Places Where Girls Don’t Get

Abenteuerlandschaften bei Karl May und Ernst Jünger

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Susanne Lüdemann
Search for other papers by Susanne Lüdemann in
Current site
Google Scholar
PubMed
Close
Open Access

In jede Reise muß Pilgerschaft im alten Sinne eingeschlossen sein. Sonst bleibt sie eine Anhäufung von Bildern, mit denen der Wanderer sein Inneres wie ein Album mit papierenen Karten füllt, bleibt eher schädlich, weil sie ihn zerstreut. […] Das Reisen als Aufsuchen von Aussichtspunkten kann Sinn nur haben, wenn diese Punkte auf anderes als auf Landschaft hinweisen. […] Es gibt nur eine Reise, die Lebensreise, und jede zeitliche Bewegung ist einer ihrer Abschnitte. Jedes Tagesziel ist ein Gleichnis des Lebensziels und sollte ein pilgrim’s progress sein.1

Ich habe Aviatiker sein und Märdistan mit seiner Geisterschmiede überfliegen wollen. Meine Phantasie gab mir den Mut und die Kraft dazu. Aber ich rechnete auf die Menschlichkeit der Menschen, und das war - - falsch!2

Vom mehrfachen Schriftsinn (Lektüremodelle)

Auf der Suche nach einer Erklärung für die ungeheure Wirkung des Volksschriftstellers Karl May hat Arno Schmidt Lektüremodelle entwickelt, die auf der Unterscheidung mehrerer Textschichten in Mays Werken beruhen und diesen entsprechende Lesemodelle zuordnen. Das sind insgesamt vier:

  • L I – Reise- und Abenteuererzählung (manifest)

  • L II – Sexualsymbolik (latent)

  • L III – Autobiographik (latent)

  • L IV – (‚religiöse‘) Allegorik (latent/manifest)3

L I ist die manifeste Ebene der eigentlichen Reise- und Abenteuererzählung samt ihrer chronotopischen Organisation, die sich auch dem naiven Lesen zuerst erschließt.

Sie ist bei May, wie die Forschung einhellig bestätigt, beherrscht vom Prinzip der Wiederholung mit Variationen. Egal in welcher Weltgegend die Erzählungen spielen, als ihre wesentlichsten Motive erscheinen ein grundlegender Dualismus von ‚guten‘ und ‚bösen‘ Charakteren und daraus folgend eine ubiquitäre Dynamik von Flucht und Verfolgung, Anschleichen und Belauschen, Gefangennahme und Befreiung, und zwar in einem Raum, der – im ‚Wilden Westen‘ ebenso wie im ‚Orient‘ – durch die weitgehende Abwesenheit einer übergeordneten Macht gekennzeichnet ist, die in der Lage wäre, auf die von den jeweiligen Schurken geplanten oder begangenen Untaten adäquat zu reagieren. „Wir sind in der Wüste, wo kein Gesetz gilt als nur das des Stärkeren“4 – dieser Satz aus Durch Wüste und Harem (1892) gilt im übertragenen Sinn für alle Reise- und Abenteuer-Erzählungen Mays, auch wo sie nicht in der Wüste im buchstäblichen Sinne spielen. „Die Schurken fliehen nach vollbrachter Untat und werden von den guten Menschen verfolgt; diese erreichen sie schließlich unbemerkt, der Held schleicht sich in ihr Lager und belauscht die Feinde, um sich über ihre weiteren Absichten zu informieren; er entwirft daraufhin einen Plan, mit dem die Verbrecher in die Falle gelockt und gefangen genommen werden; es gelingt ihnen jedoch zu entkommen, und das Ganze beginnt von vorn“5 – so ungefähr lautet die Kurzfassung May’scher Motiv- und Handlungsketten, etwa noch ergänzt um die Kunst des Spurenlesens (besonders in den Winnetou-Erzählungen) und das für eine Philologie des Abenteuers zumal erhebliche Motiv der zufälligen Begegnung (jenseits aller Wahrscheinlichkeit).

Die Entfaltung dieser Handlungsketten vollzieht sich

im Rahmen eines permanenten Raumwechsels. Mays Figuren […] verweilen niemals für längere Zeit an einem Ort; sie reisen teils aus Neigung, teils im Dienst der selbstgestellten Aufgaben durch weiteste Räume, durch ganze Länder und Kontinente.6

Kein Zufall sei es, so Helmut Schmiedt, dass Volker Klotz einen frühen Karl May-Aufsatz „Durch die Wüste und so weiter“ genannt und darin als „Aventiureprinzip der Mayschen Abenteuerromane“ die „Ereignisfolge und Bewegung im Raum“ identifiziert habe.7 Die dargestellten Landschaften sind dabei genauso stereotyp wie die in ihnen sich abwickelnden Handlungsketten. Es handelt sich, so Arno Schmidt, meist um „recht heroische Angelegenheiten […], Wüsten & Wildnisse“, „alles erscheint vergrößert, die Farben greller, die Aktionen weitgebärdiger, auch die Gerüche verstärkt, und die Helden haben Alle eine unvergleichliche Anlage zum Aufschneiden.“8

Volker Depkat nennt vier typische Züge, die die May’schen Abenteuerräume über alle Differenzen im Einzelnen hinweg kennzeichnen: Es sind (a) „Orte, an denen wilde Tiere und wilde Menschen leben“; sie sind (b) „durch Entlegenheit und Isolation gekennzeichnet“; aus der europäischen oder eurozentrischen Perspektive der Romane handelt es sich (c) „um zivilisatorisch und technologisch rückständige Gebiete“, und (d) „sind es Regionen mit nur rudimentär ausgebildeter Staatlichkeit.“9

Was L I betrifft, befindet sich Arno Schmidt also in bester akademischer Gesellschaft, und Karl May sich im Übrigen in einer Erzähltradition, die Michail Bachtin zufolge bereits mit dem spätantiken griechischen Roman begann. Die Chronotopoi von unverhoffter Begegnung, von Flucht und Verfolgung, Gefangennahme und Befreiung spielten jedenfalls im „abenteuerlichen Prüfungsroman“10 eines Heliodor oder Xenophon von Ephesus eine ähnlich strukturierende Rolle wie bei Karl May, und gemeinsam ist ihnen auch die grundsätzliche Translozierbarkeit des Geschehens, die Austauschbarkeit der Ereignisse im Raum („was in Babylon geschieht, könnte auch in Ägypten oder Byzanz geschehen, und umgekehrt“11).

