Author:
Nicole Weber
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‚Und allmählich dämmert unter der Totenmaske der nationalen Machtansprüche das wahre Gesicht der Völker herauf. Nirgend stärker als in Deutschland, wo die Maske nicht langsam abgenommen wird, sondern klirrend zerspringt, unter den Hammerschlägen eines tragischen Geschicks.‘ […] Man kann im ‚Ruf‘ tatsächlich das Spielchen mit der Nadel spielen, wahllos in eine Seite stechen und den aufgespießten Satz lesen: Er wird immer so ähnlich klingen. Das ‚Dritte Reich‘ hat die Sprache in einem weit größeren Maß zerstört, als man annahm.1

So Urs Widmer 1965 in einem Artikel über die Ursprünge der Gruppe 47 in der Zeit mit dem Titel „So kahl war der Kahlschlag nicht“.2 Diese Beobachtung verdankt Widmer seiner damals im Entstehen begriffenen Dissertation über die Nachkriegszeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation3 und die Prosa der ‚Jungen Generation‘, die ein Jahr später erscheinen sollte.4 Widmers Studie kann als früheste wissenschaftliche Erforschung von Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus in der Gruppe 47 gesehen werden. Er untersucht darin, welche der Begriffe, die im ‚Dritten Reich‘ zu neuer Popularität gelangt oder umcodiert worden waren,5 sich im Ruf finden, und kommt zum Schluss, „einige gängige Vorstellungen über diesen Neuanfang, über das Jahr Null“, seien zu korrigieren:6 „Auch 1945 steht niemand im luftleeren Raum.“7 Widmer beschränkt sich dabei, wie schon im einleitenden Zitat deutlich wird, explizit auf die Sprache der ‚jungen Generation‘: „die Mitarbeiter des ‚Ruf‘ sind politisch über jeden Zweifel erhaben“, betont er; es handle sich um „erklärte[] Anti-Faschist[en]“, die sich „des Vokabulars ihrer Gegner“ bedienten.8

In der vorliegenden Studie soll die Frage nach Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus rund 70 Jahre nach der Gründung der Gruppe 47 noch einmal neu aufgerollt werden.9 Sie wurde seit Widmers Arbeit erneut gestellt und unterschiedlich beantwortet,10 in den letzten Jahrzehnten hat sie noch einmal an Relevanz gewonnen, da es zahlreiche „Enthüllungen“ und „Skandale“ um verdeckt gebliebene NS-Verstrickungen oder Antisemitismus gerade unter den wichtigsten Mitgliedern der Gruppe 47 gab. Diskutiert wurden (z. T. bestrittene) NSDAP-Mitgliedschaften von Gruppenmitgliedern aus dem ‚innersten Kreis‘ wie Günter Eich, Martin Walser und Siegfried Lenz,11 Antisemitismus-Vorwürfe unter anderem gegen Hans Werner Richter12 und Walser,13 Lenz’ Teilhabe an der Apologie Emil Noldes,14 Alfred Anderschs Hochstilisierung von KZ-Aufenthalt und Desertion sowie seine Anbiederung an die Reichsschrifttumskammer15 und Günter Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft.16

Zwei neue Schwerpunkte sollen die bisherige Forschung zu NS-Kontinuitäten in der Gruppe 47 in der vorliegenden Studie ergänzen: Erstens richtet sich das Interesse verstärkt auf die literarischen Texte der Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 und die darin erkennbaren Implikationen der Erfahrungen von Ideologie, Diktatur und Krieg. Zweitens wird insbesondere auf diskursive Verknüpfungen von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen und Moraldiskurse in den Texten fokussiert; dies einerseits, um der dezidiert moralischen Rolle der Gruppe 47 gerecht zu werden, andererseits, um an aktuelle Forschung zur nationalsozialistischen Ideologie anzuschließen, in der partikulare NS-Moraldiskurse verstärkt an Bedeutung gewonnen haben.17

