Kontaktzonen der Moderne

Michail Bachtin, Georgij Tuškan und die sowjetischen Konzeptualisierungen antikolonialer Abenteuerliteratur

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Matthias Schwartz
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Im Jahre 1919, zwei Jahre nach der Oktoberrevolution, der Bürgerkrieg war noch im vollen Gange, schrieb Viktor Šklovskij einen seiner wegweisenden Essays Svjaz’ priemov sjužetosloženija s obščimi priemami stilja (Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetführung und den allgemeinen Stilverfahren), der einst zu einem der Grundlagentexte des russischen Formalismus werden sollte, in dem er sich auch erstmals ausführlicher mit dem Genre des Abenteuerromans beschäftigte. Er ordnete ihn den einfachen Prosaformen zu, dessen Sujetführung viel von den Schemata und Methoden des Märchens ererbt und vor allem nichts mit der Alltagswirklichkeit zu tun habe, in der es situiert sei: „Schiffbruch, Entführung durch Piraten usw. wurden nicht aufgrund alltäglicher, sondern aufgrund künstlerisch-technischer Umstände für das Romansujet ausgewählt. Alltag ist darin nicht mehr enthalten als indischer Alltag im König des Schachspiels.“1

Knapp zwanzig Jahre später, in der Hochzeit des Stalinismus und der Schauprozesse, schrieb Šklovskij, nachdem er aufgrund vielfacher Kritik dem geächteten „Formalismus“ abgeschworen hatte, einen Grundsatzartikel über den Abenteuerroman, in dem er mit anderen Worten genau dieselbe Feststellung über dessen Alltagsferne wiederholte. Er veröffentlichte ihn in der wichtigsten Literaturzeitung des Landes, dem Zentralorgan des sowjetischen Schriftstellerverbandes, Literaturnaja gazeta, im März 1938. Anlass des Beitrags ist ihm der neueste Roman des jungen sowjetischen Schriftstellers Georgij Tuškan, der unter anderem aufgrund der Begutachtung durch Šklovskij zu jenem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht ist. So verweist Šklovskij ohne Nennung des Romantitels auf Tuškans Werk, um ganz generell das Problematische und Verwerfliche jedes Abenteurertums in der Literatur darzulegen, dem er die lebensnahen „wissenschaftlichen Abenteuer“ großer Entdeckungs- und Forschungsreisender gegenüberstellt. Der „rückwärtsgewandte“ Roman Tuškans bleibe dagegen hinter allen „unseren Erfolgen“ in diesem Bereich zurück, orientiere er sich doch nicht an den Errungenschaften sowjetischer Wissenschaftler, wie der in jenem Jahr die Presse beherrschenden Expedition des Polarforschers Ivan Papanin, sondern wiederhole die „alten erprobten Verfahren der Abenteuerdinge“.2 Um diese Dinge dürfe es aber in der heutigen Zeit nicht mehr gehen: „Es geht nicht um Abenteuer, es geht um Weltbezug, um den Glauben an das, was dargestellt wird.“3

Mit dieser Ächtung des Abenteuerromans als einem rückwärtsgewandten Genre, dem jeder Weltbezug fehle und das mit der Wirklichkeit so viel zu tun habe wie das im alten Indien erfundene Schachspiel mit dem Alltag des damaligen Königreichs, artikulierte Šklovskij eine Rezeptionshaltung, die nicht nur unter fortschrittlichen Literatur- und Filmtheoretikern der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre weit verbreitet war, sondern die auch in der Nachkriegszeit im Westen mit der Wiederentdeckung der formalistischen Theorie das Bild von Abenteuerliteratur und -filmen in der Sowjetunion insgesamt lange bestimmen sollte: die „Abenteuerdinge“ (Šklovskij) galten als ein konventionalisiertes und automatisiertes Genre, mit dem keine große Literatur zu machen sei.4

Schaut man sich aber die Debatten um Abenteuerliteratur und die Entwicklung des Genres im damaligen Zeitkontext an, lässt sich feststellen, dass diese Positionierung nur eine unter vielen war und es gerade in den 1930er Jahren im Zuge der Auseinandersetzungen um die Entwicklung einer sozialistischen Weltliteratur und um die Gattung des Romans im Besonderen keineswegs geklärt war, ob der Abenteuerroman eine weltfremde und unzeitgemäße Literatur sei oder vielleicht doch im Kontext des Sozialistischen Realismus zu einer modernen Darstellungsform weiterentwickelt werden könne, die eigene Gegenwart einzufangen.

Um diesen Zusammenhängen im Kontext der sowjetischen Literaturdebatten nachzugehen, möchte ich aber zunächst auf die Position eines weiteren prominenten Literaturtheoretikers jener Generation eingehen, der wesentliche Impulse zu seinem Werk gerade aus diesen Auseinandersetzungen gezogen hat: nämlich Michail Bachtin. Verweisen doch Bachtins genau in jenen Jahren angestellte Überlegungen zum „Roman als literarisches Genre“ auf Šklovskijs polemische Ausfälle gegen die märchenhafte Romanform und machen die Frage nach dem „Weltbezug“ zum zentralen Kriterium moderner Literatur. Ausgehend von Bachtins Erörterungen möchte ich in einem folgenden Schritt dann etwas generell zur vermeintlichen Alltags- und Weltfremdheit des Abenteuerromans sagen, waren doch dessen zeitgenössische Sujets keineswegs so wirklichkeitsfremd wie die Schachbretter indischer Könige oder die Zauberreiche der Märchen, sondern führten ihre Helden zumeist mitten in die Grenzgebiete imperialer Herrschaft und in die Zentren kolonialer Macht. Ausgehend davon zeige ich, wie diese literarischen Figurationen extremer Grenzerfahrungen, wie sie insbesondere in Texten der französischen und englischen Kolonialimperien eine bedeutende Rolle spielten, im späten russischen Zarenreich und in der frühen Sowjetunion adaptiert und rekodiert wurden. Anschließend komme ich auf den einleitend erwähnten Roman von Georgij Tuškan zu sprechen, anhand dessen ich die Herausbildung eines eigenständigen sowjetischen Abenteuergenres skizziere. Wurde doch, so möchte ich behaupten, erst mit der Etablierung des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion eine einschlägige, allerdings auch höchst ambivalente Formel gefunden, wie man den Weltbezug von sozialistischer Fiktion und kolonialer Wirklichkeit in Hinsicht auf Abenteuerliteratur als eine ‚Kontaktzone der Moderne‘ ausgestalten könnte.

Kontaktzonen mit der Wirklichkeit: Michail Bachtins Überlegungen zum Abenteuerroman

Im Zuge der Debatten über den Roman und seine gesellschaftspolitische Funktion in der Sowjetunion, die insbesondere durch den Ersten Gesamtsowjetischen Schriftstellerkongress 1934 und Maksim Gor’kijs Konzeption des Sozialistischen Realismus angestoßen wurden, befasste sich auch Michail Bachtin intensiv mit dem Genre Roman und entwickelte in dieser Zeit seine wesentlichen literaturtheoretischen Konzepte, die ihn dann in der Nachkriegszeit auch im Westen berühmt machen sollten.5 Zwar hatte Bachtin in den 1930er Jahren keine Gelegenheit, diese Überlegungen publik zu machen, doch umgekehrt rezipierte er offensichtlich die laufenden Auseinandersetzungen und konnte im März 1941 seine Gedanken auch im prominenten Moskauer Institut für Weltliteratur zur Diskussion stellen, wo er einen Vortrag zum „Roman als literarisches Genre“ hielt.6

In diesem Referat grenzte er den Roman von anderen Genres wie dem Epos oder dem Poem durch drei Besonderheiten ab:

Ich sehe drei grundlegende Besonderheiten, durch die sich der Roman prinzipiell von allen übrigen Genres unterscheidet: 1. Die stilistische Dreidimensionalität des Romans, die mit dem vielsprachigen Bewußtsein zusammenhängt, das sich in ihm realisiert; 2. Die grundlegende Veränderung der Zeitkoordinaten der literarischen Gestalt des Romans; 3. Die neue Zone des Aufbaus einer literarischen Gestalt im Roman, nämlich die Zone des maximalen Kontakts mit der Gegenwart (der zeitgenössischen Zeit) in ihrer Unabgeschlossenheit.7

Während sich hinter der stilistischen Dreidimensionalität vornehmlich Überlegungen verbergen, wie er sie bereits Ende der 1920er Jahre unter den Stichworten Dialogizität und Polyphonie anhand der Romane Fëdor Dostoevskijs angestellt hat, verweist der zweite Punkt auf seine zeitgleich angestellten Konzeptualisierungen des Chronotopos im Roman als einem dynamischen Element in der zeit-räumlichen Gestaltung des Sujets.8

Entscheidend aber im Kontext der damaligen Debatten über die gesellschaftspolitische Verantwortung der Literatur war der dritte Punkt, berührte er doch die in den Auseinandersetzungen zentrale Fragestellung, wie man das Verhältnis der Romanfiktion zur außerliterarischen Wirklichkeit bestimmen sollte. Bachtin bietet hierfür den Terminus der „Kontaktzone mit der unabgeschlossenen Wirklichkeit“9 an, eine „neue, besondere Zone des Aufbaus der künstlerischen Gestalten“, wie es anderer Stelle heißt, die „erstmals vom Roman angeeignet worden“ sei.10 Das Aufkommen dieser Kontaktzone zur Wirklichkeit innerhalb der Fiktion habe sich jedoch nicht nur dem „direkten und unmittelbaren Einfluß des Romans“ selber zu verdanken:

Sogar dort, wo ein solcher Einfluß exakt festgestellt und aufgezeigt werden kann, ist dieser unauflöslich mit dem unmittelbaren Wirken der Veränderungen in der Wirklichkeit selbst, die den Roman determinieren und die sein Vorherrschen in der gegebenen Epoche bedingen, verknüpft. Der Roman ist das einzige im Werden begriffene Genre, weshalb er das Werden der Wirklichkeit tiefer, wesentlicher, feinfühliger und schneller widerspiegelt.11

Die entscheidende Verschiebung gegenüber gängigen sozialistisch-realistischen Widerspiegelungskonzepten für den Roman – neben Maksim Gor’kijs, vor allem auch denen von Georg Lukács – liegt hier in der Betonung auf dem „Werden der Wirklichkeit“ selber. Anstelle einer der Wirklichkeit innewohnenden „revolutionären Tendenz“, die es nach Gor’kij im Roman zu entfalten gelte und die bereits ein historisches Telos impliziert, betont Bachtin hier das Offene, Unabgeschlossene jeder Wirklichkeit wie des Romans.12 Die fiktionale Kontaktzone spiegele ein „Werden“ und nicht ein „Wesen“13 der Welt, wie es Lukács behauptete, was auch einen grundlegenden Umbau des Menschenbildes im Roman mit sich bringe.14

Mit diesem Verweis auf ein verändertes Menschenbild stellt Bachtin hier aber auch einen Zusammenhang her, der insbesondere für die Debatte um die Spezifik des Abenteuerromans immer wieder von Belang war. Demnach bringe die Kontaktzone zwei Besonderheiten für das Romangenre mit sich: Zum einen präge das Unabgeschlossene der Wirklichkeit auch die Art und Weise der Sujetfügung, welche die Leser*innen im Ungewissen über den möglichen Ausgang, über adäquate Problemlösungen lasse, wobei eine gewisse „Spekulation mit der Kategorie des Unwissens“ zur Geltung komme. Zum anderen wirke sich die Kontaktzone aber auch auf die Gestaltung des Protagonisten aus, der notwendigerweise aus seiner „epischen Ganzheit“ in eine widersprüchliche, komplizierte und subjektive Gestalt zerfalle.15 Die „unabgeschlossene Gegenwart“ bedinge die „Nichtübereinstimmung des Helden mit sich selbst“.