Was macht nun aber dieses stereotype Abenteuernarrativ so interessant, gerade in seinen unendlichen Repetitionen noch um die Wende zum 20. Jahrhundert so attraktiv, dass Karl May bis heute einer der weltweit meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller ist? Hier scheiden sich die Geister, insbesondere der Geist Arno Schmidts von (fast) allen anderen.

Arno Schmidt suchte die Erklärung für das, was „Leser an ihre Lieblingsautoren bindet“12, auf der Ebene von L II, das ist – im Falle Karl Mays – die Ebene der in das manifeste Abenteuernarrativ nach Schmidts Lesart unterschwellig eingewobenen Sexualsymbolik:

May’s ‚Landschaften‘ sind Begehrungen, in denen er sich verwirklicht; sein Eros gewinnt von der Natur her wüst= & =waldige Bestätigungen; in seiner grandiosen S=Elefantastik sprengt der Fant alle Grenzen des vor & (bisher) nach ihm schriftlich Überlieferten – ob stauffische ‚Minnesänger‘, ob Crébillon ob Sade ob Casti ob Fischer, ob noch südlichere Trovadors: der Sachse übertrifft sie Alle an S-Bandbreite!13

„Eine Welt, aus Hintern erbaut!“14 lautet das Fazit von Arno Schmidts L II-Lektüren May’scher Landschaften, exemplifiziert insbesondere an Sitara, dem „Land der Sternenblumen“, das in verschiedenen Texten Mays eine Rolle spielt – vom Alterswerk Ardistan und Dschinnistan über Mays einziges vollendetes und veröffentlichtes Drama Bibel und Babel bis hin zu seiner Autobiographie Mein Leben und Streben, der das „Märchen von Sitara“ vorangestellt ist und die dann mit dem Satz beginnt: „Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.“15

Auf Sitara – resp. Ardistan und Dschinnistan – als exemplarischer May’scher Abenteuerlandschaft und die Aufnahme ihrer Gestaltungsprinzipien durch Ernst Jünger wird noch näher einzugehen sein – nicht notwendigerweise auf L II, d.h. auf die Sexualsymbolik, obwohl ich in dieser Hinsicht nicht zu den striktesten Arno Schmidt-Gegner/innen gehöre. Immerhin knüpft sich an L II bei Schmidt eine ganze Theorie der Wirkung von sogenannter ‚Trivialliteratur‘, die mir nicht abwegig erscheint: Der libidinöse Pakt zwischen Leser und Autor, wenn er denn zustande kommt, findet nicht (oder jedenfalls nicht nur) auf der Ebene der manifesten Erzählung statt, sondern auf der Ebene der latent mitkommunizierten oder mitkonnotierten Phantasien und Tagträumereien, wenn der Leser sie denn teilen kann – der Leser diesfalls ausdrücklich, denn die Leserinnen waren beim homoerotischen Geschnäbel zwischen Winnetou und Old Shatterhand ‚libidomäßig‘ je immer schon irgendwie außen vor. „Mein Bruder Shatterhand kommt wie der Tau in den Kelch der dürstenden Blume“16 – so beispielsweise begrüßt Winnetou Old Shatterhand nach langer Trennung in Old Surehand I – nunja. Dass kein Indianer dieser Welt jemals so blumig geredet hat – niemals vermutlich auch von sich in der dritten Person wie sämtliche Indianer bei Karl May („Winnetou trinkt kein Feuerwasser!“), ansonsten aber nur Kinder im Stadium des Illeismus, d.h. im Alter von zwei Jahren („Lina auch Kokolade haben!“) –, ist die eine Sache; dass die von Karl May imaginierte Indianersprache ‚blumige‘ Freiräume für allerlei sonst im Deutschen Kaiserreich und darüber hinaus nicht Aussprechbares bietet, die andere. (Dass Karl May in Amerika, dem ‚Land der Indianer‘, eine politisch unmögliche und entsprechend auch unübersetzte Lektüre ist, erwähne ich nur nebenbei. Sich zu Karneval als Cowboy und Indianer zu verkleiden, wie zumindest in meiner Jugend – Karl May-induziert – noch üblich, wäre dort ‚unheard of‘, jenseits des selbst für nicht von political correctness umgetriebene Zeitgenossen Vorstellbaren.) Die literarischen Abenteuer finden stets nur dort statt, wo sie niemals hätten stattfinden können und auch niemals stattgefunden haben: in einem irgendwie utopischen, jedenfalls exterritorialen Raum. Zum Glück gibt es ja aber, selbst bei Arno Schmidt, noch L III und L IV.

L III ist die (auto)biographische Ebene. Auch hier ist Arno Schmidt in bester (literaturwissenschaftlicher) Gesellschaft, denn auch die Tendenz zur literarischen Chiffrierung bedeutender Abschnitte der eigenen Lebensgeschichte (besonders der achtjährigen Inhaftierung Mays im Gefängnis Waldheim) wird von der Forschung vielfach verzeichnet, wobei in diesem Zusammenhang meist auf den kompensatorischen Charakter der Werke hingewiesen wird.17

L IV schließlich ist die mystisch-religiös-allegorische Ebene (besonders im Spätwerk), die halb latent, halb auch manifest ist, insofern May selbst immer wieder auf das Sinnbildhafte seiner Darstellung hingewiesen hat. So steht etwa zu lesen im dritten von Karl Mays sogenannten Kunstbriefen (hier auch Karl May über sich selbst in der dritten Person: „denn May ist Metaphysiker …“):

Um das Buch Im Reiche des silbernen Löwen zu verstehen, muß man den Verfasser kennen [!]. Seine Reiseerzählungen sind als nur ‚sogenannte‘ zu bezeichnen. Sie haben eine Doppelnatur. Oder vielmehr, sie gleichen genau dem Menschen, der Körperliches und Geistiges, Sinnliches und Übersinnliches zu einer Persönlichkeit in sich vereinigt. Mays Erzählungen sind geschriebene Persönlichkeiten, in natürlicher Wahrheit atmend, ohne beabsichtigte Kunst. Dann wäre der große Erfolg, den seine Bücher haben, ganz von selbst erklärt! Jedes dieser Bücher hat, grad wie der Mensch, einen Körper, einen Geist, eine Seele, und diese Dreiheit ist, wie auch beim Menschen, so innig verbunden, daß die Grenzen verschwinden und die Dreiheit zur Einheit wird. Was der Körper der Reiseerzählungen tut, scheint abenteuerlich und völlig zwecklos zu sein und ist in Wirklichkeit auch Nebensache, das sichtbare Gefäß für den unsichtbaren, wertvollen Inhalt. Denn während dieser Körper sich scheinbar ohne höhere Absichten durch fremde Länder und Völker bewegt, wandern Geist und Seele durch unsichtbare Welten, um Entdeckungen zu machen, auf welche die eigentliche Absicht des Autors gerichtet ist. Denn May ist Metaphysiker, ist vor allen Dingen Psycholog. Wer ihn begreifen will, hat hinter seinen Körpern nach dem Geist und nach der Seele zu forschen und das sichtbar Geschehende auf unsichtbares Gebiet zu übertragen. So auch hier, bei Im Reiche des silbernen Löwen.18

