Metaabenteuer

Vsevolod Ivanovs und Viktor Šklovskijs Roman Iprit im Kontext der frühsowjetischen Abenteuer-Konjunktur

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Brigitte Obermayr
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Indianerspiele der Rotarmisten und ‚gelbe Romane‘ zur Erziehung der kommunistischen Jugend

In der frühen Sowjetunion ist eine Popularität der Abenteuerliteratur festzustellen, die im Kontext der modernistischen, vor allem literaturästhetisch begründeten Skepsis gegenüber dem erzählten Abenteuer bemerkenswert ist. Von Chefideologen des nachrevolutionären jungen Staatsgebildes stammt der kulturpolitische Appell, die neuartigen Erfahrungen – der bolschewistischen Revolution, des Bürgerkriegs, den Ansätzen zu einer ökonomischen und politischen Neustrukturierung – mit Hilfe bekannter und vor allem beliebter Abenteuerschemata zu erzählen. Der Aufruf von 1922, die Jugend mittels Schemaliteratur vom Typ „kommunistischer Pinkerton“ zu unterhalten und dabei zu „erziehen“1, wird länger nachhallen, als der offiziellen Ideologie lieb ist, die sich zunehmend von der Idee, die revolutionären Veränderungen könnten abenteuerlichen Dynamiken ähneln, entfernt und vor allem westlichen, ‚bourgeoisen‘ Entwürfen gegenüber feindlich eingestellt ist.2

Aus dem Zusammentreffen von Populärkultur vom Typ „žëltyj roman“ (‚gelber‘ Roman3; Schundliteratur) und kulturpolitischem (‚rotem‘) Programm ergibt sich in der frühsowjetischen Situation eine kultur- und kontextspezifische ‚Metaisierung‘4 des erzählten Abenteuers, von der ich zumindest drei Ebenen unterscheiden möchte, die für die nachfolgenden Analysen leitend sein werden. Eine basale Metareferentialität schon im Erzählten ist dort zu veranschlagen, wo eine vergleichsweise naive und einfache Anwendung der programmatischen Idee der Kulturideologen, die neuen Inhalte in bekannten und beliebten Mustern zu erzählen, versucht wird. Mariėtta Šaginjans Priključenija damy iz obščestva (1923; Abenteuer einer Dame; 1924) etwa ist ein Beispiel dafür: Eine begüterte Russin befindet sich während der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolution u.a. im Exil in der Schweiz, wo ihre „Abenteuer“ („priključenija“), das heißt ihr Bewusstseinswandel durch Kontakte mit sozialistisch gesinnten Bekannten und Zufallsbekanntschaften,5 beginnen. Der revolutionäre Abenteuerweg wird die Dame schließlich in ihre alte Heimat, in der Zwischenzeit ein neuer sozialistischer Staat, zurückführen, wo sie als einfache Arbeiterin tätig sein wird. Wesentlich ist dabei, dass sich der Bewusstseinswandel nicht im Schema des Produktionsromans6, sondern in einer Kette glücklicher Zufälle – mit anderen Worten: abenteuerlich – vollzieht. Dies alles auf einem Territorium, im neuen Staat, der so sehr den Strukturen ihrer Heimat, dem alten, zaristischen Russland entgegengesetzt erscheint, dass dieser als abstrakter Abenteuerraum7 empfunden werden kann. An diesem Punkt ließe sich übrigens tatsächlich ein Beispiel für den Gegenpol zu der von Nerlich kritisierten menschheitsfeindlichen, als Instrument zur Stabilisierung der bürgerlichen (kapitalistischen) Ideologie eingesetzten „Abenteuerverherrlichung“8 finden: Allein im Sozialismus sei das genuine Abenteuer als „freie Entfaltung des Menschen und zwar der Frau und des Mannes, in der erregendsten, buntesten, schönsten Wirklichkeit – in der kommunistischen Gesellschaft“9 möglich.

Auf einer zweiten Ebene der Metaisierung findet sich ein geradezu literatursoziologisches Bewusstsein für Dynamiken und Gesetze der Populärkultur, die im Erzählten thematisiert werden und, verkürzt gesagt, die Information beinhalten, dass ‚Abenteuerwissen‘ der revolutionären Sache dienlich sei. So zieht etwa in Pavel Bljachins Kassenschlager Krasnye D’javoljata („Rote Teufelchen“, 1922) der jugendliche Cooper-Leser mit seiner sich mit Ethel Voynichs „Gadfly“ identifizierenden Zwillingsschwester auf Seite der Roten in den Bürgerkrieg. Während seine Schwester den Namen des russischen Titels von Ethel Voynichs Roman – „Ovod“10 – trägt, ist ihr Bruder als „Sledopyt“11 („Pathfinder“/„Pfadfinder“) im Dienste der – kommunistischen – roten Sache tätig und erfüllt erfolgreich seine Mission gegen weiße Agenten und Verräter. Die Leseleidenschaft des Geschwisterpaars, so wird uns vermittelt, geht mit deren genereller Kampfbereitschaft Hand in Hand, wobei betont wird, dass sowohl die Voynich- als auch die Cooper-Lektüre sich aus ‚Zufall‘ ergaben – wohl aus der Tatsache, dass derlei Literatur offensichtlich schon auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreichs weit verbreitet war und auch in abgelegenen Gebieten, wie dem ukrainischen Dorf der beiden Protagonisten, zuhanden.

Schwester und Bruder hatten zwei Leidenschaften: den Krieg und die Bücher. Sie lasen gierig alles, was ihnen in die Hände fiel. Aber am liebten waren ihnen Bücher über kriegerische Heldentaten und Abenteuer, von Reisen über Meere und Ozeane und über den heldenhaften Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit der rothäutigen Indianer Amerikas.12

Wichtig dabei ist, dass derlei Zufallslektüre der jungen Leute, folgt man der Erzählung, dezidiert keine negativen Auswirkungen auf deren Entwicklung und Handeln hat. Ganz im Gegenteil führt die andernorts immer wieder als zumindest bedenklich13 eingestufte Abenteuer-Lektüre im Fall der ‚Roten Teufelchen‘ zu Mut und beherztem, vom glücklichen Zufall geleiteten Handeln14, das wohl ohne die naive, vorbehaltlose Identifikation mit den HeldInnen ihrer Romane gar nicht möglich gewesen wäre. Die Identifikation der beiden jugendlichen LeserInnen mit ihren Helden bietet jedenfalls mehr Schutz gegen die feindliche Umwelt als ihre vestimentäre Ausrüstung, ihre Verkleidung. Sledopyt wird uns mit einem „roten Hemd“ bekleidet vorgeführt, das mit einem „einfachen Strick“ zusammengeschnürt war und er trug „große Stiefel“, offensichtlich „vom Vater“.15 Während also die sich zumindest am Schuhwerk als solche festzumachende Verkleidung, wie so oft, tatsächliches Handeln eher erschwert, scheint diese offensichtlich die fiktionale Durchdringung der die beiden umgebenden und sie bedrohenden Welt und die Indianerspiele, die sie mit dieser treiben, zu begünstigen. Diese fiktionale Durchdringung der Welt ist eine symbolische, und als solche hochwirksam: Sie findet ihren Niederschlag in Umbenennungen ebenso wie in der Applikation von Handlungsmustern, die vom glücklichen Ausgang ihres fiktional vor der Realität geschützten Bürgerkriegs zwischen „rothäutigen Kriegern“ und „weißgesichtigen Hunden“ geprägt sind:

Im Bewusstsein der Kinder verwoben sich die aktuellen Ereignisse und die Helden des Bürgerkriegs auf wunderbare Weise mit den Bildern aus den Büchern, so dass sie selbst nicht mehr wussten, wo der Märchenzauber und das Fabulieren endet und das echte harte Leben beginnt. In den Gesprächen untereinander haben sie sogar eine eigene Sprache geschaffen, die sie von den Indianern bei Fenimore Cooper und Mayne Reid übernommen hatten, und die nur sie verstanden. Die Rotarmisten nannten sie rothäutige Krieger und die weißen Konterrevolutionäre weißgesichtige Hunde.16

Von der Metaisierung des Abenteuers zur literarischen Marktanalyse

Vor dem Hintergrund der hiermit umrissenen zwei Ebenen der Metaisierung des erzählten Abenteuers in der frühsowjetischen Literatur – als implizite Metaisierung, die den politischen Aufruf zum Erzählen im Abenteuerschema aufnimmt, und als Ausstellung der Verbindung zwischen angelesenen Schemata und der neuen Wirklichkeit – ist dann schließlich jene dritte Ebene zu veranschlagen, die eine Metaisierung des Erzählens betrifft. Hier ist, zumindest heuristisch, die Metaisierung des Erzählens im Erzählen selbst von theoretischen, protonarratologischen Analysen des Erzählens zu unterscheiden.

