbier zum Besten gegebenen märchenhaften Geschichte Die schöne Melusine, in Christophs kurzem Schwank Die gefährliche Wette bis hin zu der letzten Erzählung Nicht zu weit, die den neu hinzutretenden Odoardo vorstellt, handelt es sich um erzählerische Rückgriffe in das Leben von Figuren, denen Wilhelm begegnet. Als Analepse entpuppt sich auch die große Erzählung Der Mann von funfzig Jahren, insofern die vier Hauptfiguren von der vermeintlichen Binnengeschichte in den Rahmen wechseln, wo sie in den letzten Kapiteln an den Paarbildungen und den Aufteilungen zwischen Europa und Amerika teilhaben. So bilden die Anspielungen auf Odysseus und Penelope womöglich nicht nur beliebige Fäden im dichten Gewebe des mythologischen Subtexts. Vielmehr verraten die Wanderjahre in diesen Hinweisen ihr Formvorbild. Denn deutlicher als die Erzählform der mittelalterlichen âventiure, die von einer Episodenstruktur im Sinne einer Kette lose verbundener und potentiell umstellbarer Ereignisse geprägt ist, imitieren die Wanderjahre eine in der Odyssee angelegte analeptische Ornamentik, wie sie auch das Erzählprinzip der Aithiopika des Heliodor und noch Wielands Agathon prägt.
Vor dem Hintergrund dieser Formverwandtschaft lassen sich die Wanderjahre als Variation eines Chronotopos beschreiben, den Michail Bachtin im Bezug auf den griechischen Roman als „Abenteuerzeit“ bezeichnet hat.18 Das Plotmuster des griechischen Romans zeichnet sich nach Bachtin dadurch aus, dass alle Ereignisse, die zwei jungen Liebenden zwischen ihrer ersten Begegnung, ihrer Trennung und zuletzt ihrer Wiedervereinigung zustoßen, eigenartig spurlos an ihnen vorbeigehen. Daraus ergibt sich die besondere Zeitlosigkeit des Abenteuerromans: „Die Zeit, in deren Verlauf sie eine unglaubliche Zahl von Abenteuern zu bestehen haben, wird im Roman nicht bemessen und nicht berechnet“.19 Einen vergleichbaren Effekt der Zeitlosigkeit erzeugen auch die Wanderjahre – wenn auch mit anderen Mitteln. Denn das Verwischen der Grenzen zwischen den Rückgriffen in der Zeit und den Wechseln der fiktionalen Ebenen führt zu einer zeitlichen Desorientierung, der man sich beim Lesen der Wanderjahre kaum entziehen kann. Diese grundlegende Entzeitlichung findet in der Schlusssequenz der Wanderjahre ein eindrückliches Bild: Wenn sich hier Vater und Sohn in die Arme fallen, dann ist nicht nur, wie bereits oben angedeutet, der Kuss der Liebenden in die keusche Umarmung zweier entsagender Männer überführt. Indem der Roman das mythologische Brüderpaar „Kastor und Pollux“ (Wj 745) zum Vergleich anführt, tilgt er auch die generationelle Differenz und damit den zwischen Vater und Sohn notwendigerweise herrschenden Altersabstand. Damit negiert er aber auch den Gang der Zeit und stellt damit ein Erzählprinzip aus, das Vorstellungen von einer linear fortschreitenden Zeit hintertreibt. Von dieser zeitlosen Gegenwart aus weisen die eingelegten Novellen-Vorgeschichten in eine ebenso schwer bestimmbare Vorvergangenheit. Dabei zeigen sie punktuelle Rückwege in eine traumhafte, mit Wundern ausgestattete und die innersten Wünsche erfüllenden Abenteuerwelt auf, von der die Rahmenfiguren bereits ausgeschlossen sind.
Liebesabenteuer: Erfüllung aller Wünsche?