Bevor diese Perspektive genauer reflektiert wird, sollen der Problemzusammenhang und die Ursprünge der Gruppe 47 aber genauer ausgeführt werden. Als die Gruppe 47 im Jahr 1947 gegründet wurde, sah ihre öffentliche Wahrnehmung nämlich noch ganz anders aus als 20 Jahre später. Zunächst ist deshalb zu fragen, welche Position die Gruppe 47 im literarischen Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit einnahm, wie sich ihre Bedeutung als moralische Instanz überhaupt entwickelte und von welchen Seiten sie inzwischen aus welchen Gründen kritisiert worden ist (1). Davon ausgehend werden Thesen und konkrete Fragen an die literarischen Texte der Gruppenmitglieder entwickelt und die Methoden diskutiert (2) und danach gefragt, inwiefern die schon gut beforschten außerliterarischen Debatten im Umkreis der Gruppe 47 auch für die vorliegende Arbeit relevant sind (3).

Die Ergebnisse dieser kontextuellen Annäherung fundieren und strukturieren die weitere Studie.18 In Teil II werden Identitäts- und Alteritätskonstruktionen und Moralvorstellungen in den Subtexten der Literatur der Gruppe 47 untersucht: Werden in den literarischen Texten verschiedenen Gruppen unterschiedliche moralische Rechte zugestanden? Welcher moralische Wert ist dem ‚Eigenen‘, welcher dem ‚Anderen‘ zugeschrieben? Werden dichotome Weltbilder kreiert und moralische Tugenden oder Abgründe mit Zugehörigkeiten verknüpft? Sind in alledem vorherrschende Diskurse erkennbar, und wie verhalten sich diese zu Ideologemen des Nationalsozialismus? In Teil III folgen stärker textimmanent ausgerichtete Analysen einzelner literarischer Texte, in denen es auf der Textoberfläche um Zusammenhänge zwischen Moral und Zugehörigkeit geht. Hier werden sowohl affirmative als auch kritische literarische Reflexionen partikularer Moral genauer in den Blick genommen, um schließlich ein quantitativ wie qualitativ möglichst repräsentatives Bild vorherrschender diskursiver Verknüpfungen von Zugehörigkeit und Moral in der Literatur der Gruppe 47 zu erhalten.

1 Einleitung: Was ist die Gruppe 47 und wie wird sie gesehen?

Bei jeder neuen Rechtstendenz im Land engagierte er sich sofort und aktivierte seine Widerstandskraft. […] Die Kraft und die Moral, die von ihm ausgingen, blieben nicht ohne Wirkung innerhalb und außerhalb der Gruppe 47.19

Über die Grundpfeiler der Gruppe-47-Geschichte ist man sich bis heute einig: Es handelt sich um einen Kreis von Autorinnen und Autoren um Hans Werner Richter, die sich 1947 zum ersten Mal trafen, bis 1967 ein- bis zweimal jährlich und danach noch sporadisch tagten, bis die Gruppe 1990 offiziell aufgelöst wurde.20 Die meisten Gründungsmitglieder hatten im Zweiten Weltkrieg in rangniederen Positionen gedient und waren kurz vor der ersten Gruppentagung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Richter war, wie einige weitere Beteiligte, zuvor Redaktionsmitglied der Zeitschrift Der Ruf gewesen, die ursprünglich im US-Kriegsgefangenenlager Fort Philip Kearney in Rhode Island erschienen und danach in Deutschland fortgeführt worden war.21

Aus diesem Zeitschriftenprojekt ging die Gruppe 47 hervor: Nachdem im März 1947 eine besatzungskritische Ausgabe nicht erscheinen durfte, lösten sich einige Redakteure von der Zeitschrift und Richter initiierte ein halbes Jahr später ein Treffen zur Planung einer neuen, eigenen Zeitschrift, die dem „alten Geist“ des Ruf entsprechen sollte.22 Dort las man sich unter anderem auch unfertige literarische Texte vor und diskutierte sie in der Gruppe. Stärker noch als von der Zeitschrift (von der nur die Nullnummer zustande kam)23 ließen sich die Teilnehmenden von dem Konzept der Tagung begeistern: Sie alle waren mit den politischen und kulturellen Umständen im von den Besatzungsmächten geleiteten Nachkriegsdeutschland unzufrieden, sahen sich selbst als die ‚junge Generation‘, die für einen voraussetzungslosen Neuanfang einstand und sich gegen das NS-Pathos der ‚Alten‘ wehren wollte, als vom Nationalsozialismus betrogene Flakhelfer, die nie mit ‚den Nazis‘ sympathisiert und trotzdem ihre Jugend in einem sinnlosen Krieg verloren hatten.24

