Combray – Irkutsk

Über Abenteuerroman und Avantgarde

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Martin von Koppenfels
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Chacun porte ses yeux comme un danger.

Robert Antelme

Leidenfrost-Effekte

Die Lese-Passage aus dem „Combray-Kapitel“ von Marcel Prousts Recherche ist eine Leserfalle. Eingebettet in den ersten Erinnerungsstrom, der aus dem Geschmack der Madeleine hervorgeht und der die Auferstehung des Kindheitsortes Combray aus der Kraft der unwillkürlichen Erinnerung bewirkt, lockt diese Passage mit dem großen Versprechen, fühlbar zu machen, was es heißt, zu lesen – zu lesen wie ein Kind, wohlgemerkt. Was hier versprochen wird, ist nichts weniger als eine Passage in die Kindheit des Lesens. Kein Wunder, dass diese „Tage des Lesens“, wie der Autor eine Vorstufe des Textes nannte,1 Generationen von Literaturwissenschaftlern magisch angezogen haben. Wer sich dieser berühmten Passage zuwendet, geht also auf ausgetretenen Spuren, liest unzähligen anderen Lesern hinterher.2 Dafür sollte man einen guten Grund haben – wie beispielsweise den Wunsch, eine Voraussetzung in Frage zu stellen, von der die meisten Lektüren der Stelle stillschweigend ausgehen. Diese Prämisse lautet, dass wir nicht wissen können, was Marcel in der kühlen Kammer von Combray und in der Gartenlaube unter der Kastanie eigentlich liest. Schließlich macht der Text dazu schlicht keine Angaben – außer, dass es sich um „Abenteuer“ handelt.3

Aus dieser Fehlanzeige folgt aber, dass wir es an dieser Stelle, kantisch gesprochen, mit der reinen Form lesender Anschauung zu tun haben, dass Proust seinen Lesern so etwas wie eine Darstellung der Lektüre an sich, vor aller Beziehung zu einem bestimmten Text, vor Augen führt, dass er uns, in den Worten Paul de Mans, „Lesen zu lesen“ geben will.4 Die Objektlosigkeit dieser Leseszene – das Fehlen eines konkreten Textes – trägt nicht wenig zu dem Eindruck bei, dass hier der Triumph eines Bewusstseins in Szene gesetzt wird, das sich im Akt der Lektüre selbst gegenüber der Außenwelt immunisiert. Die Objektlosigkeit bildet somit einen nicht zu unterschätzenden Faktor der Faszination, die von der Stelle ausgeht.5

Gegen diese gängige Deutung möchte ich geltend machen, dass der Autor sehr wohl einen Hinweis auf zumindest eines der Bücher liefert, die Marcel an diesen friedlichen Combrayer Sommernachmittagen verschlingt, welche sich in seiner Erinnerung schier endlos aneinanderreihen. Diesem Hinweis möchte ich nachgehen und in einem zweiten Schritt einige der Implikationen ausloten, die sich aus ihm für die Theorie des Lesens ergeben. Dabei ist nicht unerheblich, dass der Erzähler hier das Wörtchen „aventures“ fallen lässt. Denn das Auftauchen des Abenteuers in einer Fuge des großen Zeitromans erlaubt uns eine Reflexion über den Zeitcharakter des Abenteuers, aber auch über das gebrochene Verhältnis der modernen Literatur zum abenteuerlichen Erzählen. Dieses wird – sehr kurz gesagt – seit Ende des 18. Jahrhunderts allmählich aus der Poetik des seriösen Romans aussortiert6 und zunehmend in die sich neu ausdifferenzierenden Felder des populären Erzählens sowie der Kinder- und Jugendliteratur abgedrängt. Zugleich bleibt das Abenteuer als eine Art elementarer Nukleus des Erzählens ein notwendiger Bezugspunkt für den Roman als reflexive Gattung, wie die unzähligen Lektüre-Abenteuer belegen, die seit dem Don Quijote in neuzeitlichen Romanen Quartier bezogen haben. Das Lesen von Abenteuern ist seither immer auch das Abenteuer des Lesens gewesen.

Prousts Lese-Passage ist eingefaltet in eine Sequenz von schützenden Innenräumen: Zimmer, in denen man aufwacht, in denen man träumt, in denen man masturbiert, in denen man liest (1, 12). Im vorliegenden Fall handelt es sich einerseits um Marcels Kammer in Combray, andererseits um die Gartenlaube im Schatten der Kastanie (1, 83), in die er sich mit seinem Buch flüchtet, als seine Großmutter ihn ins Freie treibt. Es geht darum, die blendende, verletzende Helligkeit der Sommersonne auszuschließen, die mit funkensprühenden Hammerschlägen assoziiert wird (1, 82). Aus der Beschreibung der schattigen Kammer, noch bevor von Lektüre auch nur die Rede ist, wird die Überlegenheit der Imagination über die visuelle Wahrnehmung hergeleitet: Der Sommer wird auch ohne den Sehsinn, ja gerade ohne ihn gegenwärtig – in Vorstellungen und Geräuschen. Die Imagination macht das „volle Schauspiel des Sommers“7 vom Sehen unabhängig, so wie die Lektüre den Eindruck rasender Aktivität von der Bewegung. In die Reihe dieser schützenden, infantilen Innenräume fügt sich dann – kraft Analogie – die folgende Beschreibung des lesenden Bewusstseins:

Et ma pensée n’était-elle pas aussi comme une autre crèche au fond de laquelle je sentais que je restais enfoncé, même pour regarder ce qui se passait au-dehors? Quand je voyais un objet extérieur, la conscience que je le voyais restait entre moi et lui, le bordait d’une mince liséré spirituel qui m’empêchait de jamais toucher directement sa matière; elle se volatilisait en quelque sorte avant que je prisse contact avec elle, comme un corps incandescent qu’on approche d’un objet mouillé ne touche pas son humidité parce qu’il se fait toujours précéder d’une zone d’évaporation. (1, 83)8

Der Vorstellungscharakter aller Wahrnehmung wird zum Schutzraum, zur „crèche“, das „Ich denke“ zum Saum, („liséré“), der zugleich trennt und schützt. Das von Proust hier vergleichend herangezogene physikalische Phänomen9 – ein glühender Körper, der ein feuchtes Objekt nicht berühren kann, weil eine Dampfschicht dazwischen liegt – ist der sogenannte Leidenfrost-Effekt, der dafür verantwortlich ist, dass ein Wassertropfen, der auf eine heiße Fläche fällt, für eine Weile scheinbar schwerelos darüber hintanzt, weil er auf einem Luftkissen aus Dampf liegt.10 Die Physik des Wassers – Springbrunnen, Flüsse, Wolken – bildet auch sonst ein metaphorisches Reservoir der Recherche. Hier geht es um Verdampfung, die schon der nächste Satz wieder in regenbogenartige Kondensation überführt, wenn nämlich die wechselnden Bewusstseinszustände beim Lesen als schillernder Filter oder Schleier („écran diapré“) bezeichnet werden, der sich vor das Gelesene schiebt.

Ein Leidenfrost-Phänomen bildet auch das zentrale Ereignis eines der bekanntesten französischen Abenteuerromane: Michel Strogoff von Jules Verne (1876). In Vernes Erzählung ist es die Verdampfung seiner eigenen Tränen, die dem Kurier des Zaren das Augenlicht rettet, als die feindlichen Tataren ihn mit einer glühenden Säbelklinge blenden wollen. Diese Rettung in höchster Not wird dem Leser freilich erst lange nach dem Ereignis, am Ende des showdown mitgeteilt:

Michel Strogoff n’était pas, n’avait jamais été aveugle. Un phénomène purement humain, à la fois moral et physique, avait neutralisé l’action de la lame incandescente que l’exécuteur de Féofar avait fait passer devant ses yeux.