Die eingelegten novellistischen Vorgeschichten geben den abenteueraffinen Möglichkeitsmodi des Unwirklichen und Wunderbaren, des Wunschs und des Traums auffällig viel Raum.20 Die Lebensgeschichte des jungen Joseph, der sich dem biblischen Sankt Joseph anähnelt, kann nur verstehen, wer „auch das Wunderliche ernsthaft zu nehmen“ (Wj 274) imstande ist. In dem Erzählungsteil Die Heimsuchung wird von Josephs Begegnung mit seiner zukünftigen Frau erzählt, die er nach einem Raubüberfall von ihrem fechtenden Mann verlassen im Gebirgswald vorfindet. Für ihn bedeutet das Zusammentreffen mit der schwangeren Marie die Realisierung eines lang gehegten Traums:
Es war mir als wenn ich träumte, und dann gleich wieder als ob ich aus einem Traum erwachte. Diese himmlische Gestalt, wie ich sie gleichsam in der Luft schweben und vor den grünen Bäumen sich her bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte. (Wj 281)
An Abenteuererzählungen erinnern nicht nur der Ort und das Personal (Wald, Räuber, Reisende), sondern auch die Betonung des glücklichen Zufalls, durch den Joseph und die junge, gerade verwitwete Mutter Marie/Maria aufeinandertreffen und dank der Beharrlichkeit des jungen Mannes, der sich sein Leben ja schon längst genau so geträumt hatte, nach Ablauf eines Trauerjahrs auch heiraten.
In Wer ist der Verräter soll der ordentlich auf seine künftige Position als Oberamtmann vorbereitete Lucidor die ihm lang versprochene Julie heiraten, die hingegen ihrerseits auf den Besuch allerhand exotischer Orte gespannt ist: „sie fühlte noch Lust nach Alexandrien, Cairo, besonders aber zu den Pyramiden“ (Wj 353). In der Partnerwahl lässt sie entsprechend nicht die vorausschauende Planung, sondern das „Zufällige jeder Art“ (Wj 354) gelten. Die Erzählung erfüllt ihr diesen Wunsch, insofern Lucidor seine Liebe zur ruhigen Lucinde entdeckt und heimlich gesteht, so dass Julie mit dem als Antoni eingeführten Fremden „durch die Welt laufen“ (Wj 353) darf. Das Ende, in dem sich Antoni und Julie sowie Lucidor und Lucinde zu den jeweils passenden Paaren verbunden haben, erweist sich beinahe als Übererfüllung aller möglichen Träume: „Und so zogen beide Paare zur Gesellschaft, mit Gefühlen die der schönste Traum nicht zu geben vermöchte“ (Wj 378).
In einigen der Novellen ist an den Stellen, die über die Erfüllung oder Enttäuschung von Wünschen entscheiden, explizit vom Abenteuer die Rede. In Der Mann von funfzig Jahren, der umfangreichsten und die sozioökonomischen Faktoren der Liebes- und Heiratsverwicklung am breitesten ausbuchstabierenden Novelle,21 führt erst der nächtliche Gang auf eine mondbeschienene Eisfläche, die sich nur durch außergewöhnliche Regenfälle und durch eine dann einsetzende außergewöhnliche Kälte bilden konnte, zur glücklichen Lösung. Hier erkennen die von Kindheit an einander zugedachten Hilarie und Flavio, dass sie einander auch tatsächlich lieben. Diese Begegnung verdankt sich aber nur Hilaries Abenteuerlust: „Nach einigem Widerstand der guten Mutter siegte endlich der freudige Wille Hilarien’s dieses Abenteuer zu bestehen“ (Wj 479), so heißt es über ihren Aufbruch aufs Eis. Die neue Melusine berichtet von dem „Abenteuer“ (Wj 641), das ein Barbier mit einem zauberhaften Wesen erlebt, das ihm die unstete Reise von „Stadt zu Stadt, von Land zu Land“ ermöglicht. Nicht zu Weit schildert in einem dramatischen Einstieg das „nächtliche Abenteuer“ (Wj 678), bei dem der häusliche Odoardo seine unternehmungslustige, in galante Liebesgeschichten verwickelte Frau verliert und das ihn dem Auswandererbund zutreiben wird. Die hier im kurzen Durchlauf angedeutete Semantik des Abenteuers zeichnet sich nicht nur durch die enge Verknüpfung von Überschreitungsbewegung und erotischem Begehren aus. Auffällig ist auch, dass Abenteuerlust nicht nur den jungen Männern, sondern ebenso den Frauen zugetraut wird. Sie sind es, die sich auf Reisen begeben, die das Reisen ermöglichen oder die sich dies zumindest wünschen. Die durchaus ungewöhnliche Verbindung von Abenteuer und Weiblichkeit ist am deutlichsten in der Erzählung Die pilgernde Törin ausgearbeitet, die im fünften Kapitel des ersten Buchs eingerückt ist.