Nun gibt es laut Bachtin aber auch Romane, bei denen diese unmittelbare Verknüpfung von außerliterarischer Wirklichkeit, Sujetführung und Heldengestaltung nicht gegeben sei, in denen die „Besonderheit der Romanzone“ gänzlich ohne jede Problembezogenheit auskomme:

Nehmen wir beispielsweise den abenteuerlichen Boulevardroman. In ihm gibt es weder philosophische noch sozial-politische Problembezogenheit und keine psychologische Durchdringung; über keine dieser Sphären kann es somit Kontakt zu dem unabgeschlossenen Ereignis des gegenwärtigen – unseres – Lebens geben. Die fehlende Distanz und die Kontaktzone werden hier auf andere Weise genutzt: Anstelle unseres langweiligen Lebens bietet man uns zwar ein Surrogat, dafür jedoch ein interessantes und glänzendes Leben. Diese Abenteuer kann man miterleben, mit diesen Helden kann man sich selbst identifizieren; Romane dieser Art können beinahe zu einem Ersatz für das eigene Leben werden.16

In dieser Eignung des Abenteuerromans, zum Surrogat des eigenen Lebens werden zu können, bestehe demnach die Stärke, aber auch die größte Gefahr, wobei Bachtin von der spezifischen Form des Abenteuerromans wieder zur „Kontaktzone“ des Romans im Allgemeinen überleitet. So heißt es im Folgenden:17

Hier zeigt sich auch die besondere Gefahr, die diese Kontaktzone des Romans mit sich bringt: Man kann selbst in den Roman eingehen (…). Daher kann es zu solchen Erscheinungen kommen wie dem Ersatz des eigenen Lebens durch die gierige Lektüre von Romanen oder durch Träume, die einem Romanmuster entsprechen (…), wie dem Auftauchen von in Mode gekommenen Romanhelden – enttäuschten, dämonischen usw. – im Leben.18

Der Abenteuerroman ist damit das Gegenteil des psychologischen, philosophischen, sozialpolitischen Romans als Kontaktzone zur Unabgeschlossenheit und Offenheit der Wirklichkeit, indem er eine illusionäre, abgeschlossene Ganzheit eines unentfremdeten, erfüllten Lebens suggeriert, in der epische Helden noch ganzheitliche Individuen sein können. Leicht verkürzt ließe sich Bachtins Argumentation wie folgt zuspitzen: Da im Fall des abenteuerlichen Boulevardromans die Kontaktzone mit der Wirklichkeit zumeist in maximaler Ferne zum eigenen Alltag situiert ist, kann das Unabgeschlossene hier als Außergewöhnliches narrativiert und das widersprüchliche Menschenleben als glänzende Heldentat inszeniert werden.

Betrachtet man diese Ausführungen im Kontext der damaligen Literaturdebatten, könnte gerade diese von Bachtin diagnostizierte Suggestionskraft des abenteuerlichen Boulevardromans aber auch Kennzeichen des idealen sowjetischen Romans sein: als dasjenige perfekte Illusionsmedium, von dem gewissermaßen alle Theoretiker des Sozialistischen Realismus unter umgekehrten Vorzeichen immer träumten: Er ermöglicht die absolute Identifikation der Leser*innen mit seinen Protagonisten – und lädt zur „gierigen“ Nachahmung ein; eine Eigenschaft, wie sie der Roman der 1930er Jahre für die neue, zu schaffende sozialistische Wirklichkeit auch haben sollte.

So berührt Bachtin mit dieser behaupteten Aporie zwischen tiefempfundener Widerspiegelung des Lebens und gefährlicher Identifizierung mit einem verführerischen Lebenssurrogat den Kern des Problems, um das alle Auseinandersetzungen mit Abenteuerliteratur in der Sowjetunion der 1920er, mit zunehmender politischer Brisanz seit den dreißiger Jahren indirekt oder explizit kreisten. Denn ob Abenteuerliteratur nur ein Surrogat, ein koloniales Phantasma, eine Wirklichkeitsflucht in die exotische Wildnis oder in die zwielichtigen Schattenseiten moderner Gesellschaften sei, oder ob sie nicht vielleicht gerade in der „interessanten und glänzenden“ Darstellung dieser Halb- und Unterwelten das eigentliche Substrat modernen Lebens widerspiegele, darüber bestand unter Literaturpolitikern, Kritikern, Theoretikern und Verlags- und Zeitschriftenredakteuren weitgehend Uneinigkeit. Und je nach dem, wie man das Verhältnis der Fiktion zur eigenen modernen Wirklichkeit und wie man diese Wirklichkeit selber (als werdende, wesenhafte oder tendenzhafte) konzeptualisierte, kam man zu ganz unterschiedlichen Antworten. Während Viktor Šklovskij und Michail Bachtin Ende der 1930er Jahre noch daran festhielten, dass der Abenteuerroman keinen Weltbezug zum sowjetischen Alltag habe und damit keine Kontaktzone zu den sozial-politischen und psychologischen Problemen einer werdenden sozialistischen Wirklichkeit in Zeiten des Großen Terrors darstelle, bezeugten die in jener Zeit publizierten sowjetischen Genreromane, dass man die fingierte Kontaktzone auch zum Substrat der eigenen unabgeschlossenen Wirklichkeit machen könne, wenn man ihr den kolonialen Surrogatcharakter austreibt. Einen Surrogatcharakter, den sich Abenteuerliteratur insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erworben hat, als sie zu der präferierten Lektüre über die Wunder und Schrecken der außereuropäischen Welt wurde.

Appropriationen der kolonialen Kontaktzone: Die Exotisierung der sowjetischen Peripherie

Abenteuerliteratur ist in der Regel Kolonialliteratur. Sie erzählt meist von männlichen Helden, die jenseits der eigenen Zivilisationsgrenzen mit den exotischen Gefahren der Wildnis, geheimnisvollen Rätseln, barbarischen Kulturen und verführerischen Naturschönheiten konfrontiert werden. Sie verspricht körperliche Sinnlichkeit, unvergessliche Erlebnisse und extraordinäre Reisen, bei denen der weiße Mann seine zivilisatorische Überlegenheit und individuelle Attraktivität, seine intellektuellen und kriegerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen kann, indem er begehrenswerte Frauen, wilde Tiere, indigene Bevölkerungen, fantastische Naturwunder genauso wie bislang unbekannte ‚weiße Flecken‘ der kolonialen Landkarte mit Liebe, Verstand und Kampf beobachtet, erobert und besiegt. Als eine solche populäre Unterhaltungsliteratur prägte sie mit den Romanen eines Henry Rider Haggard, Jules Verne oder Louis Boussenard seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr als alle anderen Gattungen und Medien die europäischen Vorstellungen von der außereuropäischen Welt über alle Standes-, Alters- und Geschlechtergrenzen hinweg.19 Abenteuerliteratur stellte angesichts der sozialen Verwerfungen der Modernisierung und Industrialisierung in den imperialen Zentren und der grausamen Realität des ‚Scramble for Africa‘ an den kolonialen Peripherien eine vermeintlich authentische, unentfremdete, liminale Welt dar, in der das europäische Subjekt sich neu initiieren und seiner selbst vergewissern konnte, und sei es, indem es sich in seinem Scheitern im ‚Herzen der Finsternis‘ die Vergänglichkeit der imperialen Ordnung vergegenwärtigte.20 Diese Ordnung beruhte auf der Behauptung einer zivilisatorischen Differenz zwischen Hochkultur und Barbarei, Moderne und Tradition, technisch-wissenschaftlichem Fortschritt und archaisch-primitiver Rückständigkeit, einer Behauptung, die ständig von Untergang und Dekadenz bedroht ist. Genau dieses Unbehagen an der eigenen Kultur aber nimmt Abenteuerliteratur auf, wenn sie ihre Helden in der Konfrontation mit untergegangenen Hochkulturen oder außerirdischen Invasoren auf die Suche nach Salomons Schatz oder in einen Krieg der Welten schickt. Denn koloniale Abenteuerfantasien sind immer auch Projektionen eigener Ambivalenzen in eine ‚barbarische‘ Vorzeit oder – in Form der aufkommenden Science Fiction – in eine bedrohliche Zukunft, die als Phantasmen auch in Form von Verbrechen und Laster den ‚Dschungel der Großstadt‘ in den Halb- und Unterwelten moderner Großstädte unsicher machen können.21 Dracula genauso wie King Kong sind immer auch Zerr- und Spiegelbilder des eigenen imperialen, maskulinen, kolonialen Begehrens, die im Herzen New Yorks und Londons als unheimliche Nachtseite von Dr. Jekyll beheimatet sind.

Damit ist auch der phantasmatische Kern aller Debatten über Abenteuerliteratur in der Sowjetunion benannt – denn diese „unheimliche Nachtseite“ des Abenteuerlichen wollte man lieber nicht im politischen Zentrum der Weltrevolution oder in der Metropole des Sozialismus in einem Land beheimatet sehen. Gleichzeitig wollte man aber das „glänzende und interessante Leben“ (Michail Bachtin) außerhalb des eigenen Alltags nicht preisgeben, und so lassen sich die ersten Aneignungsversuche von westlicher Abenteuerliteratur in den 1920er Jahren auch als wiederholter Versuch lesen, gerade dieses koloniale Unheimliche als Surrogat eines abenteuerlichen Heldenlebens im sowjetischen Sinne umzukodieren.