Die Metaisierung des Erzählens im Erzählten schlägt sich einerseits nieder in den Bemühungen um eine neue Prosa, die vor allem um „Sujethaftigkeit“ bemüht war, oder einfacher noch: um Handlungsreichtum – und sich dabei am westlichen Abenteuerplot orientieren solle. Hansen-Löve hat diese Linie mit Fokus auf die im Kreis der Petersburger Schriftsteller der Serapionsbrüder entstandenen Prosa dargestellt. Dort ist die Metanarration aber kaum so explizit narrativ ausgestellt, wie etwa in Mariėtta Šaginjans erfolgreicher Heftserie Mess Mend ili Janki v Petrograde (Mess Mend oder die Yankees in Leningrad, 1924).17 Außerdem lässt sich die Metasierung des Abenteuer-Erzählens auch in einer intensiven theoretischen Reflexion über dieses Erzählen verfolgen. Hansen-Löve weist immer wieder darauf hin, wie sehr die Prosatheorie des Russischen Formalismus, vor allem bei Viktor Šklovskij und Boris Ėjchenbaum, auf Schemaliteratur aufgebaut ist.18 Aus der analytisch-typologischen Zusammenschau literaturtheoretischer Arbeiten der 1920er Jahre lassen sich Bausteine einer Philologie des Abenteuers gewinnen, wie etwa ein Profil des Abenteuerprotagonisten, mitsamt kritischer Konjunkturverläufe, die vor allem die Frage nach der Motivation des Handelns des Abenteurers betreffen.19 Der Heftroman Iprit (1925) von Vsevolod Ivanov und Viktor Šklovskij setzt in diesem Spektrum formalistischer Beiträge zur Analyse des erzählten Abenteuers, wie ich im Folgenden zeigen möchte, mit dem Versuch einer literarischen Marktanalyse einen weiteren wichtigen Akzent.

Die frühsowjetische Abenteuerliteratur ist ohne die Berücksichtigung des programmatischen Bewusstseins für Nachfrage und Markt schwer fassbar. Das theoretische Interesse der formalistischen Literaturtheorie und Literaturkritik der Zeit gründet wohl zu einem guten Teil auf der Popularität von Schemaliteratur in der frühen sowjetischen Kultur. So gesehen sind die formalistischen Theorien zum literarischen Markt, oder allgemeiner „literarischen Alltag“ („literaturnyj byt“) nicht nur ein Nachtrag oder eine Fußnote zu Sujet- und Aktantenanalysen, sondern deren Implikat. Unter „literarischem Alltag“ verstanden die Formalisten eine vom Öffentlichkeitsbereich des Literarischen nicht abzugrenzende Zone des literarischen Schaffens, die Dynamik der Beziehung20 zwischen dem jeweils als ‚literarisch‘ Wahrgenommenem und den vermeintlich nicht im engeren Sinne literarischen Kontexten und Infrastrukturen, wie Markt, professionelle Organisationen, Nachfrage, (kultur)politisches Programm etc. Wesentlich dabei ist, dass die Formalisten ihre Überlegungen zum literarischen Markt sowohl als „kommunikative[n] Aspekt der ökonomischen Ordnung“ als auch zugleich als „ökonomische[n] Aspekt der kommunikativen Ordnung“21 erkannten und vor diesem Hintergrund der Schriftsteller seine „professionellen Möglichkeiten“ immer neu als Grenzverhandlung und Entgrenzungserfahrung zu „ertasten“22 wusste. Ivanovs und Šklovskijs Abenteuerroman Iprit ist in diesem Sinn „experimentelle Schundliteratur“23, die sowohl den kommunikativen Aspekt bzw. Effekt der ökonomischen Ordnung als auch den ökonomischen Effekt der kommunikativen Ordnung in einer literarischen Abenteuer-Markt-Analyse ausbuchstabiert. Das Programm dazu könnte man in einem von Viktor Šklovskij verfassten Feuilleton vermuten, das den Erfolg von Edgar Rice Burroughs Tarzan of the Apes (1912)24 und mehr noch, die gleichnamige Verfilmung des Romans bereits 1918 reflektiert25. 1924, nachdem Šklovskij den Film in Berlin (1923) gesehen hatte, notierte er:

Man kann über den Tarzan hinweggehen, das hätte sogar Tradition – wäre aber dumm. Die Untersuchung der Massenliteratur und der Gründe ihres Erfolgs ist notwendig. […] Mag Tarzan selbst auch keinerlei Interesse verdienen, so ist es doch außerordentlich wichtig, den Grund seines Erfolgs zu verstehen.26

Im Folgenden soll nachvollzogen werden, wie Ivanov/Šklovskij diesen Gründen für den Erfolg in Form einer Abenteuererzählung nachgehen. Dazu werden zunächst Vorbilder auf dem literarischen Markt ebenso in den Blick genommen, wie das ‚in der Luft‘ liegende Thema der Entwicklung einer Chemieindustrie bzw. chemischer Waffen, das das Material des Romans bildet. Danach soll die Rückverwandlung dieses Materials in abenteuerliche Konkreta und Kuriosa nachvollzogen werden. Außerdem wird anhand einer Schlüsselsequenz des Romans gezeigt, wie Metaisierung und Narration ineinandergreifen. Falls man davon sprechen will, dass Ivanov/Šklovskij hier ihre literarische Marktanalyse als „‚experimentellen Schundliteratur‘“ betreiben, erfährt diese in der Metapher des chemischen Experiments eine explizite Realisierung: Sowohl der Abenteuerprotagonist als auch die als abenteuerlich erzählten Versuche, an die Formel für das Kampfgas „Iprit“ zu gelangen, werden, so führt es uns der Text vor Augen, nur aufgrund einer virulenten, tagesaktuellen ‚Überdosis Gelb‘ – einer Begeisterung für Abenteuerschund – möglich. Die (chemische) Wirkung dieser Überdosis wird erzählt, narrativ als Abenteuer entfaltet.

Materialwahl zwischen Marktorientierung und Realisierung: Gelber Roman, Senfgas und Zitronen

Schon Thema und Material dieses Romans sind im engeren Sinn Teil einer Marktanalyse. Das betrifft einerseits den ganz offensichtlichen, engen Bezug zu Šaginjans Erfolg mit Mess Mend. Wie Mess Mend erscheint auch Iprit im „Staatsverlag“ (Gosudarstvennoe izdate’lstvo) als Heftserie, während Mess Mend als 10-teiliger Fortsetzungsroman vorliegt, umfasst Iprit neun Folgen. Die Umschlagsgestaltung, die im Fall von Mess Mend durch die Fotomontagen von Aleksandr Rodčenko aufwändig ausfällt, ist bei Iprit bescheiden und weist im Übrigen stärkere Referenzen zu den Umschlägen der Sherlock Holmes-Hefte auf, während bei Mess Mend die Pinkerton-Referenzen dominieren: Der Iprit-Umschlag zeigt, markiert durch die Mütze, einen Matrosen im Schattenprofil27 und verweist somit auf den Protagonisten des Romans, einen Flussschifffahrtsmatrosen. Diesem ist aber, man kann es nur als verfremdendes Attribut bzw. eben als Indiz für den Sherlock-Holmes-Bezug sehen, eine Pfeife in den Mund gesteckt, was in keiner Weise mit den Gepflogenheiten des Romanprotagonisten korrespondiert, der ansonsten keine Merkmale des Londoner Meisterdetektivs trägt – sieht man von der Tatsache ab, dass sich ein Teil der Romanhandlung in London zuträgt. Deshalb ist die vermeintliche ‚Holmes-Pfeife‘ vor allem die Aleksandr Rodčenkos, mit der sich der Fotograf und Designer auf Heft 8 der Mess Mend-Serie selbst ins Bild gesetzt hat: Als Sherlock Holmes – mit Schiebermütze und Pfeife, wobei beides aber aus Rodčenkos Privatbesitz und alltäglichem Gebrauch stammte, während der aus der Faust ragende Zeigefinger der wohl einzig überzeugende Holmes-Index ist.28

Mithin korrespondiert das Heftromanformat wesentlich mit konkreten Markt- und Erfolgsfaktoren, die in diesem Fall Roter Pinkerton à la Šaginjans Mess Mend heißen, und hat als solches schon weitgehende kommunikativ-ökonomische Implikationen, die Šklovskij in seinem Text zu „Tarzan“ unterstreicht, wenn er feststellt, dass 1924 eben nicht das „gute ausländische Buch“ erfolgreich sei, sondern „der ausländische gelbe Roman, und zwar fast egal welcher“.29

Die Farbe Gelb lässt sich aber für Iprit nicht nur auf den Markterfolg von Schund- und Schemaliteratur (vom Typus der Heftserien Nat Pinkerton’’. Korol’ syščikov’’ 30 oder Šerlok’’ Cholms’’) beziehen, sondern natürlich auch auf das titelgebende Thema und Material des Romans. „Iprit“ oder „Iperit“31 wird auch Senfgas genannt und ist eine im Ersten Weltkrieg vor allem von den Deutschen eingesetzte chemische Waffe, ein Kampfgas mit verheerender, tödlicher Wirkung. 1924, zur Entstehungszeit des Romans, gibt es in der Sowjetunion eine rege wissenschaftlich-politische Diskussion um die Etablierung einer chemischen Industrie, die in der Lage wäre, effiziente chemische Kampfmittel herzustellen. Wie wird davon im Roman erzählt? Nachdem der Roman in seinen ersten Kapiteln ein scheinbar zusammenhangloses Arsenal an Figuren und Schauplätzen vorstellt, wird scheinbar zufällig eine dieser Figuren zum Protagonisten, ja zum Helden: Ein blinder Passagier, der sich von Petersburg aus mit seinem Bären in einer Kiste an Bord eines Handelsschiffes, das sowjetische Streichhölzer nach Südafrika bringen soll, auf den Weg gemacht hat, wird, ohne es zu wissen und zu wollen, ermöglicht durch Schiffbruch und eine zufällige Begegnung mit einem Tarzan-Fan, zum Abenteurer. Als solcher wird er an die begehrte Formel des titelgebenden Iprit kommen.