Mir ist es im Folgenden hauptsächlich um die Beziehungen zwischen L I und L IV zu tun, also um die allegorische Aufladung May’scher Abenteuerlandschaften, und ich sehe gerade hierin, ebenso wie in der Tendenz zur Chiffrierung autobiographischer Episoden in den Werken, auch eine zentrale Gemeinsamkeit zwischen den Schreibweisen Karl Mays und Ernst Jüngers. Die Schmidt’schen Lesemodelle ließen sich auf Ernst Jünger übertragen; man müsste nur in L IV die mystisch-religiöse durch die politisch-zeitgeschichtliche Allegorisierung ersetzen.

Von Sitara zu den Marmorklippen

Ich will das im Folgenden am Vergleich zweier Landschaften exemplifizieren: Karl Mays Sitara in Ardistan und Dschinnistan und Ernst Jüngers Marmorklippen. Ich bin dabei nicht die erste, die in der allegorischen Dimension dieser Landschaften eine Strukturverwandtschaft zwischen den Erzählweisen Karl Mays und Ernst Jüngers gesehen hat. So schrieb der Schweizer Kritiker Hans Näf schon 1941 in einer kritischen Rezension von Auf den Marmorklippen:

Jünger […]schreibt so, als hätte ihm der Weltgeist seine Absichten offenbart und ihn also befähigt, sie objektiv darzustellen. […] Solchem Bann entzieht man sich vielleicht am besten, wenn man das Mittel betrachtet, durch das er zustande kommt: […] Da fällt in unserer Erzählung vor allem eine Hypertrophie des Allegorischen auf, die man als symbolistischen Komfort zu bezeichnen versucht ist. Vieles erinnert unwiderstehlich an Karl May (man betrachte daraufhin etwa den Abschnitt 23), nur daß es bei Jünger noch mit ganz anderem Anspruch auftritt. Es wäre wohltuend, wenn der Dichter solcher Erkenntnisse selber in einem zynischen Sätzlein Raum gäbe; indessen das bleibt aus, es sei denn, das Zynische liege in der Handhabung der faustdicken Symbolik und im Nachfeixen großer Gebärden selbst.19

In einem Aufsatz von 1982 mit dem Titel „Sitara und die Marmorklippen“ griff Günter Scholdt diesen Hinweis auf, kritisierte aber, dass Näf die Gemeinsamkeit zwischen Jünger und May „lediglich in Äußerlichkeiten gesehen“ habe, nämlich in „der Parallelität von Kampfhandlungen und deren Begleiterscheinungen“20 – das Kapitel 23 von Auf den Marmorklippen handelt von den Vorbereitungen eines Feldzugs gegen den Oberförster. Viel wichtiger „und für den Vergleich beider Autoren bedeutsamer“ sei jedoch die Gemeinsamkeit der erzählerischen Mittel, „die Tatsache, daß die sinnbildhaften Züge über die Figuren hinaus auf die Romantopographie ausgedehnt“ werden – „eine Darstellungsweise [nämlich die allegorische, S. L.], die in der literarischen Moderne kaum Parallelen hat.“21

Scholdt spricht von der „modellhaft-allegorischen Grundkonzeption ganzer Handlungen und Schauplätze“22, die sich bei Karl May durchgängig, bei Jünger aber auch nicht nur in Auf den Marmorklippen, sondern in einzelnen Partien bereits ab dem überarbeiteten Abenteuerlichen Herzen finde – letzteres ist wichtig, weil Auf den Marmorklippen ja immer wieder als „Allegorie der Vorgänge im [damaligen] Europa“23 gelesen worden ist (obwohl Jünger das nach 1945 von sich gewiesen hat) und so die Tendenz zur Chiffrierung einseitig als Versuch Jüngers gewertet wurde, der Zensur im Dritten Reich zu entgehen. Rückt man von dieser Lesart ab, so ergeben sich jedoch hier noch ganz andere Perspektiven, und zwar solche, die sich auch nicht einfach auf den Einfluss der jugendlichen Karl May-Lektüre auf Jüngers Bildung als Schriftsteller reduzieren lassen (dieser Einfluss ist ja von und für Jünger vielfach belegt), sondern es ergeben sich Perspektiven, die für beide Autoren in vormoderne Traditionen der allegorischen Reise zurückweisen und die mir gerade deswegen für die Erzählformen des Abenteuers in der Moderne besonders bedeutsam erscheinen. Bevor ich dazu komme, soll jedoch hier zunächst die Topographie der fraglichen Landschaften selbst geschildert werden.

Sitara (das Land der Sternenblumen) ist eine fiktive Landschaft im Spätwerk Karl Mays ohne genaue Lokalisation. 1907/1908 in Ardistan und Dschinnistan I heißt es: „Meine neue Erzählung beginnt in Sitara, dem in Europa fast gänzlich unbekannten ‚Land der Sternenblumen‘, von dem ich im Reiche des silbernen Löwen erzählt habe.“24

Es handelt sich um ein Land, das irgendwo zwischen Nahem und Fernem Osten gesucht werden müsste, und zwar auf der Südhalbkugel. Seine Hauptstadt heißt Ikbal und liegt auf einer Insel in einem Flussdelta am Meer. Die Regentin von Sitara ist Marah Durimeh, die „Menschheitsseele“. Sitara liegt in Ardistan und Dschinnistan mehrere Tagesreisen zur See vom Wohnort der Ussul im Süden von Ardistan entfernt und ist dort eher als Mythos denn als Realität bekannt, auch wenn einige der Ussul ihre Herkunft auf Sitara zurückführen.