Bereits ein Jahrzehnt vor der Oktoberrevolution hatte der einflussreiche Literaturkritiker und spätere Kinderbuchautor Kornej Čukovskij 1908 in einem weit rezipierten und in verschiedenen Städten gehaltenen öffentlichen Vortrag ein massives Unbehagen über diese unheimlich beliebte Boulevardliteratur geäußert.22 Denn diese primitive Abenteuerliteratur über furchtlose Detektive, Glücksritter und Verbrecher, von der allein in Petersburg in einem Monat mehr als 600.000 Exemplare verkauft würden, sei schlimmer als alles, was man bislang gekannt habe. „Kulturelle Wilde“ würden in diesen Groschenheften ihre fantasielosen Emotionen von Kampf und Sinnlichkeit ausleben. Man habe es hier mit dem Typ des „weltweiten, echten Hottentotten“ zu tun, dessen Katalysator das Kino mit seinen immer gleichen Bildern von Menschenjagden sei und der inzwischen „in seiner armseligen Fantasie“ alle kulturellen Unterschiede zwischen Land und Stadt, Spießbürgertum und Intelligenzija nivelliert habe.23

Mögen diese Büchlein […] hilflos und ungebildet sein, mögen sie nicht einmal Literatur, sondern nur das klägliche Gemurmel irgendeines betrunkenen Wilden sein, denken Sie sich aufmerksam in ihn hinein, denn dieses Gemurmel stellt für Millionen Menschenseelen die süßeste geistige Nahrung dar.24

Damit sei das menschliche Sein aber zu reiner „Zoologie“ degeneriert, das alle alten Ideale über Bord geworfen habe.25 An die Stelle der Seele, des Geistes und des Herzens sei einzig eine „riesige Faust“ getreten,26 die ohne Gerechtigkeitsgefühl nur von Hass und Rache getrieben sei.27

Mit seiner Polemik prägte Čukovskij nicht nur den Begriff „Pinkertontum“ („Pinkertonovščina“) als Synonym für billige Abenteuerliteratur, sondern etablierte auch einen Diskurs, der nach der Oktoberrevolution 1917 für die weitere Beschäftigung mit dem Genre explizit und implizit konstitutiv blieb.28 Schon in seiner Wortwahl in der Kennzeichnung des „degenerierten“ Publikums und seiner Helden als „Hottentotten“, Barbaren, Kannibalen oder „Wilde“ reproduziert er gängige Stereotype, galt doch der ‚Hottentotte‘ im europäischen Kolonialdiskurs als Inbegriff von ‚Unordnung‘, ‚Chaos‘ und ‚Primitivität‘.29

Da diese „gierige Lektüre“ (Bachtin) aus dem Westen auch nach der Revolution unter den frisch alphabetisierten Arbeitern und Bauern und Soldaten populär blieb, versuchte man sie seitens der Bolschewiki unter den Schlagwörtern „Revolutionsabenteuer“ und „kommunistische Pinkertons“ für die neue sowjetische Wirklichkeit anzueignen, wobei es vor allem um eine sozial-politische Umkodierung dieser imperialen Kolonialliteratur ging. In scharfer Abgrenzung zu den „barbarisierten“ Formen billiger Boulevardliteratur hob man bei Neuauflagen und Neuübersetzungen westlicher Abenteuerliteratur entweder deren schöpferische Fantasie, die erfindungsreiche Neugierde und wissenschaftliche Entdeckungslust hervor, wie sie in den Romanen von Henry Rider Haggard, Thomas Mayne Reid oder Jules Verne zu finden seien, oder aber man interpretierte sie als Symptom für den Zerfall der kolonialen Ordnung, als Ausdruck imperialer Dekadenz, wie es in den Werken von Pierre Benoit oder Joseph Conrad deutlich werde. Was bei Čukovskij noch als Invasion des kolonialen Barbaren imaginiert wurde, war in dieser Neubewertung des Genres Verfallssymptom der degenerierten kapitalistischen Kolonisatoren selber.30

Demgegenüber versuchte man in den populären Journalen, Buchreihen und Heftserien eine neue proletarisch-revolutionäre Abenteuerliteratur zu etablieren, wobei man die konventionalisierten Plot-Schemata einer spannenden, abwechslungsreichen Sujetführung mit vielen abwechslungsreichen Szenen voll Exotik, Gewalt, Überraschung, Gefahr und ungewöhnlichen Entdeckungen unangetastet ließ. Auch die etablierte Differenz von Zivilisation und Wildnis, Moderne und Tradition blieb bestehen: Ein typischer Romananfang der 1920er Jahre, der die Ankunft einer Rotarmisten-Abteilung in einer mittelasiatischen Festungsstadt beschreibt, lautete beispielsweise:

Im Herzen Mittelasiens, wo die Eisenbahn endet, stieg die zusammengesetzte Staffel ab. […] Die krummen engen Straßen, Häuser ohne Fenster mit rissig werdenden Lehmduwalen sahen wie unbewohnt aus. Die Stille lud zum Ausruhen ein, doch die Haufen würziger Weintrauben und duftender süßer Melonen lagen auf den weißen Filzmatten über den ganzen Basar verteilt./ In den weit geöffneten kühlen Teestuben saßen im Schneidersitz die Menschen. Sie sogen durch ein langes Schilfrohr den himmelblauen Rauch der gluckernden Wassernuss in die Lungen. Danach spülten sie den Zug mit einem Schluck Tee aus einer kleinen Trinkschale herunter, die reihum ging. […] Niemand warnte die ermüdeten Rotarmisten, dass der Feind nur mit Verrat kämpft, dass für einen hungrigen, ermüdeten Bewohner des Nordens eine Melone aus Schagan und sogar aus Tschardschou Gift ist, und so zerstreuten sie sich über den Basar./ Genau so musste es sein.31

Der wesentliche Unterschied zu ihren westlichen Vorläufern bestand jedoch darin, dass diese Kontaktzone mit der exotischen Wirklichkeit Mittelasiens nun eine explizite sozial-politische Dimension bekam – schon die in der zitierten Eingangsszene auftretenden Protagonisten des zu erwartenden Abenteuers verraten es: es sind hier nicht Aussteiger, Einzelgänger, von der Zivilisation verstoßene Träumer und Spinner, die sich an die imperiale Peripherie begeben, sondern Rotarmisten, Tschekisten, Komsomolzen, Weltrevolutionäre. Entsprechend liegen die Haupttendenzen dieser proletarischen Abenteuerliteratur in einer Neuauslotung des Verhältnisses von Eigenem und Anderem, sowjetischen Alltag und außergewöhnlichen Heldentaten entlang des proklamierten Gegensatzes zwischen Proletarischem und Kapitalistischem. Das Andere wurde nun nicht mehr als ein fernes Exotisches und fundamental Fremdes der eigenen Identitätskonstruktion postuliert, sondern man versuchte es mit Hilfe der fiktionalen Kontaktzone des Abenteuerromans als ein sozial und historisch Gemachtes diskursiv und fiktional in die eigene postrevolutionäre Wirklichkeit einzubinden.32

Diese Aneignung der kolonialen Kontaktzone geschah in zwei Richtungen. Erstens durch eine Neubewertung der eigenen vor- und postrevolutionären Wirklichkeit, indem man ‚klassische‘ Szenarien und Konfliktsituationen zwischen kolonialen Eroberern und indigener Bevölkerung auf das eigene Territorium und Grenzland übertrug, und so eine Exotisierung der sowjetischen Geographie erzielte. Überall entdeckten sowjetische Pfadfinder mit einem Mal geheimnisvolle Objekte, vergessene Zivilisationen und urzeitliche Lebewesen, aber auch der politische Untergrund und illegale Widerstandskampf der Zarenzeit, gescheiterte Rebellen und religiös Verfolgte wurden zu subalternen Subjekten umgeschrieben. Zweitens betrieb man eine Umkodierung der westlichen Abenteuernarrative selber, indem man die imperialen Perspektiven im Sinne des antikolonialen Befreiungskampfes und der angestrebten Weltrevolution aus der Sicht der Unterdrückten neu akzentuierte. Die Dekolonisierung der imperialen Geographie stellte nicht so sehr eine ‚Entexotisierung‘ der Differenz zwischen westlichen Kolonialherren und subalternen Kolonisierten dar, sondern eher eine Umkodierung des Exotischen selber, das als historisch, sozial und letztlich auch als ‚sozialdarwinistisch‘ hergestelltes Herrschaftsverhältnis kenntlich gemacht wurde. Damit ergab sich sowohl hinsichtlich der sowjetischen als auch hinsichtlich der (außersowjetischen) ‚imperialen‘ Geographie eine doppelte Stoßrichtung: in Bezug auf die Vergangenheit wollte ‚sozial-revolutionäre‘ Abenteuerliteratur analog zur allgemeinen Neubewertung der Menschheitsgeschichte im Sinne des Marxismus die Kolonialexotik revidieren, in Bezug auf die Gegenwart und nahe Zukunft aber auch eine emanzipatorische Perspektive im Sinne des weltweiten Klassenkampfes eröffnen.33

Was diese Literatur aber nicht tat, und was für die Roman-Diskussion so wichtig wurde, war eine wie auch immer geartete „psychologische Durchdringung“ (Bachtin) ihrer Protagonisten: Diese blieben, auch wenn sie nun das Banner der Weltrevolution in den letzten Winkel der Erde trugen, auf der Flucht vor dem eigenen Alltag, vor den Mühen des sozialistischen Aufbaus. Ganz paradigmatisch formulieren das die Kampfgefährten in einem der wichtigsten Abenteuerromane jener Jahre, Michail Zuev-Ordynec Roman Skazanie o grade Novo-Kiteže (Die Legende über die Stadt Neu-Kitež) aus dem Jahr 1930, wo ein Grenzschützer, ein Kampfpilot und ein Techniker, nachdem sie alle lebensgefährlichen Abenteuer unbeschadet überstanden haben, ausrufen:

Erinnerst du dich, damals in der Taiga hatte ich Sehnsucht – fuhr Ptucha fort, – als ob das Herz mir erfroren sei, zur heimatlichen Ukraine zog’s mich hin. Ach, was für eine Unsinnigkeit! Auf der Hauptwache, in der Freiheit, hab’ ich drüber nachgedacht, wie sich am besten ins Leben einschrauben. Sei du verflucht, warmer Ofen, und sanftes Weib, und heiße Piroggen! – rief Fedor plötzlich erbittert aus. – Bei so einem Leben gehst du ein! – In unserer Zeit darf man nicht an den Ofen denken! Auf die Expedition, in die Taiga fahre ich! Für einen Seemann, mit geteerter Ferse, sind nur zwei Gräber schön: das Meer und die Taiga. Genau!34

Heimatland, Familie, Alltagswirklichkeit sind hier keine Option. Der Abenteuerroman blieb weiterhin ein Lebenssurrogat, das allerdings durch die Exotisierung der sowjetischen Peripherie und seine anti-koloniale Ausrichtung auf die Weltrevolution wieder zu einem Ort wurde, der zwar nicht in der Sujetführung und Heldengestaltung, wohl aber auf ideologischer Ebene an die „Kontaktzone einer unabgeschlossenen Gegenwart und folglich auch der Zukunft“35 anschließbar war.