Dabei bezogen Ivanov/Šklovskij sehr wahrscheinlich ihre unmittelbaren Anregungen zu diesem Material aus einem dreiteiligen Beitrag zum Thema „Chimičeskaja vojna“ (Chemiekrieg)32, der in der Zeitschrift Krasnaja nov’33 erschien. Gegenüber dem „Krieg der Massen“ („vojna mass“) wird darin der mit chemischen Waffen und als Luftkrieg geführte Kampf als geradezu human bewertet34 und der Aufbau und Ausbau der chemischen Industrie in Deutschland und den USA als Vor- und Leitbild für analoge Entwicklungen in der Sowjetunion angeführt. Dabei werden die Eigenschaften des „sogenannten Senfgas (Iperit), von den Deutschen als ‚Zar der Gase‘ bezeichnet“35, immer wieder hervorgehoben. Zumindest aus heutiger Sicht ist es ethisch abstoßend, den Wettlauf um die Produktion chemischer Waffen als Abenteuerroman zu erzählen. Für den engeren diskurspolitischen Kontext der Zeit ist aber – als historisches Faktum – die Logik, und sei es die eines toten Winkels, die zu einer solchen Themenwahl führte, durchaus nachzuvollziehen. Die Materialwahl für Iprit lässt sich als konsequente Fortsetzung des kulturpolitischen Aufrufs, die beliebten westlichen Abenteuer-Schemata doch für die Aufbereitung aktueller Fragestellungen einzusetzen, verstehen. Šklovskij nimmt dazu 1925 in einer kurzen Vorbemerkung zum Abdruck eines Auszugs des Romans in der linksavantgardistischen Zeitschrift LEF (Levyj front iskusstva/Linke Front der Kunst), mit direkter Bezugnahme auf Mess Mend, Stellung, in der er unterstreicht, dass für Iprit aktuelles Material verarbeitet, ja „beschrieben“ worden sei: Iprit, so Šklovskij, habe es sich zur Aufgabe gestellt, „das Abenteuerschema nicht mit bedingt literarischem Material zu füllen, wie bei Džim Dollar (Mariėtta Šaginjan), Valentin Kataev usw., sondern mit Beschreibungen faktischen Charakters.“36 Stellt man die in diesem Aufsatz bereits kurz erwähnten Romane Bljachins und Šaginjans in eine Reihe mit Iprit, so kann man fast in Zeitlupe Etappen der öffentlichen Diskussionen im nachrevolutionären Russland in der ersten Hälfte der 1920er Jahre verfolgen: Wird bei Bljachin die Bürgerkriegserfahrung verarbeitet, ist es bei Šaginjan der Internationalismus, die Vision von einer weltumfassenden sozialistischen Revolution im Kampf gegen Kapitalismus und Faschismus. Diese Vision erhält nun in Iprit tatsächlich konkreten, faktischen Charakter, wobei freilich die noch bei Šaginjan kolportierte Vision der Internationalisierung bereits einen deutlichen Turn zur Nationalisierung zeigt: Die Sowjetunion selbst müsse in der Lage sein, die nötigen Mittel für einen revolutionären Kampf gegen Kapitalismus und Faschismus zu entwickeln.

Ivanov und Šklovskij sind übrigens nicht die einzigen Autoren, die sich um das Thema Chemiekrieg annahmen, um es als Abenteuerroman zu verarbeiten. In Giperboloid inženera Garina (Der Hyperboloid des Ingenieurs Garin) von Aleksej N. Tolstoj, dessen erster Teil zeitgleich mit Iprit, 1925, in der Zeitschrift Krasnaja nov’ erschienen ist, geht es ebenfalls um chemische Waffen. Tolstojs Roman erzählt in einem zwischen Paris, Moskau und Petersburg stattfindenden Thriller von Industrie- und Wissenschaftsspionage um die Entwicklung chemisch-synthetischer Wunderwaffen in der Sowjetunion, und von Kampfgasen in westlicher Hand, wörtlich ist auch vom „Senfgas“ („gorčičnyj gaz“)37 die Rede. Tolstoj bereitet das Kampfgasmaterial als Thriller auf und lässt im Genre wissenschaftliche Phantastik bzw. Science-Fiction38 die Sowjetunion mit der Erfindung einer Wunderwaffe (dem „Giperboloid“) siegreich aus dem Wettlauf hervorgehen. Dagegen bleibt bei Ivanov/Šklovskij die Metaisierung keineswegs im oben dargelegten Sinn der Bezugnahme des erzählten Abenteuers auf einen ideologisch motivierten Aufruf zum Erzählen aktueller Themen im Abenteuerschema, auf der Ebene des Erzählten.

Dafür ist zunächst auffällig, wie das Material bzw. das Thema selbst durch verdinglichende Konkretisierung in abenteuerliche Objekthaftigkeit gewandelt wird. Hier ist zunächst die vor dem Hintergrund der eben skizzierten Aktualität des Themas Chemiekrieg eher bescheiden anmutende metafiktionale Passage zu erwähnen, mit der in der Schlusspassage des Romans der durchaus überschaubare Besitz des nunmehr wieder in seinem sibirischen Dorf lebenden Helden inventarisiert wird, zu dem „zwei [dort] herumliegende Zeitschriften“ gehören, „aus denen er anhand von Erzählungen Kenntnis über den berüchtigten chemischen Krieg schöpfte.“39 Im Hinweis auf diese Ausstattung manifestiert sich, wie in einem Postskriptum, der Nachweis der unmittelbaren Wirkung von fiktionaler Literatur („Erzählungen“) auf das Handeln des einfachen Mannes. War das Handeln des Protagonisten, so muss man sich am Ende fragen, also doch nicht ganz so ‚unschuldig‘, mechanisch motiviert? Hätte er die einschlägigen Passagen nicht gelesen, so kann man, bei allem Zweifel, ob der sehr begrenzt alphabetisierte Protagonist dazu in der Lage war, von der vorletzten Seite des Romans nun den Rückschluss wagen, wäre er nicht zum Kontakt mit den Chemiemagnaten der westlichen Welt in der Lage gewesen.

