Der Abenteuerheld in der sowjetischen Literaturtheorie der 1920er Jahre (von Šklovskij bis Bachtin)

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Riccardo Nicolosi
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Berücksichtigt man, dass das Abenteuer eines der ältesten und meistverbreiteten Erzählmuster in der Weltliteratur ist, ist es durchaus verwunderlich, dass die Literaturwissenschaft wenige fundierte Ansätze einer narrativen Theorie der Abenteuerliteratur hervorgebracht hat.1 Die Verortung des Abenteuers im Bereich der Trivialliteratur, seine ‚unmoderne‘ Einfachheit als narratives Modell oder auch seine transepochale und gattungsübergreifende Dimension, die eine theoretische Systematisierung erschwert, mögen Gründe dafür sein. Aber die Konsequenz davon ist, dass man sich heute bei der Untersuchung von Abenteuerliteratur häufig mit älteren, z.T. nicht literaturwissenschaftlichen Ansätzen begnügt, wie zum Beispiel mit Georg Simmels Studie zum Abenteuer als Erlebniskategorie,2 oder mit Hegels Überlegungen über den Verzicht aufs Abenteuerliche in der Literatur der Moderne in seinen Vorlesungen über die Ästhetik.3

Übersehen wird dabei in der Regel der Beitrag der frühsowjetischen Literaturtheorie zur Konzeptualisierung des Abenteuers. Mit Ausnahme von Michail Bachtins Untersuchung des antiken Romans in Formy vremeni i chronotopa v romane (Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, 1937–1938, veröffentlicht 1975),4 die, häufig jedoch dekontextualisiert und verkürzt, breite Anwendung findet, werden die Versuche über das Abenteuer der russischen Formalisten und von weiteren frühsowjetischen Literaturwissenschaftlern kaum berücksichtigt, wenn es darum geht, Abenteuerliteratur zu theoretisieren.5 Obwohl von einer einheitlichen und systematischen Theorie der Abenteuerliteratur auch hier nicht die Rede sein kann, leisten die Überlegungen über die narrativen Mechanismen des Abenteuers in der „proto-narratologischen“6 Erzähl- bzw. Romantheorie der 1920er Jahre einen originellen und produktiven Beitrag zum Verständnis der Funktionsweisen von Abenteuerliteratur. Das Abenteuer wird hier aus den Niederungen der Trivialliteratur herausgeholt und zur Kategorie von Literarizität schlechthin erhoben. Am literarisch erzählten Abenteuer werden elementare Bausteine der Narration untersucht, in erster Linie Formen der Sujetfügung, Verfahren der Sequenzierung von Motiven und Ereignissen, Mechanismen der Spannungserzeugung und des Arrangements von Kontingenz sowie die Funktion von literarischen Helden.

Der vorliegende Text stellt den Versuch dar, unterschiedliche Konzeptualisierungen des literarischen Abenteuers aus den sowjetischen 1920er Jahren zu systematisieren, wobei der Fokus auf der Figur des Abenteuerprotagonisten, dem Kernstück jeder Abenteuernarration, und auf dessen Verhältnis zum Sujet liegt.7 Dabei lässt sich zeigen, dass von der frühen formalistischen Sujettheorie bis zu Michail Bachtins Problemy tvorčestva Dostoevskogo („Probleme des Schaffens von Dostoevskij“, 1929)8 der Abenteuerheld eine Entwicklung durchmacht, bei der sein Verhältnis zum Sujet sich umkehrt: Während der frühe Formalismus den Protagonisten der Abenteuerliteratur als passives Objekt der Vorgaben des schematischen Sujets, als Spielball von unmotivierten, überraschenden Wendungen versteht, gewinnt der Abenteuerheld bei Theoretikern wie Boris Grifcov, Nikolaj Aseev und Leonid Grossman immer mehr an Kontur und Autonomie und genießt schließlich in den Augen des frühen Bachtin eine nahezu unbegrenzte Handlungsfreiheit, die eine der Grundlagen der ‚Emanzipation‘ der Helden vom Autor in Dostoevskijs polyphonen Romanen darstellt. Mit Blick auf diese historisch-typologische Entwicklung soll auch die Rolle der Dostoevskij-Forschung der 1920er Jahre als Bindeglied zwischen dem Formalismus und Bachtin bei dieser Verschiebung in der Konzeptualisierung des Abenteuerprotagonisten ersichtlich werden. Der vorliegende Beitrag soll darüber hinaus einen besonderen Aspekt des komplexen Verhältnisses der literarischen Moderne zum Abenteuer beleuchten: Auch und nicht zuletzt durch die Arbeit am Abenteuer entstehen in der sowjetischen Moderne Schulen, Methoden und Konzepte der Literaturtheorie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den einflussreichsten weltweit werden sollten. Eine wichtige Traditionslinie in der modernen Literaturwissenschaft entsteht also paradoxerweise durch die Beschäftigung mit einer ‚unmodernen‘ Form der Literatur wie dem Abenteuer.

Das Interesse der sowjetischen Literaturtheorie der 1920er Jahre am erzählten Abenteuer lässt sich literatur- und kulturhistorisch durch mehrere Faktoren erklären. Kurz gesagt, war das ‚unmoderne‘ Abenteuer in der frühsowjetischen Literatur nämlich in besonderer Form ‚in Mode‘ gekommen: Erwähnt sei zunächst die noch aus der vorrevolutionären Zeit stammende Popularität von westlicher Spannungs- und Abenteuerliteratur, u.a. der amerikanischen und britischen Detektivgeschichten mit Protagonisten wie Nat Pinkerton, Nick Carter und Sherlock Holmes.9 Dieses ‚Pinkerton-Fieber‘ diente im Oktober 1922 Nikolaj Bucharin, Chefredakteur der Parteizeitung Pravda, als Grundlage für Überlegungen über eine neue, politische Abenteuerliteratur, einen „kommunistischen Pinkerton“. Von den russischen Schriftstellern verlangte Bucharin, die „leichte, amüsante und interessante Fabel“10 der Pinkerton-Heftromane mit neuem Material aus dem Bereich der jüngsten sowjetischen Geschichte anzureichen, um die Jugend für die kommunistischen Ideale begeistern und sie entsprechend erziehen zu können.

Wenige Monate später, am 2. Dezember 1922, hielt Lev Lunc, Mitglied der „Serapionsbrüder von Petrograd“, einer einflussreichen, den Formalisten nahestehenden Gruppierung junger Avantgardisten, einen polemischen Vortrag, in dem er seinen Schriftstellerkollegen vorwarf, literarische „Analphabeten“ geworden zu sein: „Das alles kommt daher, dass wir die Handlung verachtet und sogar das vergessen haben, was wir einmal davon wussten. […] Wir verstehen nicht einmal, zwei Motive miteinander zu verknüpfen, wir haben es verlernt, wir sind Analphabeten geworden.“ Gegen die „Langeweile“ der „erlesenen Sprache“ und der „feinsten Psychologie“, die den modernen russischen Roman auszeichnen, helfe nur eins:

Nach Westen! Im Westen gibt es eine starke Tradition der Handlung, und dort sind wir weit weg von der ansteckenden Nähe Remizovs und Belyjs. […] Wer einen russischen Abenteuerroman schaffen will, muss vom Westen lernen, denn in Russland gibt es niemanden, von dem er lernen könnte.11

Lev Lunc’ provokativer Aufruf war gegen die ornamentale, modernistisch handlungsschwache russische Prosa sowie gegen den psychologischen (Neo-)Realismus jener Jahre gerichtet und hatte, anders als Bucharins Artikel, keine unmittelbaren politischen Implikationen. Was beide Plädoyers für die Abenteuerliteratur verband, war vielmehr der Wunsch nach einer Erneuerung der zeitgenössischen Literatur vor dem Hintergrund des Anbruchs einer neuen Zeit in der noch jungen Sowjetunion. In diesem Kontext wird der „Abenteuerroman“ (avantjurnyj bzw. priključenčeskij roman) zum wichtigen Schlagwort im Prozess der Suche nach einer neuen Literatur, in der literarischen Praxis genauso wie in der Theorie. Boris Ėjchenbaum beispielsweise schreibt 1922, dass die russische Literatur am Anfang einer neuen Phase stehe, in der vom „psychologischen Roman Tolstojs und Dostoevskijs“ Abschied genommen werde und „komplexe Sujetformen“ entwickelt werden wie der „Abenteuerroman, den es in Russland noch nicht gab.“12