On se rappelle qu’au moment du supplice, Marfa Strogoff était là, tendant les mains vers son fils. Michel Strogoff la regardait comme un fils peut regarder sa mère, quand c’est pour la dernière fois. Remontant à flots de son coeur à ses yeux, des larmes, que sa fierté essayait en vain de retenir, s’étaient amassées sous ses paupières et, en se volatilisant sur la cornée, lui avaient sauvé la vue. La couche de vapeur formée par ses larmes, s’interposant entre le sabre ardent et ses prunelles, avait suffi à annihiler l’action de la chaleur. C’est un effet identique à celui qui se produit, lorsqu’un ouvrier fondeur, après avoir trempé sa main dans l’eau, lui fait impunément traverser un jet de fonte en fusion.11

In dieser Passage durchdringen sich die Diskurse der Sentimentalität, der Physiologie, der Physik und der Didaktik zu jenem Stil phantasmatischer Sachlichkeit, der vielleicht Vernes eigentlichen Beitrag zur Geschichte des abenteuerlichen Erzählens darstellt. Die Träne, ein Standardmotiv der Empfindsamkeit, wird in einen neuen Aggregatszustand gebracht, der dem Zeitalter der Dampfmaschine besser entspricht. Dampf dient hier freilich nicht dazu, Kolben anzutreiben, sondern eine märchenhafte Rettung zu erzielen. Er dient nicht als Chiffre des Begehrens, wie Peter Brooks die Dampfmaschinen des realistischen Romans charakterisiert hat,12 sondern als Chiffre der Unverletzlichkeit. Diese allerdings ist ein Effekt der Sohnesliebe, die hier in einem geradezu sophokleischen Sinne ‚ödipal‘ heißen muss. Sie ist es, die jene rettenden Tränen hervorbringt. Vernes Sentimentalität ist thermodynamisch. Seine ‚unerhörte Begebenheit‘ ist das unerhörte physikalische Phänomen. Nur in diesem Sinn kann man Michel Strogoff mit dem Begriff Science-Fiction in Verbindung bringen, dessen Anwendbarkeit auf Vernes ganzes Werk und speziell auf diesen Text Michel Serres energisch bestritten hat.13

Doch auf die Romanpoetik Jules Vernes wird später einzugehen sein. Für den Augenblick geht es nur um die Koinzidenz der Texte, die bis in einzelne Worte hineinreicht und dennoch von Prousts Lesern übersehen worden zu sein scheint.14 Diese Koinzidenz legt nahe, dass Marcel ein Jules Verne-Leser ist – so wie sein Autor und so viele andere französische Kinder des späten 19. Jahrhunderts. Das ist kein überraschender Befund in Bezug auf den Autor,15 wohl aber in Bezug auf den Erzähler. Schließlich fällt der Name „Verne“ im ganzen Textmassiv der Recherche nur ein einziges Mal – dort allerdings in Verbindung mit einer Lesebegierde, die etwas Anrüchiges hat. In Sodome et Gomorrhe wird der gierige Blick, mit dem der Oberkellner Aimé beobachtet, wie Marcel einem Chauffeur ein Trinkgeld gibt, so charakterisiert: „Pendant ces courts instants il avait l’air attentif et fiévreux d’un enfant qui lit un roman de Jules Verne …“ (3, 413).16 Dieser zwiespältigen Würdigung zum Trotz dürfen wir davon ausgehen, dass an der mit Broschüren behängten Türe der Épicerie Borange in Combray, wo sich Marcel mit Lesestoff versorgt (1, 83), auch die Hefte von Pierre-Jules Hetzels Magasin d’éducation et de récréation prangen, in denen Michel Strogoff zunächst erschienen ist.

Wie stellt sich nun die oben zitierte Beschreibung des lesenden Bewusstseins in seiner „Krippe“ im Licht dieses unerwarteten Intertexts dar? Das ungenannte feuchte Objekt, das in Prousts Vergleich eine schützende Dampfschicht produziert, muss, mit Verne gelesen, das Auge sein. Und zwar das lesende Auge, die ungenannte physische Grundlage all der von Marcel angestellten Überlegungen zu jenem geistigen Leben, das aus Lektüre stammt. Dieses Auge wird hier unsichtbar in den Vergleich eingeschleust und in seiner Verletzlichkeit bedrohlich zur Geltung gebracht. Ja, im Nachhinein erscheint die kühle und empfindliche Transparenz des Lesezimmers hinter seinen nur einen Spaltbreit geöffneten Läden selbst wie ein vergrößertes Auge: „ma chambre qui protégeait en tremblant sa fraîcheur transparente et fragile contre le soleil de l’après-midi derrière ses volets presque clos“ (1, 82).17 Dabei geschieht jedoch eine bemerkenswerte Verkehrung der Positionen: Was vom Bewusstsein wie von einer Verdampfungsatmosphäre umschlossen und daher unberührbar gemacht wird, ist nämlich nicht das Auge, sondern der von ihm gesehene Gegenstand. Das sehende Auge hingegen tritt an die Position des weißglühenden Körpers. Wenn wir die Verne’sche Blendungsszene in Prousts Vergleich hineinlesen, kehrt sich dessen Sinn schockierend ins Gegenteil um. Er dreht sich gleichsam um die Achse eines Wortes – des Adjektivs incandescent, das auch bei Verne mehrfach auftaucht: Bei Proust sind wir mit dem weißglühenden Objekt identifiziert, wir sind die aktive Macht, die verzehrende Hitze des Blicks, der vergeblich versucht, direkten Kontakt mit dem Ding an sich aufzunehmen, das sich ihm feucht, ungreifbar, sich selbst verschleiernd entzieht. Bei Verne sind wir mit dem unendlich verletzlichen, tränenblinden Auge identifiziert, dem sich die weißglühende Klinge mit schlechthin zerstörerischer Energie nähert.

Doch dieser Positionstausch ist reversibel: Die Kreuzung mit einem anderen Text schreibt Prousts Szenario des absolut sicheren, wenn auch solipsistisch einsamen Subjekts eine Gefahr ein. Das Auge als physisches Organ war in diesem Szenario nicht vorgesehen. Sein bloßes Vorhandensein am unsichtbaren somatischen Grund jedes Leseakts ist auch der Grund jener Gefahr. Der Glaskörper, der so transparent ist, dass er zur Metapher rein geistiger Akte wird, kann sich auch trüben. Lesen ist nicht unvermittelte Selbstanschauung, sondern organisch vermittelt. In dem Moment, in dem das Auge als Bedingung der Möglichkeit von Lektüre zu Bewusstsein kommt, bricht die zentrale Behauptung der Proust-Stelle in sich zusammen: die Behauptung eines in seinem Selbstbewusstsein wie in einer Kinderkrippe geborgenen Subjekts, das sich selbst am wahrgenommenen Objekt immer mit wahrnimmt. Nicht so das Auge: Wenn das lesende Auge sich selbst sieht, bricht die Wahrnehmung zusammen. Die Erinnerung an Vernes Blendungsszene fährt wie eine Klinge in Prousts sanfte Transparenzträume hinein. Warum hat sich der Autor der Recherche dem ausgesetzt? Man könnte vermuten, dass er Vernes kindliche Heldengeschichte auflösen und zugleich bewahren wollte, indem er an die Stelle des verletzlichen Auges und seiner unglaubwürdigen Rettung die unverletzliche Subjektivität setzte. Aber eben dadurch hat er auch deren empfindlichste Stelle offengehalten, nämlich die Stelle, wo sie auf einem empfindlichen Organ aufruht.