Daneben kommt es aber auch zu einer Entgegenständlichung des brandgefährlichen Materials, des Kampfgases, die vor dem Hintergrund der kunsttheoretischen Diskussionen der Zeit, die die Spannung zwischen „Gegenstand“ („predmet“) und „Ding“ („vešč’“) verhandeln, verständlich wird und die grauenhaften und ernsthaften Referenzen des Gelbgases in die selbstbezogene Eigenlogik des erzählten Abenteuers entlässt. „Gegenstand“ und „Ding“ werden in der Kunsttheorie der Zeit, vereinfacht gesagt, insofern unterschieden, als der „Gegenstand“ der praktischen Ordnung und Verwendung zugerechnet wird – in unserem Fall wäre dies eben das Kampfgas/Senfgas/Iprit. Das „Ding“ dagegen figuriert als etwas „Vorrationales, Unpragmatisches, Antiutilitäres“, als es selbstgenügsam und selbstbezogen „‚als solches‘ – also jenseits aller systematischer Bedingtheiten (‚uslovnosti‘) existiert“40. Iprit hält in diesem Sinne eine ganze Kette dinghafter Pendants zum gelben Kampfgas bereit: Da ist das schon erwähnte Bewusstsein des Verfassers von der Popularität des „gelben Romans“ („želtyj roman“), der Protagonist versteckt sich auf seiner Flucht auf einem Handelsschiff mit sowjetischen Streichhölzern (Schwefel!), es wird ihm eine junge Frau namens „Susanna Mond“ nicht nur das Leben retten, sondern ihm auch in Person ihres Vaters und Chemikers „Professor Mond“ die begehrte Iprit-Formel in die Arme führen: Im Russischen ist der Mond („luna“) farblich als „gelb“ apostrophiert. Und als dem jungen Helden, der nun die Formel für das gelbe Gas in Rot auf seiner Brust tätowiert hat, auf dem Rückweg nach Russland im Flugzeug übel wird, reicht seine Susanna ihm, sozusagen zur Vervollständigung des gelben Glücks und zur Verhinderung des Schlimmsten, eine Zitrone, eine „gelbe Frucht“.41 Am Ende des Romans wieder in sein sibirisches Dorf heimgekehrt, verfolgt der Protagonist den Plan, zusammen mit seinem chinesischen Freund eine Wäscherei zu eröffnen. Die Realisierung des Gelben – das tertium comparationis zwischen Senfgas, Zitrone, Chinese und Professor Mond – in Form und als Eigenschaft dieser Dinge scheint dem faktischen Material des Romans jenes spielballhafte Gegengewicht von „Kuriosa“ („dikovinki“) beizubringen, die den Sachverhalt als Abenteuer erzählbar macht. Aus dieser Perspektive scheint dem Senfgas seine tödliche Spitze genommen zu sein, wie dies ja ohnehin aufgrund der abenteuerlichen, metanarrativ motivierten Bemühungen darum der Fall ist. Offensichtlich haben in der Abenteuerwelt Gegenstände immer auch expliziten Dingcharakter: Als Dinge verlieren sie ihren vernünftigen Gebrauchswert und -zweck, erlangen als ‚Spielball‘ eine Art Selbstzweckhaftigkeit und eben Selbstwertigkeit, die nur in der Abenteuerökonomie entsprechend gedeckt ist. Bachtin äußert in seinen Ausführungen zum Abenteuer-Chronotopos im griechischen abenteuerlichen Prüfungsroman sein Erstaunen darüber, dass bei aller Abstraktheit und Fremdheit der Abenteuerwelt es immer wieder lange ekphrastische Passagen gebe, genaue Beschreibungen einzelner isolierter, selbstgenügsamer Dinge („vne vsjkaoj svjazi, ne s čem ne svjazannyj; samodovlejuščij“). Er führt dieses Phänomen im Abenteuerroman darauf zurück, dass es in der „absoluten Fremde der Abenteuerwelt“ für diese Dinge keine Vergleichswerte gebe, und sie so zwangsläufig den Charakter von Kuriosa, Wunderdingen, Raritäten („kur’ezov, dikovinok42, raritetov“) annehmen. Im Abenteuerroman werde anhand der so ausgestellten Dinge nichts vorgeführt, sie repräsentieren nicht, stehen in keinem Bezug zu einem Ganzen, einem Land als Ganzes, seien nicht repräsentativ für dessen Besonderheiten und Unterscheidungsmerkmale gegenüber anderen Ländern. Bachtin unterstreicht die Abenteuer-konstitutive Bedeutung dieser Dinge, wenn er hervorhebt, dass diese „erstaunlichen“ („dikovinnye“) Dinge ebensolchen „zufälligen“ („slučajnyj“) und „überraschenden“ („neožidannyj“) Charakter haben wie die Abenteuer selbst.43 Vor diesem Hintergrund ist die in Figurenrede geäußerte Einsicht, dass nicht Erfindungen und Formeln, sondern nur Revolutionen die Welt verändern können, eine farblose, aber immerhin pazifistische Replik eines „Professor Šul’c“, dem deutschen Gegenspieler von Mond, und seines Zeichens Alchimist, Erfinder von synthetisch hergestelltem Gold (sic!): „Ich habe die Welt erschüttert, konnte aber ihren Aufbau [ihre Struktur] nicht zerstören, […]. Das kann die Wissenschaft nicht. Nur der Aufstand der Arbeiter kann die Welt erneuern.“44

Reaktionen, Romance, Abenteurer

Die zentrale metaliterarische Volte führen die Autoren des Romans aber in jener Passage vor, mit der das Abenteuer überhaupt in Gang kommt und ein Abenteurer in die Welt tritt. Dazu lassen sie den am Bürgerkrieg beteiligten Flussschifffahrtsmatrosen Pavel Slovochtov, begleitet von seinem Bären, „Rokambol“ genannt, und so namentlich als Abenteurer alten Typs ausgewiesen,45 an der britischen Küste Schiffbruch erleiden, nicht ohne aber die LeserInnen in einer metaliterarischen, auf chemischer Metaphorik basierenden Passage auf das damit verbundene Experiment aufmerksam zu machen. Man wolle nämlich, so heißt es dort, vor Augen führen, wie ‚schlechte Bücher‘ als Katalysatoren für Abenteuererzählungen wirken. Dies betrifft im ersten Schritt die Transformation des ausgedienten Bürgerkriegssoldaten in einen Abenteuerhelden, die nur möglich wird, weil eine junge Britin, die als Tarzan-Addict vorgestellt wird, ihre Sehnsüchte auf den schiffbrüchigen blinden Passagier eines russischen Frachtschiffs projiziert. Die „existenzielle Kategorie des nacherlebbaren Abenteuers als Illusionskonzept“46, wird hier, aufgrund der metaliterarischen Ambitionen der Verfasser, als „analytisches Experiment“47 vor Augen geführt:

Wissen Sie, was ein Katalysator ist, lieber Leser?

Katalysator nennt man eine Substanz, die ohne an der chemischen Reaktion (Handlung) beteiligt zu sein, diese ermöglicht.

So kann zum Beispiel gasförmiger Ammoniak (Salmiakgeist) in einer Mixtur mit auf 150 Grad erwärmter Luft nur unter Beteiligung von Platin Stickstoffoxid bilden. Ein anderes Beispiel: […]

In der unchemischen Geschichte zwischen Slovochotov und Susanna Mond spielte die Rolle des Katalysators ein Buch, und zwar das grottenschlechte Buch von Burroughs.

Natürlich war Slovochotov an sich eine Schönheit – breitschultrig, dunkelblond, großgewachsen, aber es gibt auch in England viele schöne Menschen.

Aber als Tarzan, als Wilder mit einem Bär und gut genähten Hosen war er für Susanna dank Burroughs unwiderstehlich.48

„Grottenschlechte Bücher“ haben also, so wird uns erklärt, Heroisches figurierende Dynamiken zur Folge. Und Susanna, ein Tarzan-Fan bzw. Tarzan-Addict, ist also jenes ‚Element‘, das die für die Katalysatorwirkung nötige Aktivierungsenergie für den Helden in Iprit liefert. Ivanov/Šklovskij führen in dieser Sequenz zweierlei vor: Zunächst die abenteuertypische „Depsychologisierung der Protagonisten zu reinen Handlungsträgern“49, die vielleicht auch gleichzeitig ein Grund für das formalistische theoretische Interesse am Abenteuererzählen ist. Der Abenteuerprotagonist, so bringt es Riccardo Nicolosi in seinem Beitrag in diesem Band auf den Punkt, ist in formalistischer Sichtweise lediglich eine „Funktion des Sujets“. Was er tut, geschieht nicht aus einer internen subjektiven Motivation, sondern aus einer vom Sujet her auferlegten Logik, die eine „maschinelle Mechanisierung der Handlungsstruktur“50 nach sich zieht. So konnte der Abenteuerprotagonist zum Prototyp der von den Formalisten bevorzugten literarischen Persona werden: Der Abenteuerprotagonist gestaltet nicht, verändert sich nicht, und, was besonders wichtig ist: kommt nicht aus der Welt, sondern ist immer schon gemacht, erzählt:51 In unserem Fall von Edgar Rice Burroughs Tarzan of the Apes.

Mit der Installation eines Abenteuerprotagonisten führt uns diese Passage aber auch die Genese eines Helden vor Augen, eine „Heldenfiguration“52 und damit eine analytische Entsubstantialisierung des Heroen. Aus dieser Perspektive bildet den Ausgangspunkt für eine solche Figuration eine „Figur“, die selbst schon in einer kommunikativen Interaktionslogik, einem Relationsgefüge, einem kulturellen Konstrukt aus Fremd- und Selbstzuschreibungen zu verorten ist. Derlei Zuschreibungen lassen sich auf Dynamiken zurückführen, auf „Figurationen“, die wiederum kommunikativ generierte sind: Ein „Set von Eigenschaften“, das mit Wünschen oder gesellschaftlichen Programmatiken („Sozialfigurationen“) einhergeht. Das heißt, dass einerseits zur Figur jeweilige, der Person zugeschriebene Merkmale gehören, die, aus analytischer Perspektive, mehr mit Requisite als mit Begabung zu tun haben. Für den Abenteuerprotagonisten sind das seine herausragenden, nicht alltäglichen Fähigkeiten, ein ebensolches Schicksal, sein Aussehen, sein Charisma.53 Für unseren Kontext der frühen sowjetischen Kultur sind solche Sozialfigurationen sehr greifbar: Neue Wirklichkeiten, neue Menschen, neue Helden, die anthropologische Matrix wird neu geschrieben, und zumindest in den 1920er Jahren konnte es so scheinen, als würde sich der Mensch vom Typus Abenteurer als Prototyp der ‚Neuen Menschheit‘ eignen.54

Ivanov/Šklovskij schließen, zweitens, die Metaisierung des Erzählens als eine literarische Marktanalyse (die Katalysatorwirkung der Massenliteratur mit Folgen für eine Heldenfigurationen) mit einer Metaisierung des Erzählten, der Aufbereitung ‚faktischen Materials‘ (Entwicklung einer chemischen Industrie und chemischer Waffen in der frühen Sowjetunion) im Abenteuerschema kurz. Sie realisieren die oben zitierte Reflexion über die Katalysatorwirkung von „grottenschlechten Büchern“ wie folgt weiter.