Die Geschichte erzählt von einer jungen Frau, die ohne Begleitung zu Fuß umherwandert und sich bei ihren wechselnden Gastgebern – ganz im Rahmen bürgerlicher Dezenz – mit dekorativen Handarbeiten, kleineren Haushaltstätigkeiten oder bei Bedarf auch mit dem Vortrag kleiner Lieder bedankt. Als sie für zwei Jahre von der adeligen Familie von Revanne aufgenommen wird, verlieben sich Vater und Sohn gleichzeitig in die junge Frau. Hier heißt es über den jungen Herrn von Revanne: „Aber der Sohn von der andern Seite, liebenswürdig, zärtlich, feurig, ohne sich mehr als sein Vater zu bedenken, stürzte sich über Hals und Kopf in das Abenteuer“ (Wj 320). Die Pointe der Geschichte besteht nun in dem „wunderlichen Ausweg“ (Wj 321), den die pilgernde Törin zur Abwehr der zweifachen Werbung findet. Mit der doppelten Lüge, sie sei vom jeweils anderen schwanger, verabschiedet sie sich von Vater und Sohn, die erst nach ihrem Verschwinden einsehen, dass sie den Gast beide verkannt haben.22 Dem gedrängten, passagenweise fast protokollartig abgekürzten Bericht dieses Hergangs ist ein weiterer Text eingesenkt. Als Dank für die gastfreundliche Aufnahme bietet die pilgernde Törin den Gastgebern am ersten Abend nach „Art umherstreifender Sänger“ (Wj 314) ein Lied an. Es handelt sich um eine anzügliche Ballade, die von einem treulosen Geliebten und der Rache des Müllermädchens und ihrer Familie handelt. Indem die Revannes diese Romanze als verdecktes Geständnis der anonymen Pilgerin auffassen, wird die bis zuletzt rätselhaft bleibende junge Frau mit einem fiktiven erotischen Vorleben ausgestattet. Und so überrascht es auch nicht, dass nicht nur vom Abenteuer des Sohns, sondern noch vorher von der jungen Frau ausdrücklich als „der schönen Abenteurerin“ (Wj 313) die Rede ist.
Nun lässt sich Die pilgernde Törin zwar nicht als Vorgeschichte einer der im Rahmen agierenden Figuren lesen. Sie liefert aber das Skript einer möglichen Liebesbegegnung, dem das gerade etablierte Verhältnis zwischen Hersilie, Wilhelm und Felix folgen könnte. Diese Übertragungsmöglichkeit gibt Hersilie mit ihrer Übergabe des Manuskripts mehr als deutlich zu verstehen:
„Sie lesen doch auch vor Schlafengehn?“ sagte Hersilie zu Wilhelm, „ich schicke Ihnen ein Manuskript, eine Übersetzung aus dem Französischen von meiner Hand, und Sie sollen sagen, ob Ihnen viel artigeres vorgekommen ist. Ein verrücktes Mädchen tritt auf! das möchte keine sonderliche Empfehlung sein, aber wenn ich jemals närrisch werden möchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so wär’ es auf diese Weise.“ (Wj 310)
Hersilie deutet hier ihre Lust an, sich selbst auf Abenteuerreise zu begeben.23 Anders als die pilgernde Törin wird Hersilie im weiteren Verlauf des Romans das Haus aber nicht verlassen und stattdessen in immer dringlicher werdenden Briefen mit Wilhelm kommunizieren. Was Hersilie dennoch mit „der schönen Abenteurerin“ (Wj 313) verbindet, ist der Umstand, dass beide das Abenteuer nicht im exotischen Anderswo, sondern im bürgerlichen Haus finden. Zumindest erscheint der pilgernden Törin der Haushalt der Revannes als eigentlicher Ort der abenteuerlichen Bewährung: „Ich gedachte durch