Rekonstruktionen der Kontaktzone: Die Zerstörung der Kolonialexotik

Die emanzipatorische, anti-isolationistische, tendenziell ‚kosmopolitische‘ ideologische Ausrichtung der sowjetischen Abenteuerliteratur war der Grund dafür, dass das Genre Ende der 1920er Jahre, mit dem so genannten Großen Umbruch, der gewaltsamen Industrialisierung und Kollektivierung des Landes im Zuge des Ersten Fünfjahresplans (1928–1932) und später mit der Proklamation des Sozialismus in einem Land, massive Probleme bekommen sollte. Galt es doch nun, den eigenen Alltag revolutionär umzugestalten, anstatt in exotischen Grenzgebieten den Schlüssel zur Weltrevolution zu suchen.36 Entsprechend geriet das Genre Ende der 1920er in massive Kritik, wurde als imperiale Schmuggelware und wirklichkeitsfremde Fantasterei diskreditiert. Ungeachtet aller anti-kolonialen und weltrevolutionären Ausrichtung, brandmarkte man die Surrogatwelten nun als „gegenstandsloses Abenteurertum“, das mit „Exotik die alte koloniale Romantik“ verdecke und in dem der „Konquistador“ weiterhin den Helden darstelle, der „keine Zeitgenossenschaft“ empfinde und die „großen Aufgaben des sozialistischen Aufbaus“ missachte.37 Anfang der 1930er wurden mit dieser Begründung fast alle Periodika und Verlage, die eine entsprechende Literatur vertrieben, geschlossen oder verstaatlicht, selbst in den Schul- und Stadtbibliotheken fanden massive Säuberungen der Regale statt.38

Ideologisch besiegelt wurde diese Einstellung aller Publikations- und Distributionsmöglichkeiten auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller im August 1934, als Maksim Gor’kij und der für den Bereich der Kinderliteratur zuständige Samuil Maršak den abenteuerlichen Boulevardroman mit seiner Kolonialexotik generell als ein Verfallssymptom der bürgerlichen Literatur brandmarkten, für das es in der sowjetischen Literatur keinerlei Anknüpfungspunkte geben könne.39 Stattdessen versuchte man nun, den Terminus Abenteuerliteratur auf Grundlage des Konzepts des Sozialistischen Realismus prinzipiell neu zu definieren. Das Surrogathafte des Weltbezugs sollte dem Genre endgültig ausgetrieben werden, indem man alle Kolonialexotik zerstörte und eine eng an die sowjetische Gegenwart gebundene Kontaktzone schuf. Dabei gab es zwei konkurrierende Ansätze: der eine gab dem Begriff des Abenteuers selber eine neue Alltagssemantik, während der andere dessen Funktion in Bezug auf die außerliterarische Wirklichkeit umdeutete.40

Der erste Ansatz wurde von Gor’kij selber initiiert und von Maršak exemplifiziert und zielte darauf, Abenteuerliteratur als ein Leben und Arbeit verbindendes Genre auf mehreren Ebenen zu bestimmen: Nicht nur auf der Ebene der Darstellung galt es, die Trennung von Wissenschaft und Leben, Arbeit und Umwelt, Abenteuerheld und Natur aufzuheben. Gezeigt werden sollten reale Berufsgruppen, die an konkreten Orten innerhalb der Sowjetunion ihre praktischen Aufgaben bewältigen, anstatt „exotische Professionen“ in „abstrakten geheimnisvollen Tiefen“ „pseudoromantische Abenteuer“ erleben zu lassen.41 Auch auf der Produktionsebene sollte der Abenteuerschriftsteller sich nicht mehr abstrakte Bilder ferner Welten ausdenken, sondern sich selber auf den ‚Weg ins Leben‘ machen und vor Ort im eigenen Land das Laboratorium des neuen Lebens erkunden. Damit verschob Maršak letztlich das Verhältnis der literaturhistorisch gesehen komplementären Figuren des Abenteurers und Forschungsreisenden zueinander, indem er jenen vollständig durch diesen ersetzte und zugleich dem Begriff des Abenteuers alles Fremde, Unvorhergesehene, die eigenen Zivilisationsgrenzen Überschreitende nahm.42 Die „wissenschaftlich-künstlerische“ Abenteuerliteratur sollte ein belletristisch aufgewerteter Expeditions- und Tatsachenbericht werden:

„Abenteuer“ […] bedeutet längst nicht immer aventures. Meistens heißt das Ereignisse, Episoden, Fakten. Wenn sie „Abenteuer“ fordern, bestehen die Leser auf einem handlungsreichen Buch, und manchmal auf einer ganzen Serie von handlungsreichen Büchern mit gemeinsamen Helden.43

Eine solche „abenteuerliche“ Reiseliteratur dürfe allerdings keinesfalls jenen „Kompilationen“ von Fakten, Episoden und Ereignissen gleichen, wie sie noch für die populärwissenschaftlichen Aufklärungshefte vor dem Großen Umbruch typisch gewesen seien:

Denn das gewöhnliche kompilierte Büchlein, das meistens aus Meldungen, die man in enzyklopädischen Wörterbüchern findet, aus zufälligen Zitaten von Reisenden und aus unechten pseudobelletristischen Details zusammengeschmiert ist, gibt immer seine Surrogatherkunft zu erkennen, die eine gefälschte ist.44

Vielmehr müsse nun die Spaltung von Alltag und Abenteuer, Eigenem und Fremden, Künstler und Wissenschaftler in dem neu zu konstituierenden Genre wissenschaftlich-künstlerischer Abenteuerliteratur überwunden werden, in dem statt einem Surrogat die neue Geographie so alltags- und lebensnah wie möglich und gleichzeitig mit epischer Kraft und visionärer Anschaulichkeit dargestellt werde. Jegliche Exotik des Orients, der kolonialen Peripherie gelte es zu zerstören. Statt Verfolgungsjagden sollte nun die Jagd nach Rohstoffen, statt lebensgefährlichen Kämpfen mit Verbrechern und Einheimischen sollte nun der Kampf bei der Unterwerfung und Kultivierung der wilden Natur, statt Intrigen und Emotionen sollte nun Entdeckergeist und Modernisierungsenthusiasmus stehen. Das spannende Sujet wurde durch den Reisebericht ersetzt. Die noch entfernt an den alten Abenteuerroman erinnernden Titel entsprechender Werke lauteten Die Zerstörung der Exotik, Der Schatz der Schwarzen Wüste, Erzählungen von Bergen und Flüssen, oder Kurzroman über den Kara-Kumsker Schwefel. Eine Welt außerhalb der Sowjetunion kam hier kaum noch vor.45

Und es ist genau diese Neudefinition des Begriffs des Abenteuers, die auch Viktor Šklovskij in den 1930er Jahren sowohl in seinem publizistischen als auch in seinem belletristischen Werk vertrat, nachdem er zuvor das alte Abenteuer-Genre generell für tot erklärt hatte, da seine automatisierten Verfahren bestenfalls noch als Parodie künstlerisch produktiv sein könnten.46 In den 1930er Jahren positionierte er sich als einer der leidenschaftlichsten Verfechter des wissenschaftlichen Abenteuerromans, der auf jegliche konventionellen Abenteuerelemente verzichten müsse und stattdessen die Psychologie des Wissenschaftlers, Ingenieurs oder Entdeckers ins Zentrum des Sujets stellen solle, sein menschliches Ringen um Wahrheit und Erkenntnis zeigen müsse, wie er in dem bereits zitierten programmatischen Beitrag über den Abenteuerroman für die Literaturzeitung im März 1938 schrieb:

Unsere Schriftsteller, die oft etwas prinzipiell Neues schaffen, glauben nicht an sich und das neue Sujet, das die neue menschliche Lebenseinstellung zeigt, und fügen ihm stattdessen sicherheitshalber noch das traditionelle Sujet hinzu./ Sie zäumen vor die Straßenbahn ein Pferd […] Der Sinn des sowjetischen wissenschaftlich-abenteuerlichen Romans besteht im Glauben an die Wissenschaft, die in die Hand seines gegenwärtigen und wahren Herren gefallen ist./ Das ist der Glaube daran, dass der Mensch dem Menschen ein Mensch ist.47

Mit dieser Fokussierung auf den Menschen als Herrn der Welt, den es in seiner ganzen Psychologie und Lebenseinstellung zu zeigen gelte, wurde aber auch das letzte Unterscheidungskriterium des Abenteuerromans fallengelassen: neben der spannungsreichen Sujetfügung und exotischen Alltagsferne sollten nun auch die nach Bachtin rastlosen und „unwandelbaren“ Helden verbannt werden, das impliziert Šklovskijs letzter Satz: Sie sollten nicht mehr wie Raubtiere unter Raubtieren in kolonialen und kapitalistischen Welten immer neue außergewöhnliche Geschehnisse, Prüfungen und Initiationsmomente zu bestehen haben, sondern als neuer Mensch dem modernen Sowjetbürger ein zivilisierter Genosse sein.48 Damit sollte gewissermaßen der „Weltbezug“ zur unabgeschlossenen Wirklichkeit als Modernisierungserzählung wiederhergestellt werden. Šklovskij verwendet dabei ganz ähnliche Kriterien wie Bachtin, nimmt dem Abenteuerroman aber jegliche Spezifik innerhalb des Genres, dessen „Abenteuerliches“ lediglich noch die geografische Herausforderung für den Entdeckungs- und Ingenieursgeist des sozialistischen Menschen als Bezwinger der Natur bedeutet.