Um die Mitte der 1920er Jahre, am Höhepunkt der „Neuen Ökonomischen Politik“, gewissermaßen selbst eine intensive Abenteuerzeit in der noch jungen Geschichte der Sowjetunion, wird die sowjetische literarische Kultur von einem ‚Abenteuerfieber‘ erfasst, das zu unterschiedlichen literarischen Experimenten und theoretischen Reflexionen in dieser und über diese Gattung führt. Das Spektrum reicht von patriotischer Jugendliteratur über den Bürgerkrieg13 bis zur metaliterarischen Parodie westlicher Abenteuerliteratur,14 von der frühen Science-Fiction15 bis zum pikaresken Roman, u.a. über die Gaunerwelt der NÖP (Neue Ökonomische Politik).16 Als theoretisches Pendant zu diesen Werken, und häufig in direktem Dialog mit ihnen stehend, fungieren die Reflexionen über das erzählte Abenteuer, die in denselben Jahren im Umkreis des Formalismus, bei Boris Grifcov, Michail Bachtin, Leonid Grossman und anderen sowjetischen Literaturwissenschaftlern entstehen. Es sei gleich angemerkt, dass der Begriff ‚Abenteuerliteratur‘ in jenen Jahren weit gefasst war. Die Formalisten, darunter vor allem Viktor Šklovskij und Boris Ėjchenbaum, sowie dem Formalismus nahestehende Theoretiker wie Boris Tomaševskij verwenden den Begriff Abenteuerliteratur (avantjurnaja literatura) als Synonym für Fabel- bzw. Sujetgenres (fabul’nye, sjužetnye žanry), für Genres also, in denen die Intrigenhandlung und die Spannung über die Montage statischer Motive ohne temporal-kausale Verbindung dominiert.17 Mit dem Begriff avantjurnaja literatura fassten diese Theoretiker nicht nur den klassischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts, sondern auch zeitgenössische Detektiv- und Kriminalromane, den mittelalterlichen Ritterroman und den Schelmenroman der frühen Neuzeit. Darüber hinaus setzt Viktor Šklovskij den Abenteuerroman in seiner Funktionsweise auch dem Märchen gleich.18 Michail Bachtin, der in den 1920er Jahren sich zunächst mit dem Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts und seinen Einfluss auf Dostoevskij beschäftigt (s.u.), wird in den 1930er Jahren, in seiner Arbeit über den Chronotopos, auch den hellenistischen Roman als Abenteuerroman bezeichnen. Von dieser weit gefassten Vorstellung von Abenteuerliteratur zeugt auch Dmitrij Blagojs Artikel Avantjurnyj roman („Abenteuerroman“) in der Literaturnaja ėnciklopedija („Literarische Enzyklopädie“, 1925), in dem die Geschichte des Abenteuerromans bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sich wie die Geschichte des europäischen Romans liest, wobei auch für das 19. Jahrhundert und den Beginn des 20. Jahrhunderts alles, was nicht „psychologischer Roman“ ist, zum Abenteuerroman gezählt wird.19

Der Beginn der theoretischen Beschäftigung mit der Abenteuerliteratur in den sowjetischen 1920er Jahren geht auf die russischen Formalisten zurück. Bei ihnen fungiert der Abenteuerroman als Inbegriff der literarischen Sujethaftigkeit (sjužetnost’) und steht in Opposition zum psychologisch motivierten, realistischen Roman des 19. Jahrhunderts. So lobt Viktor Šklovskij in Sentimental’noe putešestvie (Sentimentale Reise, 1923) – selbst ein Beispiel für metapoetische Abenteuerliteratur – seine ‚Serapionsbrüder‘ Lev Lunc und Veniamin Kaverin dafür, dass sie in der Lage seien, „ein kompliziertes Sujet ohne psychologische Motivierung“ zu schaffen.20 Vor dem Hintergrund der komplexen Illusionsästhetik des Realismus stellt der Abenteuerroman – aufgrund seiner einfachen Erzählstruktur (Boris Ėjchenbaum spricht von einer „primitiven“ Gattung)21 – die eigenen Sujet-Mechanismen und literarische Bedingtheit (uslovnost’) zur Schau. So wird der Abenteuerroman zum Paradebeispiel für jene Bloßlegung des Verfahrens, die für den frühen Formalismus bekanntlich als Quintessenz der Kunst gilt. Besonders Viktor Šklovskij entwickelt seine Sujettheorie größtenteils anhand der Abenteuerliteratur.22 Diese dient ihm zum einen als Beispiel für den Sujettyp des „gewundenen Weges“ (tip krivoj dorogi), wobei in ihr das Verfahren der verfremdenden „Verzögerung bzw. Verlangsamung“ (zamedlenie bzw. zaderžka) der Handlung genauso wie im Märchen motiviert wird, d.h. einzig durch die Forderung des Sujets und nicht durch die äußere Wirklichkeit.23 Zum anderen untersucht Šklovskij anhand des Detektivromans das „Sujet-Rätsel“ (sjužet zagadka/razgadka), d.h. die Technik des Geheimnisses, der Verrätselung und Enträtselung,24 der Konstruktion des Sujets „von hinten“, wie es Boris Ėjchenbaum formulierte.25

Innerhalb der formalistischen Sujettheorie kommt dem Abenteuerprotagonisten eine Rolle zu, die deutlich von der abweicht, die die Literaturwissenschaft ihm üblicherweise zuschreibt. Als Mittelpunkt und Träger der Handlung, als Identifikationsfigur für den Leser wird der (fast ausnahmslos männliche) Abenteuerheld in der Regel als eine charismatische Figur betrachtet, die sich aus seiner Umwelt deutlich heraushebt, sich auf kontingente, unabsehbare Ereignisse einlässt und diese meistert.26 Abenteuerprotagonisten sind zwar psychologisch statische, flache Figuren, sie haben auch keinerlei Bezug zum Alltag des Lesers,27 sind aber zugleich Dreh- und Angelpunkt der Handlung, denn ihre Hauptfunktion besteht darin, „in der Umwelt Identitäten herzustellen.“28 Für die russischen Formalisten ist hingegen das zentrale Agens des Abenteuerromans das Sujet. Im russischen Formalismus fällt der Abenteuerheld einer Befreiungsaktion der Literatur aus dem Zwang psychologischer Wahrscheinlichkeit der Figuren des Realismus zum Opfer. Jurij Tynjanov bringt diesen Aspekt auf den Punkt, als er 1924 schreibt: „Der psychologische Roman mit einem Helden, der denkt und denkt, hat sich abgenutzt. Die psychologische Gewichtung ist nicht mehr der notwendige Kern – sie wurde einfach zur Last. Zu ihrer Ablösung fordern wir die niet- und nagelfeste Fabel heraus.“29

Wenn somit das Sujet also zum wahren Helden des Abenteuerromans deklariert wird, geschieht das ganz im Sinne des frühen Formalismus, bei dem – nach Roman Jakobson – das „Verfahren“ (priëm) als der „einzige ‚Held‘“ der Literaturwissenschaft verstanden werden soll.30 In diesem Sinne ist der literarische Held lediglich ein Verfahren, und zwar ein Verfahren der Sujetkonstitution.31 Insofern er vom Sujet determiniert ist, ist er, wie bei Šklovskij „ohne Charakter“ (bescharakteren).32 Seine Funktion im Abenteuerroman ist es, „Bindeglied“ (soedinitel’naja nit’) im Sujet zu sein,33 das – nach Boris Ėjchenbaum – „vom schnellen und verschiedenartigen Wechsel der Ereignisse und Situationen bestimmt wird.“34 In einem „Roman der Anreihung“ bzw. „Episodenroman“ (roman nanizyvanija),35 der prinzipiell unabschließbar ist,36 verbindet der Abenteuerheld einzelne Episoden und Motive miteinander, ohne an Individualität zu gewinnen: Abenteuerhelden als reine Funktionen des Sujets sind vollkommen austauschbar, wie Šklovskij am Beispiel von Sherlock Holmes zeigt.37 Unabhängig davon, wie die Forderungen des Sujets in einem Abenteuerroman sind, d.h. ob es sich – Šklovskijs Terminologie folgend – um einen „Stufenbau“ (stupenčatoe stroenie) handelt, in dem die aneinander gereihten Episoden die Funktion von Spannungserzeugung durch „Verlangsamung“ (zaderžanie) haben, oder ob es sich um das Rätselsujet der mystery novel (novella bzw. roman tajn) handelt: Der literarische Held ordnet sich in jedem Fall der Mechanik des Sujets unter, und ist darin nur ein Bauteil unter vielen anderen.38