die Welt zu rennen und mich allen Gefahren auszusetzen. Gewiß diejenigen sind die größten, die mich in diesem Hause bedrohen“ (Wj 324) – mit diesem Resümee, das in der Wortwahl ‚Rennen‘ an Lenardos Verabschiedung des Abenteuers erinnert, verabschiedet sie sich von ihren Gastgebern. Hersilie ist das Abenteuer in Gestalt des jungen Felix wie auch eines rätselhaften buchförmigen Kistchens ins Haus gekommen. Vor allem aber sucht Hersilie das Abenteuer im Medium der Weltliteratur auf, die man in ihrem Haushalt zusammenträgt.24 Im ersten Satz, mit dem sie im Roman zu Wort kommt, stellt sich Hersilie folgendermaßen vor: „damit der Fremde desto schneller mit uns vertraut und in unsere Unterhaltung eingeweiht werde, muß ich bekennen, daß wir uns, aus Zufall, Neigung auch wohl Widerspruchsgeist, in die verschiedenen Literaturen geteilt haben“ (Wj 309). Mit dieser aus Zufall und Neigung verfolgten Sammlung literarischer Texte aus aller Welt folgt Hersilie ihrer Tante Makarie, die für die Neukonfiguration des Abenteuers im Rahmen der Wanderjahre eine entscheidende Rolle spielt.
Makarie: Wunder, ja Wunder?
Makarie fungiert im Roman als die Freundin und Vertraute fast aller beteiligten Figuren, deren Gefühle sie aus Briefen und Gesprächen kennt und deren komplizierte Beziehungen sie zu entwirren versucht. Makarie agiert dabei als Ordnungsinstanz im Bereich der emotionalen Verwirrungen wie auch im Reich der Schrift. Damit sie die amourösen Verwicklungen lösen und die richtigen Verbindungen stiften kann, werden Makarie immer wieder die Briefe und Tagebücher der involvierten Personen zur Lektüre überlassen. Diese Texte ebenso wie die rudimentären Protokolle der im Haus geführten Gespräche, die Makaries Assistentin Angela mitschreibt, werden in „Makariens Archiv“ (Wj 746) abgelegt. Makarie ist zugleich die Figur, mit der sich dieser Roman, der so deutlich an den realen Modernisierungsdynamiken des 19. Jahrhunderts interessiert ist, zuletzt in den Bereich des Wunderbaren begibt. Das dritte Buch legt diesen Bezug offen. Eingefügt ist hier der Bericht des Astronomen, der wahlweise auch als Mathematiker oder Philosoph bezeichnet wird, der Makarie seit geraumer Zeit beobachtet und das Rätsel ihrer Existenz wenn nicht zu erklären, so doch zu beschreiben versucht. In einem ebenfalls im Archiv abgelegten Blatt heißt es:
Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend. (Wj 734)
Überdeutlich sind hier die Signale, die Makarie als Verkörperung eines ineffabilen Geheimnisses der Natur ausweisen. Als Somnambule, die ein besonderes Wissen von den Bewegungsgesetzen des Sonnensystems hat, steht sie für Goethes Programm einer zarten Empirie: Makarie weiß intuitiv um die Gesetze der Natur. Nicht zu unterschätzen ist hier die Angabe, dass sich ein solches Wissen nicht nur auf Geist und Seele, sondern auch auf die Einbildungskraft zu verlassen hat. Makarie hat aber nicht nur unmittelbare, über die schöpferische Einbildungskraft vermittelte Einsicht in die ordo naturalis, sie performiert diese auch. Und damit wird sie selbst zum Gegenstand der Forschung. Was man an ihr ‚entdeckt‘ hat, ist das Gesetz einer dynamischen Natur: Sie bewegt sich