Allerdings zeigte sich bald, dass ohne das „traditionelle Sujet“ aus Verfolgungsjagd, Schatzsuche und Kolonialromantik der Roman auch seine identifikatorische Sogkraft verlor: Die Werke, die in dem neuen Stil geschrieben wurden, fanden trotz hoher Auflage kaum begeisterte Leser*innen, stattdessen blühte der Schwarzmarkt traditioneller „Surrogatliteratur“.49

Daher setzte sich bereits Mitte der 1930er ein zweiter Ansatz zur Neubestimmung des Abenteuerromans durch, der demgegenüber versuchte, das „traditionelle Sujet“ und auch die typischen Heldenfiguren beizubehalten und noch enger an sowjetische Wirklichkeitsentwürfe anzubinden. Auch diese Konzeptualisierung konnte sich auf Maksim Gor’kij berufen, indem sie dessen mit der europäischen Antike beginnende Genealogie der sozialistisch-realistischen Literatur aufnahm und auf das Genre bezog.50 Waren doch nach Gor’kij die antiken Mythen und folkloristischen Märchen kreativer Ausdruck der Schöpferkraft des arbeitenden Volkes, das in diesen einfachen Formen seinen Wunschträumen und Fantasien von einer Emanzipation des Menschen Ausdruck verliehen habe.51 Dieser Argumentation folgte man nun, indem man den Abenteuerroman deutlich von den dekadenten, kolonialen Degenerationsformen des bürgerlichen Romans abgrenzte und ihn stattdessen zu einem solchen „volkstümlichen“, bis in die Antike zurückreichenden poetischen Genre erklärte, dessen Fabel sich durch die Ungewöhnlichkeit ständig wechselnder Abenteuer auszeichne, wobei es vor allem um den äußeren Effekt gehe und die positiven Helden oft idealisiert würden.52 Als ein solches „heroisches Genre“ aber habe diese Literatur durchaus noch eine Existenzberechtigung in der heutigen Zeit, ja mehr noch, sie sei gegen die kapitalistische Einkreisung, die feindliche Spionage, die koloniale Expansion ein geradezu notwendiges Genre zur Landesverteidigung, das die Wachsamkeit und den Heldenmut der Leser*innen schule. Zentral hierfür sei aber, dass man bei der Gestaltung der Helden maximale künstlerische Freiheit habe und das Genre nicht mit psychologischen Alltagsromanen verwechsle:

Das Abenteuergenre erfordert maximale Freiheit der künstlerischen Erfindung, der Mutmaßung. Da es bei uns aber nicht eine einzige theoretische Arbeit zum Abenteuergenre gibt, wird das eine Genre mit dem anderen vermischt.53

Abenteuergeschichte und Alltagsroman, heroischer und psychologischer Mensch werden hier wieder entmischt. Die entscheidende Verschiebung gegenüber der sowjetischen Abenteuerliteratur der 1920er Jahre besteht aber darin, dass die peripheren Gebiete nun kein exotischer Kolonialraum mehr waren, den man versuchte zu appropriieren und zu sowjetisieren, sondern eine Kontaktzone zur eigenen Wirklichkeit wurden: Die „maximale Freiheit der künstlerischen Erfindung“ ermöglichte es den alten-neuen typischen Abenteuerhelden, in diesem fiktionalen Raum all die Konflikte und Spannungen der sozialistischen Gegenwart auf die Probe zu stellen, die auch im Zentrum des Landes virulent waren – so war es auch kein Zufall, dass historische Abenteuerromane oder vornehmlich in ferneren Weltgegenden situierte Fabeln kaum noch geschrieben wurden.

Nicht nur innerhalb des Schriftstellerverbandes fand diese Forderung nach einem eigenständigen Genre, die all jene theoretischen Konzeptionen eines „wissenschaftlich-künstlerischen“ „Romans des Abenteuers“, wie sie von Maršak und Šklovskij aufgestellt worden waren, von sich wies, große Zustimmung: Bereits 1937 hatte der wichtigste Verlag für Kinderliteratur eine eigene Buchserie Bibliothek der Abenteuer gestartet, 1939 folgte der zentrale Literaturverlag für Jugendliche und junge Erwachsene „Molodaja Gvardija“ mit einer Bibliothek der Abenteuerromane, die beide neben westlichen Klassikern des Genres vor allem zum Publikationsort einer neuen sowjetischen Abenteuerliteratur werden sollten.54

Kontaktzone zur eigenen Wirklichkeit: Georgij Tuškans erster sowjetischer Abenteuerroman

Als ein paradigmatisches Werk dieser neuen „heroischen“ Abenteuerliteratur kann Georgij Tuškans 1940 erstmals in der genannten Bibliothek der Abenteuer (Biblioteka priključenij) erschienener Roman Džura (Menschenjagd im Pamir) gelten.55 Gegen dessen Veröffentlichung hatte es in den Jahren zuvor erhebliche Widerstände gegeben, war seine Poetik doch dezidiert der von Maksim Gor’kij oder Viktor Šklovskij propagierten Konzeption einer „wissenschaftlichen“ Abenteuerliteratur entgegengesetzt.56 Umso größere genreprägende Bedeutung wurde seinem Erscheinen von Seiten des Schriftstellerverbandes beigemessen. Der einflussreiche Schriftsteller Aleksandr Kazancev pries ihn auf einer internen Diskussion gar als den „ersten sowjetischen Abenteuerroman“.57 Seine zentrale Stellung unterstreicht auch die Tatsache, dass bereits 1944 eine gekürzte Übersetzung des Romans auf Englisch unter dem Titel The Hunter of the Pamirs. A Novel of Adventure in Soviet Central Asia erschien.58

Die Handlung des Romans Džura erstreckt sich über zwei Jahre, 1929 bis 1931, und spielt im Hochgebirge von Pamir an der sowjetisch-afghanischen Grenze, wo eine Gruppe von kriminellen Banden einen Aufstand gegen die Sowjetmacht zu initiieren versucht.59 Erzählt wird diese Geschichte zu einem Großteil aus der Perspektive des analphabetischen Jungen Džura, der fernab von allen Einflüssen der Moderne und der Zivilisation in einem kaum zugänglichen Gebirgsdorf nach Jahrhunderte alten islamischen Traditionen aufgewachsen ist, sowie von dessen Jugendliebe Zejneb aus der Nachbarsiedlung.60 Ausgangspunkt der Handlung ist der Konflikt zwischen den ihre Macht konsolidierenden Bolschewiki und den Banden der Basmatschen, die bei ihrem Rückzug durch das Hochgebirge auf heimtückische Weise Zejneb entführen, was Džura dazu bringt, auf der Suche nach seiner Geliebten erstmals das Hochgebirge von Pamir zu verlassen und die unbekannte und in seiner Vorstellung von Angst einflößenden Mythen und Legenden beherrschte Welt jenseits der Berggipfel kennen zu lernen.61 So gerät er zwischen die Fronten der von Großbritannien finanzierten Rebellen und der sowjetischen Grenzschützer, wobei er anfangs abwechselnd für beide Seiten arbeitet, da er unreflektiert nur auf Rache gegen die Entführer sinnt und allein egoistische Interessen verfolgt. Erst nach und nach lernt er, dass es jenseits seines engen individuellen Wahrnehmungshorizonts auch größere Zusammenhänge gibt und dass kollektives Zusammenarbeiten effektiver sein kann als sein aus Selbstüberschätzung, Jähzorn und falschem Ehrgeiz motiviertes Handeln. Nach mehrmaligem Scheitern beginnt er sich langsam den Bolschewiki zugehörig zu fühlen.62

Während Džura sich so im harten physischen Überlebenskampf in einer ihm anfangs gänzlich fremden Welt allmählich zurecht findet, wird Zejneb ins afghanische Hinterland in einen Harem entführt und lernt, sich gegen die islamischen Traditionen und deren grausames Patriarchat zu emanzipieren. Ihr gelingt die Flucht und sie gründet im bewaffneten Kampf die erste Frauen-Kolchose im Pamir.63 Neben diesen beiden jugendlichen Hauptfiguren gibt es eine Reihe weiterer typischer Figuren des Abenteuergenres, die für im sowjetischen Sinne richtige und falsche Handlungsoptionen stehen. So sind die Handlungen von Džuras Jugendfreund Kučak von Habgier, Gottesfurcht und Angst geleitet, aus der heraus er wiederholt Verrat begeht und dem jeweils Stärkeren folgt, ehe er am Ende seine Bestimmung als Sänger und Dichter der Erfolge der Sowjets findet.64 Außerdem tauchen ein typischer Verräter, der für ein wenig Wohlstand zu jedem Verbrechen bereit ist, wachsame russische und einheimische Bolschewiki, ausländische Agenten, im Geheimen operierende sowjetische Grenzschützer sowie ein treuer Hund auf, der Džura mehrmals das Leben rettet. Insbesondere aber Džura und Zejneb selber gleichen deutlich der typischen Abenteuerfigur des edlen Wilden.65 So wird Džura, noch vor allem Kontakt mit der Außenwelt als der beste und stärkste Jäger seit Generationen beschrieben, während Zejneb als die schönste und klügste Frau gilt,66 die beide nur noch lernen müssen, ihre instinktiven Fähigkeiten diszipliniert und rational einzusetzen.67 Sie ähneln – wie ein Kritiker feststellte68 – sehr Coopers stolzen Indianern, mit dem einzigen Unterschied, dass jetzt auch eine Frau, mit Pferd und Gewehr bewaffnet, gegen die Kolonisatoren und ihre korrupten verbündeten Einheimischen kämpft.

Im Vergleich zu den meisten Werken der 1920er Jahre fällt an dem Roman vor allem auf, dass die Handlung nicht vornehmlich aus der Perspektive eines aus dem Zentrum kommenden Protagonisten erzählt wird, der sich in der Fremde orientieren muss, sondern im Fokus stehen gewissermaßen ‚vorkoloniale‘ Subjekte, die lange abgeschnitten von der Außenwelt lebten und nun wie in einem Zeitsprung aus der stillgestellten kleinen Gebirgswelt in die Moderne geschleudert werden, wo sie zwischen die Fronten sowjetischer und britischer Einflussbereiche geraten. In ihrer von islamischen Legenden und dörflichen Traditionen sowie durch die wilde und unkultivierte Landschaft Pamirs geprägten Vorstellungswelt sind Džura und Zejneb anfangs überfordert von den Herausforderungen der neuen Zeit. Ihnen erscheint das von Gewalt und Ausbeutung geprägte Leben im zwar seit 1919 von Großbritannien unabhängigen, aber immer noch von der ehemaligen Kolonialmacht geprägten islamischen Afghanistan genauso fremd und unverständlich wie die sozialistische Aufbauarbeit und Gegenaufklärung der Sowjets.