Marah Durimeh will einen drohenden Krieg zwischen Ardistan und Dschinnistan verhindern. Deshalb sendet sie Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar mit einem Schnellsegler an die Küste von Ussulistan.

In Mays Autobiographie Mein Leben und Streben (1910) finden wir als Eingangskapitel „Das Märchen von Sitara“, in dem dieser Ort nun allerdings zu einem eigenen Planeten verselbständigt wird, der sich von der Erde hauptsächlich dadurch unterscheidet, dass das Festland auf ihm zusammenhängt und nur einen einzigen Kontinent bildet. Dieser Kontinent ist dreigeteilt: Er zerfällt in „ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland“ (Ardistan) und „ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland“ (Dschinnistan), die beide durch einen schmalen, steil aufsteigenden Urwaldstreifen verbunden sind (Märdistan)25, in dessen Herzen wiederum der „Wald von Kulub“ und in ihm die „Geisterschmiede“ liegt – ein Ort, den May vor allem in seinem einzigen vollendeten Drama (mit dem Titel Babel und Bibel) geschildert hat. „Ard“ (in Ardistan) heißt May zufolge

[…] Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der Gewalt- und Egoismusmenschen.26

Das Hochland Dschinnistan hingegen ist „gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse der Sonnenstrahlen, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies.“27 Dschinni heißt May zufolge

[…] Genius, wohltätiger Geist, segensreiches, unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen.28

Die Besseren der Bewohner Ardistans sehnen sich nun aus ihren miasmischen Niederungen hinauf ins paradiesische Hochland. Da sie aber gebraucht werden,

[…] ist es Jedermann auf das allerstrengste verboten, Ardistan zu verlassen, um sich dem Druck des dortigen Gesetzes zu entziehen. Die schärfsten Strafen aber treffen den, der es wagt, nach dem Lande der Nächstenliebe und der Humanität, nach Dschinnistan zu flüchten. Die Grenze ist besetzt. Er kommt nicht durch. Er wird ergriffen und nach der ‚Geisterschmiede‘ geschafft, um dort gemartert und gepeinigt zu werden, bis er sich vom Schmerz gezwungen fühlt, Abbitte leistend in das verhaßte Joch zurückzukehren.29

Zwischen Ardistan und Dschinnistan nämlich liegt Märdistan, „jener steil aufwärtssteigende Urwaldstreifen, durch dessen Baum- und Felsenlabyrinthe der unendlich gefahrvolle und beschwerliche Weg nach oben geht.“ „Märd“ ist Karl May zufolge ein persisches Wort; es bedeute „Mann“.

Märdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur „Männer“ wagen dürfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde. Der gefährlichste Teil dieses fast noch ganz unbekannten Gebietes wiederum ist der „Wald von Kulub“. Kulub ist ein arabisches Wort; es bedeutet die Mehrzahl des deutschen Wortes „Herz“. Also in den Tiefen des Herzens lauern die Feinde, die man, einen nach dem andern, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will. Und mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual zu suchen, von dem es in Babel und Bibel […] heißt:

‚Zu Märdistan, im Walde von Kulub,
Liegt einsam, tief versteckt, die Geisterschmiede.
Da schmieden Geister?‘
,Nein, man schmiedet sie!
Der Sturm bringt sie geschleppt, um Mitternacht,
Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
Der Haß wirft sich in grimmer Lust auf sie.‘
Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.
Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen.
Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.
Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus.
Und Alles, was du hast und was du bist,
Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
Gedanken und Gefühle, Alles, Alles
Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
Bis in die weiße Glut – – –‘30

Ergänzt wird das Ganze noch durch eine Sage, die „jeder Bewohner des Sternes Sitara kennt“, derzufolge die Engel und die Teufel um die Seelen der Menschen streiten und sie je nach Ausgang in Ardistan oder in Dschinnistan geboren werden. Nur den Allerwenigsten, so schließt das Märchen, sei die Kraft gegeben, das Purgatorium der Geisterschmiede zu ertragen und geläutert und gestählt nach Dschinnistan emporzusteigen. Erst nach dieser ausführlichen Schilderung von Sitara beginnt, wie schon erwähnt, die eigentliche Autobiographie mit dem Satz: „Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.“31

An dieser allegorischen Landschaft fällt zunächst wiederum die gewissermaßen manichäische Struktur, ihr strenger Dualismus zwischen gut und böse, hoch und niedrig, Geist und Materie, „Egoismusmenschen“ und „Edelmenschen“ auf, der Mays Werk insgesamt kennzeichnet:

Ich teilte mir die Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. In Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden.32

Von „manichäischen Allegorien“ hat (im Anschluss an Jan Mohamed) Florian Sedlmeier in Bezug auf die Kolonialliteratur und ihre diskursiven Stereotypen gesprochen,33 die bei Karl May auch eine Rolle spielen. Sitara speziell scheint jedoch, worauf bereits Dörthe Schilken hingewiesen hat34, eher an ein anderes dichotomisches Modell anzuknüpfen, nämlich an das der allegorischen Pilgerreise, wie wir sie etwa bei Bunyan oder Jung-Stilling finden (dessen Lebensgeschichte May gekannt haben könnte). Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Sitara und der christlichen Pilgerallegorie zählen, neben der grundlegenden Dichotomie von dieser und jener Welt – Ardistan und Dschinnistan –, das Motiv der „engen Pforte“ – bei May die „Geisterschmiede“ –, die Umsetzung geistiger Anstrengungen in topographische Steigungen und von Ruhezeiten in idyllische Landschaften, daher „die Gegensätzlichkeit der Landschaftsformen innerhalb des geschlossenen allegorischen Systems.“35 Auch bei Bunyan und Jung-Stilling wird die Wildnis zum „Prüfungsraum, dem man sich aus freien Stücken nicht entziehen darf“36, der Weg des Helden daher zu einem Stationenweg, der von Prüfung zu Prüfung führt. Typisch sind auch die sprechenden Namen dieser Prüfungs-Topoi, die ihrerseits wieder Unter-Allegorien bilden: „Der Berg der Beschwernis“, „der Palast der Schönheit“, „das Tal der Demütigung“ usw. bei Bunyan; bei May die Stadt der Toten, der Fluss Ssul (= Versöhnung, Friede), der Beginn der Reise in Ussulistan (Ussul = Ursprung), wo Kara Ben Nemsi mit dem Schiff Wihlade ankommt (was soviel heißt wie „Geburt“); schließlich auch die Figuren der Begleiter und Helfer (Hadschi Halef Omar und der Dschirbani) und das Gegeneinander von guter und böser Herrschaft (der beiden Mirs). Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar erreichen Dschinnistan allerdings nicht; der Roman endet an der Grenze von Ardistan.