unaufhörlich nicht nur um die Sonne herum, sondern in einer eigenartigen Wanderbewegung aus dem Sonnensystem selbst heraus. Wie die schöne Seele der Lehrjahre ist auch Makarie eine Figur, in der sich Empfindsamkeit und Mystik verschränken. Anders als die schöne Seele wird der Hang zur spirituellen Innenschau und zur vita contemplativa in der Darstellung Makaries aber nicht pathologisiert, sondern als geheimnisvolle Wahrheit offenbart. Wenn der Astronom im Gespräch mit Wilhelm im ersten Buch ausruft: „Wunder, ja Wunder“ (Wj 386) dann meint er Wilhelms intuitive Einsicht in Makaries Geheimnis, die ihm nachts in einer Traumvision zufällt. Makaries Leben als kosmologische Offenbarung hingegen soll im Diskursraum des Romans gerade kein Wunder, sondern, so die im Text beharrlich wiederkehrenden Kennzeichnungen, die ‚Offenbarung‘ eines ‚Geheimnisses‘ der Natur sein, das der Astronom durch Berechnungen und Beobachtungen bestätigen konnte: „kein Wunder seh’ ich, durchaus kein Wunder“ (Wj 385).25
Entscheidend ist dabei ein letzter Punkt: Statt als Fremdkörper in das realistische Gefüge des Romans hineinzuragen, bezeichnet Makarie dessen produktives Zentrum. Denn der Text der Wanderjahre ist der romaninternen Fiktion zufolge aus den in Makaries Archiv bewahrten Texten zusammengesetzt.26 Mit dieser Konstruktion wird in Makarie auch das im Roman zugleich aufgerufene und abgewiesene Formular des Abenteuers verborgen und vorgezeigt. In ihrem Namen Makarie ist nicht nur die Abenteuerchiffre Amerika als anagrammatisches Wortspiel versteckt.27 Ihre Bahn, die sich „vom Mittelpunkt entfernend“ immer weiter „nach den äußeren Regionen“ (Wj 734) richtet, beschreibt das Bewegungsgesetz der an die Peripherie führenden Abenteuerreise. In ihrer Bewegung im Sonnensystem und wohl irgendwann auch über das Sonnensystem hinaus, strebt Makarie einem Ort zu, den Michael Rutschky als letzten Ort des Abenteuers in der Gegenwart anvisiert hat: Das Weltall.28
Nun ist dies zwar eine Reise, von der im Roman selbst nicht erzählt wird. Dennoch verkörpert Makarie diejenige Form, die das Abenteuer in der Moderne annehmen kann und muss. Die Welt des Abenteuers hat sich angesichts der von Lenardo vermerkten umfassenden Beschreibung aller Weltgegenden ins Archiv des Geschriebenen verzogen, dem Makarie vorsteht. Bezieht man dies auf die Form des Romans, dann wird deutlich, dass die Schrift nicht das Ende, sondern die produktive Bedingung für die Reaktivierung abenteuerlicher Erlebnisse ist. Deshalb kursieren die novellistischen Behandlungen des Abenteuers, beginnend mit der Geschichte von der pilgernden Törin, die Hersilie Wilhelm mit ins Bett gibt, ausgerechnet in Schriftform und werden im Roman auch nie erzählt, sondern immer nur gelesen. Und deshalb auch wollte sich der Abenteurer Felix in der pädagogischen Provinz nicht nur zum Reiter, sondern auch zum Grammatiker ausbilden lassen. Im Archiv als einem Speicher der gelesenen, aufgeschriebenen und übersetzten Erzählungen, die auf ein fiktives Archiv der Weltliteratur verweisen, scheint das Abenteuer in den Wanderjahren noch einmal gerettet zu sein – wenn auch nicht als Erlebnistypus, so doch als Literatur.