Gleichzeitig wird die koloniale Exotik hier nicht mehr, wie im Jahrzehnt zuvor, schlicht als ein zu überwindendes Zivilisationsgefälle, als Machtkampf zwischen Moderne und Tradition beschrieben. Das Exotische ist nicht das Rätselhafte, Zauberhafte, Bedrohliche und Verführerische einer anderen Welt, das durch eine Rebellion, Konspiration, Heldentat oder Weltrevolution bezwungen und überwunden werden kann, sondern das Unverstandene, das es im sowjetischen Sinne zu durchschauen gilt. Als ein solches Unverstandenes stellt es aber das entscheidende Moment zur Motivierung der Handlung und zur Erzeugung von Spannung dar, und zwar in dreierlei Hinsicht. Zum einen prägen exotische Elemente die Alltags- und Vorstellungswelt Džuras und Zejnebs, die mit einer ihnen anfangs unbekannten Welt konfrontiert sind, was zu vielfachen Missverständnissen führt. Zweitens gibt es die vielen, für die russischen Leser*innen ungewöhnlichen regionalen Spezifika, religiösen Gebote und lokalen Traditionen, insbesondere die ausführlich dargestellte feudal-koloniale Welt Afghanistans, aber auch spektakuläre Naturerscheinungen und geologische Besonderheiten, die unerwartete und verstörende Handlungsverläufe nach sich ziehen und erst nach und nach begriffen werden. Und drittens ist es die unvermutete Brutalität, Skrupellosigkeit und Durchtriebenheit der im Grenzland ihr Unwesen treibenden Räuberbanden selber, die immer wieder für Überraschungsmomente sorgen und eindringlich aus der Sicht Džuras und Zejnebs dargestellt werden.

Dabei wird die koloniale Welt nicht wie häufig in den 1920er Jahren als eine anachronistische Ordnung historisiert, sondern im Gegenteil als eine noch intakte und extrem gefährliche Lebenswirklichkeit gekennzeichnet, in der alle Emanzipationsbemühungen indigener Einwohnerinnen und Einwohner und alle Errungenschaften der Sowjets ständig durch unerwartete Wendungen und bedrohliche Parallelhandlungen in Gefahr zu sein scheinen, zumal anfangs noch für die Leser*innen unklar bleibt, was rückständiger Glaube oder vorsätzlicher Betrug, tradierte Lebensweise oder heimtückische Maske ist. So erweist sich das unzugängliche Bergland des zentralasiatischen Pamir hier als eine Kontaktzone zu einer unwegsamen Wirklichkeit, in der die subalternen Helden mit einer modernen Welt voller Feinde, Verräter und ständiger Todesgefahren konfrontiert werden. Damit hatte man aber eine Form gefunden, das Abenteuergenre doch noch in die sozialistisch-realistische Literaturproduktion einzubinden. Anstelle des typischen weißen, maskulinen, modernen Protagonisten, der in den Grenzgebieten imperialer Weltherrschaft seine technisch-wissenschaftliche und intellektuelle Überlegenheit auf die Probe stellt, trat nun der typisierte indigene, nicht unbedingt männliche, anti-koloniale Held, der mit Hilfe aller Kunstgriffe ‚traditioneller‘ Abenteuersujets in heftigen Konflikten und zahlreichen Bewährungsproben die immer schon gegebene, ihm aber anfangs noch unbekannte und unverstandene sowjetische Subjektposition finden muss.

Schluss: Der Abenteuerroman als Substrat des sowjetischen Alltags

Das „glänzende und interessante“ Leben, das einem der koloniale Abenteuerroman als nach Bachtin und Šklovskij rückwärtsgewandte und „gierige Lektüre“ ohne Weltbezug offerierte, versuchte man in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre durch eine Neukonzeption des Genres als Teil des eigenen sozialistischen Gesellschaftsprojekts zu fassen. Abenteuerliteratur sollte nicht ein Surrogat zur Alltagswirklichkeit sein, sondern als unmittelbar auf die sowjetische Gegenwart bezogene Lebenserfahrung narrativiert werden. Indem aber Autoren wie Grigorij Adamov, Vsevolodij Voevodin, Evgenij Ryss69 oder eben auch Georgij Tuškan versuchten, in ihren Abenteuerromanen die Peripherie so eng wie möglich an den zeitgenössischen publizistischen und politischen Diskurs einer kapitalistischen Einkreisung, kolonialer Expansion, feindlicher Spionage und der Forderung nach erhöhter Wachsamkeit gegenüber Verrätern und Sabotage anzubinden, bekam die Kontaktzone noch einen weiteren, höchst widersprüchlichen, nicht unbedingt immer intendierten Wirklichkeitsbezug: Denn so naiv und unvorbereitet wie die typisierten indigenen Helden des sowjetischen Abenteuerromans der 1930er Jahre gegen die Verwerfungen der Moderne an der Peripherie kämpften, wurde auch die Mehrzahl der Sowjetbürger von der Gewalt im Zeichen des Großen Terrors im Zentrum der Weltrevolution überrascht. Der Kampf gegen äußere Feinde und unscheinbare Verräter an der Landesgrenze ließ sich auch als Substrat einer bedrohlichen und unverständlichen Welt lesen, in der Schauprozesse und Säuberungen zum Alltag geworden sind. Damit aber gewann das Genre eine Qualität, die es auch in den besten Werken der kolonialen Abenteuerliteratur immer schon hatte, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Nicht Dracula und King Kong trugen das Unheimliche von der Peripherie ins Zentrum des Imperiums, sondern das Unheimliche im Herzen des Stalinismus wurde unter den Bedingungen der Zensur an der Peripherie in der Gestalt der ungewöhnlichen Abenteuer der ‚edlen Wilden‘ überhaupt erst darstellbar und verhandelbar.

Michail Bachtin hatte zur gleichen Zeit zwar Georg Lukács, Viktor Šklovskij, Maksim Gor’kij und all die anderen Theoretiker des modernen Romans eifrig gelesen, den sowjetischen Abenteuerroman der 1920er und 30er Jahre kannte er offensichtlich nicht: aus einem „Lebenssurrogat“ war hier längst auch ein Erfahrungssubstrat des eigenen Alltags geworden, das – in den Worten Bachtins – „das Werden der Wirklichkeit tiefer, wesentlicher, feinfühliger und schneller“70 widerspiegelte als manches andere Genre. Allerdings konnte diese Neufassung des Abenteuergenres in Romanen wie Georgij Tuškans Džura keine große Wirkung mehr entfalten. Denn nur ein Jahr nach Veröffentlichung von dessen Werk und lediglich zweieinhalb Monate nach Bachtins Vortrag im Institut für Weltliteratur gewannen mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion für die Kritiker und Autoren plötzlich ganz andere Fragen aktuelle politische Brisanz, die auch das Genre nach dem Krieg noch einmal grundlegend verändern sollten.71 Alle diejenigen Autoren, die in den Jahren zuvor ihre ersten Werke eines sozialistischen Abenteuerromans der Moderne vorgelegt hatten, wurden nach dem 22. Juni 1941 als Kriegskorrespondenten, Frontberichterstatter und Auslandsreporter eingesetzt, um aus der literarischen in die publizistische Kontaktzone mit der Wirklichkeit des modernen Vernichtungskrieges einzutreten.

1

Viktor Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetführung und den allgemeinen Stilfragen“, in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. v. Jurij Striedter, München: Wilhelm Fink 1994, S. 37–121, 83 f. „Выбирались в сюжет романа кораблекрушение, похищение пиратами и т. д. Не по бытовым, а по художественно-техническим обстоятельствам. Быта здесь не более, чем индийского быта в шахматном короле.“ Viktor Šklovskij, „Svjaz’ priemov sjužetosloženija s obščimi priemami stilja“ [1919], in: ders., O teorii prozy, Moskau: Federacija 1929, S. 24–67, 47 f.)

2

„Im Roman fand sich ein Schmuckstück, ein Schatz; Der Roman ist rückwärtsgewandt, zu den alten erprobten Verfahren der Abenteuerdinge.“ Falls nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen von mir, M. S. „В романе оказалось сокровище, клад; роман повернул назад, к старым испытанным приемам приключенческих вещей.“ Viktor Šklovskij, „O romane priključenija“, in: Literaturnaja gazeta 15.722 (1938), S. 4.

3

„Дело не в приключении, дело в отношении к миру, в вере в то, что изображаешь.“ Šklovskij, „O romane“, S. 4.

4

Als eine solche alltagsferne Boulevardliteratur erlebte sie aufgrund der enormen Popularität der Tarzan-Romane und anderer westlicher Abenteuerwerke in Russland und insbesondere nach dem Erfolg von Il’ja Ėrenburgs erstmals Anfang 1921 und dann mehrmals neu aufgelegter parodistischer Genreadaption Neobyčajnye pochoždenija Chulio Churenito i ego učenikov (Die ungewöhnlichen Erlebnisse des Julio Jurenito und seiner Jünger) allerdings in der ersten Hälfte der 1920er Jahre unter avancierten Kritikern und Literaten eine kurzlebige Modewelle, als angeregt von Nikolaj Bucharins Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“ unter anderem Aleksej Tolstoj, Valentin Kataev, Mariėtta Šaginjan und auch Vsevolod Ivanov und Viktor Šklovskij ihrerseits mehr oder weniger parodistische Abenteuerromane verfassten. Doch bereits 1924 sah Boris Ėjchenbaum in seinem Aufsatz V poiskach žanra (Auf der Suche nach einem Genre) diese Adaptionsversuche als gescheitert an und riet, das Genre „offiziell dem Kino zur Verfügung zu stellen“, ehe Adrian Piotrovskij drei Jahre später in seinen Überlegungen K teorii kino-žanrov (Zur Theorie der Filmgenres) diesem „einst blühenden Genre“ auch in diesem Medium den unwiederbringlichen Niedergang prophezeite. Vgl. Boris Ėjchenbaum, „V poiskach žanra“, in: Russkij sovremennik 3 (1924), S. 228–231, hier S. 229; Adrian Piotrovskij, „K teorii kino-žanrov“, in: Poėtika kino, hg. v. Boris Ėjchenbaum, Moskau u. Leningrad: Kinopečat’ 1927, S. 145–170, hier S. 162.