Zugleich hat er dadurch das heroische Abenteuer in ein Lese-Abenteuer aufgehoben (wir werden sehen, dass dies in gewissem Sinne auch Jules Verne schon tat). Wäre es nach der Großmutter gegangen, wäre Marcel nach draußen gerannt, um Abenteuer zu erleben. Er geht nach drinnen, allerdings mit dem gleichen Ziel. Das lesende Subjekt ist der Held, der durch alles hindurchgeht – aber eben auch nichts wirklich berührt. Proust kehrt das Unbewusste des Verne’schen Textes hervor: Wo Verne uns den durch die Steppe jagenden Körper des Helden zeigt, führt uns Proust den immobilisierten Körper des lesenden Jungen vor, der in einem intellektuellen Akt diesen rasenden Körper erst erschafft:

[…] mon repos qui (grâce aux aventures racontées par mes livres et qui venaient l’émouvoir), supportait pareil au repos d’un main immobile au milieu d’une eau courante, le choc et l’animation d’un torrent d’activité. (1, 82)18

Das Bild vom kühlen Strom oder Sturzbach korrespondiert von ferne mit dem Wasserkult, den Verne in Michel Strogoff betreibt: Die sibirischen Ströme Irtysch, Ob, Jenissei und Angara strukturieren den Roman, ihre Überquerungen skandieren als sich steigernde Prüfungen die initiatorische Reise des Helden von West nach Ost. Proust hebt diesen Wasserkult hier auf die metaphorische Ebene. Ja, sein Bild von der Hand im Wasserstrahl korrespondiert auf unheimliche Weise mit Jules Vernes irrer Phantasie vom Metallarbeiter, der seine nasse Hand unversehrt („impunément“) durch einen Strahl flüssigen Eisens bewegt. Das wird besonders deutlich, wenn man die Etymologie von „torrent“ (lat. „torrere“: brennen) einbezieht, die Proust an dieser Stelle ausbeutet.19 Im Assoziationsraum seines Bildes erscheint dann auch die brennende Strömung des Angaraflusses, die der Kurier im apokalyptischen Finale von Vernes Roman unverletzt durchschwimmt.

Für Paul de Man war die Metapher vom „torrent d’activité“ ein Inbegriff der Ideologie des Proust’schen Textes, die es zu dekonstruieren galt. Sie stand ihm für das falsche Versprechen der Lektüre, die Illusion eines kränkelnden Jungen, der glaubt, die ganze reißende Fülle eines durchtobten Sommertages erleben zu können – und sogar noch viel mehr, nämlich mehr „dramatische Ereignisse“, als in ein ganzes Leben passen (1, 83); all dies, wohlgemerkt, ohne die stille, schattige Kammer verlassen zu müssen. „The guilty pleasures of solitude“, schreibt de Man, „are made legitimate because they allow for a possession of the world at least as virile and complete as that of the hero whose adventures he is reading.“20 De Mans Analyse der Lese-Passage bewegt sich im vagen Raum einer allgemeinen Hermeneutik des Verdachts.21 Ergänzt man diese Passage durch die Analyse einer konkreten textuellen Beziehung, indem man einen ihrer abenteuerlichen Intertexte einbezieht, so zeigt sich, dass für dekonstruktivistischen Moralismus kein Anlass besteht, da Proust das Moment der Schuld an dieser Stelle weniger rhetorisch verschleiert, als vielmehr an den Leser weiterreicht. Diese Übertragung ist möglich, weil er im Zwiegespräch mit Jules Verne eine Auseinandersetzung mit dem Schuld-Mythos der westlichen Tradition führt.

Jules Vernes Augenaventüre

Während Proust ein hochkomplexes narratives Netz webt, beruhen Vernes populäre Erzählungen auf einer Kunst der einen Linie – der einen Linie, die sich in der Regel zum Kreis schließt. Es ist eine Kunst der einfachen Phantasie, der ausgetretenen Spur, der überdeterminierten Struktur. Das gilt in exemplarischer Weise für Michel Strogoff, den Kurier des Zaren, der einen Brief aus Moskau ins von einer Tatareninvasion abgeschnittene Irkutsk bringen muss, jedoch auf halbem Weg enttarnt wird, weil er unverhofft seiner Mutter begegnet; der daraufhin als Spion mit dem Verlust seines Augenlichts bestraft wird, sich aber dennoch nach Irkutsk durchschlägt, in die belagerte, brennende Stadt eindringt, Verräter enttarnt, Feinde besiegt, die Liebe findet. Sein Weg ist überscharf markiert, weil tausendfach vorgespurt. Er ruht auf elementaren Mustern auf: Ödipusmythe, Mythos vom Sonnenumlauf, Kreislauf von Nacht und Tag, mit einem gewaltigen Sonnwendfeuer als Wendemarke. Er erinnert an die Plot-Muster der Initiationsriten, die tausendfach beschrittenen Routen der Adoleszenz. Prousts Recherche, das sei an dieser Stelle eingefügt, arbeitet am Abbau solcher Strukturen. Ihrer inneren Logik nach muss sie es tun, weil jene Strukturen in die falsche Richtung weisen, nämlich von der Kindheit weg. Deshalb betreibt die Recherche den Untergang von Plot und Weg im unendlichen Gewebe der Assoziationen, Erinnerungen, Phantasien. Auch in Prousts Lese-Passage gibt es einen solaren Mythos,22 doch er wird nicht erzählt, sondern metaphorisch evoziert.

Vernes Kunst hingegen produziert Texte für Strukturalisten. Michel Serres, der gelegentlich auch Strukturalist war, hat in einer seiner übermütigen Verne-Lektüren die vielfältige Determiniertheit der Handlung von Michel Strogoff auf drei Achsen angeordnet: ödipale Familienkonstellation, initiatorisches Märchen und solare Mythologie.23 Der Kurier des Zaren wird in dieser Lektüre als Kurier des Vaters kenntlich, als Verschmelzung des Ödipus aus Sophokles’ Drama mit dem Boten („Oedipe-messager“). Als Bote, der die Botschaft nicht kennt, wird er zur Metapher des Unbewussten: „incognito“ – „inconscient“ – „aveugle“.24 Serres arbeitet genüsslich die „ödipale Proliferation“ von Vernes Kleine-Jungs-Geschichte heraus:25 Es handelt sich um eine Geschichte, in der alle wichtigen Akteure sich als Doppelgänger elementarer Familienpositionen – Vater, Mutter, Bruder, Schwester – erweisen; eine Geschichte, die vor allem mit einem geradezu grotesken Überangebot an Vater-Imagines aufwartet; eine Geschichte, in der der verbotene Blick auf die Mutter, die Urszene, mit märchenhaften Prüfungen umstellt ist und dennoch mit der kanonischen Strafe, dem Verlust des Augenlichts, sanktioniert wird. Die Handlung von Vernes Roman ist im strikten Sinne märchenhaft: drei Wasserproben, drei Feuerproben und drei Tierproben sind zu bestehen,26 bevor die ödipale Strafe wundersam aufgehoben werden kann. Die Struktur dieses Über-Plots lässt sich graphisch formalisieren als Kreis, der um ein paar Dreiecke gezogen wird.27

Bei alledem ist Jules Verne nie nur Mythograph, sondern immer auch Gymnasiallehrer aus eigener Berufung. In Michel Strogoff steht zwar nicht Geschichte28, wohl aber Erdkunde und Physik auf dem Stundenplan. Doch der Unterrichtsstoff wird durch ödipale Phantasien überwuchert. Die Geographiestunde ‚Sibirien‘ wird zur mythischen Initiationsreise. Im Diskurs der phantasmatischen Sachlichkeit verwandeln sich die beiden erstaunlich präzisen Sibirien-Karten, die den Roman skandieren, in Medien der Fiktion. Trotz erheblichen kartographischen Aufwands unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht nicht von, sagen wir, Tolkiens Mittelerde-Kartographie. Ja, sie erfüllen selbst eine rituelle Funktion, insofern an ihre Nahtstelle, etwa am 80. Längengrad, eine entscheidende Einkerbung der Romanhandlung angesiedelt ist: Hier wird der Telegraphendraht durchtrennt und damit der Punkt markiert, an dem der Held den Raum der Moderne endgültig verlässt. Das Durchschneiden der Leitung als kommunikative Kastration erzwingt eine Regression im mehrfachen Sinne: die Wiederkehr des reitenden Boten, die Wiederkehr des abenteuerlichen Chronotopos. Danach wird die Steppe zum Abenteuermeer, die Tataren zu Indianern, die Depesche des Zaren zum magischen Signifikanten, dessen Bedeutungsgehalt absolut keine Rolle spielt, und die kartographierte Reiseroute zum Initiationsweg, zur „Geschichte der Prüfungen“.29 Dies ist die erste „Erzählkerbe“ des Romans in dem von Volker Klotz eingeführten Sinn. Gemeint ist damit ein narrativer Bruch, der für den Abenteuerroman als Gattung konstitutiv ist: Er markiert den Übergang vom realistischen Erzählen in den Tagtraum, den Punkt, an dem sich der Protagonist aus einer bürgerlichen Zivilperson in einen handlungsmächtigen Helden verwandelt.30