Nach diesem ‚Reset-Prozess‘ des früheren Formalismus, der die Literatur vom psychologischen und ideologischen Ballast befreien will und sie als amimetischer Mechanismus erscheinen lässt, in dem der Protagonist nur ein kleines Rädchen ist, gewinnt der literarische Held in der Entwicklung der formalistischen Sujettheorie allmählich an Kontur: Vom bloßen Mittel der Verknüpfung wird er bei Jurij Tynjanov und Boris Tomaševskij zur Verkörperung der Formdynamik des Werkes. Tomaševskij schreibt diesbezüglich: „Der Held […] stellt einerseits ein Mittel der Verknüpfung der Motive dar, andererseits ist er auch eine Art verkörperte und personifizierte Motivierung der Verbindung der Motive.“39 Der – nach Tynjanov – „dynamische Held“40 als Personifizierung der Sujetfunktion entspricht dem „depsychologisierten“, in der Regel „pikaresken […] skaz-Helden in der Erzähltheorie des F[ormalismus] II und seiner Rolle als Träger der skaz-Maske.“41

Das Interesse der Formalisten an der Abenteuerliteratur schwindet allerdings sehr schnell: Bereits Mitte der 1920er Jahre erklären Jurij Tynjanov und Boris Ėjchenbaum das Experiment der Erneuerung dieser Literatur durch Verfremdung und Parodie für gescheitert.42 Die Gattung Roman an sich mit ihrer dezidierten Fiktionalität steckt für die Formalisten grundsätzlich in der Krise;43 neue Wege sollten nun durch die sujetlose Prosa44 und durch die Faktographie (literatura fakta) beschritten werden.45 Für Boris Ėjchenbaum wurde der Abenteuerroman nicht in der Literatur, sondern auf der Leinwand wiedergeboren.46 Folglich setzen die Formalisten ihre theoretische Beschäftigung mit dem Abenteuer in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre im Bereich der Filmtheorie fort.

In dem von Boris Ėjchenbaum herausgegebenen Sammelband Poėtika Kino („Poetik des Films“, 1927) erläutert Adrian Piotrovskij in seinem Beitrag K teorii kinožanrov (Zur Theorie der Filmgattungen) die Bedeutung des Abenteuers für die Anfänge der Filmkunst sowie Form und Funktion von Abenteuerhelden.47 Piotrovskij geht davon aus, dass die technischen Bedingungen des Films „eine einfache Konstruktion der Fabel, […] eine Transparenz der Motivierung, eine leicht zu erratende und in der Regel voraussagbare Intrige [mit] auffällig hervortretende[n] Wendepunkte[n]“ erfordert.48 Außerdem lässt der Film keine tiefe Charakterisierung der handelnden Figuren zu, stattdessen verlangt er nach ihrer Typisierung, d.h. er befördert das „Auftreten ständiger Darsteller-Masken“49 wie Charlie Chaplin oder Harold Lloyd. Das „abgelebte Boulevardmuster des Abenteuerromans“50 mit der „Entwicklung einer Fabel durch die Verkettung rein äußerlicher dynamischer Teile, durch das Zusammenstoßen einiger weniger klar umrissener, stabiler Maskenfiguren [entsprach daher] ganz den Möglichkeiten des Films.“51 Die Abenteuerfilmhelden werden – wie die Helden der Abenteuerliteratur – durch das Sujet determiniert, das aus einer „äußeren Hast von Bewegungen, Hin- und Herlauferei und Verfolgungsjagden“52 besteht. Deshalb, so Šklovskij in Bezug auf Charlie Chaplin, „hat man wie in der italienischen Komödie sogenannte Masken erfunden, das heißt handelnde Personen, die in allen Filmen wiederkehren, um deren jeweils neue Einführung zu vermeiden.“53 Erst durch die Verschiebung der Filmkunst auf die innere Dynamik der Montage, die zu einem Verfall des schnell automatisierten Abenteuerfilms führte, konnte sich die Masken-Figur, so Piotrovskij, vom trivialen Filmsujet emanzipieren und die Funktion „eines Vermittlers zwischen dem Zuschauer und der närrischen Welt der Dinge [übernehmen].“ Ein neuer Filmheld sei in diesem Sinne Buster Keaton, der „die Rolle eines gleichgültigen und leidenschaftslosen Führers durch das Panoptikum der Überraschungen spielt, […] eines kaltblütigen Wegweisers, der inmitten von lachhaften Dingen niemals lächelt […].“54

Wenn also für die Formalisten der literarische bzw. filmische Protagonist nur dann an Profil gegenüber dem Sujet gewinnen kann, wenn er, wie Buster Keaton, aus der Abenteuergattung ‚heraustritt‘, entwickeln andere sowjetische Literaturtheoretiker der 1920er Jahre differenziertere Positionen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Held und Sujet im Abenteuerroman. Boris Grifcov, korrespondierendes Mitglied der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften,55 gründet in der Studie Teorija romana („Theorie des Romans“, 1927) seine Überlegungen zur (In)aktivität und den Handlungsmöglichkeiten des Abenteuerprotagonisten im Verhältnis zum prototypischen Abenteuersujet auf die Unterscheidung von zwei Arten des Abenteuerromans: aventjurnyj und avantjurnyj roman. Aventura bezeichne im „ursprünglichen Sinne“ ein „seltsames, erstaunliches Geschehen, ein unmotiviertes Ereignis“, womit ein aventjurnyj roman folglich ein Abenteuerroman sei, der, wie der mittelalterliche, auf einer Serie „unerwarteter Ereignisse“ basiert, während der moderne avantjurnyj roman auf einen „dynamischen, energischen Helden“ aufbaue, der das Abenteuer sucht.56

Grifcovs terminologische Unterscheidung zeugt davon, dass in der sowjetischen Literaturtheorie jenseits des Formalismus ein Bewusstsein für die sujetbestimmende, zentrale Funktion des Protagonisten von Abenteuerromanen wächst. Eine ähnliche Verschiebung lässt sich auch bei Nikolaj Aseev beobachten, Mitglied der literarischen Gruppe LEF (Linke Front der Künste)57 und Verfasser des Drehbuchs zum Abenteuerfilm Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiken (1924).58 In seinem Artikel Ključ sjužeta (Der Schlüssel des Sujets, 1925) plädiert Aseev – dem Zeitgeist entsprechend – für eine Aufwertung der Sujethaftigkeit (sjužetnost’) in der russischen Erzählkunst, wobei auch Aseev Sujethaftigkeit zum Kriterium der schönen Literatur schlechthin erhebt. Auch wenn Aseev nach Verallgemeinerung dieses Kriteriums strebt, beziehen sich seine Überlegungen über das Verhältnis zwischen Held und Sujet insbesondere auf die Abenteuerliteratur. Dabei nimmt Aseev im Kontext der damaligen Debatte über die Sujethaftigkeit der Literatur eine besondere Stellung ein: Eine zentrale Forderung des Sujetaufbaus sieht Aseev darin, dass der literarische Protagonist „eine reale Biographie [braucht].“59 Das klassische Sujetschema bestehe darin, dass ein gewöhnlicher Mensch in eine für ihn ungewöhnliche Situation versetzt wird: Hier beginne seine „Romanzeit“, sein „Sujetleben“, das seine „wirkliche Biographie“ zerstöre.60 „Der Schlüssel des Sujets“ – so Aseev – „liegt immer im Zusammenprall des biographischen Durchschnitts der Figuren mit ihrem literarischen Sujetschicksal.“61 Nach Aseev kann also der literarische Protagonist durch seine so sich konfigurierende literarische Biographie das Sujet hervorbringen. Mit einer solchen literarischen Biographie ausgestattet wird er zur Bedingung der Sujetkonstitution und nicht umgekehrt.

Die theoretische Erforschung der Abenteuerliteratur in den sowjetischen 1920er Jahren erhält weitere Impulse aus der zeitgenössischen Dostoevskij-Forschung, die um das Jubiläumsjahr 1921 zahlreiche neue Publikationen hervorbringt. Im Kontext einer Aufwertung der Poetik Dostoevskijs, die sich gegen die ausschließlich philosophischen, psychologistischen und symbolistischen Deutungen seines Werkes richtet,62 werden auch Verfahren durchleuchtet, die zur „Unterhaltsamkeit“ und Spannung (zanimatel’nost’) seiner Romane beitragen. Dieser Aspekt der Poetik Dostoevskijs wird auf den Einfluss des westlichen Abenteuerromans des 19. Jahrhunderts (Eugène Sue, Frédéric Soulié, Alexandre Dumas, Charles Dickens u.a.) zurückgeführt und auf formaler Ebene untersucht.63 Michail G. Davidovič beispielsweise identifiziert in seinem Beitrag Problema zanimatel’nosti v romanach Dostoevskogo („Das Problem der Unterhaltsamkeit in den Romanen Dostoevskijs“, 1924) zahlreiche Spannungsverfahren bei Dostoevskij, die fast ausschließlich zur narrativen Ebene des Sujets gehören, wie unterschiedliche Formen von Prolepse, Auslassungen in der Darstellung der Ereignisse, Verlangsamung der Handlung, ihre abrupte Unterbrechung oder auch die narrative Gestaltung von dramatischen Höhepunkten. Die Modellierung literarischer Protagonisten als „geheimnisvoll“ („zagadočnyj“) in der Tradition des Abenteuerromans, beispielsweise Nikolaj Stavrogin in Besy (Die Dämonen, 1873), ist dabei nur eins der vielen Spannungsverfahren, die Davidovič beschreibt, ohne jedoch zu erläutern, in welchem Verhältnis sie zu einander stehen.64 Zwischen Abenteuerhelden und -sujet besteht bei Davidovič kein hierarchisches Verhältnis der Determinierung, vielmehr existieren beide Elemente nebeneinander.

