Zwischen Heroik und Horror

Die Reflexion des Abenteuers in Apsley Cherry-Garrards The Worst Journey in the World

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Barbara Korte
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The very words ‚exploration‘ and ‚discovery‘ are often

elided in the popular imagination with ‚adventure‘.1

[The Worst Journey] is written in an idiosyncratic homemade prose which somehow

conveys the emotional pull of its age’s grand talk about heroism without

itself being captured by any of the heroic poses.2

I

Die Antarktis war einer der letzten großen realen Abenteuerräume des frühen 20. Jahrhunderts. Dieser Beitrag befasst sich mit Apsley Cherry-Garrards The Worst Journey in the World (1922), einem Memoirenband, der in Großbritannien im annus mirabilis der literarischen Moderne erschien, als unter anderem T. S. Eliots The Waste Land und James Joyces Ulysses erstmals veröffentlicht wurden. Cherry blickt darin auf seine Teilnahme an Robert Falcon Scotts Terra Nova-Expedition (1910–1913) zurück, in deren Verlauf Scott und vier seiner Gefährten (Wilson, Bowers, Oates und Evans) auf dem Rückweg vom Südpol ums Leben kamen. Die zunächst dominante Lesart dieses schlecht ausgegangenen Abenteuers fokussierte auf das heroisch-maskuline Ethos, mit dem die Männer nach einem langen Leidensweg gefasst in den Tod gingen – als Opfer für ihr Land, dessen Empire und die Wissenschaft.3 Cherrys Memoiren, die ein Jahrzehnt nach der Expedition und mehrere Jahre nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg erschienen, erzählen eine ambivalentere Geschichte. Die Erfahrungen in der Antarktis und an der Westfront verschmelzen in Cherrys Erinnerung zu einem großen Trauma, von dem er für den Rest seines Lebens gezeichnet war. Wie er am Ende seines einleitenden Kapitels schreibt:

I need hardly add that the nine years’ delay in the appearance of my book was caused by the war. Before I had recovered from the heavy overdraft made on my strength by the expedition I found myself in Flanders looking after a fleet of armoured cars. A war is like the Antarctic in one respect. There is no getting out of it with honour as long as you can put one foot before the other. I came back badly invalided; and the book had to wait accordingly.4

In The Worst Journey begegnen sich ein im 19. Jahrhundert etabliertes Narrativ der imperialen Exploration und ein Narrativ des Traditionsbruchs, das in der Vorstellung vom Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts eine markante Metapher gefunden hat.5 Das Buch ist deshalb – in den wenigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten, die es bislang zu ihm gibt – explizit in Bezug zur Moderne gesetzt worden. Für Nicoletta Brazzelli etwa dekonstruiert Cherry überkommene Sinntopoi der Polarreise und präsentiert die eisige antarktische Landschaft als Szenerie der Entfremdung, Leere und Sterilität:

At first glance, Cherry-Garrard’s seems basically a traditional work, a classic travel account, but the constant references to images of loss and sterility, as well as the revelation of a fragmented and disturbed post-war sensibility, are at the heart of Cherry’s narrative. The final and often ironic emphasis on the substantial futility of imperial enterprises in remote and unknown lands does emphasize the modernity of the work, whose title was suggested by Cherry’s friend and neighbour George Bernard Shaw.6

In den folgenden Abschnitten soll argumentiert werden, dass sich die Spannung zwischen Tradition und Moderne in The Worst Journey auch über das Abenteuer aufschließen lässt. Immerhin führt das Buch die Liste der „100 Greatest Adventure Books of All Time“ an, die das National Geographic Adventure Magazine 2001 als Ergebnis einer Umfrage veröffentlichte.7 In der Tat stößt man in Cherrys Buch nicht nur auf die Vokabel „Abenteuer“, sondern auf alle grundlegenden Elemente, die das Abenteuer als Erzähl-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsschema definieren:8 es gibt nicht nur einen Helden (im Sinn von Protagonist wie auch heroisierter Figur); eine grenzüberschreitende Bewegung im Raum findet in extremster Form statt; Momente gefährlicher Kontingenz werden in großer Zahl beschrieben; Cherry ist sehr deutlich eine autobiographische Erzählinstanz, die bemüht ist, Zusammenhänge einer hochgradig kontingenten Erfahrung herzustellen. The Worst Journey spaltet die Terra Nova-Expedition in eine ganze Reihe abenteuerlicher ‚Fahrten‘ auf: allein nach Ankunft des Schiffs in der Antarktis gibt es „The Depot Journey“ (Fahrten, die vom Basislager durchgeführt wurden, um Depots für den späteren Marsch zum Südpol anzulegen), „The Winter Journey“ (Cherrys großes persönliches Abenteuer auf der Suche nach Königspinguineiern), „The Polar Journey“ (Scotts Weg zum und Rückweg vom Pol) und „The Search Journey“ (die Suche der Überlebenden nach der verschollenen Polmannschaft). Für alle diese Fahrten beschreibt Cherry hohe Risiken, Gefahren, große Strapazen und zahlreiche unvorhergesehene Widrigkeiten. Rückblickend schreibt er: „Of course the whole business simply bristles with ifs“.9

Der Ruf von The Worst Journey als Klassiker der Reise- und Explorationsliteratur gründet nicht nur im Thema der Abenteuerlichkeit, sondern auch in den Textverfahren und der Belesenheit, mit der diese Abenteuerlichkeit zur Darstellung kommt.10 Cherry, der in Oxford „Classics“ und „Modern History“ studierte, sah manche Erscheinungen der modernen britischen Gesellschaft (insbesondere ihre Kommerzialisierung11) mit Skepsis, und auch die vielen literarischen Verweise, die seine Memoiren durchziehen, zeugen von einem eher konservativen Geschmack – nicht nur bei Zitaten aus älterer Literatur (u.a. Dante, Shakespeare und George Herbert, ein englischer Dichter des 17. Jahrhunderts), sondern auch in Referenzen auf zeitgenössische Schriftsteller. Von den in der Bordbibliothek der Terra Nova vertretenen neueren Autoren schätzte Cherry vor allem J. M. Barrie, Rudyard Kipling, H. S. Merriman und Maurice Hewlett,12 Autoren, die zumindest gelegentlich auch Abenteuerromane verfassten. Nach seiner Winterreise vertiefte sich Cherry zur Erholung in Kiplings Kolonialroman Kim.