Die zweite Kerbe des Romans ist die Blendungsszene – die, wie wir sahen, von Verne im Rahmen des Physikunterrichts abgehandelt wird. Auf dem Programm steht allerdings einmal nicht Elektrizität, sondern die Thermodynamik des Wassers, veranschaulicht in einem Experiment von didaktischer Einfachheit: ein physikalischer Effekt als märchenhafte Aventüre. Doch vor der Physik muss der Mythos zu seinem Recht kommen: die Strafe für das inzestuöse Begehren, Michel, von der treuen Nadja durch Sibirien geführt, der geblendete Ödipus an Antigones Hand. Das mythische Geschehen freilich entpuppt sich als bloßer Schein, als sublime Kriegslist des unblendbaren Superhelden. Wir erleben die triumphale Wiedergeburt des Blicks im Durchgang durch die Blendungsszene. Lange vor der Enthüllung des Leidenfrost’schen Phänomens, bevor wir also erfahren, dass der Kurier gar nicht blind ist, wird uns diese Auferstehung mit augenärztlicher Präzision nahegebracht:

Les paupières de l’aveugle, rougies par la lame incandescente, recouvraient à demi ses yeux, absolument secs. La sclérotique en était légèrement plissé et comme racornie, la pupille singulièrement agrandie; l’iris semblait d’un bleu plus foncé qu’il n’était auparavant; les cils et les sourcils étaient en partie brûlés; mais, en apparence du moins, le regard si pénétrant du jeune homme ne semblait avoir subi aucun changement. S’il n’y voyait plus, si sa cécité était complète, c’est que la sensibilité de la rétine et du nerf optique avait été radicalement détruite par l’ardente chaleur de l’acier.31

Diese ophthalmologische Nahaufnahme bildet den größten Schockeffekt des Romans. Doch aus der dichten Beschreibung des versehrten Auges schält sich unvermittelt das Phantasma des phallischen Blicks heraus: der Blick, der durchdringt, ohne zu sehen – eine triumphale Behauptung von Immunität. Der Vergleich mit der Hand des Metallarbeiters, die das flüssige Erz unversehrt durchquert, ist in dieser Behauptung schon vorweggenommen. Und natürlich der showdown des Romans, in dem die zerstörerische Klinge aus der Hand des Feindes in die Hand des Helden gewandert ist und das stählerne Auge das Messer zum Triumph führt. Kein Wunder, dass sich Nadja, deren Blick an der zitierten Stelle den blinden Blick des Helden sieht, genau in diesem Moment in ihn verliebt.

Die Magie des Leidenfrost-Effekts bringt dann zu guter Letzt die narrative Heilung der Wunde, die uns so drastisch vor Augen geführt worden ist. Experimentalwissen verbindet sich mit ödipaler Wunscherfüllung zu einer Erfüllung zweiten Grades. Wie Manuel Mühlbacher geltend gemacht hat, ist die abenteuerliche Erzählwelt seit der Antike als eine Sphäre bestimmt, in der alle Wunden des Helden spurlos vergehen.32 Dem entspricht das Prinzip „Es kann dir nix g’schehen“, das für Freud den Tagtraumcharakter „aller Romane“ bezeichnete.33 Legt man Mühlbachers Unterscheidung zwischen „abenteuerlicher“ und „tragischer Wunde“ zugrunde, so wird deutlich, dass Verne hier die tragische Verletzung des Ödipus in eine abenteuerliche zurückverwandelt. Dass dies im Fall einer Augenverletzung besonders unwahrscheinlich ist, erhöht nur den abenteuerlichen Reiz. Die tragische Vorstellung, dass gesteigerte Einsicht mit dem Verlust der Aussicht einhergeht, scheint damit entkräftet zu sein, und mit ihr, für halbwüchsige Leser einschlägiger, die Phantasie der Kastration. Die von dieser Phantasie entbundene Angst wird mit dem ganzen Leichtsinn des Abenteuers übersprungen. Abenteuerliteratur, das zeigt sich hier in idealtypischer Klarheit, ist ein Angebot zum Ausleben ödipaler Phantasien unter Verwandlung der entsprechenden Angst in den Reiz der Spannung.34 Nicht zufällig hat Volker Klotz den Begriff der Erzählkerbe gewählt, um den Punkt zu bezeichnen, an dem die abenteuerliche Machtphantasie die Verbindung zum Realismus durchtrennt. Es ist der Schnitt, der die Macht verleiht. Die Kerbe tritt an die Stelle der Kastration.

Doch die Stellvertretung ist keine fugenlose Ersetzung. Die Kerbe schließt, wie jedes anständige Symptom, einen Kompromiss mit der Angst. Die action des Abenteurers ist ein acting out, die wundersame Mobilität des Helden eigentlich eine Flucht vor bestimmten Phantasien in bestimmte Phantasien. Vernes Erzählung spielt mit den Ängsten ihrer jugendlichen Leser. Sie bietet sich als Trägermedium für die ödipale Phantasie an und imaginiert die gefürchtete Bestrafung gleich mit. Und diese Strafe trifft das Organ der Lektüre. Das lesende Auge, einziger Ort der Aktivität im passiven Körper des Lesers (Marcel im kühlen Zimmer von Combray), wird in die Angstphantasie der Blendung hineingezogen. Das ist bemerkenswert, denn eigentlich ist der Akt des Lesens der blinde Fleck des Abenteuerromans, insofern dieser darauf aus ist, das Bewusstsein des Leseakts in der Illusion des Geschehens restlos zu liquidieren. Doch Verne hält dieses Bewusstsein am Leben, indem er die Blendungsszene in seiner Erzählung mit Szenen des defizienten Lesens umstellt: Die Tataren fällen ihr Urteil durch das aleatorische Verfahren des Buchorakels („fal“), also durch eine magische Praxis, für die Text nicht als Sinnzusammenhang, sondern als Zufallsgenerator in Betracht kommt. Diese magische Isolation des Signifikanten könnte man geradezu als konzeptuelles Gegenteil jener signifikantenverschlingenden Textpraxis ansehen, auf die hin Jules Verne-Romane konzipiert sind. Der Koran, auf solche Art befragt, liefert den Spruch „Et il ne verra plus les choses de la terre“, der daraufhin auf eine brutale Weise ausgelegt wird, die den Helden von aller künftigen Leselust befreien soll.35

Unmittelbar nach der Blendung wird dann endlich der bisher verschlossene Brief des Zaren enthüllt – aber nur, um öffentlich unlesbar zu sein. Denn der Verräter Ogareff, der zu diesem Zeitpunkt (wie die Leser) davon ausgehen muss, dass Michel Strogoff blind ist, offenbart das Dokument nur den erloschenen Augen des Helden:

Ivan Ogareff tira de sa poche la lettre impériale, il l’ouvrit, et, par une suprême ironie, il la plaça devant les yeux éteints du courrier du czar, disant: „Lis, maintenant, Michel Strogoff, lis, et va redire à Irkoutsk ce que tu auras lu!“36

Die Leser des Romans finden sich in die Blindheit des Helden mit eingeschlossen. Auch ihnen wird die Schrift nicht enthüllt. Wie Ogareff dem Helden, so hält ihnen der Roman ein Schriftstück vor die Nase, das sie nicht lesen können. Der Inhalt des Briefs bleibt ein blinder Fleck, nicht ganz unähnlich dem Verfahren Prousts, der seinen Lesern den lesenden Marcel zeigt, ihnen jedoch vorenthält, was er liest.