Der Hauptvertreter der poetologischen Lesart Dostoevskijs in den 1920er Jahren ist Leonid Grossman, Autor der vielbeachteten Monographie Poėtika Dostoevskogo („Die Poetik Dostoevskijs“, 1925). Aus der Sicht Grossmans schuf Dostoevskij den „philosophischen Abenteuerroman“ (avantjurno-filosofskij roman), dessen – in der Forschung bislang „vernachlässigte“ – „künstlerische Verfahren“ (chudožestvennye priëmy)65 Grossman untersucht, indem er den Einfluss des westeuropäischen, insbesondere französischen Abenteuerromans (Eugène Sue, Frédéric Soulié, Alexandre Dumas u.a.) auf Dostoevskij biographisch-philologisch ausführlich rekonstruiert.66 Dabei konstatiert Grossman, dass Dostoevskij wohl „kein Attribut des alten Abenteuerromans unberücksichtigt gelassen hat“, beispielsweise „mysteriöse Verbrechen und Massenkatastrophen, Adelstiteln und unverhoffte Glücksfälle“ oder das melodramatische Handlungselement des „Umherirrens von Aristokraten in den Elendsvierteln und ihre Verbrüderung mit den niederen Schichten der Gesellschaft.“67

Bei Grossman findet eine wichtige Akzentverschiebung in der Konzeptualisierung von Abenteuerliteratur statt: Das Hauptverfahren der Abenteuerliteratur, die Dostoevskij aufgreift und weiterentwickelt, sei nicht so sehr eine besondere Form der Sujetfügung, sondern betreffe in erster Linie den Abenteuerprotagonisten in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Der Typus des „Schurken und Bösewichts“ („negodjaj i zlodej“) beispielsweise habe einen tiefen Einfluss auf die Figur des Stavrogin in Besy (Die Dämonen, 1873) gehabt:

Trotz der tiefen philosophischen Bedeutung der Figur des Stavrogin in ihrer endgültigen Fassung erinnert ihre äußere Geschichte an einen Trivialroman. Viele Fakten des Helden des Romans Die Dämonen wiederholen die Abenteuer des Rudolf aus Die Geheimnisse von Paris. Dieser Held von Eugène Sue ist außerordentlich typisch.68

Grossman sieht die Funktion der klassischen Abenteuerwelt in Dostoevskijs Romanen in drei Aspekten: Zum einen habe Dostoevskij durch das „unterhaltsame Abenteuersujet“ das Interesse des Lesers wecken und ihm dadurch den Weg durch das „Labyrinth“ philosophischer Ideen und komplexer Psychologie erleichtern wollen.69 Zum anderen habe Dostoevskij im Abenteuerroman, wie ihn etwa Eugène Sue schrieb, eine sympathetische Darstellung der „Erniedrigten und Beleidigten“ („unižennye i oskorblennye“) der Gesellschaft gefunden. Und schließlich habe Dostoevskij ein typisches Element des „Melodramas“ übernommen: „Das Bemühen, in das Dickdicht des Alltags mit dem Außerordentlichen einzudringen, nach dem romantischen Prinzip das Erhabene mit dem Grotesken zu verbinden.“70

An diese Bestimmung der Funktionen des Abenteuerlichen knüpft Michail Bachtin in der ersten Ausgabe seines Dostoevskij-Buchs an, das 1929 unter dem Titel Problemy tvorčestva Dostoevskogo („Probleme des Schaffens von Dostoevskij“) erscheint.71 Im vierten Kapitel mit dem Titel „Funkcii avantjurnogo sjužeta v proizvedenijach Dostoevskogo“ („Funktionen des Abenteuersujets in Dostoevskijs Werken“), das den ersten Teil der Studie mit dem Titel „Polifoničeskij roman Dostoevskogo“ („Der polyphone Roman Dostoevskijs“) abschließt, verweist Bachtin ausführlich auf Grossmans Untersuchung, mit der er einige Ergebnisse teilt, kommt aber zu einer anderen Bewertung der Funktion des Abenteuersujets und des Abenteuerhelden bei Dostoevskij.72 Über den Schreibprozess an der ersten Ausgabe des Dostoevskij-Buchs wissen wir so gut wie nichts;73 erhalten sind aber einige Aufzeichnungen von Bachtins Vorlesungen über die russische Literatur, die er in Vitebsk und Leningrad in den 1920er Jahren in seiner Wohnung für private Zuhörer hielt. Die Notizen wurden von seiner Schülerin Rachil’ Mirkina angefertigt.74 In der Vorlesung über Dostoevskij, die im Jahr 1925 gehalten wurde, spielt der intertextuelle Bezug auf die westeuropäische Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts im Werk Dostoevskijs eine große Rolle. Die Kurzcharakterisierung einiger Werke Dostoevskijs beginnt beispielsweise mit dem Verweis auf deren „Abenteuerform“:

Erniedrigte und Beleidigte. Der Form nach handelt es sich um einen typischen Abenteuerroman im Stil von Sue und Dumas. […] Schuld und Sühne. Dieses Werk gründet der Form nach auf dem Abenteuer. […] Der Form nach ist Der Idiot ein Abenteuerroman, verkompliziert durch eine philosophisch-psychologische Problematik.75

Diese zunächst neutrale Beschreibung literarischen Abenteuers erhält allerdings an vielen anderen Stellen eine pejorative Wertung, die sich von der deskriptiv-analytischen, zum Teil ausdrücklich positiven Beurteilung des Abenteuerlichen im Werk Dostoevskijs der Literaturkritik der Zeit (s.o.) deutlich unterscheidet. Über den unvollendet gebliebenen Feuilletonroman Netočka Nezvanova (1849) beispielsweise notiert Mirkina: „Der erste Teil dieser längeren Erzählung ist wunderbar ausgearbeitet, aber dann flechtet sich das Abenteuerliche ein, an dem der Text abbricht.“76 Pejorative Begriffe wie „Abenteuerverworrenheit“ („aventjurnaja zaputannost’“)77 und narratives „Durcheinander“ („putanica“)78 verwendet Bachtin, um das erzählerische Chaos zu beschreiben, das Abenteuersujets in Texten mitunter verursachen würden. Sehr kritisch äußert sich Bachtin auch über die Versuche einer Neuschaffung des Abenteuerromans in der zeitgenössischen russischen Literatur (s.o.), deren Möglichkeit er grundsätzlich abstreitet.79 Die Abenteuerromane von Aleksej Tolstoj Aėlita (1923) und Pochoždenija Nevzorova, ili Ibikus (Ibykus, 1924) verreißt er regelrecht: Letzteres sei „der Versuch, den neuen Abenteuerroman mit einem modernen Helden zu schaffen“, dabei handle es sich aber um keinen seriösen Roman, sondern „einfach um Literatur in Anführungsstrichen.“80

Bachtin ist auch in seinem Dostoevskij-Buch nicht an einer Aufwertung der Abenteuerliteratur an sich interessiert, will aber die Rolle des Abenteuers für die Etablierung des polyphonen Romans bei Dostoevskij aufzeigen.81 Dabei betont er, dass nicht Unterhaltsamkeit bzw. Spannung (zanimatel’nost’) an sich das Ziel Dostoevskijs gewesen sei, sondern vielmehr eine ‚Befreiung‘ der im Roman dargestellten Menschen, und zwar sowohl aus der Autorität des Sujets einerseits und der Autorität des Autors andererseits. Bachtin geht hier von der Prämisse aus, dass das Sujet nicht im Zentrum der Poetik Dostoevskijs steht, sondern die durch die Autonomie der Helden ermöglichte Polyphonie.82 Bei Dostoevskij sei, so hat es Sasse formuliert, die Beziehung zwischen Autor und Held, im Sinne des polyphonen Romans, eine dialogische Beziehung „zweier Bewußtseine, zweier Subjekte“.83 Bachtin zeichnet nach, wie Merkmale des Abenteuersujets Dostoevskij ermöglichen, eine solche Beziehung zwischen den Subjekten seiner Romane zu erreichen. In seinen Ausführungen dazu verwendet Bachtin Charakterisierungen des Abenteuerprotagonisten, die einige Elemente seiner späteren Ausführungen zum „Abenteuermenschen“ („avantjurnyj čelovek“) im antiken Abenteuerroman in „Formy vremeni i chronotopa v romane“ („Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman“, 1937–39) vorwegnehmen, auch wenn der literaturhistorische Kontext hier ein anderer ist.