Es ist die Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne, die The Worst Journey zu einem interessanten Testfall für die Abstoßungs- und Zurückweisungsgeschichte des Abenteuers macht. Wenn Abenteuer „Bahnungen im Gestrüpp der Kontingenz“ sind und „nach einer Reflexion über Zufall und Schicksal, über Wagnis, Risiko und Ereignishorizonte des Erzählens, über Sinnansprüche und Techniken der Sinnbildung“ verlangen,13 dann lässt sich all dies bei Cherry nachweisen, aber es bereitet ihm offensichtlich Probleme, seine Erfahrung der Terra Nova-Expedition noch als großes Abenteuer zu erzählen. Schon der erste, ironisch-distanzierende Satz seines Einleitungskapitels zu The Worst Journey signalisiert den Lesern, dass sie sich auf eine Revision ihrer Vorstellung nicht nur von Polarerkundung, sondern auch ihres Begriffs von Abenteuer(literatur) einlassen müssen:

Polar exploration is at once the cleanest and most isolated way of having a bad time which has been devised. It is the only form of adventure in which you put on your clothes at Michaelmas and keep them on until Christmas, and, save for a layer of the natural grease of the body, find them as clean as though they were new.14

Cherry fungierte auf der Expedition offziell als Assistent der Naturforscher, und die zitierte Stelle suggeriert mit ihrem doppelten Verweis auf Reinheit einen klinischen Blick auf die Unternehmung, einschließlich einer genauen Selbstbeobachtung des Explorators. Mit ihrem nüchternen Understatement evozieren die Sätze, mit denen Cherry seine Memoiren einleitet, ein Bild der weißen, isolierten Antarktis als Abenteuer-Labor;15 nur im Subtext seines Befundes klingt ein Element der Verwunderung über die merkwürdig reine Expeditionskleidung an. Es lässt, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass Cherry eines der jüngsten Mitglieder von Scotts Mannschaft war, an den Ritter Galahad aus der Artussage denken – den reinsten und jüngsten der Gralsritter. Zu Beginn von The Worst Journey kündigt sich so eine individuelle Sehweise an, die Sinntopoi zwar noch aufruft, sie aber auch destabilisiert und unterläuft. Auch wenn Cherry kein radikal-experimenteller Erzähler ist, bringt The Worst Journey seine Probleme mit Narrativ und Narration des Abenteuers in seinen Erzählverfahren zum Ausdruck. Der Text gerät so zu einer Reflexion darüber, ob man Erfahrungen, die das Potenzial für eine große Abenteuererzählung hatten, noch als Abenteuer erzählen kann. Und weil im frühen 20. Jahrhundert das Abenteuer im Kontext der Exploration noch eng an das Heroische gekoppelt war, exemplifiziert der Text in seiner Grundstimmung und der Art seiner Narration auch das zwiespältige Verhältnis der Moderne zum Heroischen.16 Die Möglichkeit des Abenteuers und die Möglichkeit des Explorators als heroische Figur werden in Cherrys Erinnerungserzählung nicht völlig ausradiert, aber durch die Verfahren des Textes kompliziert. Bevor dies ausgeführt wird, muss das soziokulturelle Moment der Terra Nova-Expedition etwas genauer umrissen werden.

II

Auf den ersten Blick erscheinen die britischen Antarktis-Expeditionen mit ihren großen Akteuren Scott und Shackleton (und dem Norweger Amundsen als Antagonisten) als ein schlagkräftiger Beleg dafür, dass es bis zum Ersten Weltkrieg und parallel dazu noch einen konkreten Raum für Abenteuer gab – einen Raum, der das Heraustreten aus der eigenen kulturellen Ordnung in eine ganz fremde, gänzlich unzivilisierte Welt ermöglichte. Dieses Abenteuer und seine Protagonisten ließen sich nicht zuletzt deshalb heroisieren, weil sich in ihnen das imperiale Projekt des 19. Jahrhunderts fortsetzte.17 Die populäre Romanliteratur, die Teil dieses Projekts war und mit ihren romanzenhaften Elementen essentiell zur Konstruktion des Abenteuerdispositivs des britischen Imperialismus beitrug,18 zog nicht nur junge Leser in ihren Bann. Der Schriftsteller Joseph Conrad, der das Genre der imperial romance gleichzeitig perpetuierte und dessen Ideologie hinterfragte,19 beschreibt in einem Essay aus dem Jahr 1924 die Faszination, die die Exploration und ihre Literatur auf ihn in seiner Jugend ausübten, gerade weil sie das Träumen vom grenzüberschreitenden Abenteuer ermöglichten:

Of all the sciences Geography finds its origin in action, and what is more, in adventurous action of the kind that appeals to sedentary people who like to dream of arduous adventure in the manner of prisoners dreaming behind their bars of all the hardships and hazards of liberty dear to the heart of man.20

Conrad erwähnt in diesem Essay nicht Scotts Südpolunternehmung, aber einen seiner viktorianischen Vorgänger, den Arktiserkunder Sir John Franklin, der mit seiner Mannschaft bei der Suche nach der Nordwestpassage ums Leben kam. Auch die Teilnehmer an der Terra Nova-Expedition waren nicht nur mit Abenteuerromanen aufgewachsen, sondern auch mit Berichten über frühere Polarexpeditionen. Eine populäre Anthologie für junge Leser war etwa Frederick Whympers Heroes of the Arctic and Their Adventures, die erstmals 1875 erschien und 1889 bereits die siebte Auflage erlebte.

Die Antarktis wurde weitaus später als die Arktis erkundet, wie Cherry in seiner Einleitung zu The Worst Journey betont, um ihre besondere Herausforderung als Raum der Exploration herauszustellen:

Even now the Antarctic is to the rest of the earth as the Abode of the Gods was to the ancient Chaldees, a precipitous and mammoth land lying far beyond the seas which encircled man’s habitation, and nothing is more striking about the exploration of the Southern Polar regions than its absence, for when King Alfred reigned in England the Vikings were navigating the ice-fields of the North; yet when Wellington fought the battle of Waterloo there was still an undiscovered continent in the South.21