5

Zu diesen Debatten allgemein, vgl. Michael Wegner Barbara Hiller u.a. (Hgg.), Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion, Berlin: Aufbau-Verlag 1988; Evgeny Dobrenko u. Galin Tihanov (Hgg.), A History of Russian Literary Theory and Criticism: The Soviet Age and Beyond, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2011.

6

Zu diesen sowjetischen Debatten, vgl. Matthias Schwartz, Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, Köln: Böhlau 2014, S. 275–303, 353–396. Der Vortrag „Roman kak literaturnyj žanr“ („Roman als literarisches Genre“) wurde erstmals 1975 unter dem Titel „Epos und Roman“ veröffentlicht, ein Titel, der auch in nachfolgenden Publikationen beibehalten wurde.

7

Michail Bachtin, „Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung“ [1941], in: Wegner, Hiller, Disput, S. 490–532, 498 f. „Я нахожу три таких основных особенности, принципиально отличающих роман от всех остальных жанров: 1) стилистическую трехмерность романа, связанную с многоязычным сознанием, реализующимся в нем; 2) коренное изменение временных координат литературного образа в романе; 3) новую зону построения литературного образа в романе, именно зону максимального контакта с настоящим (современностью) в его незавершенности.“ Michail Bachtin, „Ėpos i roman. O metodologii issledovanija romana“, in: ders., Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let, Moskau: Chudožestvennaja Literatura 1975, S. 447–483, 454 f.

8

Zur Entwicklung des literatur- und kulturtheoretischen Denkens von Bachtin, vgl. Sylvia Sasse, Michail Bachtin zur Einführung, Hamburg: Junius 2010.

9

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 530. „[…] в зону контакта с назавершенной действительностью.“ Bachtin, Ėpos i roman, S. 482.

10

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 494. „[…] новую особую зону построения художественных образов […] зону, впервые освоенную романом.“ Bachtin, Ėpos i roman, S. 451.

11

Bachtin: „Epos und Roman“, S. 494. „Даже там, где такое влияние может быть точно установлено и показано, оно неразрывно сплетается с непосредственным действием тех изменений в самой действительности, которые определяют и роман, которые обусловили господство романа в данную эпоху. Роман – единственный становящийся жанр, поэтому он более глубоко, существенно, чутко и быстро отражает становление самой действительности.“ Bachtin, Ėpos i roman, S. 451.

12

Zu den Konzeptionen von Gor’kij, Lukács und anderen, vgl. die entsprechenden Beiträge in Hans Jürgen Schmitt u. Godehard Schramm (Hgg.), Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974; Hans Günther u. Evgenij Dobrenko (Hgg.), Socrealističeskij kanon. Sbornik statej, Sankt Peterburg: Gumanitarnoe Agentstvo „Akad. Proekt“ 2000, S. 841–895.

13

Lukács beispielsweise hielt in der Expressionismusdebatte, die er in dieser Zeit mit Ernst Bloch und anderen in Moskau führte, fest, dass „jeder bedeutende Realist“ zu den „Gesetzmäßigkeiten der objektiven Wirklichkeit“, zu „den tiefer liegenden, verborgenen, vermittelten, unmittelbar nicht wahrnehmbaren Zusammenhängen der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ gelangen müsse, um so das „Wesen“ des Lebens darstellen zu können. Georg Lukács, „Es geht um den Realismus“ [1938], in: Schmitt, Schramm, Realismuskonzeptionen, S. 192–218, S. 205.

14

Vgl. „Die Zerstörung der epischen Distanz und der Übergang der Gestalt des Menschen aus der fernliegenden Ebene in die Zone des Kontakts mit dem unabgeschlossenen Ereignis der Gegenwart (und somit auch dem der Zukunft) führt zu einer grundlegenden Umgestaltung des Menschenbildes im Roman (und im folgenden auch in der gesamten Literatur).“ Bachtin, „Epos und Roman“, S. 526. „Разрушение эпической дистанции и переход образа человека из далевого плана в зону контакта с незавершенным событием настоящего (а следовательно, и будущего) приводит к коренной перестройке образа человека в романе (а в последующем и во всей литературе).“ Bachtin, Ėpos i roman, S. 466 f.

15

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 528 f.

16

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 522. „Возьмем, например, авантюрно-бульварный роман. В нем нет ни философской, ни социально-политической проблемности, нет психологии; ни через одну из этих сфер, следовательно, не может быть контакта с незавершенным событием современной и нашей жизни. Отсутствие дистанции и зона контакта используются здесь по-иному: вместо нашей скучной жизни нам предлагают, правда, суррогат, но зато интересной и блестящей жизни. Эти авантюры можно сопереживать, с этими героями можно самоотождествляться; такие романы почти могут стать заменою собственной жизни.“ Bachtin, Ėpos i roman, S. 475.

17

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 523. In seinem seinerzeit unveröffentlichten Essay zu „Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman“ (1937–1938), der in jenen Jahren entstanden ist, geht er in den Ausführungen zum „abenteuerlichen Prüfungsroman“ und „abenteuerlichen Alltagsroman“ zudem detailliert auf die antiken Ursprünge dieses Romantyps ein, vgl. Michail Bachtin, „Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman“, in: ders., Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 7–56, S. 9 ff. Hierbei bezieht er sich deutlich auf zeitgenössische sowjetische Diskussionen für und wider den Abenteuerroman, wobei Bachtin mit dem Hinweis auf dessen antike Wurzeln zu seiner Legitimation beitragen will, vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 392–395.

18

Bachtin: „Epos und Roman“, S. 523. „Здесь раскрывается и специфическая опасность этой романной зоны контакта: в роман можно войти самому […]. Отсюда возможность таких явлений, как замена собственной жизни запойным чтением романов или мечтами по романному образцу […], как появление в жизни модных романных героев – разочарованных, демонических и т. п.“ Bachtin, Ėpos i roman, S. 475.

19

Vgl. Joseph Bristow, Empire Boys. Adventures in a Man’s World, London: HarperCollins 1991; Martin Green, Dreams of Adventure, Deeds of Empire, New York: Basic Books 1979; Martin Green, The Adventurous Male. Chapters in the History of the White Male Mind, University Park, PA: Pennsylvania State University Press 1993; Richard Phillips, Mapping Men and Empire. A Geography of Adventure, London u. New York: Routledge 1997.

20

Vgl. Harald Eggebrecht, Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert, Berlin u. Marburg: Guttandin und Hoppe 1985; Andrea White, Joseph Conrad and the Adventure Tradition. Constructing and Deconstructing the Imperial Subject, Cambridge: Cambridge University Press 1993; Catriona Kelly u. David Shepherd (Hgg.), Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880–1940, Oxford: Oxford University Press 1998.

21

Vgl. John Rieder, Colonialism and the Emergence of Science Fiction, Middletown, CO: Wesleyan University Press 2008; Robert Olorenshaw, „Narrating the Monster. From Mary Shelley to Bram Stoker“, in: Frankenstein. Creation and Monstrosity, hg. v. Stephen Bann, London: Reaktion Books 1994, S. 159–176.

22

In den Folgejahren wurde der Vortrag unter dem Titel „Nat Pinkerton i sovremennaja literatura“ („Nat Pinkerton und die zeitgenössische Literatur“) mehrfach in gedruckter Form publiziert. Zu Čukovskij als Kritiker der populären Literatur der Vorrevolutionszeit vgl. Dagmar Steinweg, Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften. Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija A. Verbickaja und Evdokija A. Nagrodskaja (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Bd. 27), Bochum: Projekt-Verlag 2002, S. 109–113; Evgenija Ivanova, „Gody izvestnosti Čukovskogo-kritika“, in: Kornej Čukovskij, Sobranie sočinenij v 15 tomach. Tom 7. Literaturnaja kritika 1908–1915, Moskau: Terra 2003, S. 5–14.

23

Kornej Čukovskij, „Nat Pinkerton i sovremennaja literatura“ (1910), in: ders., Sobranie sočinenij, Band 7, S. 25–62, S. 36.

24

„Пусть эти книжки […] беспомощны, безграмотны, пусть они даже не литература, а жалкое бормотание какого-то пьяного дикаря, вдумайтесь в них внимательно, ибо это бормотание для миллионов душ человеческих сладчайшая духовная пища.“ Čukovskij, „Nat Pinkerton“, S. 39.

25

Čukovskij, „Nat Pinkerton“, S. 50.

26

Čukovskij, „Nat Pinkerton“, S. 44.

27

Čukovskij, „Nat Pinkerton“, S. 52.

28

Vgl. Matthias Schwartz, „‚Hottentotten‘, Kolonialromantik und Ursprungsmythen. Zur Genese der Afrikabilder in sowjetischer Abenteuerliteratur und Science Fiction“, in: AnOther Africa? (Post-)Koloniale Afrikaimaginationen im russischen, polnischen und deutschen Kontext, hg. v. Jana Domdey, Gesine Drews-Sylla u. Justnya Gołąbek, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016, S. 35–63.

29

Vgl. Stefan Göttel, „Hottentotten/Hottentottin“, in: Susan Arndt u. Antje Hornscheid (Hgg.), Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast 2004, S. 147–153.

30

Vgl. hierzu ausführlicher Schwartz, Expeditionen, S. 83–127.

31

„В сердце Средней Азии, где кончается железная дорога, высадился сводный эшелон. […] Кривые узкие улицы, дома без окон с растрескавшимися глиняными дувалами казались необитаемыми. Тишина звала к отдыху, а груды пряного винограда и пахнущих сладких дынь были раложены на белых кошмах по всему базару./ В широко раскрытых прохладных чайханах, поджав ноги, неподвижно сидели люди и, затянувшись через длинную камышевую трубку голубым дымом булькающего чилима, запивали затяжку глотком чая из маленькой пиалы, ходившей по кругу. […] Никто не предупреждал уставших красноармейцев, что враг борется только предательством, что для голодного, уставшего северянина шаганская и даже чарджуйская дыня – яд, и красноармейцы разбрелись по базару./ Только этого и надо было.“ A. Sytin-Turkestanskij, „Iskuplenie viny. Rasskaz iz istorii bor’by c basmačestvom“, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 52–60, S. 52.

32

Vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 105–127.

33

Hierzu ausführlicher, vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 83–127.

34

„Помнишь, тогда в тайге затосковал я, – продолжал Птуха, – сердце вроде озябло, до Вкраине ридной захотелось. Э, ерундистика! На гапвахте, на свободе, раздумался я, как лучше в жизнь ввинтиться. Будь ты проклята, печка теплая, да баба мягкая, да пироги горячие! – озлобленно крикнул вдруг Федор. – От такой жизни зачичвереешь! – В наше время о печке думать нельзя! С экспедицией я, в тайгу поеду! Для моряка, смоленой пятки, только две могилы хороши: море да тайга. Вот!“ Michail Zuev-Ordynec, Skazanie o grade Novo-Kiteže, Leningrad: Krasn 1930, S. 282.