In seinen Ausführungen zu Dostoeveskij stellt Bachtin den Helden im „biographischen Sittenroman und im Familienroman“ dem Helden im Abenteuerroman gegenüber. Das Abenteuersujet ermögliche Dostoevskij Helden zu erschaffen, die außerhalb des klassischen „biographischen Sujets“ („biografičeskij sjužet“) des realistischen, sozial-psychologischen Romans stehen. Im biographischen Roman werde der literarische Held durch das Sujet insofern determiniert, als ihm die dort zu erwartende Sujetlogik eine bestimmte Rolle zuweise (z.B. als Vater, Ehemann, Liebhaber, Gutsbesitzer usw.), so seine Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen vorschreibe und Kontingenz (slučajnost’) ausschließe: „Die Helden werden als Helden vom Sujet selbst hervorgebracht. Das Sujet ist nicht nur ihre Kleidung, sondern ihr Körper und ihre Seele.“84 Der Abenteuerroman hingegen versetze den Menschen durch seine Sujetgesetze in „Ausnahmesituationen“ und lasse ihn „unter ungewöhnlichen Umständen mit anderen Menschen zusammentreffen und kollidieren“,85 wobei – und darauf kommt es Bachtin an – die „Idee, d.h. der Mensch im Menschen“ sich erproben könne:86 „Mit dem Helden eines Abenteuerromans kann alles passieren, alles kann aus ihm werden. […] Das Sujet des Abenteuerromans […] ist eine Kleidung, die der Held wechseln kann, so oft es ihm beliebt.“87 In diesem Sinne handele im Abenteuersujet der „Mensch als Mensch“, frei von jeglicher sozialer oder biographischer Determinierung. Das Abenteuersujet schafft „Situationen“ („položenija“), die nicht abgeschlossene Lebensformen sind, sondern situative Begebenheiten, in denen der Mensch, und nicht der Aristokrat oder der Gauner, zum Handeln gezwungen wird: „Das Abenteuersujet ist in diesem Sinne zutiefst menschlich. Alle sozialen und kulturellen Institutionen, Bestimmungen, Stände, Klassen und Familienverhältnisse sind nur Situationen, in die der ewig gleiche Mensch geraten kann.“88

Bachtin macht deutlich, dass all das nicht heißt, dass Dostoevskijs Helden Abenteuerhelden sind. In polemischer Absetzung von Grossman, der behauptet hatte, dass Dostoevskijs Figuren an Helden der Abenteuerliteratur angelehnt seien, z.B. Stavrogin an Prinz Rudolf aus Die Geheimnisse von Paris von Sue, stellt Bachtin klar, dass ein Abenteuerprotagonist eine an sich grob geschnitzte, nur situativ existierende Figur ist, der „außerhalb des Sujets leer [ist] und auch keinerlei Verbindungen zu anderen Helden eingeht, die außerhalb des Sujets lägen.“89 Dabei greift Bachtin (implizit) die formalistische Definition des Abenteuerhelden als „reine Funktion der Abenteuer“90 auf, um gleichzeitig aber zu betonen, dass dieser Held, der an sich „keine Substanz“ ist, von Dostoevskij zum „Menschen der Idee“, zum Helden des polyphonen Romans transformiert werde.

Mit Bachtins Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Abenteuerhelden und Abenteuersujet im Werk Dostoevskijs endet eine äußerst produktive Phase in der frühsowjetischen Literaturtheorie, in der das erzählte Abenteuer einer Analyse unterzogen wird, die als Ausgangspunkt für unterschiedliche Konzepte und Theorien des Literarischen fungiert, von der Sujettheorie zur narrativen Spannung bis zur Polyphonie im Roman. In der Konstitutionsphase des Sozialistischen Realismus, in den frühen 1930er Jahren, verändert sich die theoretische Diskussion über die Abenteuerliteratur insofern grundlegend, als deren Funktion im Kontext der neuen staatlichen Kunstdoktrin zunehmend problematisiert wird.91 Das Abenteuer gerät nun von mehreren Seiten unter Druck, einerseits durch die spätavantgardistische Faktographie und andererseits durch die Epopöe des sozrealistischen Romans: In den programmatischen Diskussionen über Literatur fungiert es als negative Folie, als Relikt einer zu überwindenden bürgerlichen Vergangenheit.

1

Vgl. Michael Nerlich, Kritik der Abenteuer-Ideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewusstseinsbildung 1100–1750, Berlin: Akademie-Verlag 1977; Volker Klotz, Abenteuer-Romane. Sue, Dumas, Ferry, Retcliffe, May, Verne, München: Syndikat 1979; Jutta Eming u. Ralf Schlechtweg-Jahn (Hgg.), Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, Göttingen: V&R unipress 2017; Vladimir Jankélévitch, L’aventure, l’ennui, le sérieux, Paris: Flammarion 2017. Zum Erzählmuster der mittelalterlichen âventiure vgl. Mireille Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Beziehungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd Dicke u.a., Berlin u. New York: de Gruyter 2006, S. 370–375.

2

Georg Simmel, „Philosophie des Abenteuers“, in: ders., Gesamtausgabe in 24 Bänden, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000–2017, Bd. 12, hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Ramstedt, S. 97–110.

3

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, Bd. 14, bes. S. 219.

4

Michail M. Bachtin, „Formy vremeni i chronotopa v romane. Očerki po istoričeskoj poėtike“, in: ders., Sobranie sočinenij, 7 Bde, Moskau: Jazyk slavjanskich kul’tur 2012, Bd. 3, S. 341–503. Dt. Übersetzung: Michail M. Bachtin, Chronotopos, übers. v. Michael Dewey, hg v. Michael C. Frank u. Kristen Mahlke, 3. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2014.

5

Ausnahmen finden sich ausschließlich in der slavistischen Forschung. Vgl. u.a. die Darlegung der Bedeutung von Abenteuerliteratur und trivialen Genres im Allgemeinen für die formalistische Theoriebildung in Aage A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978, bes. S. 515–530. Zur formalistischen Theorie des Abenteuerromans im Kontext der frühsowjetischen Abenteuerliteratur vgl. die grundlegende Monographie von Matthias Schwartz, Expeditionen in anderen Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, Köln u.a.: Böhlau 2014, S. 135–143.

6

Wolf Schmid (Hg.), Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen, Berlin u. New York: de Gruyter 2009.

7

Die Begriffe „Abenteuerheld“ und „Abenteuerprotagonist“ werden im vorliegenden Beitrag synonym verwendet, entsprechend ihrer Bedeutung sowohl im Deutschen als auch im Russischen, wo das Wort „geroj“ auch beides meint. Um eine besondere Heldenhaftigkeit des Abenteuerhelden geht es dabei nicht.

8

Es handelt sich um die erste Ausgabe von Bachtins Dostoevskij-Studie, die in überarbeiteter Form 1963 unter dem Titel Problemy poėtiki Dostoevskogo (Moskau: Sovetskij pisatel’; dt.: Probleme der Poetik Dostoevskijs, übers. v. Adelheid Schramm, München: Carl Hanser 1971) erschien und, dank Julia Kristeva, international breit rezipiert wurde.

9

Vgl. Boris Dralyuk, Western Crime Fiction Goes East. The Russian Pinkerton Craze 1907–1934, Leiden u. Boston: Brill 2012; Schwartz, Expeditionen, S. 47–82. Ferner: Dmitrij Nikolaev, Russkaja proza 1920–1930ch godov, Moskau: Nauka 2007.

10

Falls nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von mir, R. N. „[…] легкая, занятная, интересная фабула […].“ Nikolaj Bucharin, „Kommunističeskoe vospitanie molodeži v uslovijach NĖPa“, in: Pravda, 14. Oktober 1922, S. 2. Vgl. dazu Schwartz, Expeditionen, S. 85–91; Dralyuk, Western, S. 83–95.