Bei Verne aber muss am Ende selbst der Schurke Ogareff, der den Helden als sehbehinderten Briefträger verspottet hatte, anerkennen, dass dessen unzerstörbaren Augen immer schon lesende Augen gewesen sind:

Ces yeux qui semblaient lire jusqu’au fond de son âme et qui ne voyaient pas, qui ne pouvaient pas voir, ces yeux opéraient sur lui une sorte d’effroyable fascination.37

Man darf sagen: Verne hat in seine Erzählung eine Art reflexives Bewusstsein davon eingebaut, dass die Abenteuer von Michel Strogoff gelesene Abenteuer sind. In gewissem Sinne hat er also bereits Jahrzehnte vor Proust getan, was dieser unternimmt: Er hat den Blick des Lesers in das gelesene Werk integriert.

Proust, Rivière und der Abenteuerroman

Die ödipalen Grundlagen von Prousts Lektüreszene treten deutlicher hervor, wenn man sie mit der Folie von Vernes Abenteuerroman hinterlegt, auf der die Umrisse des Freud’schen Basismythos mit reichlich dickem Stift aufgetragen sind. Diese Grundlagen treten ganz besonders dann hervor, wenn man in Rechnung stellt, dass Proust ausgerechnet auf das sadistische Szenario mit dem feuchten Auge und der glühenden Klinge anspielt, also auf die Kastrationsphantasie, die Vernes Roman nur aufruft, um sie abenteuerlich zu überspringen. Für Proust ist diese durchsichtige Verleugnung der Angst des lesenden Ödipus keine Option. Er versucht, das Subjekt besser zu sichern: Im geschützten Gehäuse seines Bewusstseins kommt es mit der Welt gar nicht erst in Berührung. Eine solche Berührung wird erst im Nachhinein stattgefunden haben – im Akt des Erinnerns.

Und doch bricht mit der Anspielung auf den Kurier des Zaren ein Kontext mythischer Schuld in die sicheren Lesenester von Combray ein. Der Akt des Lesens erhält eine inzestuöse Färbung. Die entsprechende Strafangst zieht das Thema des Lesens in diesen ersten Abschnitten der Recherche auch dadurch auf sich, dass es in die Nähe verpönter sexueller Praktiken gerückt wird. So heißt es von der ‚Dachkammer, die nach Iriswurzel riecht‘, also der Toilette des Hauses, dass Marcel sich dort zu vier Beschäftigungen einschließt: um zu lesen, zu träumen, zu weinen und zu masturbieren (1, 12). Und letztere Tätigkeit wird später im Zeichen des Abenteuers, aber eben auch der Todesangst geschildert:

… avec les hésitations héroïques du voyageur qui entreprend une exploration ou du désespéré qui se suicide, défaillant, je me frayais en moi-même une route inconnue et que je croyais mortelle … (1, 156)38

Die Stelle ist auch ein Beispiel dafür, wie Proust die Topik der abenteuerlichen Reise aufruft, wenn auch nur als eine metaphorische Schicht unter vielen, ohne sie auf der Ebene der Narration umzusetzen. Der abenteuerliche Ausweg, die Umsetzung der Angst in rasende Aktivität und Mobilität, steht seinem Romanprojekt nicht mehr offen. Auch die „Combray-Erinnerungen“ der Recherche, mit ihren mythisch stilisierten Vater- und Mutterfiguren und ersten erotischen Begegnungen, folgen in gewissem Sinne noch einem Initiationsschema der Adoleszenz. Doch Proust zerschreibt dieses Schema: Er erzählt nicht den einen rite de passage, in dem ein Held durch einen symbolischen Tod hindurchgeht, um zum Mann zu werden, sondern eine unbestimmte Zahl von Passagen, die das Ich in eine unbestimmte Zahl aufeinanderfolgender Ichs zerlegen.

Für dieses Zerschreiben gibt es ein untrügliches Indiz: die Lesegeschwindigkeit. Verne, der immer Reisen erzählt, will, dass schnell gereist wird. Der Kurier, der die Weiten Sibiriens durchjagt, verlangt nach einem Leser, der mit den Augen über die Seiten fegt. Doch diese Parallele ist trügerisch. Reisegeschwindigkeit und Lesetempo müssen vielmehr in Konflikt geraten, damit Spannung entsteht. Wir lesen nie schneller als an den Stellen, wo der Kurier aufgehalten wird. Und gelegentlich kehrt sich diese Asymmetrie auch um: Verne baut Stellen ein, die den Leser bremsen, an denen die Leitung, durch die das narrative Begehren sich fortpflanzt, kurz unterbrochen wird. Solche Relaisstellen sind etwa die berüchtigten Landschaftsschilderungen, ethnographischen Exkurse, halbwissenschaftlichen Erörterungen. Es sind Passagen, die wir querlesen, überspringen, ausblenden – blinde Stellen im Text. Ihre Funktion ist wohl weniger eine didaktische als eine rhythmische: Sie sollen uns nervös machen, zur Eile antreiben. Der Kurier wartet nicht auf uns. Prousts Text hingegen sichert sich mit allen Mitteln der Syntax und Rhetorik dagegen ab, schnell gelesen zu werden. Er baut Sätze wie Nester, Abschnitte wie unübersichtliche Gärten, Metaphernfluchten wie Gewölbe, Metonymien wie Gassengewirr. Prousts Leser tauchen nicht in die Handlung ein, sie werden von Sätzen umschlossen. Diese Sätze sind Zeitstrudel, das heißt, das Voranschreiten des Sinns von Satz zu Satz erzeugt in ihnen eine Art Gegenströmung, die zum semantischen Ausgangspunkt zurücktreibt. Wie sollten wir dies anders lesen, als indem wir uns in diesen nesteligen Sätzen regelrecht sinken lassen? Man könnte auch sagen: Die Spannung verlagert sich bei Proust aus der geschilderten Handlung in den Satz. Es scheint, als habe er die Kräfte des Plots, jene narrative Dialektik von End-Trieb und Retardierung,39 ganz in die einzelne Periode verlegt.

Doch trotz dieser elementaren, weil im Material selbst gegründeten Inkompatibilität hat man die Recherche immer wieder mit dem Abenteuer in Verbindung gebracht. Ja, in gewissem Sinn wurde sie bereits als ‚Abenteuerroman‘ bezeichnet, bevor auch nur eine Seite von ihr erschienen war. Damit hat es Folgendes auf sich: Von Mai bis Juli 1913 veröffentlichte Jacques Rivière, bereits damals ein einflussreicher Literaturkritiker und Redakteur der Zeitschrift Nouvelle Revue Française, ebendort den langen Essay Le Roman d’aventure, in dem er den Symbolismus verabschiedet und das Programm eines kommenden, handlungsstarken, spannenden Romans nach dem Vorbild Robert Louis Stevensons entwickelt: „L’écrivain symboliste était en état de mémoire; [l’écrivain de demain] sera, lui, en état d’aventure.“40 Rivières langatmiger Essay ist charakteristisch für die vage Aufbruchsstimmung der Generation der Kriegsfreiwilligen („attente de n’importe quoi“41), aber auch für die Hinwendung der Avantgarden zu populären Erzählmustern. Wenige Jahre später sollten die russischen Formalisten ähnlich scharf gegen die ‚Sujetlosigkeit‘ des zeitgenössischen Romans polemisieren und den handlungsstarken Genre-Roman zum Ideal der neuen Literatur erheben.42

Die literaturgeschichtliche Bedeutung von Rivières Text gründet sich freilich vor allem auf zwei externe Umstände: Zum einen ist sein Autor zufällig auch der Entdecker Prousts. Rivière las dessen Du côté de chez Swann sofort nach seinem Erscheinen Ende 1913 und war – anders als sein NRF-Kollege André Gide, der das Manuskript flüchtig durchgeblättert und als unpublizierbar zurückgewiesen hatte – hellauf begeistert. Proust hatte sein Buch nach der Ablehnung der NRF bekanntlich auf eigene Kosten anderswo publiziert. Rivière also war begeistert, nötigte Gide, sich bei Proust zu entschuldigen, und veranlasste, dass die folgenden Bände der Recherche im Verlag der NRF erschienen.43 Der andere Umstand besteht darin, dass Rivière zehn Jahre später den erstaunlichen Einfall hatte, Le roman d’aventure im Nachhinein als prophetische Ankündigung von Prousts Werk hinzustellen:

Cet article est de 1913, et bien que je l’aie écrit sans avoir en vue aucun livre déterminé, il m’apparaît aujourd’hui comme l’annonce et presque la prophétie d’une oeuvre que devait voir le jour vers la fin de cette même année: l’oeuvre de Proust, justement.44

Was soll das heißen? Ist es bloßes Gerede oder spricht daraus eine besondere Intuition? Hat der Kritiker womöglich in Proust Romanpoetik einen verborgenen abenteuerlichen Zug entdeckt? Was hat die Suche nach der verlorenen Zeit mit dem Abenteuer zu schaffen? Das ist die Frage, auf die, aus einer anderen Richtung, auch meine Spekulationen über Marcels Combrayer Ferienlektüren hinauslaufen.