Für diese Wirkung ist ein katalytisches Element nötig, in diesem Roman Susanna Mond, eine junge Britin, die ihr Automobil – selbstverständlich zufällig, völlig unmotiviert auf jene Stelle am St. George’s Channel zwischen Wales und Irland zusteuert, an der der schiffbrüchige junge Russe mit seinem Bären angestrandet ist.55 Der Anblick dieser Szene setzt in der jungen Britin offensichtlich eine figurierende Dynamik in Gang, die auf einer intrinsischen Kenntnis einschlägiger Literatur beruht – „[sie] fühlt sich wie eine Romanheldin und stürzte los“.

Es wehten die Winde und es war, als wäre eine menschliche Stimme zu hören.

„Beweg Dich, Du Arschloch!“ schrie Slovochotov Rocambole an, der ängstlich am Strick hing und zweifelnd nach unten blickte.

[…]

Susanna besann sich, es schien ihr, als hätte sie ein Stöhnen gehört.

Ein wenig ängstlich, sprang sie auf einen der Felsblöcke …

Das Stöhnen wiederholte sich direkt beim Wasser.

Jetzt fühlte sich Susanna wie eine Romanheldin und stürzte los.56

Die den zukünftigen Abenteuerprotagonisten figurierende Initiative geht also von dieser ‚Leserin‘ bzw. Kinobesucherin aus, die nun offensichtlich jene Rolle spielen und ausagieren kann, die sie aus ihrer Lektüre von Burroughs Tarzan of the Apes, bzw. wohl stärker noch aus ihrer Begegnung mit der gleichnamigen Verfilmung von 1918 internalisiert hat: Die junge Britin „Jane“, der Tarzan das Leben rettet, und die eine Liebesbeziehung mit ihrem Retter verbinden wird. Während in der Romanfassung dieser Rettungs-Szene eine lange Sequenz vorausgeht, in der der junge Mann der blonden Frau als Objekt der Begierde hinterher ist, u.a. kommt es zu einem Austausch kleiner Liebesbotschaften, inszeniert der Film diese Rettungsszene als spontanen Einsatz der Manneskraft gegen den ‚bösen‘ indigenen Urwaldbewohner, der dabei ist, Jane zu vergewaltigen. Ivanov / Šklovskij läßt vor diesem Hintergrund Susanna Mond auf ihren ‚Tarzan‘ treffen:

Die Wellen schlugen ans Ufer … Aber Susanne hörte nichts mehr … ihr war alles klar.

[…]

Für einen Augenblick blitzte der Gedanke ans Kino im Kopf des Mädchens auf, aber das Menschenblut ebenso wie die Gischt und das schreckliche, geheimnisvolle Tier waren viel zu echt.

[…]

Sie verstand sowohl die Schönheit des Ankömmlings und auch welches Tier an seiner Seite war.

Mit einem eindringlichen Schrei der Begeisterung und des Schreckens rief sie: „Tarzan, Tarzan“, und fiel dem Unbekannten zu Füßen.57

Die Film-Jane begegnet uns selbst als Zuschauerin, fasziniert und erschaudert zugleich beobachtet sie den Kampf des ‚Guten‘ gegen den ‚Bösen‘. Als „Tarzan“ die junge Frau dann schließlich gerettet in seinen Armen trägt, mutet er zunächst viel mehr nach dem starken Retter als der große Herzensbrecher an.58 Gerade mit Blick auf die in Iprit betriebene formalistische Marktanalyse ist es nicht unwesentlich, dass hier die Verfilmung als eigentliche Quelle von Katalysatorenergie nachzuweisen ist. Jedenfalls ist bekannt, dass die Tarzan of the Apes-Verfilmung in der UdSSR der 1920er Jahre sich enormer Popularität erfreute, was absurderweise dazu führte, dass man etwa die ebenfalls außerordentlich beliebten Chaplin-Filme neu betitelte und wo möglich die Filmtitel mit dem Zusatz „Tarzan“ versah.59

Die binäre Interrelation zwischen „Jane“/„Susanna“ und „Tarzan“/„Pavel“ basiert demnach in Iprit auf einer – filmisch injizierten – „romance“, die aber mehr als eine tatsächliche emotionale Interaktion zwischen Frau und Mann eine auf Wunschdynamiken der adressierten, weiblich genderindizierten Leserin und Zuschauerin einer Abenteuergeschichte basierende Dynamik ist, die das erforderliche Maß an „organizing action“60 (mit den Worten Ivanovs/Sklovskijs: „Katalysator“) von Seiten Susannas auslöst, ohne freilich Wünsche und Erwartungen der Frau zu erfüllen.61 Die „romance“ hat mit Susannas Ruf (nach) „Tarzan“ ihre Schuldigkeit getan, nicht Liebelust62, sondern eben die für den Abenteuerroman nötige mechanische Kette von Abenteuersequenzen wird dieser Ruf auslösen. Solcherart sind die Gesetze des Marktes. Freilich finden sich in Susannas Auto dann auch noch die nötigen Requisiten für die wörtliche Realisierung ihres Tagtraums – sie „warf ein Tigerfell auf seine Schultern“63.

Während uns also mit der narrativ realisierten chemischen Metapher der Katalysatorenergie vorgeführt wird, wie die Marktlage, die Nachfrage, Abenteuer produziert, setzt sich die metaisierende Realisierung des Themas ‚chemische Industrie‘ und ‚Chemiekrieg‘ im Roman fort. Die junge Britin Susanna Mond, ihrerseits vollgepumpt mit ‚yellowback stuff‘, die den Protagonisten für die abenteuerliche Beschaffung chemischen Know-hows in die Welt gesetzt hat, ist – ‚rein zufällig‘ – die Tochter des Chemieprofessors Mond. Dieser kennt nicht nur die Formel für Ip(e)rit, durch seine Erfindung eines Mittels, das den Menschen vom Schlafbedürfnis befreit, gelang es ihm auch, wie es heißt, das Leben, und zwar das Leben der Bewohner des Vereinigten Königreichs, um „ein Drittel“ zu verlängern, womit angedeutet ist, dass von „Mond“ und dessen zu Ehren seiner Tochter „Susanit“ genannten Antischlafgases auch etwas für biopolitische Utopien zu holen sein könnte. Pavel Slovochotov alias Tarzan wird erfolgreicher Schüler von Mond und flieht schließlich, am Ende ebenso abenteuerlicher wie apokalyptischer Sequenzen aus England zurück nach Russland mit einem neuen Tattoo – das „Formeln“ beinhaltet.

Er war der alte, nur ein wenig abgemagert, und auf der Brust waren quer über das alte Tattoo, einen Anker, in rot Zeilen von chemischen Formeln tätowiert.64

Diese Formeln werden jedoch in seiner sich wunderbar verwandelten alten Heimat, einer paradiesisch friedlichen Sowjetwelt, nicht mehr benötigt. So kehrt Pavel in sein sibirisches Dorf zurück, wo er zusammen mit einem Chinesen – darauf reduziert sich nun also die Kette realisierten Gelbs – eine Wäscherei eröffnen will. Das Startkapital für dieses Unternehmen meinen die beiden in Händen zu halten: Pavel hat nämlich zwei rätselhafte Sendungen mit Geld erhalten, unbrauchbare 300 Pfund sowie 22 Červoncen (ca. 220 Rubel). Letzteres vom „Staatsverlag“ GOZIZDAT und zwar als Restbetrag des Honorars für den Roman „Iprit“, das ihm, wie es heißt, „die bei einem Angriff ums Leben gekommenen Autoren Viktor Šklovskij und Vsevolod Ivanov“ vermacht haben.

So endet der Roman, die literarische Marktanalyse mit einer ernüchternden metaleptischen Bilanz über den eigenen, auch wirtschaftlichen Misserfolg des Heftromans Iprit. Dieser Misserfolg mag nicht zuletzt auf das etwas überambitionierte Anliegen, das Abenteuer eines realpolitischen Abenteuers metaliterarisch zu erzählen, zurückzuführen sein: „Mit dem Roman bin ich nicht ganz zufrieden, weil darin dem parodistisch ironischen Material so viel Platz eingeräumt wurde“65, stellte Šklovskij selbst fest. Dass ihm und Vsevolod Ivanov damit aber ein ernstzunehmender Beitrag zu einer in jedem Fall für das Abenteuernarrativ konstitutiven literatursoziologischen Dynamik gelungen ist und also ein Beitrag zu einer Philologie des modernistischen Abenteuers, dessen Relevanz wohl Šklovskijs theoretische, protonarratologische Ausführungen zur Abenteuer- und Kriminalliteratur66 zumindest in nichts nachsteht, ist bemerkenswert.