11

Lev N. Lunc, Die Affen kommen. Erzählungen – Dramen – Essays – Briefe, Münster: Johannes Lang 1989, S. 267–280, hier S. 271–279. „Чем блещет новелла последних лет? Изысканным языком, великолепным изощрённым стилем. Или: тонкой психологией, удивительными типами, богатой идеологией. Но нет занимательности. Скучно, скучно! […] Все потому, что мы презрели фабулу. […] Двух мотивов связать, уже не умеем. Разучились. Стали безграмотными. […] Поэтому я кричу на Запад! На западе могучая фабульная традиция, и там мы будем вне заразительной близости Ремизова и Белого. […] Тот, кто хочет создать русский авантюрный роман, должен учиться на Западе, ибо в России учиться не у кого.“ Lev Lunc, „Na zapad!“ [1922], in: ders., „Obez’jany idut!“ Proza. Dramaturgija, Publicistika. Perepiska, St. Petersburg: Inapress 2003, S. 343–351, hier S. 346, 350 f. Vgl. dazu Aage A. Hansen-Löve, „‚Wir sind zur einfachsten Kriminalhandlung unfähig …‘. Experimentelle Schundliteratur der russischen 20er Jahre“, in: Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre, hg. v. Martin von Koppenfels u. Manuel Mühlbacher, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, S. 237–261.

12

„Мы вступаем, по-видимому, в новую полосу русской прозы, которая ищет новых путей – вне связи с психологическим романом Толстого или Достоевского. Предстоит развитие сложных сюжетных форм – быть может возрождение авантюрного романа, которого Россия еще не имела.“ Boris Ėjchenbaum, Molodoj Tolstoj, Petersburg u. Berlin: Izdatel’stvo Z.I. Gržebina 1922, S. 9.

13

Vgl. dazu Schwartz, Expeditionen, S. 83–127.

14

Vgl. u.a. Mariėtta Šaginjans Mess Mėnd, ili Janki v Petrograde (Mess Mend oder die Yankees in Petrograd, 1924); Viktor Šklovskijs und Vsevolod Ivanovs Iprit („Yperit“, 1925). Zu Šaginjans Mess Mend vgl. Brigitte Obermayr, „Sieben Jahre und noch immer ‚selbstbezogen, revolutionär‘? Revolution und Abenteuerroman in Mariėtta Šaginjans Mess Mėnd, ili Janki v Petrograde“, in: Revolution und Avantgarde, hg. v. Anke Niederbudde u. Nora Scholz, Berlin: Frank & Timme 2018, S. 261–286. Zu Šklovskijs und Ivanovs Iprit vgl. Brigitte Obermayrs Beitrag im vorliegenden Band.

15

Vgl. u.a. Aleksej Tolstojs Aėlita (1923).

16

Vgl. u.a. Il’ja Ėrenburgs Neobyčajnye pochoždenija Chulio Churenito i ego učenikov (Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger, 1922); Aleksej Tolstojs Pochoždenija Nevzorova ili Ibikus (Ibykus, 1924); Valentin Kataevs Rastratčiki (Die Hochstapler, 1925/26); Veniamin Kaverins Konec chazy (Das Ende einer Bande, 1925); Il’ja Il’fs und Evgenij Petrovs Dvenadcat’ stul’ev (Zwölf Stühle, 1928) und Zolotoj telënok (Das goldene Kalb, 1931).

17

Siehe u.a.: Viktor Šklovskij, „Svjaz’ priëmov sjužetosloženija s obščimi priëmami stilja“/„Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“ [1919], in: Texte der russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, Bd. 1, München: Wilhelm Fink 1969, S. 36–121, insb. S. 78–99; Viktor Šklovskij, Literatura i kinematograf, Berlin: Vseobščaja biblioteka 1923 (engl. Übers.: Viktor Shklovsky, Literature and Cinematography, übers. v. Irina Masinovsky, Champaign u. London: Dalkey Archive Press 2008); Viktor Šklovskij, „Novella tajn/Roman tajn“, in: ders., Teorija prozy, Moskau u. Leningrad: Krug 1925, S. 97–138 (gekürzte dt. Übersetzung: Viktor Schklovskij, „Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle“, in: Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, hg. v. Jochen Vogt, München: Wilhelm Fink 1971, S. 76–94); Boris Ėjchenbaum, „O. Genri i teorija novelly“, in: ders., Literatura: Teorija. Kritika. Polemika, Leningrad: Proboj 1927, S. 166–209; Boris Tomaševskij, Teorija literatury. Poėtika, 4. Ausgabe, Moskau u. Leningrad: Gosudarsvtennoe izdatel’stvo 1928, S. 193.

18

Šklovskij, „Svjaz’/Der Zusammenhang“, S. 84 f. Šklovskij knüpft hier an den russischen Folkloristen und frühen Erzähltheoretiker Aleksandr Veselovskij an, der den Abenteuerroman als moderne Fortsetzung des Märchens betrachtet hatte.

19

Dmitrij Blagoj, „Avantjurnyj roman“, in: Literaturnaja ėnciklopedija. Slovar’ literaturnych terminov, Moskau u. Leningrad: L.D. Frenkel’ 1925, Bd. 1, S. 3–10. Vgl. auch den Artikel „Avantjurnyj roman“ („Abenteuerroman“) in der Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija 1926, Bd. 1, Sp. 120–122.

20

„[…] сложный сюжет без психологической мотивировки […]“. Viktor Šklovskij, Sentimental’noe putešestvie, Moskau: Novosti 1990 [1923], S. 267.

21

„Примитивная новелла, как и авантюрный роман, […]“. Boris Ėjchenbaum, „Kak sdelana ‚Šinel“ Gogol’ja“/„Wie Gogol’s ‚Mantel‘ gemacht ist“ [1918], in: Striedter, Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, S. 122–159, hier S. 122 f.

22

Zu Šklovskijs Sujettheorie vgl. Schmid (Hg.), Proto-Narratologie, S. 15–46; Il’ja Kalinin, „Formal’naja teorija sjužeta/strukturalistskaja fabula formalizma“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 128 (2014), S. 1–28. Zur formalistischen Sujettheorie vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 238–273; Viktor Erlich, Russischer Formalismus, übers. v. Marlene Lohner, München: Carl Hanser 1964, S. 266–279.

23

Šklovskij, „Svjaz’/Der Zusammenhang“, S. 75–97.

24

Šklovskij, „Novella tajn/Roman tajn“; Schklovskij, „Die Kriminalerzählung“.

25

Ėjchenbaum, „O. Genri“, S. 160. Vgl. dazu Hansen-Löve, „Kriminalhandlung“, S. 244–248.

26

Vgl. u.a. Klotz, Abenteuer-Romane, bes. S.14–18; Axel Dunker, „Abenteuerroman“, in: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping, Stuttgart: Kröner 2009, S. 1–8; Nerlich, Kritik, S. 21–23; Martin von Koppenfels, „Wissenschaftliches Programm“, DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“, LMU München. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/forschungsgruppe/wissenschaftliches-programm/wissenschaftliches-programm.pdf (04.01.2020), S. 4.

27

So beispielsweise bei Šklovskij: „Читатель любит Тарзана за то, что он вне его быта.“ Viktor Šklovskij, „Tarzan“, in: Sovremennik 3 (1924), S. 253 f., hier S. 254. „Der Leser liebt Tarzan dafür, dass er außerhalb seiner Wirklichkeit existiert.“ Viktor Schklowski, „Tarzan“, in: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen formalen Schule, hg. v. Fritz Mierau, übers. v. Michael Dewey u.a., Leipzig: Reclam 1987, S. 126–129, hier S. 129.

28

Klotz, Abenteuer-Romane, S. 222.

29

Jurij Tynjanov, „Literarisches Heute“, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze, Leipzig u. Weimar: Gustav Kiepenheuer 1982, S. 65–92, hier S. 67. „Стерлась психологическая повесть, с героем, который думает, думает. Психологическая нагрузка перестала быть нужным стержнем – она стала просто грузом. На смену мы вызываем фабулу, крепко свинченную.“ Jurij Tynjanov, „Literaturnoe segodnja“ [1924], in: ders., Poėtika. Istorija literatury. Kino, Moskau: Nauka 1977, S. 150–166, hier S. 151. Wie so oft bei den Formalisten verwendet auch Tynjanov hier den Begriff „Fabel“ („fabula“) eigentlich im Sinne von „Sujet“ („sjužet“), wenn man die kanonisierte Konzeptualisierung der von Viktor Šklovskij eingeführten Termini bei Boris Tomaševskij in seiner Teorija literatury (Theorie der Literatur, 1925) als Grundlage nimmt. Zu „Fabel“ und „Sujet“ im russischen Formalismus vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 3. Aufl., Berlin u. Boston: de Gruyter, S. 205–217.