Den Begriff „aventure“ fasst Proust in der Recherche jedenfalls nur mit spitzen Fingern an, spricht auch vom „roman d’aventure“ meist mit pejorativem Beiklang. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich der Erzähler gelegentlich – auf seinen nächtlichen Wegen durch das kriegsverdunkelte Paris – mit „Harun Al-Raschid auf Abenteuersuche“ vergleicht (4, 388). Als großes Erinnerungsprojekt ist die Recherche schon auf den ersten Blick inkompatibel mit Rivières Forderung nach einem radikal zukunftsoffenen Erzählen. Dazu kommt die Erfahrung der Zeit als Entzug, die im Hintergrund von Prousts Erinnerungssuche jederzeit spürbar ist45 – eine Erfahrung, die das abenteuerliche Erzählen nicht kennt, genauer gesagt, nicht kennen will. Ja, der dem Abenteuer als Form innewohnende Zwang zur Serialisierung, das heißt zur immer neuen Wiederholung des Spannungsimpulses, ist nichts anderes als eine formgewordene Flucht vor dieser Erfahrung. Eben dadurch empfiehlt es sich als Lektüreprogramm der Adoleszenz, die die Aufgabe der subjektiven Durchdringung von Lebenszeit als vorerst unlösbare vor sich herschiebt.

Und doch gibt es gewisse Indizien dafür, dass die Recherche Kontakt mit abenteuerlichen Erzählformen sucht. Jean-Yves Tadié, seines Zeichens Proust-Forscher und Experte für Abenteuerliteratur, hat einige von ihnen zusammengetragen: etwa den Hinweis, dass Proust seinen Titel aus einem Mantel-und-Degen-Roman des älteren Alexandre Dumas entliehen hat (in dessen Le Chevalier d’Harmental kommt eine „rue du Temps-Perdu“ vor);46 oder die Beobachtung, dass dieser Titel in seiner aktivierenden Verlaufsform A la recherche de … die Muster populärer Romantitel vom Typ der Schatzsuche imitiert; ferner die Bedeutung zufälliger Begegnungen im gesellschaftlichen Gewirr des Romans (das Modell Harun Al-Raschid) sowie die Übernahme bestimmter populärer Erzähltechniken: Überraschung, Spannung, plötzliche Wendungen, coups de théâtre; all dies vor dem Hintergrund des in Prousts Briefwechsel dokumentierten Interesses an Autoren wie Dumas, Balzac und – wieder einmal – Stevenson. Eher als Tadiés Behauptung, dass sich in den „Nischen“ von Prousts Erzählen „ein veritabler Abenteuerroman“ verberge,47 möchte ich seiner Vermutung nachgehen, der Autor der Recherche betreibe eine „Verinnerlichung des Abenteuers“.48 Die Intuition, dass es so etwas geben könne, hatte schon Jacques Rivière im Jahr 1913, als er vorschlug, auf einen formalen Abenteuerbegriff umzustellen: „L’aventure, c’est la forme de l’oeuvre plutôt que sa matière: les sentiments aussi bien que les accidents matériels, y peuvent être soumis.“49

Die üblichen Merkmale des abenteuerlichen Erzählens50 scheinen bei Proust allesamt zu fehlen: Von einem ‚identifizierbaren Helden‘ kann nicht die Rede sein, das erlebende Ich wird vielmehr unter dem Ermittlungsdruck der Proust’schen Recherche in unverbundene Zustände zerlegt. Das Kriterium einer ‚grenzüberschreitenden Bewegung im Raum‘ wird von dieser introspektiven Poetik geradezu systematisch widerlegt. Auch der Wunsch nach einer ‚integrierenden Erzählinstanz‘, die im Nachhinein Kohärenz stiftet, erweist sich, wie die Proust-Forschung gezeigt hat, letztlich als Illusion. Vom gängigen Bild des Abenteuers bewahrt Prousts Poetik nur zwei Kennzeichen: zum einen die Abhängigkeit des Erzählens von kontingenten Ereignissen und zum anderen das Motiv der aktiven Suchen nach diesem Unverfügbaren, dessen erste historische Gestalt die „quête d’aventure“ des höfischen Ritters war.

Prousts Erinnerungsprojekt ist abenteuerlich als radikal kontingentes.51 „Il y a beaucoup de hasard en tout ceci“, heißt es am Anfang der Madeleine-Szene (1, 43).52 Und es folgt der Vergleich mit jenem „keltischen Aberglauben“, dem zufolge die Seele eines geliebten Wesens in ein Tier, einen Baum, ein unbelebtes Objekt gebannt sein kann, über das wir allenfalls zufällig stolpern, um so den Bann zu lösen: „Cet objet, il dépend du hasard que nous le rencontrions avant de mourir, ou que nous ne le rencontrions pas.“ (1, 44)53 Sicher nicht zufällig ist dieser Vergleich der Welt der mittelalterlichen Matière de Bretagne entnommen und zitiert ein gängiges Abenteuermuster höfischer Erzählkultur. Prousts Bezugspunkt im Abenteuer ist die Kontingenz und Unverfügbarkeit der „mémoire involontaire“. Der im Proust’schen Sinn Erinnernde ist dieser Kontingenz ausgesetzt wie der Abenteurer, der ins Blaue hinein reitet. Die Erinnerungs-Epiphanien sind wie Begegnungen im Wald. Aber sie führen nicht in die aufregende, offene Zukunft, sondern in die Vergangenheit. ‚Adventura‘ wird zu ‚memoratura‘. Der Zeitsinn der Aventüre kehrt sich um.

Die Ermächtigung des Zufalls hat Konsequenzen für die zeitliche Synthesis: Kennzeichnend für die Eröffnungssequenz von Du côté de chez Swann ist das assoziative Mäandern der Erzählung, vom Einschlafen und Träumen über die Erinnerung an die verschiedenen Schlafzimmer, das Einschlafen in Combray, die Laterna Magica, die Abendessen, die Großmutter, die Dachkammer mit dem Iriswurzelgeruch, Monsieur Swann, das „Drama des Zubettgehens“, usw., usw. Dieses assoziative, sich verzweigende und vertiefende Erzählen wirkt auf den ersten Blick ähnlich ziellos wie das Herumirren des Ritters im Abenteuerwald und ähnlich komplex wie das Handlungsgewebe, das sogenannte entrelacement mittelalterlicher Prosaromane.54 Doch das Abenteuer wurde nach innen gestülpt. Die Atomisierung des Ichs produziert eine Art psychisches entrelacement im Inneren der instabilen Erzählinstanz. Die Kontingenzen, die dieses Erzählen ständig aus der Bahn werfen (wenn es eine Bahn beschreiten könnte, wenn es überhaupt ein ‚schreitendes‘ Erzählen wäre), diese Überraschungen und Zufälle stammen nicht aus der Verkettung realer, sondern aus der Verkettung mentaler Begegnungen: Assoziationen und Erinnerungen. Und der Raum, den die Erzählung auf diese umherschweifende Weise erschließt, ist nicht der eigentlich zweidimensionale, kartographierbare Raum, den der Abenteurer durchquert, sondern der in die Tiefe vernetzte Erinnerungsraum. Das erinnernde Ich ist hier sowohl der suchende Held als auch der Abenteuerwald, in dem er sich verliert:

Grave incertitude, toutes les fois que l’esprit se sent dépassé par lui-même; quand lui, le chercheur, est tout ensemble le pays obscur où il doit chercher et où tout son bagage ne lui sera de rien. (1, 45)55

Man könnte sagen: Prousts radikale Umstellung auf Erinnerungsprozesse löst das Erzählen aus den diskursiven Schranken des 19. Jahrhunderts und nähert seine innere Logik wieder gewissen vormodernen Modellen an. Das Dreieck des realistischen Romans, in dem Erzähler, Protagonist und Leser einander als Bewohner derselben Welt anerkennen, wird von Proust destabilisiert. Im absolut gesetzten erinnernden Ich fehlen die Fixpunkte, um ein solches Dreieck aufzuspannen. Die zeitliche Synthesis lockert sich, das Subjekt ist nicht mehr Herr der Zeit. Dadurch kommen Erzählelemente zum Vorschein, die archaisch anmuten: verwirrende Zeitschichtungen, phantasmatisch verzerrte Räume, diskontinuierliche oder atomisierte Personen. Die immer wieder eingestreuten Bezüge auf die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht sind vielleicht mehr als nur Metaphern; sie dienen wohl auch als narratologische Positionsbestimmungen. Wenn der Leser kein anderes Gegenüber mehr hat als das erinnernde Ich, erfährt er einen Kontrollverlust, der der Erfahrung beim Lesen vormoderner, märchenhaft wunscherfüllender Erzählungen in mancher Hinsicht ähnelt. Wie diese ist Prousts Erzählen voller Inkonsistenzen. Und wie diese zielt es letztlich auf Wunscherfüllung: nicht als Glücksfund der Zukunft, der in der aventure dem Mutigen in die Hände fällt, sondern als Glücksfund der Vergangenheit, der im unwillkürlichen Erinnern dem Traurigen aufgeht.

1

Marcel Proust, „Journées de lecture“, in: ders., Pastiches et mélanges, Paris: Nouvelle Revue Française 1919, S. 225–272.

2

Adam Watt spricht von der „Urszene des Lesens“: Watt, Reading in Proust’s „A la recherche“, Oxford: Oxford University Press 2009, S. 44.

3

Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, 4 Bände, hg. v. Jean-Yves Tadié u.a., Paris: Gallimard 1987–89, Bd. 1, S. 82 (im Folgenden zitiert mit bloßer Band- und Seitenangabe in Klammern). Im Manuskript findet sich eine nicht übernommene Passage, in der noch folgende Titel genannt werden: „les impressions de voyage de Dumas“, „les romans de Balzac“, „le Rouge et le Noir“ (1, 1142). Zwei Skizzen, auf die der Herausgeber verweist, Esquisse XXXI und XXXII (1, 752–755), geben hingegen keine Titel an.

4

„[I]t is forever impossible to read Reading.“ Paul de Man, „Reading (Proust)“, in: ders., Allegories of Reading, New Haven u. London: Yale University Press 1979, S. 57–78, hier S. 77.

5

Weder der Kommentar der Pléiade-Ausgabe (Jean-Yves Tadié) noch der der Suhrkamp-Ausgabe (Luzius Keller) fragen nach konkreten Texten. Robert D. Frye betont, dass der gelesene Text unbekannt sei: Frye, „Reading as Metaphor in Proust“, in: Symposium 42.2 (1988), S. 101–117, hier: S. 111; ebenso Adam Watt, Reading in Proust’s „A la recherche“, S. 33. Paul de Man stellt die Frage gar nicht, ebenso wenig Robert Stockhammer (vgl. ders., Leseerzählungen. Alternativen zum hermeneutischen Verfahren, Stuttgart: J. B. Metzler 1991, S. 253).

6

Exemplarisch dafür: der Artikel „Abentheuerlich“ in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Teil I, Leipzig: Weidemann 1778, S. 3.

7

Marcel Proust, Unterwegs zu Swann, in: ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 7 Bände, übers. v. Eva Rechel-Mertens, revidiert u. hg. v. Luzius Keller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, Bd. 1, S. 123.

8

„Und war nicht die Welt meiner Gedanken selbst eine Art Krippe, ein Raum, in dessen Tiefe ich sogar auch dann geborgen blieb, wenn ich einen Blick auf die Dinge warf, die sich draußen zutrugen? Sobald ich einen Gegenstand außerhalb meiner wahrnahm, stellte sich das Bewußtsein, daß ich ihn sah, trennend zwischen mich und ihn, umgab ihn mit einer geistigen Schicht, die mich hinderte, jemals unmittelbar seine Substanz zu berühren; vielmehr verflüchtigte diese sich gleichsam, bevor ich in direkten Kontakt mit ihm treten konnte, so wie ein glühender Körper, den man an etwas Feuchtes hält, niemals die Feuchtigkeit selbst berührt, weil dazwischen immer eine Dunstzone liegt.“ Proust, Unterwegs zu Swann, S. 124.

9

Zum Diskurs der Thermodynamik bei Proust allgemein vgl. Joseph Vogl, „Prousts literarische Physik“, in: Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, hg. v. Friedrich Balke u. Volker Roloff, München: Wilhelm Fink 2003, S. 199–210. Vogl erwähnt das Leidenfrost-Phänomen nicht.

10

Vgl. David Quéré, „Leidenfrost Dynamics“, in: Annual Review of Fluid Mechanics 45 (2013), S. 197–215, hier S. 198. Quéré zitiert beide hier kommentierten Literaturpassagen unmittelbar hintereinander, ohne sie in Beziehung zueinander zu setzen.

11

Jules Verne, Michel Strogoff. Moscou – Irkoutsk, Paris: Le Livre de Poche 2017, S. 429. Gisela Geisler übersetzt: „Michael Strogoff sah tatsächlich; er war nie blind gewesen. Eine schlichte menschliche Regung des tapferen Mannes hatte die Wirkung der glühenden Klinge aufgehoben, mit der ihn Feofar-Khans Scharfrichter blenden sollte. Im Augenblick der Urteilsvollstreckung, als Marfa Strogoff mit weit geöffneten Armen vor dem Sohn stand, waren trotz aller Selbstbeherrschung Tränen in Michael Strogoff aufgestiegen. Sie bildeten unter dem heißen Stahl eine Dampfschicht, die sich schützend über die Augäpfel gelegt und dem Kurier des Zaren die Sehkraft erhalten hatte.“ Jules Verne, Der Kurier des Zaren, übers. v. Gisela Geisler, Stuttgart: Reclam 2008, S. 280.

12

Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative, New York: Knopf 1984, S. 44.

13

Michel Serres, Jouvences sur Jules Verne, Paris: Éditions de Minuit 1974, S. 13, S. 37.

14

Dies gilt selbst für Jean-Yves Tadié, der nicht nur ein namhafter Proust-Forscher, sondern auch Experte für Abenteuerliteratur und zudem Autor einer Monographie über Jules Verne ist. Doch obwohl er die Blendungsszene aus Michel Strogoff im Titel zitiert, geht er ihr in seinem Buch mit eigentümlicher Scheu aus dem Weg. Vgl. Jean-Yves Tadié, Regarde de tous tes yeux, regarde!, Paris: Gallimard 2005, S. 237, S. 261.

15

Unter seinen in der Korrespondenz erwähnten Jugendlektüren findet sich z.B. Le Tour du monde en quatre-vingt jours. Vgl. Jean-Yves Tadié, Marcel Proust. Biographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 770.

16

„Während dieser kurzen Augenblicke hatte er die aufmerksame, fieberhafte Miene eines Kindes, das einen Roman von Jules Verne liest …“ Proust, Sodom und Gomorrha, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 624.

17

„in meinem Zimmer, das zitternd seine durchsichtige, zerbrechliche Kühle gegen die Nachmittagssonne hinter den beinahe völlig geschlossenen Fensterläden beschützte“. Proust, Unterwegs zu Swann, S.122 f.