Noch im späten 19. Jahrhundert war die Antarktis einer der letzten unvermessenen, unkartierten Flecken auf der Landkarte, einer jener „blank spaces on our maps“, von denen Clements Markham als neuer Präsident der Royal Geographical Society am 13. November 1893 gesprochen hatte,22 und sie war im ganz wörtlichen Sinne ein weißer Fleck auf der Landkarte. Der eisbedeckte Südkontinent war ein letzter Ort des imperialen Begehrens, auch wenn er sich für Besiedlung und Handel nicht eignete, und, eng damit verwoben, ein Raum zur Erprobung imperialer Männlichkeit.23 Die Antarktisunternehmungen des frühen 20. Jahrhunderts werden deshalb auch als „heroic age“ der Exploration apostrophiert, als eine Zeit, in der Expeditionen noch mit großer körperlicher Anstrengung und wenig technischer Unterstützung durchgeführt wurden. Diese Ära endete spätestens 1922 mit dem Tod Shackletons auf dem Weg zu einer erneuten Südpolunternehmung.24 Das Erscheinen von The Worst Journey in the World koinzidiert also nicht nur mit dem literarischen Modernismus, sondern auch mit dem Ende einer heroischen Ära der Exploration im Zeichen des Imperialismus, und das Bewusstsein dieser Tatsache färbt Cherrys Erinnerungen und seine Reflexion über das Abenteuer. Bei dieser Reflexion ist Scotts eigene Erzählung der Terra Nova-Expedition in seinem berühmten Tagebuch ein wichtiger Referenztext. Cherry gehörte zu der Suchmannschaft, die das Tagebuch bei den Toten fand und es barg (es befindet sich heute in der Schatzkammer der britischen Nationalbibliothek), und er war mit dem Tagebuch bestens vertraut, weil er zu den Herausgebern seiner Erstveröffentlichung 1913 gehörte. Er zitiert es in The Worst Journey ausführlich, um Scotts Etappe zum Südpol (unter der Überschrift „The Polar Journey“) einschließen zu können, für die er selbst zu seiner Enttäuschung nicht ausgewählt wurde; mit anderen Kameraden wartete er im Basislager auf die Rückkehr der Polmannschaft.

Die Südpoletappe wäre, hätte sie zu einem glücklichen Ende geführt, Scotts großes persönliches Abenteuererlebnis gewesen. Aber den Südpol erreichte er nur als zweiter, einen Monat nach Amundsen, und auf dem beschwerlichen Rückweg führten unerwartete Umstände (extremes Wetter, rapider körperlicher Verfall) zum Tod aller Beteiligten. Wie weithin bekannt ist, war Scott bis zuletzt bemüht, sich und seinen Kameraden eine würdige Erinnerung zu bereiten. Er hinterließ der Nachwelt sein Journal und letzte Briefe als Rechtfertigung seiner Unternehmung und ihres tragischen Ausgangs. Scotts Tagebuch verwendet die Vokabel „Abenteuer“ sparsam, vielleicht auch deshalb, um nicht von den wissenschaftlichen Zielen abzulenken, die seine Expedition (im Gegensatz zu Amundsens) auszeichneten. Aber Scotts Abschiedsbrief an seine Frau legt nahe, dass er seinen Marsch zum Pol durchaus als ein Abenteuer erlebte, und zumal als eines, von dem er gerne mehr erzählt hätte: „What lots and lots I could tell you of this journey. How much better has it been than lounging in too great comfort at home.“25 Ein zugrundeliegendes Abenteuerschema kommt auch in Scotts Botschaft an die Öffentlichkeit zum Ausdruck, wenn er Elemente des Risikos und der Schicksalhaftigkeit betont:

We took risks, we knew we took them; things have come out against us, and therefore we have no cause for complaint, but bow to the will of Providence, determined still to do our best to the last. […]

Had we lived, I should have had a tale to tell of the hardihood, endurance, and courage of my companions which would have stirred the heart of every Englishman.26

Statt einer spannenden Abenteuergeschichte erzählt Scotts Tagebuch angesichts des drohenden Todes jedoch eine zunehmend tragische Geschichte. Die Kontingenzen, die dazu führen, dass sein Marsch zum Pol nicht gut ausgeht, lassen sich nur noch dadurch sinnhaft machen, dass Scott sie als tragische Verkettung unglücklicher Umstände präsentiert und das Leiden erschöpfter Männer als Opfer und Tugendbeweis stilisiert. Da Scott den eigenen Tod zwangsläufig nicht erzählen konnte, verfasste sein Freund J. M. Barrie für die Veröffentlichung des Tagebuchs eine Schlussszene, die beschreibt, welchen Anblick die Toten der Suchmannschaft boten – ein Tableau, das Scotts Erzählung einer tragischen Geschichte vollendet. Ganz anders und in einem fiktionalen Rahmen hatte Barrie einige Jahre zuvor die jugendliche Titelfigur seines Theaterstücks Peter Pan (1904) vom Sterben als „an awfully big adventure“ sprechen lassen.27

Scotts Selbsterzählung legte eine Basis für die Heroisierung der gesamten Terra Nova-Expedition, die Cherry als „the atmosphere of hero-worship into which we were plunged on our return“ beschreibt.28 Noch lange nach dem Ersten Weltkrieg galt Scotts Tagebuch vielen als Zeugnis dafür, dass sich auch in der modernen Welt tradierte Werte und Vorstellungen von Ehre erhalten hatten.29 Und nicht wenige Zeitgenossen rezipierten es durchaus noch als heroisches Abenteuer. Der spätere König Eduard VIII., dem das Lesen schwer fiel, kämpfte sich durch Scotts Tagebuch und beschrieb seinen Lektüreeindruck als „a wonderful story of pluck in the face of ghastly hardship and suffering“.30 Während des Ersten Weltkriegs gab sein Nachfolger, Georg V., der Hoffnung Ausdruck, dass jeder britische Junge Herbert Pontings Bilder der Terra Nova-Expedition sehen würde, „for it will help promote the spirit of adventure that made the empire“.31

Aber wenn Abenteuer idealtypisch „das Wagnis, das gut ausgegangen sein wird“ ist,32 dann kann das Wagnis, das Scott einging, als Erzählung nicht idealtypisch enden. Dies zeigt sich in seinem eigenen Erzählen, das in die Tragödie kippt, und es wird bestätigt in Cherrys Sicht: „I now see very plainly that though we achieved a first-rate tragedy, which will never be forgotten just because it was a tragedy, tragedy was not our business“.33 Die tragische Wendung der Terra Nova-Expedition wurde für Cherry, der als sehr junger Mann daran teilnahm (er wurde 1886 geboren), zu einer Obsession, die ihn bis zu seinem Lebensende nicht mehr losließ. Francis Spufford beschreibt The Worst Journey als „the dream of his past that Apsley Cherry-Garrard could not stop dreaming“.34 Der Anblick der gefrorenen Leichname von Scott, Wilson und Bowers prägte sich Cherrys Gedächtnis unauslöschlich ein („That scene can never leave my memory“35), und Cherry machte sich sein Leben lang den Vorwurf, dass er die kurz vor einem Depot Verstorbenen möglicherweise hätte finden und retten können, vor allem seine Freunde Wilson und Bowers, mit denen er die Winterreise überstanden hatte. The Worst Journey in the World ist deshalb nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern auch ein Versuch, ein Trauma zu verarbeiten und der Scott-Unternehmung trotz ihres schlechten Ausgangs Sinn abzuringen, und zwar unter Berufung auf die Dispositive, die Cherry zu seiner Zeit zur Verfügung standen. Denn, wie Stewart Weaver betont:

[…] exploration should never be reduced to adventure, to dramatic feats of derring-do by outsized (either heroic or eccentric) individuals who in the face of the world’s scorn and nature’s fury win through to claim a great virgin prize or (better yet) die trying. Explorers […] are representative people of their time and, more often than not, exploration […] is the outward projection of cultural imperatives shaped and elaborated back home.36

Cherry griff einerseits auf überkommene kulturelle Imperative zurück. Als Inschrift für ein Gedenkkreuz für die Toten in der Antarktis schlug er die Schlusszeilen von Tennysons Gedicht „Ulysses“ (1842 veröffentlicht) vor, die einem unerschütterlichen Entdeckergeist Tribut zollen: „To strive, to seek, to find and not to yield“. Auch das erste Kapitel über Scotts Poletappe in The Worst Journey zitiert „Ulysses“ als Epigraph und signalisiert wie die Kreuzinschrift, dass Cherrys Versuch einer sinnhaften Deutung nicht nur dieser Etappe, sondern der gesamten Terra Nova-Expedition im Rückgriff auf die viktorianische Zeit, ihre Ideale und Narrative erfolgt. Aber diese sind vor allem Echos der Vergangenheit, und Cherry partizipiert auch am Dispositiv der Moderne, die sich bewusst ist, wie instabil die alten Imperative geworden sind, und mit ihnen ererbte Vorstellungen von Abenteuer und Heldentum. Wie Francis Spufford formuliert, schleppt Cherry in seinen Erinnerungen eine Vergangenheit mit, die sich bereits entfernt anfühlt.37 Signifikanterweise bezeichnet Cherry selbst Scott als „probably the last old-fashioned polar explorer“.38

Wie prekär das viktorianische Abenteuernarrativ zu Beginn des 20. Jahrhunderts geworden war, zeigt noch einmal ein Blick auf Barries Peter Pan, denn hier liegt der Raum für Abenteuer nur mehr im Reich der kindlichen Fantasie, in der Welt des Traums, der von der Realität getrennt ist. Die Kinder der Familie Darling (deren Oberhaupt ein Banker ist), werden von Barries Titelheld – der nie erwachsen werden will – nachts auf die Insel „Neverland“ entführt, wo gefährliche Abenteuer mit Piraten, Indianern und wilden Tieren den Normalzustand bilden und sich, wie der Erzähler selbst ironisiert, eigentlich nur als Iteration gefährlicher Situationen und Prüfungen erzählen lassen.39 Am Ende kehren die Kinder aus dem Abenteuerraum für immer in die Wirklichkeit zurück. Peter Pan wird in The Worst Journey nicht genannt, aber gleichwohl drängen sich Ähnlichkeiten zu Barries Fiktion auf. Zum einen erwähnt Cherry wiederholt die (alb)traumhafte Qualität seiner Antarktiserfahrungen, wie hier bei der Rückkehr der Terra Nova in den (neuseeländischen) Hafen der Zivilisation: „How different it was from the day we left and yet how much the same: as though we had dreamed some horrible nightmare and could scarcely believe we were not dreaming still.“40 An einer anderen Stelle zitiert Cherry Stevenson, den Autor der Schatzinsel, als er sich die Rückkehr Scotts über den Beardmore-Gletscher vergegenwärtigt:

Stevenson has written of a traveller whose wife slumbered by his side what time his spirit re-adventured forth in memory of days gone by. He was quite happy about it, and I suppose his travels had been peaceful, for days and nights such as these men spent coming down the Beardmore will give you nightmare after nightmare, and wake you shrieking – years after.41

Zum anderen sollte die Antarktis für Cherry eine Insel des Abenteuers sein, im realen und im metaphorischen Sinne Georg Simmels – eine Erfahrung, die „aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt“.42 Gerade der Adoleszenz entronnen und bereits mit den Aufgaben eines Landbesitzers konfrontiert, sah Cherry in der Terra Nova-Expedition eine Gelegenheit, die Pflichten eines normalen Lebens noch hinauszuzögern. Auf für ihn verhängnisvolle Weise erwies sich dann aber, dass das Abenteuer, obwohl „ein Fremdkörper in unserer Existenz“, nie gänzlich vom sonstigen Lebenszusammenhang isoliert und „mit dem Zentrum irgendwie verbunden ist“.43 Cherry konnte mit dem Abenteuer ‚Antarktis‘ nie abschließen, kehrte in der Erinnerung immer wieder auf die „Insel“ zurück. Er überschrieb das letzte Kapitel von The Worst Journey mit einem elegischen „Never again“, aber für ihn repetierte sich das Erlebte immer wieder und wurde so zu einer traumatischen Erfahrung. Cherry litt nach der Expedition sein Leben lang unter Depressionen und einer psychosomatisch bedingten, chronischen Kolitis; er selbst schreibt in seinem Resümee: „It is no use repeating that Englishmen will respond to every call and stick it to the death: they will (some of them); but they have to pay the price all the same; and the price in my case was an overdraft on my vital capital which I shall never quite pay off […].“44

Wie sehr die Vergangenheit Cherry in ihrem Griff behielt, indizieren Stellen von The Worst Journey, in denen die Erzählung ins Präsens wechselt, um auch den Lesern die Antarktiserfahrung zu vergegenwärtigen, durchaus nicht nur in ihren schrecklichen, sondern auch ihren beglückenden, erhabenen Momenten. So beginnt eine lange Passage im Kapitel „The First Winter“ mit der folgenden Leseranrede: „Come and stand outside the hut door. All round you, except where the cape joins the mountain, is the sea.“45 Stellen, in denen der Text nicht linear erzählt und Ereignisse mehrfach erwähnt, deuten ebenfalls auf das Trauma, das Cherry nicht loslässt, etwa in dem Kapitel, das das Auffinden der Toten während der „Search Journey“ schildert. Hier und an anderen Stellen ist das Mehrfacherzählen auch darauf zurückzuführen, dass Cherry innerhalb seiner retrospektiven Erzählung immer wieder Tagebücher und Briefe zitiert und so Stimmen aus der Vergangenheit zu Wort kommen lässt. Seine Erinnerungserzählung hat so streckenweise den Charakter einer Collage, und dass die Toten in dieser Collage sprechen, verstärkt den Eindruck, dass Cherry sich von den Geistern der Vergangenheit nicht lösen kann. Die genannten Texteigenschaften stehen in Spannung zur einfachen Struktur einer elementaren Abenteuererzählung, und auch in Cherrys direkter Auseinandersetzung mit Abenteuer als Erfahrungs- und Erzählschema zeigen sich Komplikationen.