Bruzelius spricht in ihrem Versuch, dem englischsprachigen Roman in Gestalt des romance/adventure-Plots eine weitere Genealogie neben dem geläufigen Herkunftsnarrativ (Richardson, Defoe und Fielding) zu verschaffen, von den „exotic elsewheres“ der Abenteuerromane. Margret Bruzelius, Romancing the Novel. Adventure from Scott to Sebald, Lewisburg: Bucknell University Press 2007, S. 15; ausführlich entwickelt sie dies im ersten Kapitel, „‚The Importance of Elsewhere‘: Exotic Landscapes, Generative Spaces“, S. 40–73.
Vgl. etwa Volker Klotz, Abenteuerromane. Sue – Dumas – Ferry – Retcliffe – May – Verne, München: Carl Hanser 1979, S. 14–18; Axel Dunker, „Abenteuerroman“, in: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Alfred Kröner 2009, S. 1–8, hier S. 3.
Es handelt sich um eine „lockere Folge relativ selbständiger“, lose um einen Helden „gruppierter Geschichten (‚Kettenstruktur‘)“. Gunter Grimm, „Abenteuerroman“, in: Dieter Burdorf u.a. (Hgg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3. Aufl., Stuttgart u. Weimar: J. B. Metzler 2007, S. 1 f., hier S. 2.
Georg Simmel, „Das Abenteuer“, in: ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschichte und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin: Wagenbach 1983, S. 13–26, hier S. 20.
„Ist das Abenteuer eine Lebensform, die sich an einer unpräjudizierten Fülle von Lebensinhalten verwirklichen kann, so machen diese Bestimmungen dennoch begreiflich, dass ein Inhalt vor allen anderen sich in diese Form zu kleiden neigt: der erotische – so daß unser Sprachgebrauch das Abenteuer schlechthin kaum anders denn als ein erotisches verstehen läßt.“ Simmel, „Das Abenteuer“, S. 22. Hofmann hat diese lebensphilosophische Aufladung des Abenteuerbegriffs als bedingungslose Intensivierung des Erlebens historisiert. Er sieht hier das spezifisch moderne „Bestreben, der Einförmigkeit, der Gefühlsarmut und den bürokratischen Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft zu entrinnen“. Hans Hofmann, „Historische Wandlungen des Erlebnisphänomens ‚Abenteuer‘“, in: Weimarer Beiträge 23.1 (1977), S. 72–88, hier S. 77.
Der Abenteuerheld „wagt sich an seine Wünsche, er sucht sie – häufig rücksichtslos – zu erfüllen, er gibt dem täglichen Einerlei den Abschied, er macht sich auf, um sich selbst zu verwirklichen.“ Harald Eggebrecht, Sinnlichkeit und Abenteuer: Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert, Berlin: Guttandin und Hoppe 1985, S. 33.
Ralf-Peter Märtin, Wunschpotentiale. Geschichte und Gesellschaft in Abenteuerromanen von Retcliffe, Armand, May, Königstein i.Ts.: Anton Hain 1983.
Bernd Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen: Max Niemeyer 1983, S. 4.
Otto F. Best, Abenteuer – Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Geschichte und Deutung, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1983. Man bezieht sich hier meist auf Ernst Blochs Rede vom „Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben will“. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 172.
Johann Wolfgang von Goethe, „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden“, Zweite Fassung 1829, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bände, hg. v. Friedmar Apel u.a., Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987–2013, I. Abt., Bd. 10, hg. v. Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz, S. 261–774, hier S. 309. Nachweise aus dieser Ausgabe im Folgenden unter der Sigle ‚Wj‘.
Zu Wilhelms Epen-Lektüre vgl. Hans-Jürgen Schings, „Wilhelm Meisters schöne Amazone“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141–206. Zur Rolle des Abenteuers in den Lehrjahren und zur dazugehörigen Funktion des Überfalls siehe den Beitrag von Oliver Grill im vorliegenden Band.