18

„[…] meine[r] Ruhe, die (dank den in meinen Büchern erzählten, mich im Inneren bewegenden Abenteuern) wie eine Hand, die man regungslos in fließendes Wasser hält, den Anprall und die Erregung eines Stroms von Aktivität aushielt.“ Proust, Unterwegs zu Swann, S.123 f.

19

de Man, „Reading (Proust)“, S. 66.

20

de Man, „Reading (Proust)“, S. 64.

21

Dem Sinn, wenn auch nicht dem Wortlaut nach, geht dieses Schlagwort auf Paul Ricoeur zurück. Vgl. Paul Ricoeur, Die Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 45–49.

22

de Man, „Reading (Proust)“, S. 69.

23

Michel Serres, „Oedipe messager“, in: ders., Jouvences, S. 37–61, hier: S. 46.

24

Serres, „Oedipe messager“, S. 43.

25

Serres, „Oedipe messager“, S. 51.

26

Serres, „Oedipe messager“, S. 57.

27

Serres, „Oedipe messager“, S. 50 f.

28

Chris Bongie hat darauf hingewiesen, dass Verne die koloniale Expansion Russlands nach Zentralasien in ihr Gegenteil verkehrt: In dem Moment, in dem das russische Imperium die gewaltsame Unterwerfung der zentralasiatischen Khanate vollendet, entwirft Verne eine Situation der umgekehrten Bedrohung, die nicht im 19., sondern allenfalls im 17. Jahrhundert am Platz gewesen wäre. Chris Bongie, „Into Darkest Asia: Colonialism and the Imperial Fiction of Jules Verne’s Michel Strogoff“, in: Clio 19.3 (1990), S. 237–249.

29

Verne, Michel Strogoff, S. 435.

30

Volker Klotz, Abenteuer-Romane, Reinbek: Rowohlt 1989, S. 218.

31

Verne, Michel Strogoff, S. 306. Hervorhebung von mir, MvK. „Der Geblendete hatte die geröteten Lider halb über die vollkommen trockenen Augen gesenkt. Die Bindehäute waren jetzt leicht faltig und die Pupillen unnatürlich vergrößert, während die Iris in dunklerem Blau als zuvor erstrahlte. Die glühende Klinge hatte die Wimpern und Augenbrauen teilweise verbrannt, aber äußerlich wenigstens war der einstmals so durchdringende Blick des jungen Mannes unverändert geblieben. War er wirklich vollkommen erblindet, so konnten nur die Linse und der Sehnerv durch die Hitze des Stahls zerstört sein.“ Verne, Der Kurier des Zaren, S. 212.

32

Manuel Mühlbacher, „L’avventura e la ferita: storia di una relazione paradossale“, in: L’immagine riflessa 29.1 (2020) [im Erscheinen].

33

Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1999, Bd. 7, S. 220.

34

Tadié spricht von der unbewussten Bedeutung, die die bewusste Lust speist: Jean-Yves Tadié, Le roman d’aventures, Paris: Presses universitaires de France 1982, S. 93.

35

Verne, Michel Strogoff, S 291. „Und er wird die Dinge dieser Erde nicht mehr sehen!“ Verne, Der Kurier des Zaren, S. 202.

36

Verne, Michel Strogoff, S. 301. „Iwan Ogareff zog das Schreiben des Zaren aus der Tasche, öffnete es und hielt es dem Kurier höhnisch vor die erloschenen Augen. ‚Lies doch, Michael Strogoff, lies und erzähle in Irkutsk, was du gelesen hast!‘“ Verne, Der Kurier des Zaren, S. 209.

37

Verne, Michel Strogoff, S. 427. Hervorhebungen von mir, MvK. „Diese Augen, die den Grund seiner Seele zu lesen schienen und doch nicht sahen, nicht sehen konnten, diese Augen übten auf ihn eine entsetzliche Faszination aus.“ Falls nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von mir, MvK.

38

„… während ich mit dem heroischen Zaudern eines Reisenden, der eine Forschungsreise unternimmt, oder des Verzweifelten, der sich umbringen will, mit versagender Kraft in mir selbst einen unbekannten und, wie mir schien, von Todesgefahr umlauerten Weg suchte.“ Proust, Unterwegs zu Swann, S. 231.

39

Vgl. Brooks, Reading for the Plot, S. 104.

40

Jacques Rivière, Le Roman d’aventure, Paris: Syrtes 2000, S. 55. „Der symbolistische Schriftsteller stand im Bann des Gedächtnisses; [der Schriftsteller von morgen] wird im Bann des Abenteuers stehen.“

41

Rivière, Le Roman d’aventure, S. 80; „auf irgendetwas wartend“. Rivières Text kommt freilich ohne die chauvinistische Aggressivität mancher deutschen Generationsgenossen aus. Man kann ihn dennoch nicht ohne das Wissen darum lesen, dass die hier implizit angesprochenen Autoren ein Jahr später gezwungen sein würden, das postulierte Abenteuer an der Front zu suchen, wo Rivière bald in Gefangenschaft geriet und sein Freund Alain-Fournier, den der Essay in verdeckter Form protegiert, schon in den ersten Wochen fiel.

42

Vgl. Riccardo Nicolosi im vorliegenden Band; ferner: Aage Hansen-Löve, „‚Wir sind zur einfachsten Kriminalhandlung unfähig …‘ Experimentelle Schundliteratur der russischen 20er Jahre“, in: Abenteuer: Erzählmuster, Formprinzip, Genre, hg. v. Martin von Koppenfels u. Manuel Mühlbacher, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, S. 237–261.

43

Dazu: Margaret Gray, Postmodern Proust, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1992, S. 31.

44

Jacques Rivière, Quelques Progrès dans l’étude du Coeur humain. Textes et conférences sur Marcel Proust, hg. v. Thierry Laget (= Cahiers Marcel Proust 13), Paris: Gallimard 1985, S. 195. „Der Artikel ist von 1913, und obwohl ich damals kein bestimmtes Buch im Sinn hatte, erscheint er mir heute wie die Ankündigung, ja fast wie die Prophezeihung eines Werkes, das Ende jenes Jahres erscheinen sollte: Ich meine das Werk von Proust.“

45

Dazu: Martin v. Koppenfels, Immune Erzähler, München: Wilhelm Fink 2007, S. 248 ff.

46

Jean-Yves Tadié, Proust, Paris: Belfond 1983, S. 85. Die folgende Zusammenfassung bezieht sich auf den Abschnitt „Un roman d’aventures“ (ebd., S. 85–91).

47

Tadié, Proust, S. 85.

48

Tadié, Proust, S. 90.

49

Rivière, Le roman d’aventures, S. 69. „Das Abenteuer ist eher Form als Stoff: Gefühle können ebenso abenteuerliche Form annehmen wie faktische Ereignisse.“

50

Vgl. den Definitionsansatz der Forschungsgruppe Philologie des Abenteuers: Martin von Koppenfels, „Wissenschaftliches Programm“, DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“, LMU München. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/forschungsgruppe/wissenschaftliches-programm/wissenschaftliches-programm.pdf (17.11.2019).

51

Diese Affinität hat auch Tadié gesehen, der die Erinnerungsszenen der Recherche als „aventure métaphysique“ und „aventure spirituelle“ bezeichnet: Tadié, Proust, S. 89, 90.

52

„Der Zufall spielt in diesen Dingen eine große Rolle“ Proust, Unterwegs zu Swann, S. 66.

53

„Ob wir diesem Gegenstand vor unserem Tod begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.“ Proust, Unterwegs zu Swann, S. 66.

54

Dazu: Eugène Vinaver, „The Poetry of Interlace“ in: ders., The Rise of Romance, Oxford: Clarendon Press 1971, S. 68–98.

55

„Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich von sich selbst überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich das dunkle Land ist, das er erforschen muß und wo sein ganzes Gepäck ihm nichts nützt.“ Proust, Unterwegs zu Swann, S. 68.

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