Eine vergleichbare allegorische Konstruktion, wenngleich invers und im Übrigen auch komplizierter strukturiert, findet sich nun aber auch in Jüngers Marmorklippen. Auch hier handelt es sich um eine fiktive, nicht genau lokalisierbare Landschaft, irgendwo im südlichen Europa (als einzige geographisch lokalisierbare Referenz wird mehrfach Burgund – im Westen der Marina – benannt). Auch bei Jünger haben wir es mit einer grundlegenden Dichotomie zu tun, diesfalls zwischen der mediterranen, zivilisierten Kulturlandschaft der Marina im Süden und dem Hochwald als dem Reich des Oberförsters und der Gewalt im Norden. Zwischen Marina und Hochwald liegen die titelgebenden Marmorklippen mit der Rautenklause, zeitweiligem Wohnsitz des Ich-Erzählers und seines Bruders, und ein Landstrich namens Campagna, dessen Übergang in den Herrschaftsbereich des Oberförsters nach Norden hin uneindeutig ist. Der May’schen Geisterschmiede entspricht bei Jünger die Folterstätte Köppelsbleek am Fillerhorn im Hochwald, die der Ich-Erzähler und sein Bruder bei einer botanischen Exkursion auf der Suche nach dem „Roten Waldvögelein“ – einer Pflanzen-Spezies – zufällig entdecken. Ebenso wie mit Mays Geisterschmiede ist bei Jünger mit diesem Ort die Vorstellung einer möglichen Läuterung und Stählung als Voraussetzung des Zugangs zu irgendeinem ‚höheren Leben‘ verbunden. Es handelt sich bei Jünger um eine Schädelstätte, an der – aufgespießt auf Eisenspitzen – der Ich-Erzähler beim finalen Kampf zuletzt auch die Köpfe des Fürsten von Sunmyra und Bracquemarts, der beiden wichtigsten Antagonisten des Oberförsters, findet.

Der vom Rumpf getrennte und aufgespießte Schädel des Fürsten von Sunmyra wird vom Ich-Erzähler folgendermaßen beschrieben:

Dem jungen Fürsten war nun das Haar gebleicht, doch fand ich seine Züge noch edler und von jener sublimen Schönheit, die nur das Leid erzeugt.

Ich fühlte bei diesem Anblick die Tränen mir in die Augen schießen – doch jene Tränen, in welchen mit der Trauer uns herrlich die Begeisterung ergreift. Auf dieser bleichen Maske, von der die abgeschundene Haut in Fetzen herunterhing und die aus der Erhöhung am Marterpfahle auf die Feuer herniederblickte, spielte der Schatten eines Lächelns von höchster Süße und Heiterkeit, und ich erriet, wie von dem hohen Menschen an diesem Tage Schritt für Schritt die Schwäche abgefallen war – so wie die Lumpen von einem König, der als Bettler verkleidet ging.37

Die Parallelen zur May’schen Geisterschmiede, wo ebenfalls „die Fetzen […] heiß nach allen Seiten (fliegen)“, sind auffällig, und auch durch den „Marterpfahl“ sind Mays ‚Indianer‘ ja in der zitierten Passage präsent. In Babel und Bibel heißt es:

Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten,
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
Und dennoch mußt du wieder in das Feuer – –
Und wieder – – immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.38

Man muss in gewisser Weise dankbar dafür sein, dass Karl May zumindest in Ardistan und Dschinnistan seine Helden über die Grenze von Ardistan nicht hinauskommen ließ und ihnen (und seinen Lesern) so die „Geisterschmiede“ ersparte. Der Gedanke einer Läuterung durch Schrecken war schon 1909, bei Erscheinen von Ardistan und Dschinnistan, verfehlt, 1939 (bei Erscheinen von Auf den Marmorklippen) war er es vollends.

Im Übrigen ist aber nun bei Jünger der Aufbau der Pilgerallegorie gleichsam umgekehrt.39

In den Niederungen, unten an einem großen Binnensee, liegt die in der Erinnerung des Ich-Erzählers doppelt verklärte paradiesische Kulturlandschaft der Marina, die als „ein Kranz von kleinen Städten“ beschrieben wird, in denen es sowohl Türme aus der Römerzeit als auch Dome, Merowingerschlösser, Burgen und Klöster gibt und die von fruchtbaren Weinbergen umgeben sind. Die Inseln in der Großen Marina werden vom Ich-Erzähler und seinem Bruder scherzhaft die „Hesperiden“ genannt. Oben im Hochwald gelegen ist dagegen diesfalls das Reich des Bösen, des Oberförsters, der als blutiger Tyrann und Fürst dieser Welt geschildert wird, der im Lauf der Erzählung die Marina erobert und zerstört. Er ist zugleich der „Alte Herr“ der Mauretanier, eines Geheimordens, dem früher auch der Ich-Erzähler und sein Bruder angehörten, von dem sie sich jedoch nach dem Feldzug gegen Alta Plana, vor der erzählten Zeit gelegen, zugunsten eines zurückgezogenen Gelehrtenlebens in den Weinbergen oberhalb der Marina, am Fuß der Marmorklippen, distanziert haben. Diese Rautenklause, Wohnsitz der Brüder, wird selbst als ein paradiesischer Ort geschildert, bevölkert von seltenen Pflanzen und Tieren, zu denen insbesondere zahme Lanzenottern gehören, die von Erio, dem unehelichen Sohn des Erzählers, mit Milch gefüttert werden. Von der Rautenklause aus führt ein schmaler, in den Fels gehauener Steg hinauf auf die Höhe der Marmorklippen, von wo aus man die gesamte geschilderte Landschaft überblicken kann. Dieser Steg entspricht der „engen Pforte“ der Pilgerallegorie, nur dass sie hier nicht dem Aufstieg in eine bessere Welt, sondern am Schluss der Erzählung dem Einfall der Hetzmeuten des Oberförsters in die Marina dient. Das Leben der Protagonisten wird durch die Lanzenottern gerettet, die der Knabe Erio gegen die einfallenden Feinde in Stellung bringt. Die Brüder verlassen die Rautenklause und retten sich aus der brennenden Marina mit einem Schiff nach Alta Plana (auch dies eine Umkehrung der Anordnung in Ardistan und Dschinnistan).