III

Zunächst fällt auf, dass das Abenteuer als Vokabel zunehmend aus The Worst Journey verschwindet. In Cherrys Einleitung, die frühere Entdeckungsreisen in die Region der Antarktis beschreibt, wird das Wort mehrfach verwendet,46 und bis zum Zeitpunkt der Winterreise werden mehrere Ereignisse der Terra Nova-Expedition explizit als Abenteuer bezeichnet; sie bilden gewissermaßen Präludien für das große Abenteuer, das in der Antarktis auf die Exploratoren wartet. So schildert das erste Kapitel, das die Passage der Terra Nova von England nach Südafrika beschreibt, als „a real adventure“47 ein Erlebnis auf einer Insel vor der brasilianischen Küste. Cherry und einige Kameraden sollen hier Proben von Steinen, Pflanzen und Tieren sammeln, und in Cherrys Erzählung gerät die Insel zur Schatzinsel, auf der sich die Exploratoren wie kapernde Piraten verhalten:

And so it came about that on the evening of 25 July we furled sail and lay five miles from South Trinidad with all our preparations made for a very thorough search of this island of treasure. Everything was to be captured, alive or dead, animal, vegetable or mineral.48

Ein von Cherry zitierter Brief von Bowers an seine Mutter macht das piratische Element der Inselunternehmung noch deutlicher, denn hier wird ein Schatz erwähnt, den Captain Kidd tatsächlich auf der Insel vergraben haben soll.49 Das Verlassen der Insel bei gefährlichem Wellengang erweist sich als weiteres aufregendes Ereignis, das aber glücklich endet. Das dritte Kapitel beschreibt den Beginn des großen Abenteuers der Terra Nova, die Passage „südwärts“ von Neuseeland zur Antarktis, bei der die Zivilisation endgültig verlassen wird. Cherry beschreibt diese Fahrt als Begegnung mit einer wunderbaren Natur („Words cannot tell the beauty of the scenes through which we were to pass during the next three weeks“50) und als Kette von Erstbegegnungen mit einer fremden Welt:

No one of us whose privilege it was to be there will forget our first sight of the penguins, our first meal of seal meat, or that first big berg along which we coasted close in order that London might see it on the film. Hardly had we reached the thick pack, which prevailed after the suburbs had been passed, when we saw the little Adélie penguins hurrying to meet us. Great Scott, they seemed to say, what’s this, and soon we could hear the cry which we shall never forget. ‚Aark, aark,‘ they said, and full of wonder and curiosity, and perhaps a little out of breath, they stopped every now and then to express their feelings […].51

Cherry projiziert hier sein eigenes Staunen auf die Pinguine, und im folgenden Kapitel („Land“) wird seine erste Sichtung des antarktisches Festlandes („the most glorious peaks appearing“52) mit Zitaten aus John Miltons Paradise Lost und James Thomsons Naturgedicht The Seasons gerahmt. Nach der Landung in dieser wunderbaren und wundersamen Welt werden im gleichen Kapitel aufregende kleinere Abenteuer berichtet, „two adventures during the first week of landing stores which might well have had a more disastrous conclusion“.53 Zuerst entgeht Herbert Ponting, der Kameramann der Expedition, nur knapp dem Angriff eines Killerwals, beim zweiten Abenteuer geht einer der mitgeführten (und sich bald als ineffizient erweisenden) Motorschlitten verloren. Auch im fünften Kapitel, „The Depot Journey“, ist noch von spannenden Situationen die Rede:

I well remember the day we took the first of our loads on to the Barrier. I expect we were all a little excited, for to walk upon the Barrier for the first time was indeed an adventure: what kind of surface was it, and how about these beastly crevasses of which we had read so much?54

Die Winterreise, die Cherry im siebten Kapitel schildert, war das größte Wagnis, auf das er sich persönlich während der Terra Nova-Expedition einließ, in Begleitung der beiden Kameraden, Wilson und Bowers, die er am meisten bewunderte. Die drei Männer brachen im südpolaren Winter zu einer fünfwöchigen Unternehmung auf, um in größter Kälte und ständiger Dunkelheit zu einer Brutkolonie der Kaiserpinguine vorzudringen und Eier mit Embryonen in ihren Besitz zu bringen. Von diesen erhoffte sich Wilson als wissenschaftlicher Leiter der Expedition neue Erkenntnisse über die Evolution von Vögeln und Reptilien. Diesem wissenschaftlichen Gewinn stand ein hohes Risiko gegenüber, und der von Cherry zitierte Scott beschrieb die Aktion als „a new and bold venture“;55 in einer anderen Stelle seines Tagebuchs, die Cherry als Epigraph des Kapitels verwendet, bezeichnete er sie explizit auch als heroisch,56 und die Ausrüstungsliste, mit der der klassisch gebildete Cherry das Kapitel beginnt, ist als homerischer Katalog zu Beginn eines „minor epic“ interpretiert worden.57 Formal gesehen schildert auch dieses Kapitel ein in sich geschlossenes Binnenabenteuer im größeren Terra Nova-Kontext. Elizabeth Leane betont, wie eng sich die Erzählung der Winterreise an imperialer Abenteuerliteratur orientiert, und besonders am Typus der imperial quest romance:

The Winter Journey […] is striking in the way its events adhered to conventions of the imperial quest romance throughout the entire undertaking. The journey was certainly romantic in purpose – a perilous search over extremely hostile territory for the eggs of an exotic, remote creature – a piece of ‚some fabulous animal‘.58