30

„Если наука о литературе хочет стать наукой, она принуждается признать ‚приëм‘ своим единственным ‚героем‘“. Roman Jakobson, „Novejšaja russkaja poėzija“ [1921], in: ders., Raboty po poėtike, Moskau: Progress 1987, S. 272–316, hier S. 275. „Wenn die Wissenschaft der Literatur zu einer Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das ‚Verfahren‘ als ihren einzigen ‚Helden‘ anzuerkennen.“ Roman Jakobson, „Neuste russische Poesie“, in: Mierau, Erweckung, S. 177–210, hier S. 186. Vgl. Daniel Rancour-Laferriere, „Why the Russian Formalists Had no Theory of the Literary Person“, in: Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 31 (1992), S. 327–337.

31

Vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 258 f.

32

Viktor Šklovskij, „Sjužet u Dostoevskogo“, in: Letopis’ doma literatorov 4 (1921), S. 4 f., hier S. 4.

33

Viktor Šklovskij, „Kak sdelan Don-Kichot“, in: ders., Teorija prozy, S. 70–96, hier S. 71; Viktor Šklovskij, „Wie Don Quijote gemacht ist“, in: ders., Theorie der Prosa, hg. u. übers. v. Gisela Drohla, Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 78–114, hier S. 79.

34

„[…] весь интерес и все движения [примитивной новеллы и авантюрного романа] определяются быстрой и разнообразной сменой событий и положений.“ Ėjchenbaum, „‚Šinel‘“/‚Mantel‘, S. 122 f. Vgl. auch Tomaševskij, Teorija, S. 208: „Роман авантюрный – типично для него сгущение приключений героя и постоянные его переходы от опасностей, грозящих гибелью, к спасению.“ („Typisch für den Abenteuerroman ist die Verdichtung der Abenteuer des Helden und dessen ständiger Wechsel von lebensbedrohlichen Gefahren zur Rettung.“).

35

„Авантюрный роман – роман нанизывания без установки на связующую линию.“ Viktor Šklovskij, Tret’ja fabrika, Moskau: Krug 1926, S. 9; „Der Abenteuerroman ist ein Episodenroman, der auf eine verbindende Linie verzichtet.“ Viktor Šklovskij, Dritte Fabrik, übers. v. Verena Dohrn u. Gabriele Leopold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 8.

36

Viktor Šklovskij, „Stroenie rasskaza i romana“, in: ders., Teorija prozy, S. 56–69, hier S. 56. Viktor Šklovskij, „Der Aufbau der Erzählung und des Romans“, in: ders., Theorie der Prosa, S. 55–77, hier S. 55.

37

Šklovskij, „Novella tajn“, S. 106.

38

Zur Maschinen-Metaphorik im russischen Formalismus vgl. Peter Steiner, Russian Formalism. A Metapoetics, Ithaca u. London: Cornell University Press 1984, S. 44–67.

39

„Герой […] является с одной стороны средством нанизывания мотивов, с другой – как бы воплощëнной и олицетворённой мотивировкой связи мотивов.“ Tomaševskij, Teorija, S. 154.

40

Jurij Tynjanov, Problema stichotvornogo jazyka, Leningrad: Akademia 1924, S. 8–10.

41

Hansen-Löve, Formalismus, S. 259.

42

Vgl. Tynjanov, „Literaturnoe“, S. 150–157 (Tynianov, „Literarisches“, S. 66–77); Boris Ėjchenbaum, „Leskov i sovremmennaja proza/Leskov und die moderne Prosa“ [1925], in: Striedter, Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, S. 208–243, hier S. 238–241. Vgl. auch rückblickend: Viktor Šklovskij, „Jugo-zapad“, in: Literaturnaja gazeta, 5. Januar 1933 (dt.: Viktor Schklowski, „Süd-Westen“, in: Mierau, Erweckung, S. 146–152).

43

Vgl. z.B. Boris Ėjchenbaum, „V poiskach žanra“, in: Sovremennik 3 (1924), S. 228–231 (dt.: Boris Eichenbaum, „Auf der Suche nach der Gattung“, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 79–83).

44

Viktor Šklovskij, „Literatura vne ‚sjužeta‘“, in: ders., O teorii prozy, Moskau: Federacija 1929, S. 226–245 (dt.: Viktor Šklovskij, „Literatur ohne Sujet“, in: ders., Theorie der Prosa, S. 144–163; Osip Brik, „Razloženie sjužeta“, in: Literatura fakta. Pervyj sbornik materialov rabotnikov LEFa, hg. v. N.F. Čužak, Moskau: Federacija 1929, S. 75–78 (dt.: Osip Brik, „Die Zerstörung des Sujets“, in: Mierau, Erweckung, S. 169–171).

45

Literatura fakta. Pervyj sbornik materialov rabotnikov LEFa, hg. v. N.F. Čužak, Moskau: Federacija 1929.

46

Ėjchenbaum, „V poiskach“ (Eichenbaum, „Auf der Suche“); Boris Ėjchenbaum, „Literatura i kinematograf“ [1926], in: ders., Literatura, S. 296–301 (dt.: Boris Ėjchenbaum, „Literatur und Film“, in: Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, hg. v. Wolfgang Beilenhof, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 179–185).

47

Adrian Piotrovskij, „K teorii kinožanrov“, in: Poėtika kino, hg. v. Boris Ėjchenbaum, Moskau u. Leningrad 1927, S. 145–170 (dt.: Adrian Piotrovskij, „Zur Theorie der Filmgattungen“, in: Beilenhof, Poetika, S. 134–156).

48

Piotrovskij, „Theorie“, S. 141. „Для кино, в силу особенностей его демонстрации, обязательна простота фабульного построения, не терпящая далеко разбегающихся параллельных действий, обязательна прозрачность мотивировки, легко разгадываемая, а часто и легко предсказываемая интрига.“ Piotrovskij, „K teorii“, S. 153.

49

Piotrovskij, „Theorie“, S. 142. „[…] появлени[е] постоянных исполнительских масок […]“. Piotrovskij, „K teorii“, S. 155.

50

Piotrovskij, „Theorie“, S. 148. „[…] бульварны[е] образц[ы] романа приключений.“ Piotrovskij, „K teorii“, S. 162.

51

Piotrovskij, „Theorie“, S. 148. „Между тем развитие фабулы на сцеплении внешне-динамических кусков, на сталкивании немногих отчетливо очерченных и устойчивых масок вполне отвечало возможностям кинематографии, в частности на той первоначлаьной стадии ее развития, когда и возник авантюрный жанр.“ Piotrovskij, „K teorii“, S. 162.

52

Piotrovskij, „Theorie“, S. 146. „[…] внешн[яя] стремительность движения, беготни, погони […].“ Piotrovskij, „K teorii“, S. 160.

53

Viktor Šklovskij, „Chaplin“ [1923], in: Beilenhof, Poetika, S. 323–325, hier S. 323. „Так как в кино основным являются комбинации сюжетных мотивов, то для избежания экспозиции действующих лиц и по другим обстоятельствам, о которых я напишу ниже, в кино, как и в итальянской комедии, появились так называемые маски, то есть постоянные действующие лица.“ Viktor Šklovskij, „Čaplin“ [1923], in: ders., Za 60 let. Raboty o kino, Moskau: Iskusstvo 1985, S. 20–22, hier S. 20.

54

Piotrovskij, „Theorie“, S. 147. „Комическая маска актера все более начинает служить […] посредником между зрителями и взбалмошным миром вещей. […] Черты такого хладнокровного путеводителя, не улыбающегося посреди смехотворных вещей, уже носит завершитель жанра ‚комического‘ ˗ Бэстер Китон.“ Piotrovskij, „K teorii“, S. 160.

55

GAChN – Gosudarstvennaja Akademija chudožestvennych nauk.

56

„Может быть, следует даже пользоваться двумя терминами: «авантюрный» и, возвращаясь к первоначальному произношению, «авентюрный». […] Первоначальное слово «авентура» значило «странное происшествие», «причинно не объяснимое событие». […] Роман приключений, именуемый авантюрным, строится на энергическом характере. Роман авентюрный – на неожиданности происшествий.“ Boris Grifcov, Teorija romana, Moskau: GAChN 1927, S. 59–60.

57

Levyj Front Iskusstva.

58

Neobyčajnye priključenija mistera Vesta v strane bol’ševikov, Regie: Lev Kulešov.