Der Weg von der Marina über die Campagna in den Hochwald wird als ein Weg zunehmender Rechtlosigkeit geschildert. In der Marina herrscht eine althergebrachte Rechtsordnung, die im Verlauf der Erzählung vom Oberförster und seinem „Waldgelichter“ unterminiert wird. Er rekrutiert seine Truppen auf der Campagna, wo ein archaisch anmutendes Volk von Hirten lebt, bei dem das Fehderecht gilt, zu dem sich aber auch all jene flüchten, die in der Marina mit dem Gesetz oder der Sitte in Konflikt geraten sind. „Vom Arrest bedrohte Schuldner und Scholaren, entsprungene Mönche und fahrendes Gelichter, aber auch junge Leute, die nach Freiheit streben und Liebespaare, die nach Art der Schäfer leben wollen“,40 trifft man hier an, und es sind diese (wie Karl May) aus der Ordnung Gefallenen, mit deren Hilfe der Oberförster nach und nach seine Tyrannenherrschaft ausweitet.

Dass man Ardistan und Dschinnistan als einen Intertext von Auf den Marmorklippen betrachten kann, scheint unstreitig. „Beider Staats-, Gesellschafts- oder Menschheitsmodelle entfalten sich“, dies hat auch Günter Scholdt konstatiert,

[…] in typischen Traumlandschaften, in denen die Realität sich hinter allegorischer Maske verbirgt. Es geht in beiden Werken um die Bedrohung einer friedfertigen Gesellschaft durch despotisch-anarchistische Mächte. In Jüngers Text figuriert der geheimnisvolle Oberförster als zerstörerisches Prinzip, der die Kulturlandschaft der Marina in Urwald zurückverwandeln will. Ähnlichen Stellenwert im moralischen Koordinatensystem besitzt bei May zunächst der Mir von Ardistan, ein Gewaltmensch und schrankenloser Tyrann, bzw. der Panther, sein Rebellen-Nachfolger, als Verkörperung niederer Leidenschaften. Gegenspieler des Bösen sind jeweils die Ich-Erzähler und ihre Gefährten. Pater Lampros, der märtyrerhafte Adept des Nigromontan, der durch seine Anweisung die Auseinandersetzung mit dem Oberförster herbeiführt, und Marah Durimeh, die Menschheitsseele, die Kara Ben Nemsi die Prüfung anempfiehlt, entsprechen sich in ihrer epischen wie symbolischen Funktion.41

Über die von Günter Scholdt und Dörthe Schilken konstatierten Parallelen hinaus scheinen mir jedoch auch die Differenzen bedeutsam, insbesondere die Umkehrung der Pilgerallegorie, die Ardistan und Dschinnistan noch als positives (wenn auch unerfülltes), Auf den Marmorklippen jedoch nur noch als negatives Schema zugrunde liegt – es sei denn, man wollte den Schluss von Auf den Marmorklippen, die Einkehr der geretteten Helden in den Hof am Eichenhain auf Alta Plana, als Wiederherstellung des Schemas nehmen. Der letzte Satz von Auf den Marmorklippen würde dies zulassen: „Da schritten wir durch die weit offenen Tore wie in den Frieden des Vaterhauses ein“.42 Bei Karl May dagegen lautet der Schluss: „Wir aber wendeten unsern weiteren Aufstieg nun den Bergen, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, und unserm hohen, weiteren Ziele zu.“43

Abschließend nun noch einmal zurück zu Arno Schmidts Lese-Modellen. Die ‚Investitur‘ der Landschaftsdarstellungen (L I) mit allegorischem (religiösem/ zeitgeschichtlichen) Sinn (L IV) bei May und Jünger sollte deutlich geworden sein. Über die Pilgerallegorie hinaus oder hinter sie zurück verweist die narrative Organisation beider Texte allerdings auch durch ihre Gemeinsamkeiten mit den durch Bachtin beschriebenen Chronotopoi des spätantiken abenteuerlichen Prüfungsromans.44 Die (auto)biographische Chiffrierung der Texte (L III), die hier nur gestreift wurde, ließe sich mühelos nachtragen. Karl May liefert den Schlüssel selbst, indem er seine Autobiographie mit dem „Märchen von Sitara“ beginnt und seinen Geburtsort Ernstthal im Sächsischen45 mit Ardistan identifiziert. Und auch für Jüngers Marmorklippen sind die halbverschlüsselten autobiographischen Bezüge, ohnehin für Jünger ebenso typisch wie für May, vielfach nachgewiesen: von der Parallelität der Biographien der beiden Brüder in Auf den Marmorklippen mit denen von Ernst und Friedrich Georg Jünger bis hin zum Überlinger „Weinberghaus“ am Bodensee, in dem Jünger mit seiner Familie vom Herbst 1936 bis zum Frühjahr 1939 wohnte und im Februar 1939 die Marmorklippen zu schreiben begann, als Vorbildern für die Rautenklause und die Marina.46

Über L II (die Ebene der Sexualsymbolik) ließe sich trefflich streiten. Man muss es nicht, wie Arno Schmidt, für ein „Bildungsgesetz aller Sprachen überhaupt“47 halten, Körperteile mit Landschaften und Dingen zu parallelisieren (Meer-Busen, Schiffs-Rumpf, Wald-Rücken, Fuß des Berges etc.), um auch bei Jünger über (ent)sprechende Namen zu stolpern. Auch das durchweg männliche (sprich: weitgehend frauenfreie) Setting ihrer literarischen (nicht jedoch ihrer ‚lebensweltlichen‘) Räume teilen beide Autoren mit der ebenfalls weitgehend frauenfreien Abenteuerliteratur, die sich zumindest darin denn doch kategorial von den spätantiken Liebesromanen unterscheidet. Wo Frauenfiguren in den Texten etwa doch auftauchen, sind sie entweder entsexualisierte Heilige (wie etwa Marah Durimeh, Karl Mays „Menschheitsseele“) oder Huren (dann heißen sie zum Beispiel „Fiekchen“, wie das Hausmädchen aus Jüngers Erzählung Die Zwille), oder sie müssen, wie Winnetous Schwester Nscho-Tschi (= „Schöner Tag“), die ihrem Bruder zum Verwechseln ähnlich sieht und Old Shatterhand mit Ehe bedroht, allsogleich entsorgt und aus der Erzählung wieder verabschiedet werden, indem sie, bevor die libidinöse Sache allzu ernst werden kann, einem Überfall der „Bösen“ zum Opfer fallen (für mehr als einen schönen Tag reicht die Frauen-Bindung nicht). Wie im Übrigen auch Winnetous Vater Intschu-Tschuna (= „Gute Sonne“) seinen Geist aufgeben muss, denn dass „kein Gesetz gilt als nur das des Stärkeren“, also auch kein väterliches, ist die Voraussetzung für eine letzte Anstrengung des (literarischen) Heldentums, randalierende Ehefrauen (Gretha Jünger, Emma und Klara May, genannt „Miez und Mausel“) hin oder her. Dass es in Wirklichkeit (‚in echt‘) auch keine Abenteuer-Landschaften mehr gibt, sondern nur noch den kalten Himmel, der sich über den Webervierteln von Ernstthal, dem Zuchthaus Waldheim oder über den Schützengräben des Ersten Weltkriegs wölbt (da war zwar Karl May, †30. März 1912 in Radebeul, schon tot), „totale transzendentale Obdachlosigkeit“48 mithin, ist weder für May noch für Jünger literaturfähig und wird daher verschwiegen oder hinter Pilger-Allegorien versteckt. Der mehrfache Schriftsinn bleibt davon jedoch unangetastet. Zu fragen wäre, ob und wie sich das von Arno Schmidt am Beispiel Karl Mays entwickelte Schichtenmodell literarischer Texte, das gerade für eine Philologie des Abenteuers bedeutsam erscheint, übertragen und weiterentwickeln ließe.