35

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 528.

36

Schwartz, Expeditionen, S. 262–272.

37

Vgl. F. Zvojdin: „Nevypolnennoe zadanie. Illjustrirovannyj žurnal ‚Vsemirnyj turist‘“, in: Kniga i revoljucija 22 (1929), S. 46–49.

38

Schwartz, Expeditionen, S. 268–270.

39

Am prominentesten hatte diese Position Gennadij Pospelov in seinem Beitrag über den „Roman“ im neunten Band der Literaturenzyklopädie von 1935 (dessen zweiten Teil Georg Lukács schrieb) vertreten, in dem er den „avantjurnyj roman“ als ein Verfallsphänomen der feudalistischen Gesellschaftsordnung charakterisierte, das sich spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Erstarkung des Bürgertums und dem Aufkommen des psychologisch-realistischen Romans erledigt habe. Vgl. Genadij Pospelov u. Georg Lukács [G. Lukač], „Roman“, in: Vladimir Friče u. Anatolij Lunačarskij (Hgg.), Literaturnaja ėnciklopedija v 11 tomach, 1929–1939, Bd. 9, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, S. 778–832, 792ff.

40

Vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 275–303.

41

Samuil Maršak, „Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature“, in: Pervyj vsesojuznyj s”ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, hg. v. Ivan Luppol, Moskau: Sovetskij Pisatel’ 1934, S. 20–38, S. 33.

42

Zu dieser Komplementarität von Abenteurer und Reisendem, vgl. Hans-Otto Hügel, „Abenteurer“, in: ders. (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussion, Stuttgart u. Weimar: J. B. Metzler 2003, S. 91–98.

43

„‚Приключения‘ на языке ребят далеко не всегда означают авантюры. Чаше всего – это события, эпизоды, факты. Требуя ‚приключений‘, читатели настаивают на фабульной книге, а иногда на целой серии фабульных книг с общими героями.“ Maršak, Sodoklad, S. 33; Im Russischen gibt es zwei Wörter für Abenteuer: „priključenije“ und das vom französischen aventure abgeleitete „avantjura“, die eine ähnliche Semantik haben und in jener Zeit ganz unterschiedlich verwendet wurden; in den 1930er Jahren gab es – wie hier in der Rede von Maršak – aber die Tendenz, die „avantjura“ den westlichen Klassikern des Genres zuzuschlagen, während man versuchte die „priključenija“ im sowjetischen Sinne neu zu definieren.

44

„Ведь обычная компилятивная книжка, чаще всего состряпанная из сведений, которые можно найти в энциклопедическом словаре, из случайных цитат, взятых у путешественников, из бутафорских псевдобеллетристических подробностей, всегда выдает свое суррогатное происхождение, отдает маргарином.“ Maršak, Sodoklad, S. 33.

45

Vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 319–330.

46

Im Jahr 1936 erschienen seine überarbeitete und erheblich erweiterte Biographie von Marco Polo in der Serie Žizn’ zamečatel’nych ljudej („Das Leben bemerkenswerter Menschen“) sowie die Biographie des realistischen Malers des 19. Jahrhunderts, Pavel Fedotov, Żizn’ chudožnika Fedotova (Das Leben des Malers Fedotov). In den Folgejahren schrieb er eine Reihe weiterer „wissenschaftlich-künstlerischer“ Studien zu dem abenteuerlichen Leben von Wissenschaftlern und Künstlern, vgl. Aleksandr Ivič, „Viktor Šklovskij v detskoj literature“, in: Detskaja literatura 3 (1939), S. 54–58.

47

„Наши писатели, часто создавая нечто принципиально новое, не верят себе и к новому сюжету, показывающему новые человеческие жизнеотношения, пристегивают для гарантии традиционный сюжет./ Они припрягают к трамваю лошадь. […] Смысл советского научно-приключенческого романа – это вера в науку, которая попала в руки настоящего и вечного своего хозяина./ Это вера в то, что человек человеку – человек.“ Šklovskij, O romane, S. 4.

48

Siehe zu diesen Abenteuerhelden am Beispiel des griechischen Romans auch Bachtin, Formen, S. 33 f., 44 f., 50 f.

49

Vgl. zum Schwarzmarkt z.B. Aleksandr Beljaev, „Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku“, in: Literaturnyj Leningrad (14.08.1934), S. 4.

50

Allerdings ist diese Genealogie keine Erfindung Gor’kijs, sondern die Situierung der Abenteuerliteratur als eine europäische Gattung der griechischen Antike findet sich bereits Mitte der 1920er Jahre bei den einflussreichen Literaturwissenschaftlern Dmitrij Blagoj und Sergej Dinamov, vgl. Dmitrij Blagoj, „Avantjurnyj roman“, in: Nikola Brodskij u.a. (Hgg.), Literaturnaja ėnciklopedija. Slovar’ literaturnych terminov v 2-ch t., Moskau u. Leningrad: L. D. Frenkel’ 1925, Bd. 1, S. 3–10; Sergej Dinamov, „Avantjurnyj roman“, in: Otto Ju. Šmidt (Hg.), Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, Moskau: Akcionernoe Obščestvo Sovetskaja Ėnciklopedija 1926, Bd. 1, S. 120–122. Auch diese Überlegungen sind offensichtlich in Bachtins Studie zu den Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman (1937/1938) eingegangen.

51

Vgl. Maksim Gor’kij, „Doklad A. M. Gor’kogo o sovetskoj literature“, in: Pervyj vsesojuznyj s”ezd, S. 5–18.

52

Zu den damaligen Überlegungen einer Herleitung des Abenteuerromans aus der Antike, siehe auch die entsprechenden Stellungnahmen in einer internen Debatte des Schriftstellerverbandes, Russländisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst [Abk. RGALI], f. 360, op. 1, ed. 301, l. 1–50. (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“; Detizdat, Stenogramma zasedanija po obsuždeniju romana t. Tuškana „Džura“, 10-ogo aprelja 1941g).

53

„Приключенческий жанр требует максимальной свободы художественного вымысла, домысла. А так как у нас нет ни одной теоретической работы по приключенческому жанру, у нас смешивают один жанр с другим.“ RGALI f. 360, op. 1, ed. 301, l. 7.

54

[Anon.], „Biblioteka priključenčeskich romanov“, in: Literaturnaja gazeta 65.772 (1938), S. 2.

55

Vgl. Georgij Tuškan, Džura (Biblioteka priključenij), Moskau: Detizdat 1940.

56

So hatte bereits 1937 eine druckfertige Fassung vorgelegen, für die das Manuskript um die seinerzeit scharf kritisierten Abenteuerelemente gekürzt worden war, was etwa ein Drittel des Umfangs ausmachte. Als im Zuge der Säuberungen die Verlagsführung und deren Redakteure mehrmals ausgewechselt wurden, nahm man die abenteuerlichen Stellen wieder in den Roman hinein, musste aber aufgrund der aktuellen Grenzkonflikte mit Afghanistan entsprechende Passagen politisch erneut überarbeiten. Insgesamt bearbeiteten das Manuskript aufgrund der Repressionen und wechselnden literaturpolitischen Vorgaben fünf Redakteure sukzessiv vier Jahre lang. Vgl. RGALI, f. 630, op. 1, ed. 301, l. 2 f.

57

So Aleksandr Kazancev auf einer Diskussionsveranstaltung des Verlags Detizdat über Tuškans Roman Džura im April 1941, vgl. RGALI, f. 630, op. 1, ed. 301, l. 24.

58

Georgii Tushkan, The Hunter of the Pamirs. A Novel of Adventure in Soviet Central Asia, London u. New York: Hutchinson 1944.

59

Vgl. Tuškan, Džura, S. 15–21.

60

Vgl. Tuškan, Džura, S. 7–13, 31–58.

61

Vgl. Tuškan, Džura, S. 142–157.

62

Vgl. Tuškan, Džura, S. 124 f., 277.

63

Vgl. Tuškan, Džura, S. 292–333, 449–468.

64

Dabei dient Kučak der Gesang anfangs noch als verschlüsselte Legitimierung seines Opportunismus, ehe er am Ende in den Bolschewiki die wahren Helden seiner Verse findet, die er mit den gleichen Gesängen – bloß nun mit sozialistischem Inhalt – besingt. Vgl. Tuškan, Džura, S. 73–77, 83–87, 549–551.

65

Diese Exotisierung der „guten Wilden“ finde sich bereits in der russischen Romantik beispielsweise in der Schilderung der Bergbewohner des Kaukasus bei Aleksandr Bestužev-Marlinskij, wie ein Kritiker in der schon genannten internen Aussprache 1941 über den Roman hinzufügte, vgl. RGALI, f. 630, op. 1, ed. 301, l. 9.

66

Tuškan, Džura, S. 112–114, 120–138.

67

Im Unterschied zu den kanonisierten Romanen des Sozialistischen Realismus sind es hier aber nicht bolschewistische Parteiführer oder alte Bürgerkriegsveteranen, die den positiven Helden auf seinem Weg zum Neuen Menschen prägen, sondern die Analphabeten Džura und Zejneb werden rein affektiv und allein durch die subjektive praktische Erfahrung zu Bolschewiki. Dabei sind es primär humanistische Werte von Respekt und Anstand, Offenheit und Ehrlichkeit, die die siegreichen Bolschewiki offerieren, die dem Streben nach materiellem Wohlstand und der Verlogenheit und Geheimnistuerei ihrer Gegner gegenübergestellt sind.

68

Vgl. die Stellungnahme eines Kritikers und die Ausführungen Tuškans hierzu 1941 in RGALI, f. 630, op. 1, ed. 301, l. 21 f., 54.

69

Von Grigorij Adamov erschienen in jenen Jahren die deutlich an Jules Verne orientierten Abenteuerromane Die Bezwinger des Erdinnern (Pobediteli nedr, 1937) und Das Geheimnis zweier Ozeane (Tajna dvuch okeanov, 1939), von Vsevolod Voevodin und Evgenij Ryss der im turkmenischen Grenzgebiet situierte Kurzroman Der Blinde Gast (Slepoj gost’, 1938), vgl. Schwartz, Expeditionen, S. 372–387.

70

Bachtin, „Epos und Roman“, S. 494.

71

Vgl. hierzu Schwartz, Expeditionen, S. 441–494.

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