1

Nikolaj Bucharin, „Kommunističeskoe vospitanie molodeži v uslovijach NĖPa“, in: Pravda 232 (14.10.1922). Zur Popularität westlicher Schemaliteratur à la Nat Pinkerton vgl. Boris Dralyuk, Western Crime Fiction Goes East. The Russian Pinkerton Craze 1907–1934, Leiden: Brill 2012. Zur Vorgeschichte der sowjetischen Science-Fiction in der frühsowjetischen Abenteuerliteratur vgl. Matthias Schwartz, Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, Köln u.a.: Böhlau 2014, S. 13–262.

2

Schon zwei Jahre nach Bucharins Aufruf von 1922 wird, gleich nach seinem Erscheinen 1924, Mariėtta Šaginjans prototypischer ‚Roter Pinkerton‘, der Heftroman Mess Mend, oder die Yankees in Leningrad (Mess Mend ili Janki v Petrograde), u.a. wegen der naiven Vorstellung einer gewaltlosen Revolution aufs Schärfste kritisiert. Vgl. Boris Dralyuk, „Bukharin and the ‚Red Pinkerton‘“, in: The NEP Era 5 (2011), S. 3–21, hier: S. 16.

3

Wörtlich übersetzt; in Analogie zum englischen „yellowback literature“: ‚gelber Roman‘.

4

Ich verwende diesen Begriff mit Verweis auf den Band Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktion, hg. v. Janine Hauthal, Julijana Nadj, Ansgar Nünning, Henning Peters, Berlin u. New York: Walter de Gruyter 2007, aus dem für meine Überlegungen der Beitrag von Werner Wolf zu „Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien“ (Metaisierung, S. 25–64) deshalb zentral ist, weil die Metaisierung des Abenteuers im hier beschriebenen Kontext der frühsowjetischen Kultur tatsächlich ein transgenerisches und transmediales ist (u.a. Detektiv-, Kriminal- und Abenteuernarrativ; fiktive und faktuale Gattungen; Lang- und Kurzprosa; Film-Literatur).

5

Zentral ist die Begegnung mit einem Revolutionär, der als Bahnhofsgepäckträger Geld für eine revolutionäre Untergrundzeitung sammelt, die die Protagonistin, zu diesem Zeitpunkt noch ahnungslos über den Zweck ihrer Spende, unterstützen. Mariėtta Šaginjan, „Priključenija damy iz obščestva“, in: dies., Izbrannye proizvedenija, Moskau: Chudožestvennaja literatura 1978, S. 151–256, hier: S. 166. Marietta Schaginjan, Abenteuer einer Dame, Berlin: Verlag der Nation 1977, S. 26 f.

6

Vgl. Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago u. London: The University of Chicago Press 1981.

7

„Я испытывала чувство освобождения и легкости. Говорить у меня не было сил. Точно расчет взяла, точно сбросила с плеч все заботы, все обязанности и выходила из круга времени и пространства.“ Šaginjan, Priključenija, S. 207. „Ich empfand etwas wie Befreiung, wie Erleichterung. Ich hatte nicht mehr die Kraft zu sprechen. Als hätte ich mit allem abgeschlossen, alle Sorgen, alle Pflichten von mir geworfen, die Sphäre von Zeit und Raum verlassen.“ (Hervorhebung B.O.). Schaginjan, Abenteuer, S. 94. Zum „abstrakten“ Charakter des Abenteuerraums („abstraktnoe prostranstvo“) vgl. Michail Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 33. Michail Bachtin, „Formy vremeni i chronotopa v romane“, in: ders., Sobranie sočinenij v semi tomach, Moskau: Jazyki slavjanskich kul’tur 2012, Bd. 3, S. 340–512, S. 364.

8

Michael Nerlich, Kritik der Abenteuerideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewusstseinsbildung 100–1750. Teil 1, Berlin: Akademie-Verlag, S. 18.

9

Nerlich, Kritik, S. 15.

10

Zur Konjunktur des Romans in Russland und der Sowjetunion vgl. Lewis Bernhardt, „‚The Gadfly‘ in Russia“, The Princeton University Library Chronicle 28.1 (Herbst 1966), S. 1–19.

11

James Fenimore Coopers Romane hatten in der sowjetischen Kultur einen enormen Einfluss, wobei vor allem die Abenteurer-Figur des „Pathfinders“ nachhaltig imponierte, was sich nicht zuletzt in der zwischen 1925 und 1931 erschienen Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt („Internationaler Pfadfinder“) niederschlug. Alleine schon das Inhaltsspektrum dieser Zeitschrift, das Reiseberichte, Abenteuererzählungen, reale Erfindungen ebenso wie Sciene-Fiction („naučnaja fantastika“/wissenschaftliche Phantastik) umfasste, sagt einiges über die semantische Reichweite der Figur des „Sledopyt“. Auch ein zweiter Abenteuerroman mit Fokus auf den Bürgerkrieg referiert, in diesem Fall schon im Titel, auf den „Pathfinder“: Lev Ostroumov, Makar-sledopyt. Povest’. Kniga pervaja (Teil 1), Moskau u. Leningrad: Gosudarstvennoe Izdatel’stvo 1928, S. 125.

12

Wo nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von mir, B.O. „Читали они запоем все, что подвертывалось под руку. Но больше всего любили книги о боевых подвигах и приключениях, о путешествиях за моря и океаны, о героической борьбе краснокожих индейцев Америки за свою свободу и независимость.“ Pavel Bljachin, Krasnye djavoljata [1922], http://lib.ru/PRIKL/BLYAHIN/krasnye.txt (24.03.2020).

13

Für den russischen Kontext einschlägig die von Kulturpessimismus durchtränkte Volte gegen den Film und die populäre Schemaliteratur von Kornej Čukovskij, „Nat Pinkerton i sovremennaja literatura“ [1910], in: ders., Sobranie sočinenij v pjatnadcati tomach. Tom sed’moj, Moskau: Terra-Knižnyj klub 2003, Bd. 7, S. 25–62.

14

So führt sie ihr Entschluss, auszuziehen, um den Mord an ihrem Bruder zu rächen, direkt ins Epizentrum der Kämpfer der roten Front im sowjetischen Bürgerkrieg, ins Lager des selbst zu Lebzeiten in seinen diversen Funktionen legendären und heldenhaften Semën Budënnyj (1883–1973).

15

„Один из них, названный Следопытом, был одет в красную рубашку, подпоясан простой веревочкой. На ногах большие, видимо, отцовские, сапоги.“ Bljachin, Krasnye, S. 5 f. „Einer von den beiden, er wurde Sledopyt genannt, war mit einem roten Hemd bekleidet, das mit einem einfachen Strick zusammengeschnürt war. An den Beinen trug er große, offensichtlich vom Vater stammende, Stiefel.“ Freilich ist das mit Strick geschnürte Hemd, wäre es nicht als rotes vorgestellt, ein typisches Kleidungsstück der männlichen Landbevölkerung in Russland dieser Zeit. Die zu großen Stiefel muten dagegen tatsächlich wie ein Requisit aus dem Kostümverleih an – würde man sich die jungen Leute doch am ehesten barfuß vorstellen.

16

„В сознании ребят современные события и герои гражданской войны так причудливо переплетались с книжными образами, что они уже и сами не знали, где кончается чудесная сказка и вымысел, а где начинается подлинная суровая жизнь. В разговорах между собою они создали даже свой особый язык, заимствованный у индейцев Фенимора Купера и Майн Рида, понятный только им одним. Красноармейцев они называли краснокожими воинами, белых контрреволюционеров бледнолицыми собаками.“ Blachin, Krasnye, S. 8. Lenin nannten sie übrigens den „[…] Großen Führer der rothäutigen Krieger …“ („[…] Великим Вождем краснокожих воинов…“).

17

Brigitte Obermayr, „Sieben Jahr, und noch immer ‚selbstbezogen, revolutionär‘? Revolution und Abenteuerroman in Mariėtta Šaginjans ‚Mess Mend ili Janki v Petrograde‘“, in: Revolution und Avantgarde, hg. v. Anke Niederbudde u. Nora Scholz, Berlin: Frank & Timme 2018, S. 261–285.

18

Aage A. Hansen-Löve, „‚Wir sind zur einfachsten Kriminalhandlung unfähig …‘ Experimentelle Schundliteratur der russischen 20er Jahre“, in: Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre, hg. v. Martin von Koppenfels u. Manuel Mühlbacher, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, S. 237–261.

19

Vgl. dazu den Beitrag von Riccardo Nicolosi zum „Abenteuerheld in der sowjetischen Literaturtheorie der 1920er Jahre“ in diesem Band.