Rasch entschied man sich für regelmäßige Treffen und entwickelte auf der gemeinsamen Grundlage das Programm eines ‚radikalen‘ Realismus;25 zentrale Schlagwörter der ersten Jahre waren „Stunde null“, „Kahlschlagliteratur“ und „Trümmerliteratur“.26 Der Ablauf der Tagungen blieb über die ganzen 20 Jahre unverändert: Richter lud ein, man traf sich an einem meist abgelegenen Ort und las sich Texte vor, um sie der unmittelbaren „Werkstattkritik“ auszusetzen. In den ersten Jahren handelte es sich nur um einen kleinen Kreis von Bekannten, dem unter anderem die damals kaum bekannten Autoren Alfred Andersch, Heinrich Böll und Wolfgang Weyrauch angehörten. Im Laufe der Zeit wurden die Tagungen immer größer, in den 60er Jahren nahmen regelmäßig über 100 Personen teil, es fanden Gasttagungen in Schweden und in den USA statt.27 Neben vielen anderen wurden Günter Grass, Martin Walser, Peter Handke, Günter Eich, Wolfgang Weyrauch, Siegfried Lenz, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss und Marcel Reich-Ranicki – und natürlich die schon erwähnten Gründungsmitglieder Heinrich Böll und Alfred Andersch – im Rahmen der Gruppe populär und gehörten zu ihrem ‚inneren Kreis‘.28 Schon bald und noch lange über ihre Auflösung 1967 hinaus galten die Mitglieder der Gruppe 47 als die führenden Intellektuellen der BRD; sie verfassten vielbeachtete politische Manifeste,29 die Medien berichteten in Titelgeschichten und TV-Beiträgen über die Tagungen, es gab enge Beziehungen der Gruppe zu den wichtigsten SPD-Politikern wie den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt.

1.1 Verdienste und Errungenschaften: Die Gruppe 47 entwickelt sich zur ‚moralischen Instanz‘

Die große Popularität und enorme Wirkungsmacht der Gruppe 47 in den Sechzigerjahren verdankte sich zu nicht unwesentlichen Teilen ihrem Wirken in der frühen Nachkriegszeit. In den ersten Jahren des Bestehens der Gruppe entstanden die Voraussetzungen für den Vorschuss an moralischer Integrität, die ihren Mitgliedern oft bis heute zugeschrieben wird. Und angesichts der hegemonialen Diskurse in den Jahren nach ihrer Gründung ist deutlich, dass ihre Diskursposition in der Tat eine dringend nötige mahnende Stimme war.30

Deutlich wird das beispielsweise angesichts der politischen Diskussionen über Wiedergutmachungsleistungen an Opfer der NS-Verfolgung bzw. deutsche Vertriebene und Kriegsgefangene in den ersten Gründungsjahren der Bundesrepublik. Wie der Historiker Robert G. Moeller zusammengefasst hat,31 war Adenauer bei den Aushandlungen der Wiedergutmachungszahlungen an Israel mit einer „ablehnenden, ja feindseligen öffentlichen Meinung“ konfrontiert;32 schließlich wurden im „Bundesentschädigungsgesetz“ die Kategorien rechtmäßiger Opfer so massiv eingeschränkt,33 dass der Anspruch der meisten Opfer von ‚rassischer, religiöser oder politischer Verfolgung‘ im Nationalsozialismus nach „langen Erörterungen“34 zurückgewiesen wurde.35 Die Ansprüche der deutschen Kriegsgefangenen und Vertriebenen wurden dagegen mit „außergewöhnlicher Energie und Gründlichkeit“ bearbeitet, im Rahmen des ‚Lastenausgleichsgesetzes‘ fand finanziell eine „massive Transferleistung“36 statt, die von der Bevölkerungsmehrheit unterstützt und durch soziale Wohlfahrtsinitiativen und Wanderausstellungen flankiert war.37