1

Ernst Jünger, Reisetagebücher, in: ders., Sämtliche Werke, 22 Bände, Stuttgart: Ernst Klett-J. G. Cotta 2015, Tagebücher VIII, Bd. 8, S. 348.

2

Karl May, Zit. nach Dieter Sudhoff, „Der beflügelte Mensch. Traumflug, Aviatik und Höhenflug bei Karl May“, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (1986), S. 110–154, hier S. 149.

3

nach Arno Schmidt, Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1998, S. 311 f. u.ö.

4

Karl May, Durch Wüste und Harem. Reiseerlebnisse von Carl May, in: Carl May’s gesammelte Reiseromane, 33 Bände, Freiburg i.Br.: Friedrich Ernst Fehsenfeld 1892–1910, Bd. 1, S. 26. https://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/reise/gr/gr01/gr01-txt.pdf (21.11.2019).

5

Helmut Schmiedt, „Handlungsführung und Prosastil“, in: Gert Ueding (Hg.), Karl-May-Handbuch, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 131–152, hier S. 142.

6

Schmiedt, „Handlungsführung“, S. 136.

7

Helmut Schmiedt, „Helmers Home und zurück. Das Spiel mit Räumen in Karl Mays Erzählung Der Geist des Llano estakado“, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (1982), S. 60–76, hier S. 60. Vgl. auch Volker Klotz, „Durch die Wüste und so weiter. Zu Karl May“, in: Trivialliteratur. Aufsätze, hg. v. Gerhard Schmidt-Henkel, Berlin: Literarisches Colloquium 1964, S. 33–52, hier S. 35.

8

Schmidt, Sitara, S. 57 f.

9

Volker Depkat, „Gefahrensuche in einer abenteuerlosen Welt. Zur narrativen Konstruktion von Abenteuerräumen im Werk von Karl May“, in: Abenteuer. Zur Geschichte eines paradoxen Bedürfnisses, hg. v. Nicolai Hannig u. Hiram Kümper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, S. 127–163, hier S. 130 f.

10

Michail Bachtin, Chronotopos, Berlin: Suhrkamp 2008, S. 9. Bachtin unterscheidet (ebd.) „drei Grundtypen der Einheit des Romans“ in der Antike, die „die Entwicklung des gesamten Abenteuerromans bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht mitbestimmt“ hätten: die antike Biographie und Autobiographie, den „abenteuerlichen Alltagsroman“ (Apuleius und Petronius) und den „abenteuerlichen Prüfungsroman“, dessen organisierendes Zentrum die Idee der Erprobung des/der Helden sei.

11

Bachtin, Chronotopos, S. 24.

12

Schmidt, Sitara, S. 229 ff.

13

Schmidt, Sitara, S. 277. „S“ steht in Sitara und der Weg dorthin für „sexual, sexuell u. Varianten“.

14

Schmidt, Sitara, S. 128.

15

Karl May, Mein Leben und Streben und andere Selbstdarstellungen, in: ders., Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung, 105 Bände, hg. v. d. Karl-May-Gesellschaft, Bamberg Radebeul: Karl-May-Verlag 1987–2020, Abt. VI, Bd. 1, hg. v. Hainer Plaul, Ulrich Klappstein, Joachim Biermann u. Johannes Zeilinger, S. 13–265, hier S. 19.

16

Karl May, Old Surehand. 1. Band, in: Carl May’s gesammelte Reiseromane, Bd. XIV, S. 321. http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/reise/gr/gr14/gr14.pdf. (21.11.2019)

17

Vgl. die Übersicht bei Schmiedt, „Handlungsführung und Prosastil“, S. 131 f.

18

Radebeul-Dresden, den 7. Dezember 1906. Karl May, in: Der Kunstfreund. Illustrierte Zeitschrift für alle Freunde der schönen Künste, redigiert v. Leopold Gheri, 23.1 (1907), S. 9–12. Reprint in: Karl May, Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition, hg. v. Ekkehard Bartsch, Bad Segeberg: Collection die Schatulle, Abt. I,Gruppe a, H. 3.

19

Hans Näf, „Zu einem Buche von Ernst Jünger. Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen“, in: Die Weltwoche 9, (24.10.1941), S. 5; wiederabgedruckt in: Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen. Roman. Mit Materialien zu Entstehung, Rezeption und Debatte, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart: Ernst Klett-J. G. Cotta 2017, S. 268–271, hier S. 270.

20

Günter Scholdt, „Sitara und die Marmorklippen. Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays“, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 12 (1982), S. 158–169, hier S. 163.

21

Scholdt, „Sitara und die Marmorklippen“, S. 167.

22

Scholdt, „Sitara und die Marmorklippen“, S. 165.