Cherry beschreibt die Ankunft am Ziel der Queste, der Brutkolonie der Pinguine, als Moment des Triumphs: „After indescribable effort and hardship we were witnessing a marvel of the natural world, and we were the first and only men who had ever done so.“59 Tatsächlich gelingt es den Männern, ihre Suche zu vollenden und drei Eier unversehrt zurück zu bringen. Neben diesem konkreten Schatz verbucht Cherry zudem ein Initiationserlebnis, das ihm ebenso kostbar ist, weil ihm seine Gefährten ein bewundernswertes Ethos und eine ideale Freundschaft unter Männern vorleben: „They were gold, pure, shining, unalloyed. Words cannot express how good their companionship was.“60 Auf dem Rückweg von der Kolonie erleben die Männer neben Wundern der Natur auch eine wundersame Rettung, als ein heftiger Sturm ihr schützendes Zelt wegweht, sie es dann aber unerwartet wiedererlangen: „Our lives had been taken away and given back to us“.61 Das Kapitel hat also durchaus ein zugrundeliegendes Abenteuerschema mit romanzenhaften Elementen, und mit seinem klarem Beginn (bei der die Schwelle in eine unerbittliche Natur überschritten wird) und einer Rückkehr zum Ausgangspunkt ist das Abenteuer auch eine vollendete Heldenreise im Sinne des Mythologen Joseph Campbell.62 Gleichwohl stellt Cherrys Darstellung jedoch sowohl das Abenteuer- als auch das Heldenschema infrage. Während Scott die Winterreise als „a bold venture“ bezeichnete, hinterfragt Cherry den Sinn des risikohaften Unterfangens: „What is this venture? […] And why should three sane and common-sense explorers be sledging away on a winter’s night to a Cape which has only been visited before in daylight, and then with very great difficulty?“63 Signifikanterweise verwendet Cherry in seiner Erzählung das Wort „adventure“ an keiner Stelle. Er stellt die Winterreise vielmehr als eine schlimme Reise dar, die schlimmste auf der Welt, und als eine Erfahrung des Horrors: „But this journey had beggared our language: no words could express its horror“.64 Danach verschwindet das Wort Abenteuer fast gänzlich aus Cherrys Text.

Die Schilderung der Winterreise bildet genau die Mitte des Buches, und für Francis Spufford ist sie „the book’s emotional centre, placed at the midpoint of the narrative, and held up by implication as the experience that defines the nature of the whole.“65 Es ist Cherrys Erfahrung der Winterreise, auf die sich der Titel seiner Memoiren bezieht, und diese Erfahrung ist essentiell für Cherrys Deutung der gesamten Expedition und vor allem von Scotts Marsch zum Pol. Die Winterreise antizipiert den Horror dieses Marschs, aber sie bildet auch einen Kontrast hierzu, weil sie glücklich endet und ein Zweck erreicht wird. Wie Elizabeth Leane betont, bleibt die Winterreise bei all ihrem Schrecken und Leid der Struktur nach in den Mustern der quest romance verhaftet, während Scotts Südpoletappe, wie beobachtet, von diesem Gattungsmuster in das der Tragödie wechselt.66 Aber auch das quest adventure der Winterreise wird von Cherry nicht ‚rein‘ im romantischen Modus erzählt, sondern kippt in die Modi der Ironie und der Komik. Während Bowers und Wilson ihre Pinguineier heil ans Ziel bringen, zerbrechen die beiden Cherry anvertrauten Eier bei einem Sturz in seinen Handschuhen. Und als Cherry und seine beiden Gefährten nach ihrem Leidensmarsch wieder in der sicheren Expeditionshütte in Cape Evans ankommen, wird ihr Empfang antiklimaktisch erzählt:

The door opened – ‚Good God! here is the Crozier Party,‘ said a voice, and disappeared.

Thus ended the worst journey in the world.67

Es folgt eine Prolepse in die Zeit nach der Expedition, als Cherry versucht, den unter so hohem Einsatz gewonnenen Schatz der drei Pinguineier im Londoner Museum für Naturgeschichte unterzubringen. Diese Prolepse ist als komische Dialogszene zwischen einem ‚Heroic Explorer‘ (Cherry) und einem Kustoden gestaltet. Dieser nimmt die Eier mit wenig Begeisterung und ohne ein Wort des Dankes in Empfang, und der empörte Cherry verlangt eine Quittung, auf die man ihn lange warten lässt.68 Der Überlebende einer heroischen Prüfung kämpft hier gegen profane moderne Bürokratie. Die Szene wird dann noch überboten vom Zitat eines trockenen wissenschaftlichen Berichts über die Eier, der mit einem skeptischen Konditionalsatz endet: „If the conclusions arrived at with the help of the Emperor Penguin embryos about the origin of feathers are justified, the worst journey in the world in the interest of science was not made in vain.“69 Nicht einmal die Wissenschaft, die Scott und auch Cherry immer wieder als den großen Zweck (und als Rechtfertigung) der Terra Nova-Expedition beschwören,70 als Gewinn von Wissen per se und für die Nation und das Empire, hat Sinn für den Wert des Schatzes, den Cherry ihr überbracht hat. Entsprechend desillusioniert liest sich Cherrys Resümee in den Schlusssätzen seines Buches: „For we are a nation of shopkeepers, and no shopkeeper will look at research which does not promise him a financial return within a year.“ Den Wert von Abenteuern, die im Namen von Idealen und Werten vollbracht wurden, können nur noch wenige ermessen, Männer wie Cherry und die anderen Exploratoren des „heroic age“, und Cherry fährt fort: „And so you will sledge nearly alone, but those with whom you sledge will not be shopkeepers: that is worth a good deal. If you march your Winter Journeys you will have your reward, so long as all you want is a penguin’s egg.“71 In dieser Formulierung erscheint die Winterreise als Gegenerfahrung zur materialistischen Moderne, und The Worst Journey als Abgesang auf das heroische Zeitalter der Antarktisexploration und seine abenteuerbereiten Helden.