Es bestehen wenig Zweifel, dass solche Ungleichgewichte und gesellschaftliche Aversionen tatsächlich, wie Moeller vermutet, auch mit einer Fortsetzung der im Nationalsozialismus geschürten Ressentiments zu erklären sind.38 In Bezug auf den Antisemitismus ist diese Kontinuität konkret dokumentiert: Werner Bergmann hält in einer Überblicksdarstellung „Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland“ (2007) zu einer Studie aus dem Gründungsjahr der BRD fest: „1949 bezeichneten 53 % der Befragten die ‚Eigenheiten jüdischer Volksgruppen‘ und weitere 12 % die ‚jüdische Religion‘ als Ursache des Antisemitismus, nur 30 % sahen sie nicht bei den Juden, sondern in der ‚antisemitischen Propaganda‘“.39 Wie eine aktuelle Studie vom IfZ München–Berlin (2015) zeigt, waren auch solche ganz manifesten NS-Kontinuitäten keinesfalls eine kurzzeitige Problematik der ersten Nachkriegsjahre: Noch im Jahr 1970, als die Gruppe 47 bereits wieder nicht mehr regelmäßig tagte, setzte sich das Bundesamt für Inneres zu 50 % aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, zu 25 % aus ehemaligen SA-Mitgliedern und zu ca. 5 % aus ehemaligen Angehörigen der SS zusammen.40 1990, nach der deutschen Wiedervereinigung, gab es in Rostock-Lichtenhagen eine Welle von Gewalt, die als „die massivsten rassistischen Ausschreitungen oder gar das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte“41 in die Geschichte einging; jüngst gewinnt die AfD in Deutschland mit rechtsradikalen Positionen42 politischen Boden und die FPÖ stellt in Österreich antisemitische Regierungskandidaten.43 Die im Folgenden untersuchte Frage nach NS-Kontinuitäten in der Gruppe 47 zielt, wie schon dieser knappe Überblick zeigt, auf bis heute vergleichsweise subtile Aspekte ab; die Ergebnisse sind deswegen aber nicht weniger virulent.

Die Gruppe 47 tagte im Gründungsjahr der BRD bereits zum dritten und vierten Mal. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder hatte nicht nur den Krieg, sondern auch die US-amerikanische Reeducation hinter sich, sympathisierte mit einer (inzwischen nicht mehr kommunistischen) politischen Linken und sah die sich bildende junge Regierung kritisch.44 Viele von ihnen engagierten sich aktiv gegen restaurative und antidemokratische Tendenzen; so war Andersch inzwischen bereits Rundfunkredakteur und plante eine Sendung über Antisemitismus;45 Böll versuchte einen Verlag für seine literarischen Texte zu finden, aber scheiterte mehrfach an seiner allzu deutlichen Darstellung einer Mitschuld der Wehrmacht.46 Später wurden die wichtigsten Mitglieder der Gruppe 47, wie in allen Überblicksdarstellungen nachzulesen ist, von der CDU kritisiert,47 engagierten sich gegen Atomwaffen und gegen die Wiederbewaffnung der BRD48 und kämpften für den ersten Wahlsieg der SPD.49 Im Jahr 1949 hatte Ilse Aichinger, die 1952 zur Gruppe stieß, gerade ihren Roman Die größere Hoffnung publiziert, der eindringlich das jüdische Leid im Nationalsozialismus verarbeitet, und Richters Aufmerksamkeit geweckt. Auch jüdische Autoren wie Wolfgang Hildesheimer, der in Deutschland lange nicht Fuß fassen konnte,50 und der jüdische Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki51 fanden in der Gruppe 47 über längere Zeit ihren Platz.