59

Nikolaj Aseev, „Der Schlüssel des Sujets“ [1925], in: Schmid, Proto-Narratologie, S. 47–66, hier S. 55. „Одним словом, для героя нужна реальная биография.“ Nikolaj Aseev, „Ključ sjužeta“, in: ders., Dnevnik poėta, Leningrad: Priboj 1929, S. 190–226, hier S. 206.

60

Aseev, „Schlüssel“, S. 55. „Реальная биография героя должна быть разрушена […] сюжетной жизнью героя.“ Aseev, „Ključ“, S. 206.

61

Aseev, „Schlüssel“, S. 59. „Ключ сюжета – всегда в столкновении биографической бытовой судьбы персонажей повествования ˗ с их сюжетной судьбой.“ Aseev, „Ključ“, S. 223.

62

Vgl. Arkadij Dolinins Einführung in den von ihm herausgegebenen Sammelband von 1922, in der er die Arbeiten „über die Form Dostoevskijs“ („работа над формой Достоевского“) für äußerst wichtig erachtet. Arkadij Dolinin (Hg.), F.M. Dostoevskij. Stat’i i materialy, St. Petersburg: Mysl’ 1922, S. III.

63

Kritisch dazu, aus unterschiedlichen theoretischen Positionen, vgl. u.a.: A.Z. Štejnberg, Sistema svobody Dostoevskogo, Berlin: Skify 1923; Aleksandr Skaftymov, „Tematičeskaja kompozicija romana ‚Idiot‘“, in: Tvorčeskij put’ Dostoevskogo. Sbornik statej, hg. v. N.L. Brodskij, Leningrad: Sejatel’ 1924, S. 131–186 (dt.: Aleksandr Skaftymov, „Die thematische Komposition des Romans ‚Der Idiot‘“, in: Schmid, Proto-Narratologie, S. 91–112).

64

M. G. Davidovič, „Problema zanimatel’nosti v romanach Dostoevskogo“, in: Brodskij, Tvorčeskij, S. 104–130.

65

Leonid Grossman, Poėtika Dostoevskogo, Moskau: GAChN 1925, S. 5.

66

Grossman, Poėtika, S. 7–63. Auch Boris Grifcov sieht im Werk Dostoevskijs die Schöpfung eines neuen Romantyps, der aus der Verschmelzung des Abenteuerromans mit dem psychologischen Roman entsteht. Dostoevskij sei ein „aventurier spirituel“, seine Romane stellen „Abenteuer in der Sphäre der Psychologie“ („авантюры в сфере психологии“) dar. Grifcov, Teorija, S. 128–129.

67

„Нет, кажется, ни одного атрибута старого романа приключений, который не был использован Достоевским. Помимо таинственных преступлений и массовых катастроф, титулов и неожиданных состояний, мы находим здесь типичную черту мелодрамы – скитания аристократов по трущобам и товарищеское братание их с общественными подонками.“ Grossman, Poėtika, S. 56.

68

„Какое бы глубокое философское значение ни получил в окончательной обработке образ Ставрогина, вся его внешняя история отдает бульварным романом. Многие факты данного героя ‚Бесов‘ как бы воспроизводят приключения Родольфа из ‚Тайн Парижа‘. Этот герой Эжена Сю необыкновенно типичен.“ Grossman, Poėtika, S. 56.

69

„Он понимал, что трудный путь, предстоящий читателю через лабиринт теорий, образов и человеческих отношений, заключенных в одной книге, должен быть всячески облегчен ему живописью и занимательностью фабулы.“ Grossman, Poėtika, S. 61.

70

„[…] стремление внести исключительность в самую гущу повседневности, слить воедино, по романтическому принципу, возвышенное с гротеском […].“ Grossman, Poėtika, S. 62.

71

Zu den abenteuerlichen Begebenheiten der Publikation des Buches wenige Monate nach der Verhaftung Bachtins vgl. Sylvia Sasse, Michail Bachtin. Zur Einführung, Hamburg: Junus 2010, S. 80–82.

72

In der überarbeiteten Version seines Dostoevskij-Buchs von 1963 erweitert Bachtin dieses Kapitel erheblich: Es enthält nun nicht mehr nur Überlegungen zum Abenteuersujet, sondern auch zum Karneval, zum sokratischen Dialog, zur menippeischen Satire u.a. Das Abenteuersujet wird also Teil einer größeren Reflexion über literarische Gattungen und Traditionen. Die vorliegenden Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf die Ausgabe von 1929.

73

Vgl. Michail Bachtin, Sobranie sočinenij, Bd. 2, Moskau: Russkie slovari 2000, S. 433–435.

74

„Zapisi lekcij M.M. Bachtina po istorii russkoj literatury“, in: Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 213–427.

75

„‚Униженные и оскорбленные‘. По форме – типичный авантюрный роман в духе Сю и Дюма. […] ‚Преступление и наказание‘. Это произведение по форме имеет авантюрную основу […]. По форме ‚Идиот‘ – авантюрный роман, осложнённый философско-психологической проблематикой.“ Bachtin, Zapisi, S. 271–276.

76

„Первая часть этой повести разработана прекрасно, но затем в нее вплетается авантюрный момент, на котором произведение обрывается.“ Bachtin, Zapisi, S. 270.

77

Bachtin, Zapisi, S. 270.

78

Bachtin, Zapisi, S. 408.

79

„Авантюрный роман […] в современную эпоху не может быть воспринят.“ Bachtin, Zapisi, S. 363.

80

„В ‚Ибикусе‘ имеется попытка создать новый авантюрный роман с современным героем, но в общем произведение несерьезно, как бы сделано наспех. ‚Ибикус‘ – это просто так, литература в кавычках.“ Bachtin, Zapisi, S. 408.

81

Die Überlegungen über die Funktion von Abenteuersujet und -held bei Dostoevskij stellen freilich nur einen Aspekt der Theorie des polyphonen Romans dar, die erhebliche Impulse vor allem von Bachtins früherer, unveröffentlicht gebliebener Studie Avtor i geroj v estetičeskoj dejatel’nosti (Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, entstanden um 1925) erhält.

82

„Единство романа Достоевского, как мы уже говорили, держится не на сюжете, ибо сюжетные отношения не могут связать между собою полноценных сознаний с их мирами.“ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 72.

83

Sasse, Bachtin, S. 83.

84

Vgl. auch: „Der vom Sujet her geprägte sozialpsychologische, biographische Sitten- und Familienroman verbindet die Helden nicht als Menschen miteinander, sondern er verbindet den Vater mit dem Sohn, den Ehemann mit der Ehefrau, den Rivalen mit dem Rivalen, den Liebenden mit der Geliebten […] Die Familienverhältnisse, die Verhältnisse der Lebensgeschichte und Biographie, des sozialen Standes und der Klasse sind feste, alles bestimmende Grundlage für sämtliche Sujetverbindungen; der Zufall ist ausgeschlossen.“ Bachtin, Probleme, S. 115 f. Falls die Zitate aus der Ausgabe von 1929 sich wortwörtlich in der zweiten Ausgabe von 1963 wiederfinden, entstammt die Übersetzung aus dieser späteren Version des Dostoevskij-Buchs. „Сюжетность социально-психологического, бытовой, семейного и биографического романа связывает героя с героем не как человека с человеком, а как отца с сыном, мужа с женой, соперника с соперником, любящего с любимой […]. Семейные, жизненно-фабулические и биографические, социально-сословные, социально-классовые отношения являются твердою всеопределяющею основою всех сюжетных связей; случайность здесь исключена. […] Герои, как герои, порождаются самим сюжетом. Сюжет – не только их одежда, это тело и душа их.“ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 75.

85

„Цель [авантюрного сюжета] – ставить человека в различные положения, раскрывающие и провоцирующие его, сводить и сталкивать людей между собою, но так, что в рамках этого сюжетного соприкосновения они не остаются и выходят за их пределы.“ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 76.

86

Bachtin, Probleme, S. 117.

87

Bachtin, Probleme, S. 114, 116. „С авантюрным героем все может случится, и он всем может стать. […] Авантюрный сюжет […] именно одежда, облегающая героя, одежда, которую он может менять, сколько ему угодно. “ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 72, 75.

88

„Авантюрный сюжет в этом смысле глубоко человечен. Все социальные, культурные учреждения, установления, сословия, классы, семейные отношения – только положения, в которых может очутиться вечный и себе равный человек.“ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 76.

89

Bachtin, Probleme, S. 117. „Человек авантюрного сюжета […] вне самого сюжета пуст и, следовательно, никаких внесюжетных связей с другими героями он не устанавливает.“ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 76.

90

„Авантюрный герой […] чистая функция приключений.“ Bachtin, Sobranie, Bd. 2, S. 72.

91

Vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 275–303.

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