Aber wer ist der Held oder sind die Helden von The Worst Journey in the World? Zweifellos ist Cherry der Erzähler, der versucht, aus dem Erlebten noch eine sinnhafte Geschichte zu konstruieren, aber, wie oben erwähnt, ist sein Text auch eine vielstimmige Collage, die die Autorität der Erzählung und den Versuch der Kohärenzstiftung unterläuft. Cherry ist zweifellos auch das emotionale Zentrum des Textes und vermittelt den Eindruck eines Mannes, für den seine Fahrt in die Antarktis eine große bildende Erfahrung war, aber auch eine, die ihn für den Rest seines Lebens traumatisierte. Cherry ist aber nur als ein solches Zentrum der ‚Held‘ der Geschichte, nicht als heroisierte Figur. Im Gegenteil: sein erzählendes Ich nimmt mehrfach explizite Deheroisierungen des erlebenden Ichs vor. Nicht nur zerbrechen ihm die Pinguineier; als seine Brille während der Winterreise beschlägt, stolpert der stark kurzsichtige Cherry fast lächerlich durch das schwierige Terrain und bedarf der Hilfe seiner Kameraden. Aber gibt es Alternativen für die Besetzung der Heldenrolle? Die größte Bewunderung hat Cherry für seinen Mentor Wilson, der während der Winterreise Führungskraft und Durchhaltevermögen beweist. Scott dagegen, der in der Öffentlichkeit zum großen Helden stilisiert wurde, wird zwar von Cherry gewürdigt, aber auch wegen seiner Schwächen und Fehler kritisiert; Francis Spufford bezeichnet The Worst Journey deshalb als „for its time, a quietly heretical book, dissenting here and there from the heroic official myth“.72 Und doch erteilt The Worst Journey der Vorstellung vom heroischen Abenteuer keine völlige Absage, und sein letztes Wort gilt dem Objekt einer erfolgreichen Queste. Fast trotzig hält Cherry ein Pinguinei einer Welt entgegen, die es nicht wertschätzt.

Cherrys Erzählung von fast 600 Seiten ist ein epischer Versuch, sich mit einem großen Abenteuer des frühen 20. Jahrhunderts zu arrangieren und seinen traumatischen Effekt zu verarbeiten. The Worst Journey ist ein komplexer Text, weit entfernt von einer simplen Abenteuererzählung. Es ist ein Text, der zwischen Tradition und Moderne pendelt, der das Phänomen des Abenteuers in einem vergangenen sozialen und kulturgeschichtlichen Moment lokalisiert, und der das erlebte Abenteuer letztlich nicht mehr kohärent im Abenteuerschema erzählen kann. Aber dabei erscheint das Abenteuer nicht als eine falsche oder triviale Geschichte. Vielmehr vermittelt Cherrys Text mit all seiner Brüchigkeit und Collagenhaftigkeit auch den Eindruck, dass das Abenteuer es wert ist, noch erzählt zu werden. Das Abenteuer wird somit nicht entzaubert, sondern es wird bedauert, dass es in der Gegenwart zu verschwinden droht.

1

Stewart A. Weaver, Exploration: A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 6.

2

Francis Spufford, „Worst Journey“, in: True Stories and Other Essays, New Haven: Yale University Press 2017, S. 11–16, hier S. 11.

3

Siehe hierzu ausführlich Max Jones, The Last Great Quest: Captain Scott’s Antarctic Sacrifice, Oxford: Oxford University Press 2003.

4

Apsley Cherry-Garrard, The Worst Journey in the World, London: Vintage 2010, S. lxiii.

5

Der Begriff geht auf den Historiker George F. Kennan zurück. Zur Begriffsgeschichte siehe Oliver Jahraus u. Christian Kirchmeier, „Der Erste Weltkrieg als ‚Katastrophe‘: Herkunft, Bedeutungen und Funktionen einer problematischen Metapher“, literaturkritik.de. https://literaturkritik.de/id/18875 (20.09.2019). Die Gleichzeitigkeit von Antarktisexploration und Erstem Weltkrieg verdeutlicht besonders Ernest Shackletons Schilderung seiner Endurance-Expedition (1914–1917) in South (1919); er reagiert hier auf die Kritik, der er ausgesetzt war, weil er zum Südpol aufbrach, statt in den Krieg zu ziehen: „there are chapters in this book of high adventure, strenuous days, lonely nights, unique experiences, and, above all, records of unflinching determination, supreme loyalty, and generous self-sacrifice on the part of my men which, even in these days that have witnessed the sacrifices of nations and regardlessness of self on the part of individuals, still will be of interest to readers who now turn gladly from the red horror of war and the strain of the last five years to read, perhaps with more understanding minds, the tale of the White Warfare of the South.“ Ernest Shackleton, South: The Endurance Expedition, London: Penguin 2013, S. xiii.

6

Nicoletta Brazzelli, „A Symbolic Geography of Ice: Apsley Cherry-Garrard and Modernity“, in: The Politics and Poetics of Displacement: Modernism off the Beaten Track, hg. v. Massimo Bacigalupo u. Luisa Billa, Pasian de Prato: Campanotto 2011, S. 45–57, hier S. 50. Der Artikel nennt auch Verweise auf Antarktisexpeditionen im Werk von T. S. Eliot, Virginia Woolf und D. H. Lawrence. Zur Koinzidenz von Modernismus und Antarktisexploration s. auch Mark Rawlinson, „‚Waste Dominion‘, ‚White Warfare‘, and ‚Antarctic Modernism‘“, in: Tate Papers 14 (2010), https://www.tate.org.uk/research/publications/tate-papers/14/waste-dominion-white-warfare-and-antarctic-modernism (20.09.2019).

7

Anthony Brandt, „Extreme Classics: The 100 Greatest Adventure Books of All Times“, in: National Geographic Adventure 3.4 (2001).

8

Siehe Martin von Koppenfels, „Wissenschaftliches Programm“, DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“, LMU München, S. 4. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/forschungsgruppe/wissenschaftliches-programm/wissenschaftliches-programm.pdf (10.08.2019).

9

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 565.

10

Siehe u.a. Spufford, „Worst Journey“, S. 11 und Paul Theroux, „The Worst Journey in the World“, in: Fresh Air Fiend: Travel Writings 1985–2000, Boston: Houghton Mifflin 2000, S. 372–377, bes. S. 375.

11

„The commercial spirit of the present day can see no good in pure science: the English manufacturer is not interested in research which will not give him a financial return within one year: the city man sees in it only so much energy wasted on unproductive work: truly they are bound to the wheel of conventional life.“ Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 231.

12

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 202.

13

Koppenfels, „Die Forschungsgruppe: Fragestellung“, Homepage der DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/forschungsgruppe/index.html (10.08.2019).

14

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. xvii.

15

Ich danke Oliver Grill für die Anregung dieser Lesart.

16

Abenteuer und Heldentum berühren sich in einer Semantik, die auf figuraler Ebene um Eigenschaften wie Mut und Risikobereitschaft kreist; der Tatendrang von Helden manifestiert sich wie das Abenteuer oft im Raum (Heldenreise), und Helden- wie Abenteurertum überschreiten die Grenzen des Normalen und Alltäglichen. Beiden attestiert Hegel, der Vergesellschaftung in prosaischen, bürgerlichen, geordneten Lebensverhältnissen nicht angemessen zu sein. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bde. 13–15, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, hier Bd. 13, S. 243–245 (zu Heldentum); Bd. 14, S. 219 (zu Abenteuerlichkeit). Zum problematischen Status von Heldentum in moderner Literatur s. u.a. Victor Brombert (Hg.), In Praise of Antiheroes: Figures and Themes in Modern European Literature 1830–1980, Chicago: University of Chicago Press, 1999.