Von Beginn an dominierte die Wahrnehmung, sich als Mitglied der Gruppe 47 in einem seltenen geschützten Raum für die ‚junge Generation‘, die sich nirgendwo richtig zugehörig fühlte, zu bewegen. Am wenigsten fühlte man sich, wenngleich man aufseiten ‚der Nazis‘ hatte kämpfen müssen, dem angeschuldigten Täterkollektiv angehörig, das von in- und ausländischen Stimmen für den Krieg und die NS-Verbrechen verantwortlich gemacht wurde.52 Man sah sich als progressive „Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gefangenschaftserlebnis, das eingesetzte Leben also“,53 die die „Hinwendung zum neuen Europa mit leidenschaftlicher Schnelligkeit [vollziehen]“ würden, wie Andersch formuliert hat.54 Diese ‚junge Generation‘ empfand sich als „unschuldig verstrickt“55, da sie zur Zeit des politischen Aufstiegs der NSDAP und zum Zeitpunkt der ‚Machtergreifung‘ mehrheitlich noch nicht stimmberechtigt gewesen war,56 damit kaum Verantwortung für den Aufstieg der NSDAP trug und dennoch ‚ihren‘ Krieg hatte kämpfen müssen.

Wichtiger als politische Positionen waren auch zunächst das Bewusstsein um das gemeinsame Erleben des sinnlosen Kriegs und ein ästhetischer Neuanfang. Diesen stellte man insbesondere gegen die „kalligraphische[]“ Literatur,57 das heißt die nach dem Krieg weiterhin pathetische, eskapistische Literatur der Autoren der nun so genannten ‚inneren Emigration‘, die das literarische Feld nach wie vor dominierte.58 Den literarischen Forderungen, die in diesem Rahmen entstanden, war vor allem der dezidiert moralische Anspruch gemein. So schreibt Wolfgang Weyrauch im Nachwort zu seiner Anthologie Tausend Gramm, in der er 1949 den vielzitierten Begriff des literarischen Kahlschlags prägt:59

Aber die vom Kahlschlag wissen, oder sie ahnen es doch mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserm Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. […] Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser. Sie bereitet die legitime Schönheit vor, die Schönheit hinter der Selbstdreingabe, hinter dem Schmerz.60

Was ideelle und politische Inhalte anging, positionierte man sich weniger deutlich; Hans Werner Richter wollte alle Grundsatzdiskussionen von den Tagungen fernhalten und stritt auch rückblickend eine explizite Programmatik immer ab.61 Heute wird aber neben dem moralischen Anspruch oft ein diffuser ‚antifaschistischer Konsens‘ als kleinster gemeinsamer Nenner der Gruppe 47 gesehen;62 Richter spricht in diesem Zusammenhang anlässlich des 15. Jubiläums der Gruppe 47 von deren „Mentalität“:

[Die Gruppe 47] war von Beginn an ein politischer, literarischer Freundeskreis, der eine bestimmte Art der Betrachtung gemeinsam hatte. Die Grundtendenz dieser Betrachtung war antifaschistisch und antiautoritär. Diese Mentalität, die schwer mit einem anderen Wort zu bezeichnen ist, schloß gewisse Verhaltensweisen von vornherein aus oder stieß sie, wenn sie dennoch auftraten, immer wieder ab. So kamen viele nicht wieder, die doch glaubten, ein Recht darauf zu haben, hier in der Gruppe 47 zu sitzen, und viele, die durch ihre öffentliche publizistische Tätigkeit meinten, einen Anspruch auf eine Einladung zu besitzen, wurden gar nicht erst eingeladen. Man blieb bei allen Veränderungen, bei allen zeitweiligen Gästen, bei aller Abwanderung und bei allem Zuwachs, immer unter sich. Der Geist der ersten Jahre wurde erhalten. Er widerstand allen Einflüssen.63

Bei dem Konzept der „Mentalität“ handelt es sich um eine sehr zentrale Vorstellung Richters, die er mit der Gruppe 47 verband.64 An deren diffuser Kontinuität ‚bei allen Veränderungen‘, die er hier postuliert, scheint er auch noch in seinem vielzitierten Essay „Wie entstand und was war die Gruppe 47?“65 aus dem Jahr 1979 festzuhalten: Er spricht mehrfach die spezifische „Mentalität“ der ‚wirklichen‘ Gruppe-47-Mitglieder an66 und noch im „Epilog“67 bringt er ihr Ende damit in Verbindung, wenn er schreibt:

Es war die vorläufig letzte Tagung der ‚Gruppe 47‘. Wohl […] hatte sich die ursprüngliche Mentalität der ‚Gruppe 47‘ noch einmal durchgesetzt, aber es waren auch Tendenzen aufgetreten, die die ‚Gruppe 47‘ über kurz oder lang zerstören mußten […].68

Die Verbindung von Engagement, Mentalität und Moral der Gruppe 47 äußert sich auch in der 1979 geäußerten Feststellung Richters, das Engagement der Gruppe-47-Autoren sei „immer ein moralisches, das oft weit über die Möglichkeiten der Politik hinausgeht“, gewesen.69 Man teilte eine Mentalität und wollte darin vorbildlich agieren und mit seiner Literatur moralisch auf Andere wirken; wie Richters Ehefrau Toni Richter ihn nach seinem Tod im Hommage-Band Die Gruppe 47 in Bildern und Texten (1997) abschließend und in großen Lettern zitiert: „Wir glaubten, langfristig werde die Mentalität eines Volkes von seiner Literatur geprägt“.70 Im selben Band betont Toni Richter auch, wie bereits einleitend zitiert, die „Kraft und die Moral“, die von Richter ausgehend gewirkt hätten.71

Die literarischen Formen für das von Weyrauch und der ‚jungen Generation‘ geforderte ‚moralische Schreiben‘ haben sich im Laufe der Gruppenentwicklung stark verändert, die realistischen Formen experimentellerem und differenzierterem Schreiben Platz gemacht, der Begriff des Engagements hat sich gewandelt und konkretisiert –72 eine in diesen Jahren präfigurierte Vorstellung hat sich aber fast unverändert gehalten: Die Gruppe 47 wird heute noch als „moralische[] Instanz“73 der Nachkriegszeit und ihre Mitglieder nach wie vor als „Gewissen der Nation“74 gesehen.

Zwar ist die Marke „Gruppe 47“ nicht mehr gleich wirksam und ihr Name verliert zunehmend an Bekanntheit, aber ihr Geist soll in verschiedenen Veranstaltungen (am populärsten die direkt daraus hervorgegangene Ingeborg-Bachmann-Preisverleihung) weiterleben. Und vor allem haben ihre Autorinnen und Autoren noch immer einen besonderen Status, der sich in ihrer medialen Präsenz und im moralischen Kapital und Sendungsbewusstsein ihrer wichtigsten Mitglieder zeigt. Grass fungierte bis 2015 als, wie Jörg Döring schreibt, „Moraltrompete“75 in den verschiedensten Belangen, Martin Walser hatte mindestens bis zu seiner Paulskirchenrede 1998 eine ähnliche öffentliche Rolle inne, Werke von Andersch, Böll, Lenz, Grass oder Bachmann sind fester Bestandteil des Schulkanons, Enzensberger gilt als linker Rebell Deutschlands, und um ihrer aller Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen jeglicher Art bemühte sich das Feuilleton über die ganzen Jahre hinweg.

Im zerstörten und ideologisch noch stark vom Nationalsozialismus geprägten Nachkriegsdeutschland waren die Impulse der Gruppenmitglieder hin zu einer offenen Debattenkultur, zu freier Äußerung von Kritik und zu literarischen Neuerungen zweifellos von großer Bedeutung; Helmut Böttiger postuliert sogar, die Gruppe 47 habe sich 1967 aufgelöst, weil sie quasi ihren Zweck der Demokratisierung Deutschlands erfüllt habe.76 Ob man dieser starken These folgt oder nicht: Gerade angesichts ihrer großen gesellschaftlichen Bedeutung und ihrer moralischen Vorbildfunktion ist die Frage interessant, welche Kontinuitäten in der „Mentalität“ ihrer Mitglieder denn tatsächlich seit der frühen Nachkriegszeit bestehen und ob sich darin auch problematische Aspekte der Zeit vor 1945 fortsetzen – nicht nur trotz, sondern gerade wegen der Rolle als moralische Instanz, die von Anfang an ein zentrales Merkmal der Gruppe war.