Wilhelm thematisiert im Brief an Natalie im ersten Kapitel des Romans, dass die Wanderschaft auferlegt wurde: „Nicht über drei Tage soll ich unter einem Dache bleiben. Keine Herberge soll ich verlassen, ohne daß ich mich wenigstens eine Meile von ihr entferne. Diese Gebote sind wahrhaft geeignet, meine Jahre zu Wanderjahren zu machen und zu verhindern, daß auch nicht die geringste Versuchung des Ansiedelns bei mir sich finde.“ (Wj 268). Jürgen Fohrmann hat darauf hingewiesen, dass die nachmittelalterlichen Formen der ritterlichen âventiure, mithin die Figuren der „Entdecker-Abenteurer, der Piraten-Abenteurer oder des ‚Merchant-Adventurers‘“, gleichermaßen die theologische Kritik trifft, welche „Abenteuer als ‚äußeres Signum innerer Unbeständigkeit‘ interpretiert“. Jürgen Fohrmann, Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart: J. B. Metzler 1981, S. 180. Die Wanderjahre lassen sich damit als eine Art Eliminierung des Abenteuers deuten: „Aber wo das Abenteuer darauf zielt, sich vom Abenteuer zu emanzipieren, d.h. die Affekte, die als Agens für das Abenteuer galten, zu reglementieren, errichtet es ein Projekt, das darauf tendiert, sich selbst zu eliminieren.“ Fohrmann, Abenteuer und Bürgertum, S. 186.
Zur Auswanderungsutopie vgl. Irmgard Egger, „‚unermeßliche Räume‘. Weltbürgertum versus Auswandererutopie in,Wilhelm Meisters Wanderjahren‘“, in: Goethe-Jahrbuch 126 (2009), S. 129–137; Dennis F. Mahoney, „‚Ubi bene, ibi patria‘ oder: Amerika, hast du es besser?“, in: Goethe-Jahrbuch 126 (2009), S. 149–160.
Zur Entsagung beim späten Goethe, besonders in den Wanderjahren, vgl.: Thomas Degering, Das Elend der Entsagung. Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, Bonn: Bouvier 1982.
Hannelore Schlaffer hat in Bezug auf die Wanderjahre von der Diaphanie des antiken Mythos gesprochen und erklärt, dass der Rückgriff auf den Mythos die negativen Modernisierungsfolgen kompensieren, wenn nicht verschleiern solle. Hannelore Schlaffer, Wilhelm Meister: Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart: J. B. Metzler 1980. Auf eine wichtige Parallele zwischen homerischem Epos und den Wanderjahren hat hingegen Matthias Buschmeier hingewiesen, indem er die Form der Wanderjahre auf die von Goethe um 1800 rege rezipierte Diskussion um die kollektive Autorschaft der homerischen Epen bezieht. Matthias Buschmeier, „Epos, Philologie, Roman. Friedrich August Wolf, Friedrich Schlegel und ihre Bedeutung für Goethes ‚Wanderjahre‘“, in: Goethe-Jahrbuch 125 (2008), S. 64–79. Meine im Folgenden skizzierte These von der Strukturaffinität zwischen Odyssee und Wanderjahren entwickle ich ausführlicher in: Cornelia Zumbusch, „Ungewisse Zeitrechnung. Vorgeschichten und analeptisches Erzählen in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft: Goethes Zeitkonzepte, hg. v. Eva Geulen (im Erscheinen).
Zum Problem der Heimkehr vgl. die neueren Überlegungen von Eva Eßlinger, „Heimkehr eines Kriegsveteranen. Einleitende Überlegungen zu Homers Odyssee“, in: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 92.2 (2018), S. 127–161; sowie Susanne Gödde, „Heimkehr ohne Ende? Der Tod des Odysseus und die Poetik der Odyssee“, in: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 92.2 (2018), S. 163–180.
Zum Konsens medias in res-Einstieg sei hier auf drei Monographien mit einführendem Charakter verwiesen: Joachim Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlands, 2. Aufl., München u. Zürich: Artemis & Winkler 1989, S. 174 und Gustav Adolf Seeck, Homer. Eine Einführung, Stuttgart: Reclam 2004, S. 106 ff. Uvo Hölscher verfolgt dabei die auch für die Wanderjahre bedenkenswerte These, dass Odysseus’ nachgelieferte Abenteuergeschichten nicht nur frühen Schichten des mündlich überlieferten Legendenschatzes entstammen, sondern auch motivisch immer tiefer in den Bereich des Märchens und des Mythischen führen. Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München: C. H. Beck 1988, S. 42.
Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a.M: S. Fischer 1989, S. 13.
Bachtin, Formen der Zeit, S. 14.
Zu Poetiken des Abenteuers in Goethes Novellen vgl. Inka Mülder-Bach, „Das Abenteuer der Novelle. Abenteuer und Ereignis in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und der Novelle Goethes“, in: Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre, hg. v. Martin von Koppenfels u. Manuel Mühlbacher, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, S. 161–188.
Vgl. dazu Albrecht Koschorke, „Die Textur der Neigungen. Attraktion, Verwandtschaftscode und novellistische Kombinatorik in Goethes ‚Mann von funfzig Jahren‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73.4 (1999), S. 592–610.
Claude Haas hat an dieser Erzählung das Spiel mit dem Tugendideal der Aufrichtigkeit nachgezeichnet. Claude Haas, „Die Zeit der Aufrichtigkeit. Rousseaus ‚La nouvelle Héloïse‘ und Goethes ‚Die pilgernde Törin‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), S. 481–494.
Als närrisch kann die ‚pilgernde Törin‘ in mehrfachem Sinn gelten, als „eigenthümlich, sonderbar, wunderlich, seltsam“, als „lachen erregend, possenhaft, possierlich, drollig“ und als „verrückt, oder wie verrückt, toll“: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 13, Sp. 389. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GN02868 (16.10.2019).
Zur Thematisierung von Weltliteratur in den Wanderjahren vgl. Manfred Koch, „‚Weltliteratur‘ in Goethes Altersroman ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘“, in: Goethe-Jahrbuch 126 (2009), S. 138–148.
Zur Makarie-Figur zwischen naturmagischem Wissen und moderner Naturwissenschaft vgl. Henriette Herwig, „Die Makarien-Figur in Goethes ‚Wanderjahren‘. Allegorie der Versöhnung neuzeitlicher Naturwissenschaft mit der Naturphilosophie der Renaissance“, in: Von Schillers Räubern zu Shelleys Frankenstein. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800, hg. v. Dietrich von Engelhardt, Stuttgart: Schattauer 2006, S. 41–56. Die fast obsessiv wiederkehrende Assoziation mit dem Wunder spräche dafür, Makarie als Antwort auf Sulzers Kritik am Abenteuerlichen als dem ‚falschen Wunderbaren‘ zu lesen. Johann Georg Sulzer, „Abentheuerlich“, in: ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich 1792–1794, Erster Teil, Bd. 1, S. 1–4, hier S. 1.
Zur Zusammenfassung der Diskussion um Archivbegriff und Archivroman vgl. Martin Bez, Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Aggregat, Archiv, Archivroman, Berlin: de Gruyter 2013.
Brüggemann hat überdies darauf verwiesen, dass in Thomas Morus’ Utopia-Roman von einem kleinen Volk die Rede ist, den Makariern, die nicht weit von Utopien leben. Diethelm Brüggemann, Makarie und Mercurius. Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ als hermetischer Roman, Bern u.a.: Peter Lang 1999, S. 59.
Seine Überlegungen gehen von der These aus, dass sich seit den 1980er Jahren „kein richtiger Abenteuerroman mehr gebildet“ habe; er erklärt diesen Befund so: „Das Problem ist vermutlich, daß der Abenteuerroman seit dem 19. Jahrhundert von der Richtung abwich, die er bis dahin eingeschlagen hatte. Die weißen Flecken auf der Landkarte; Afrika, dunkel lockende Welt oder Herz der Finsternis, meinetwegen auch Arktis oder Antarktis und Australien und der Amazonas; Nachdem das alles […] ausgekundschaftet worden war […], gab es konsequenterweise nur eine Richtung, in der weiter nach Abenteuern dieser Machart gesucht werden konnte: den Weltraum“. Michael Rutschky, „Wunder und Schrecken. Der Abenteuerroman im Lesen und im Leben“, in: Merkur 59.670 (2005), S. 105–118, hier S. 117.