17

Diese Fortsetzung ist auch in Cherrys Familiengeschichte manifest. Sein Vater blickte als Offizier auf eine lange Karriere im imperialen Dienst zurück, und andere Vorfahren waren Kolonialbeamte.

18

Siehe zu den romanzenhaften Elementen (Questen, ritterlichen Codes) der spätviktorianischen und edwardianischen Abenteuerliteratur etwa Robert Fraser, Imperial Quest Romance: Stevenson, Haggard, Kipling, and Conan Doyle, Plymouth: Northcote House 1998. Siehe des weiteren Joseph Bristow, Empire Boys: Adventures in a Man’s World, London: Routledge 1991.

19

Siehe Linda Dryden, Joseph Conrad and the Imperial Romance, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2000.

20

Joseph Conrad, „Geography and Some Explorers“, in: Last Essays, hg. v. Harold Ray Stevens u. J. H. Stape, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 3–17, hier S. 3.

21

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. xvii.

22

Clements R. Markham, „The Present Standpoint of Geography: Opening Address of the President, Mr. Clements R. Markham, C. B., F. R. S.“, in: The Geographical Journal 2.6 (1893), S. 481–504, hier S. 481.

23

Für einen Überblick über die Diskussion des Konzepts imperialer Maskulinität s. Praseeda Gopinath, „Imperial Masculinity“, Oxford Bibliographies (Literary and Critical Theory), Oxford University Press. https://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780190221911/obo-9780190221911-0032.xml?rskey=7z73QZ&result=1&q=praseeda+gopinath#firstMatch (19.11.2019).

24

Siehe zum Begriff „heroic age“ etwa John Keay (Hg.), The Royal Geographical Society History of World Exploration, London: Reed International Books 1991, S. 267–270.

25

Robert Falcon Scott, Journals: Captain Scott’s Last Expedition, hg. v. Max Jones, Oxford: Oxford University Press 2005, S. 420.

26

Scott, Journals, S. 421 f.

27

Barries eigene Novellisierung des Stücks stammt aus dem Jahr 1911; hier zitiert nach der Ausgabe London: Penguin 1995, S. 99.

28

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. lx

29

Siehe Jones, The Last Great Quest, S. 163: „Captain Scott and his companions offered a reassuring example of heroic character and idealism, to counter anxieties about national decline and the materialism of the modern world.“

30

Scott, Journals, „Introduction“ v. Max Jones, S. xxxvii.

31

Zitiert in Sara Wheeler, Terra Incognita: Travels in Antarctica, London: Vintage 1997, S. 53.

32

Koppenfels, „Wissenschaftliches Programm“, S. 6.

33

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 562.

34

Spufford, „Worst Journey“, S. 15.

35

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 497

36

Weaver, Exploration, S. 6 f.

37

Spufford, „Worst Journey“, S. 13 („He was dredging an Edwardian past that already felt remote“).

38

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 594.

39

Barrie ist sich des Erzählproblems einer Normalität des Abenteuers bewusst und lässt den Erzähler in der novellisierten Fassung von Peter Pan explizit aussprechen, dass er eine Auswahl treffen muss. „To describe them all would require a book as large as an English-Latin, Latin-English Dictionary, and the most we can do is to give one as a specimen of an average hour on the island. The difficulty is which one to choose.“ Barrie, Peter Pan, S. 82.

40

Cherry Garrard, Worst Journey, S. 593.

41

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 544. Auch während der Winterreise haben die Männer Träume und Albträume (S. 250).

42

Georg Simmel, „Das Abenteuer“, in: ders., Philosophische Kultur: Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Gesammelte Essais, Berlin: Wagenbach 1983 [1923], S. 13–26, hier S. 13. Der Essay erschien erstmals 1910.

43

Simmel, „Das Abenteuer“, S. 13.

44

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 568.

45

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 187–192.

46

Etwa in Bezug auf Shackletons Expedition im Jahr 1908: „The history of their adventures will make anybody’s flesh creep“ (Worst Journey, S. xlvi). Sogar Scotts Marsch zum Pol wird hier als „a great adventure“ beschrieben (S. lviii).

47

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 11.

48

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 12.

49

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 17.

50

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 61.

51

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 63.

52

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 81.

53

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 91.

54

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 111.

55

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 239.

56

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 235.

57

Craig White, „Cherry-Garrard, Apsley (1886–1959)“, in: Literature of Travel and Exploration: An Encyclopaedia, hg. v. Jennifer Speake, Bd. 1, New York: Fitzroy Dearborn 2003, S. 237–239, hier S. 238.

58

Elizabeth Leane, „Eggs, Emperors and Empire: Apsley Cherry-Garrard’s ‚Worst Journey‘ as Imperial Quest Romance“, in: Kunapipi 31.2 (2009), S. 15–31, hier S. 19; Leane greift auf Fraser, Imperial Quest Romance zurück.

59

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 274.

60

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 251. Zum Thema der Männerfreundschaft im frühen 20. Jahrhundert s. auch Sarah Cole, Modernism, Male Friendship, and the First World War, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 3: „[I]n the early twentieth century, both the power and the potential for bereavement associated with male friendship were typically intertwined with such major cultural narratives as imperialism and war, and the sense of heightened importance that friendship often projected derived from those weighty connections.“

61

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 289.

62

Joseph Campbell, The Hero with a Thousand Faces, 2. Aufl., Princeton: Princeton University Press 1968.

63

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 239.

64

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 304. Siehe auch die folgenden Passagen: „The horror of the nineteen days it took us to travel from Cape Evans to Cape Crozier would have to be re-experienced to be appreciated; and any one would be a fool who went again: it is not possible to describe it.“ Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 242; „The horrors of that return journey are blurred to my memory and I know they were blurred to my body at the time.“ Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 301.

65

Spufford, „Worst Journey“, S. 13.

66

Leane, „Eggs“, S. 18.

67

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 304.

68

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 305.

69

Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 310.

70

„Exploration is the physical expression of the Intellectual Passion“; Cherry-Garrard, Worst Journey, S. 597.

71

Cherry, Worst Journey, S. 597–598.

72

Spufford, „Worst Journey“, S. 14.

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