20

Boris Ėjchenbaum, „Literaturnyj byt“/„Das literarische Leben“ [1927], in: Texte der russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, Band 1, Wilhelm Fink: München 1969, S. 462–481, S. 469. Vgl. Aage A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978, S. 408: „Der literaturnyj byt stellt aus dieser Sicht nicht mehr bloß eine Art ‚beweglicher Militärgrenze‘ zwischen Literatur und byt [Alltag, B.O.] dar, sondern wird kommunikativ als Medium verstanden, in dem die Literatur durch die ‚Institutionalisierung‘ der Autor-Leser-Beziehung zu einem ‚sozialen Phänomen‘ wird.“

21

Vgl. Hansen-Löve, Formalismus, S. 404 f. Vgl. auch Hansen-Löve, Kriminalhandlung, S. 237: Im Zuge der „‚Entkernung‘ des Abenteuer-Romans“ in der russischen Prosa-Avantgarde habe auch eine „bewusst anti-fiktionale Reduktion des ‚Abenteuers‘ auf narrative Funktionen der Sujetkonstruktion und der Spannungserzeugung als objektive Faktoren der literarischen Wirkung“ stattgefunden. Zu derlei „objektiven Faktoren“ gehören „Effizienz, Erfolg, literarischer Markt“. Zur formalistischen Pionierleistung in Sachen Marktanalyse vgl. auch Basil Lvoff, „When Theory Entered the Market: The Russian Formalists’ Encounter with Mass Culture“, in: Ulbandus Review. Vol. 17. A Culture of Institutions / Institutions of Culture (2015), S. 65–85.

22

Vgl. „Писатель сейчас нащупывает свои профессиональные возможнтости.“ Ėjchenbaum, Byt/Alltag, S. 480. „Zur Zeit muss der Schriftsteller seine professionellen Möglichkeiten jeweils ertasten“. [Dieser Satz fehlt in der Übersetzung des zitierten Aufsatzes, B.O.].

23

Hansen-Löve, Kriminalhandlung, S. 238.

24

1921 erschien die erste russische Übersetzung des Heftromans; die Verfilmung kam ab 1922 in die sowjetischen Kinos.

25

Sidney Scott, Tarzan of the Apes, 1918.

26

Viktor Schklowski, „Tarzan“, in: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, hg. v. Fritz Mierau, Leipzig: Reclam 1991, S. 126–130, S. 127. „Тарзана можно не замечать и это будет традиционно, но глупо. Необходимо изучение массовой литературы и причин ее успеха. [..] [Но] пусть сам по себе Тарзан неинтересен, чрезвычайно важно понять причину его успеха.“ Viktor Šklovskij, „Tarzan“, in: Sovremennik, 3 (1924), S. 253 f., S. 253.

27

Es liegt die Annahme nahe, dass es sich dabei um die Bearbeitung eines Schattenprofils von Vsevolod Ivanov handeln könnte. Allerdings konnte ich bislang nur ein solches von Viktor Šklovskij ausfindig machen, in „Serapionovy brat’ja“ v sobranijach Puškinskogo doma. Materialy, issledovanija, Publicistika, Sank Peterburg: Puškinskij dom 1998, S. 29.

28

Vgl. Alexander Lavrentiev, Alexander Rodchenko. Photography 1924–1954, Köln: Könemann 1995, Abb. 39, S. 52: [Über Rodčenkos Arbeit an der Umschlaggestaltung zu Šaginjans Mess Mend] „Rodtschenko benötigte eine Menge dramatischer Szenen zur Illustrierung der Handlung. Er konnte in Magazinen nur wenig finden und beschloß, sie in eigener Regie zu erarbeiten. […] In der obigen Photomontage stellt Rodtschenko einen Detektiv mit dunklen Brillengläsern und einer Pfeife dar. Rodtschenko rauchte wirklich eine Pfeife … [.]“

29

Schklowski, Tarzan, S. 129; [hier: „irgendein ausländischer gelber Roman“], was aber den Nachdruck im Original nicht deutlich genug wiedergibt: „Имеет сейчас успех не иностранная хорошая книга, о которой мечтал Горький, а иностранный желтый роман, почти все равно какой.“ Šklovskij, Tarzan, S. 254.

30

Nat Pinkerton. Der König der Detectivs erschien im „Dresdner Romanverlag“ von 1907 und diese Serie war die Grundlage für Übersetzungen (auch ins Russische). Obwohl „Nat Pinkerton“ im amerikanischen Detektiv und Gründer einer für die Regierung u.a. im Kampf gegen die ihr Recht fordernde Arbeiterschaft tätigen Privatdetektei des Allan Pinkerton einen Namensvetter hatte, waren die abenteuerlichen Kriminalromane des Nat Pinkerton „die Erfindung seines deutschen Verlegers“. Hans-Friedrich Foltin, „Vorwort“, in: Nat Pinkerton. Der König der Detectivs. 10 Lieferungshefte in einem Band, Hildesheim u. New York: Olms Presse 1974, o.S.

31

Der Titel des Romans erscheint in beiden Schreibweisen, wobei „Iperit“ die Fachbezeichnung ist.

32

M. Pavlovič, „Chimičeskaja vojna“, Teil 1, in: Krasnaja nov’ 3 (1924), S. 168–182; Teil 2: Krasnaja nov’ 4 (1924), S. 187–201; Krasnaja nov’ 5 (1924), S. 154–175. Vgl. auch den Hinweis dazu bei Vladimir Jarancev, „Roman ‚Iprit‘ v tvorčeskoj biografii Vsevoloda Ivanova“, in: Voprosy literatury 5 (2015), S. 210–224, S. 216–217.

33

Krasnaja nov’. Literaturno-chudožestvennyj i naučno-publicističeskij žurnal („Roter Neubeginn. Literarisch-künstlerische und wissenschaftlich-publizistische Zeitschrift“) erschien von 1921–1941 6 Mal pro Jahr, im Umfang von je ca. 350 Seiten. Krasnaja nov’ ist also eine typische ‚dicke Zeitschrift‘ („tolstyj žurnal“) – für eine intellektuell bis wissenschaftlich interessierte Leserschaft, in der Erzählungen und Fortsetzungsromane zeitgenössischer Autorinnen und Autoren erschienen. U.a. Vsevolod Ivanov veröffentlichte seine Texte dort regelmäßig.

34

Pavlovič, Chimičeskaja, Teil 3, S. 154.

35

„Обладающий таким свойствам так называемый горчичный газ (иперит) немцы прозвали царем газов.“ Pavlovič, Chimičeskaja, Teil 3, S. 161.

36

„Задачей романа было заполненье авантюрной схемы не условным литературным материалом, как у Джим Доллара (Мариэтты Шагинян), Валентина Катаева и т.д., а описаньями фактического характера.“ Viktor Šklovskij, „Iperit. Otryvok iz romana“, in: Lef 3 (1925), S. 70.

37

In einem Gespräch zwischen einem antibolschewistisch eingestellten russischen Emigranten in Paris und dem Chemiemagnaten Rolling ist von einer Aktennotiz die Rede, in der festgestellt werde, dass ausreichend Kampfgas für die Städte Char’kov, Moskau und Leningrad vorhanden sei: „Автор дает даже точную смету: 6.850 тонн горчичного газа, для поголовного истребления жителей в этих столицах.“ Aleksej Tolstoj, „Giperboloid inženera Garina. Roman v trech knigach. Kniga pervaja“, in: Krasnaja Nov’ 7 (1925), S. 99–127, S. 116. „Der Autor gibt sogar eine genaue Schätzung: 6850 Tonnen Senfgas um die gesamte Bewohnerschaft in diesen Metropolen zu vernichten“. Tolstojs Roman erfuhr zahlreiche Bearbeitungen, schon das in Krasnaja Nov’ 2 (1927) veröffentlichte ‚dritte Buch‘ war die Bearbeitung des Schlusses, der 1926 erschienen war. 1927 erschien in Band 10 der Sobranie Sočinenij von Aleksej Tolstojs eine Fassung des Romans; 1934, 1936, 1937 und 1939 folgten weitere Redaktionen. Vgl. ausführlicher dazu: A. A. Aleksandrova, „Kommentarii“, in: Aleksej Tolstoj, Sobranie Sočinenij v desjati tomach. Tom cetvertyj, Moskau: Chudožestvennaja Literatura 1983, S. 750–752. Das Gaskriegsthema behandelt auch, und vor allem mit Fokus auf die Folgen des von den Deutschen eingesetzten Kampfgases für die Soldaten, der schon 1927, als Nummer 1 der Roman-Gazeta, in russischer Übersetzung erschienene Roman (CHCl=CH)3As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg von Johannes R. Becher (deutsch 1926). Unter dem Titel Ljuizit, ili Estestvennaja spravedlivaja voina erfuhr der Roman zwischen 1927 und 1930 in der Sowjetunion 5 Auflagen.

38

Vgl. Schwartz, Expeditionen.

39

„Пара завалящихся журналов, откуда он черпал сведения при рассказах о знаменитой химической войне […].“ Vsevolod Ivanov/Viktor Šklovskij, Iprit. Roman. Vypusk IX. Konec v gelikoptere, Moskau: Gosudarstvennoe Izdatel’stvo 1925, S. 42.

40

Aage A. Hansen-Löve, „‚Wir sind alle aus ›Pljuškins Haufen‹ hervorgekrochen …‘: Ding – Gegenstand – Ungegenständlichkeit – Unding“, in: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit, hg. v. Anke Hennig u. Georg Witte, WSA Sonderband 71, München: Kubon & Sagner 2008, S. 251–346, S. 263.