23

So das Luzerner Tagblatt, zitiert bei Günter Scholdt, „Gescheitert an den Marmorklippen. Zur Kritik an Ernst Jüngers Widerstandsroman“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 98 (1979), S. 543–577, hier S. 553. Vgl. zur Deutungsgeschichte von Auf den Marmorklippen auch Helmut Kiesel, „Ernst Jüngers Marmorklippen. ‚Renommier- und Problembuch der 12 Jahre‘“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14.1 (1989),S. 126–164. http://iasl.uni-muenchen.de/register/kieselauf.htm (11.03.2020). Auch in Jünger, Auf den Marmorklippen, spricht Kiesel noch vom „allegorischen Charakter“ der Marmorklippen, „der auf allen Ebenen wahrzunehmen ist“ (S. 373).

24

Karl May, Ardistan und Dschinnistan. Reiseerzählung von Karl May. Erster Band, in: ders., Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung, 105 Bände, hg. v. d. Karl-May-Gesellschaft, Bamberg Radebeul: Karl-May-Verlag 1987–2020, Abt. V, Bd. 5, hg. v. Hermann Wiederoth, S. 9.

25

May, Mein Leben und Streben, S. 13.

26

May, Mein Leben und Streben, S. 13.

27

May, Mein Leben und Streben, S. 13.

28

May, Mein Leben und Streben, S. 14.

29

May, Mein Leben und Streben, S. 15.

30

May, Mein Leben und Streben, S. 15 f.

31

May, Mein Leben und Streben, S. 19.

32

May, Mein Leben und Streben, S. 126.

33

Florian Sedlmeier, „Die Allegorie in der postkolonialen Literatur und Literaturtheorie“, in: Allegorie. DFG-Symposion 2014, hg. v. Ulla Haselstein, Berlin u. Boston: de Gruyter 2016, S. 528–558.

34

Dörthe Schilken, Die teleologische Reise. Von der christlichen Pilgerallegorie zu den Gegenwelten der Fantasyliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.

35

Schilken, Die teleologische Reise, S. 56.

36

Schilken, Die teleologische Reise, S. 63.

37

Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, in: ders., Sämtliche Werke, Abt. 3, Erzählende Schriften I, Bd. 18, S. 247–351, hier S. 337.

38

Karl May, Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten, vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors, hg. v. Karl-Maria Guth, Berlin: Verlag der Contumax GmbH & Co. KG 2015, S. 57. May zitiert diese Passage – und damit den Mythos der „Geisterschmiede“ – selbst in „Mein Leben und Streben“, S. 16 f., und in Ardistan und Dschinnistan I, S. 282. Überflüssig zu erwähnen, dass Mays orientalistische Phantasie einen prominenten Platz in Arno Schmidts L II-Lektüren einnimmt: Er liest die Szene als „verzerrte Abbildung eines Sexualaktes unter Männern […]: rhythmisch überzeugend; gebührend ambivalent, wobei die masochistisch=passive Komponente zu überwiegen scheint“ (Schmidt, Sitara, S. 40). Im Übrigen ist Mays Babel und Bibel-Drama ein (weiteres) Kuriosum, sein persönlicher Beitrag zum sogenannten „Babel-Bibel-Streit“ um den Vorrang der babylonischen Kultur vor der jüdischen Religion und dem Alten Testament, den der renommierte Assyriologe Friedrich Delitzsch (1850–1922), Mitbegründer der deutschen Orientgesellschaft, durch einen Vortrag auslöste, den er am 13. Januar 1902 in Gegenwart von Kaiser Wilhelm II. in Berlin hielt. Vgl. zu dieser Kontroverse Reinhard G. Lehmann, „Der Babel-Bibel-Streit. Ein kulturpolitisches Wetterleuchten“, in: Babylon. Focus mesopotamischer Geschichte, Wiege früher Gelehrsamkeit, Mythos in der Moderne. 2. Internationales Colloquium der Deutschen Orient-Gesellschaft 24.–26. März 1998 in Berlin, hg. v. Johannes Renger, Saarbrücken: Saarbrücker Dr. und Verl. 1999, S. 505–521.

39

Das ist Dörthe Schilken, Die teleologische Reise, entgangen, die zwar sehr richtig die beiden Texte aufeinander und beide auf das Schema der Pilgerallegorie bezieht, aber den topographischen Details nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt.

40

Jünger, Marmorklippen, S. 274.

41

Scholdt, „Sitara und die Marmorklippen“, S. 166.

42

Jünger, Marmorklippen, S. 351.

43

Karl May, Ardistan und Dschinnistan. Reiseerzählung von Karl May. Zweiter Band, in: ders., Karl Mays Werke, Abt. V, Bd. 6, S. 523.

44

Bachtin, Chronotopos, S. 24. Die Klärung der literaturgeschichtlichen Beziehungen zwischen Pilgerallegorie und spätantikem Prüfungsroman sowie der systematischen Beziehungen zwischen Chronotopos und Allegorie geht über den Rahmen des vorliegenden Artikels hinaus und kann hier nur als Desiderat vermerkt werden. Bachtin selbst betont die „organisatorische Bedeutung der Erprobungsidee“ in verschiedenen „europäischen Varianten des Prüfungsromans“, vom mittelalterlichen Ritterroman über den Barockroman und die „Erprobung des napoleonischen Parvenüs im französischen Roman“ des 19. Jahrhunderts bis hin zur „drittrangigen Romanproduktion“ späterer Tage (ohne konkrete Beispiele). (Bachtin, Chronotopos, S. 32 f.) Auf die Pilgerallegorie geht er indes ebenso wenig ein wie auf Allegorie oder Allegorese überhaupt, obwohl konventionalisierte Chronotopoi wie Weg, Straße, Schloss oder Schiff zugleich allegorische Bedeutung haben bzw. umgekehrt Allegorien wie die Pilgerreise zugleich chronotopisch funktionieren.

45

Hohenstein-Ernstthal liegt im Osten des Landkreises Zwickau und ist inzwischen auch durch den Sachsenring bekannt, auf dem unter anderem das Deutschlandrennen der Motorrad-Weltmeisterschaft ausgetragen wird.

46

Vgl. zu Jünger die Überblicksdarstellung bei Matthias Schöning, „Auf den Marmorklippen (1939)“, in: ders. (Hg.), Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u. Weimar: Wiss. Buchges. 2014, S. 138–152, insbesondere den Abschnitt „Referenz“ (S. 141 f.).

47

Arno Schmidt, Sitara, S. 384.

48

So Helmut Lethen in einem schönen Interview über Ernst Jünger und „Das Ideal des Ganzkörperstahlhelms“, in: DIE ZEIT, 30.09.2010 Nr. 40. https://www.zeit.de/2010/40/Interview-Juenger (21.11.2019).

  • Collapse
  • Expand