41

„Сусанна протянула ему лимон. Пашка из презрения к сухопутным людям, при помощи лимона избегавшим качки, никогда не ел этих желтых плодов. Теперь он отмахнулся было, но новый приступ рвоты заставил его взять лимон. Он жевал лимон, глядя себе в ноги, и так они пролетели мимо Москвы.“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, IX, Glava 52, S. 11. „Susanna reichte ihm eine Zitrone. Paška hatte, da er die Festlandbewohner verachtete, die mithilfe von Zitronen versuchten, nicht seekrank zu werden, niemals eine solche gelbe Frucht gegessen. Auch jetzt hätte er abgelehnt, aber ein erneuter Würgeanfall zwang ihn dazu, die Zitrone zu nehmen. Er kaute an der Zitrone, sah sich dabei auf die Füße und so flogen sie an Moskau vorbei.“

42

Der Regisseur und Filmtheoretiker Lev Kulešov hat sich ausführlich mit dem „dikovinka“ (Anke Hennig übersetzt: „Dingsda“) beschäftigt. Vgl. Lev Kulešov, „Das Dingsda“, in: Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde, hg. v. Anke Hennig, Hamburg: Philo Fine Arts 2010, S. 500 f.

43

Bachtin, Chronotopos, S. 26 f. Bachtin, Formy, S. 358 f.

44

„Я потряс мир, но не разрушил его строя, Хольтен, – печально продолжал Шульц. – Наука не может сделать этого. Только восстание рабочих пересоздаст мир.“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vypusk VIII, Glava 46, S. 19. Mit Hilfe des Goldes von Šul’c wird übrigens Rokambol das Leben gerettet.

45

Der Bär wird immer wieder als Geschenk von Pavels Großvater vorgestellt, der ihm das noch ganz junge Tier geschenkt habe (Ivanov/Sklovskij, Iprit, Vyp.1, Glava 4, S. 23 f.), dessen er sich schon mehrmals, u.a. aufgrund von Lebensmittel- bzw. Futtermangel, entledigen wollte. Damit versetzt er „Rokambol“ freilich in etwa in die Mitte des 19. Jahrhunderts und somit in jene Zeit, als die Erfolgsserie mit „Rocambole“ von Pierre Alexis Ponson du Terrail entstand. Dieser alte, aber scheinbar nicht zu überkommende Typus Abenteurer, ist nun der zweite Mann an der Seite von Pavel, einem Abenteurer des neuen Typs.

46

Hansen-Löve, Kriminalhandlung, S. 238.

47

Hansen-Löve, Kriminalhandlung, S. 238.

48

„Знаете ли вы, что такое катализатор, читатаель? Катализатором называется такое вещество, которое, не принимая само участия в химической реакции (действии), способствует ей. Например, только в присутствии платины газообразный аммиак (нашатырный спирт) может в смеси с нагретым 150° воздухом образовать окиси азота. Другой пример: […] В нехимической истории Словохотова с Сусанной Монд роль катализатора сыграла книжка, скверная книжка Бэрроуза.

Конечно, Словохотов был красавец собой, широкогрудый, русый, рослый, но в Англии много красивых людей. Но как Тарзан, как дикарь с медведем и хорошо сшитыми брюками, он для Сусанны был неотразим благодаря Берроузу.“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. II, Glava 11, S. 31.

49

Hansen-Löve, Kriminalhandlung, S. 237.

50

Hansen-Löve, Kriminalhandlung, S. 237.

51

Michail Bachtin stellt dem weder die Welt noch sich selbst verändernden „Abenteuermenschen“ („avanturnyj čelovek“) den Typus „Mensch im Roman“ („čelovek v romane“), der sich durch ein Werden und Wachsen auszeichnet und die Welt gestalte und verändere, gegenüber. Bachtin, Chronotopos, S. 18. Bachtin, Formy, S. 351; Michail Bachtin, „[K romanu vospitanija]“, in: ders., Sobranie sočinenij v semi tomach, Bd. 3, S. 217–335, u.a. S. 329.

52

Vgl. Ralf von den Hoff, Ronald G. Asch u.a., „Helden – Heorisierungen – Heroismen. Tranformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereich 948“, in: Helden. Heroes. Héros. 1.1 (2013), S. 7–14, S. 8 f.

53

Volker Klotz, Abenteuer-Romane, München u. Wien: Hanser, S. 14 f.

54

Boris Groys u. Michael Hagemeister (Hgg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

55

Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. 2, Glava 9, S. 22.

56

„Шумели буруны, и как будто человеческий голос слышался в них. – Слезай, сволочь! – кричал Словохотов на Рокамболя, пугливо висящего на веревке и недоверчиво глядевшего вниз. […] Сусанна очнулась. Ей показалось, что она услыхала чей-то стон. Полуиспуганная, вскочила она на одну из глыб…Стон повторился у самой воды. Тогда Сусанна почувствовала себя героиней романа и бросилась вперед.“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. 2, Glava 9, S. 23.

57

„Море плескалось… Но Сусанна уже не слушала его… ей было все ясно. Мысль о кинематографе на одно мгновение мелькнула в голове девушки, но кровь человека, и пена, и страшный таинственный зверь были слишком реальны. […] Она поняла и красоту пришельца, и что за зверь был с ним. Со страшным криком восторга и ужаса: ‚Тарзан, Тарзан‘ – она упала у ног незнакомца.“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. 2, Glava 9, S. 24.

58

Tarzan bei den Affen. Cinema Classics Collection 2012 (56 Min.), 44’32”–45’.14”. Der Roman setzt einen stärkeren Akzent auf den Kampf zweier Männer um den Besitz der Frau: „Jane Porter – her lithe, young form flattened against the trunk of a great tree, her hands tight pressed against her rising and falling bossom, and her eyes wide with mingled horror, fascination, fear and admiration – watched the primordial ape battle with the primeval man for possession of a woman – for her.“ Edgar Rice Burroughs, Tarzan of the Apes, Oxford: Oxford University Press 2010, S. 153.

59

„The Tarzan series made a hit with Russian audiences […] Of the forty Chaplin pictures shown in the USSR in the 1920s, twenty-two of the titles were changed into Russian versions to cash in on Tarzan’s name. […] Chaplin’s caveman story, ‚His prehistoric past‘ (1914), was shown in Russia as ‚Charlie Tarzan‘.“ Vance Kepley/Betty Kepley, „Foreign Films and Soviet Screens, 1922–1931“, in: Quarterly Review of Film Studies 4.4 (1979), S. 429–442, S. 437.

60

Vgl. „The feminine equivalent to the adventure story is the romance. […] The crucial defining characteristic of romance is not that it stars a female but that its organizing action is the development of a love relationship, usually between a man a woman. […] Adventure stories, more often than not, contain a love interest, but one distinctly subsidiary to the hero’s triumph over dangers and obstacles.“ John G. Cawelti, Adventure, Mystery, and Romance. Formula Stories as Art and Popular Culture, Chicago u. London: The University of Chicago Press 1976, S. 41.

61

Vgl. Clare Mulcahy, „‚We Would Each Like to Be Tarzan‘. Reexamining Female Readers of Burrough’s Tarzan Series“, in: Global Perspectives on Tarzan. From King of the Jungle to International Icon, hg. v. Annette Wannamaker u. Michelle Ann Abate, New York: Routledge 2012, S. 151–164, S. 153: Mulcahy kommentiert die Formel „‚without Jane, there is no Tarzan‘“, indem sie die von der Forschung festgestellte sujetkonstitutive Dynamik zwischen ‚Jane‘ und ‚Tarzan‘ zusammenfasst: „[…] Tarzan constructs his identity in contrast to and because of Jane.“

62

„Susanna Mond war in ihrem Mädchenschlafzimmer in der dritten Etage und sie war untröstlich. Die Chemie hat ihr Slovochotov genommen, ihn restlos aufgelöst. Urteilen Sie doch selbst: Susanna hatte Tarzan aus dem Wasser gefischt. Tarzan hatte sich vorerst in London vergnügt und sie vorübergehendend sitzen gelassen, und dann kam er zurück, voller Ruhm … und dann plötzlich die Chemie, wie bei Papa. Und es wäre doch interessant, herauszufinden, ob es nur die Chemie war. Vielleicht ja doch eine Frau?“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. 5, Glava 24, S. 10.

63

„Сусанна накинула на него тигровый плед […]“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. 2, Glava 11, S. 32.

64

„Он был все тот же, только похудел слегка, и на груди, поперек старой татуировки – якоря, были красным нататуированы строки химических формул.“ Ivanov/Šklovskij, Iprit, Vyp. 9, Glava 50, S. 5.

65

„Романом я доволен не совсем, так как в нем много метса занял пародийно иронический материал.“ Šklovskij, Iperit, S. 70.

66

Viktor Šklovskij, „Novella tajn“; „Roman tajn“, in: ders., O teorii prozy, Moskau: Federacija 1929, S. 95–138. Viktor Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“ [1919], in: Texte der russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, München: Fink 1969, Bd. 1, S. 37–121. Viktor Šklovskij, „Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle“ [1929], in: Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, hg. v. Jochen Vogt, München: Fink 1998, S. 142–153.

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