1.2 Kritik und Verteidigung: Forschungsstand

Angesichts der großen Bedeutung und einer zugleich in den letzten Jahrzehnten durch Feuilletondebatten und ‚Enthüllungen‘ immer ambivalenteren Wahrnehmung ist erstaunlich, wie wenige Studien zur ganzen Gruppe 47 es erst gibt. Als Helmut Böttigers journalistisch gehaltene Monografie Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb im Jahr 2012 erschien, war der lauteste Tenor im Feuilleton dementsprechend die Freude darüber, dass endlich etwas Umfassendes – und überhaupt wieder einmal etwas – über die Gruppe zu hören sei. Jörg Döring lobt die gelungene Zusammenfassung zu einer „sehr gut lesbaren Synthese – der besten, die es bislang gibt, wenn es nicht überhaupt die einzige ist“;77 Dominik Geppert in seiner Welt-Rezension, dass die Gesamtdarstellung „fair urteilt und weder in Ehrfurcht noch in hämischer Polemik erstarrt.“78 2013 wurde das Buch auf der Leipziger Buchmesse mit dem Preis für das beste Sachbuch ausgezeichnet.79

Böttigers genau recherchierte, ausführliche und nachvollziehbare Bündelung des komplexen Themas war auch für die vorliegende Studie unverzichtbar, sie bildet einen Großteil des aktuellen Faktenwissens über die Gruppe 47 und ihre Mitglieder ab, darunter auch Informationen, die zuvor nur verstreut zu finden oder in Archiven versteckt waren. Gleichzeitig weist sie Lücken auf, die auch in einigen Rezensionen hervorgehoben werden. So zeigt Matthias N. Lorenz auf, dass „die publizistische Methode“ Böttigers „an Grenzen [stößt]“:80 Einschlägige literaturwissenschaftliche Publikationen, insbesondere solche, die den Mythos der Gruppe hinterfragen, seien in der Gesamtdarstellung teils komplett ausgeblendet, teils nicht auf Augenhöhe erwidert worden.81 Döring zeigt sich trotz seines positiven Gesamteindrucks von Böttigers Monografie mit Lorenz’ Rezension einverstanden, der Fingerzeig auf das Ausblenden des Holocausts treffe den „sprechend-blinden Fleck des Buches […].“82

Alexander Cammann stellt bereits zuvor in einer Zeit-Rezension fest, in Böttigers Band werde der Wunsch „[ü]berdeutlich […], den in den vergangenen Jahren modisch gewordenen Attacken auf die 47er etwas entgegenzusetzen“.83 Den Errungenschaften der Gruppe 47 würden überproportional viel Platz eingeräumt, man erfahre dagegen nichts „von NSDAP-Mitgliedschaften“ oder „Weltkriegs-Frontabschnitten außerhalb Italiens“ – und: „Dass der Jude Marcel Reich-Ranicki nur wenige Jahre zuvor von einigen seiner 47er-Mitstreiter womöglich erschossen worden wäre, bleibt die bei Böttiger ausgeblendete abgründige Grundkonstellation“.84 Die moderaten Kritiker Lorenz, Döring und Cammann blieben aber Einzelstimmen in der medialen Landschaft, was darauf hindeutet, dass Kritik an der Gruppe 47 in Wahrheit doch nicht ganz so „modisch“ ist, wie Cammann impliziert, oder sich zumindest in der Öffentlichkeit außerhalb der Wissenschaft erst wenig durchgesetzt hat.

1.2.1 Quellen und dokumentarische Literatur

Diese unkritische Auseinandersetzung mit der Gruppe 47 mag unter anderem damit zu tun haben, dass noch lange über ihr Bestehen hinaus die meisten Zeugnisse aus den eigenen Reihen stammten. Für die vorliegende Studie besonders wichtig ist der umfangreiche Almanach der Gruppe 47 (1962c), in dem Richter zum 15. Jubiläum der Gruppe 47 die als bis dahin am repräsentativsten erachteten Texte, sowohl Essays wichtiger Mitglieder als auch mehrere literarische Texte von jeder Tagung, versammelt hat.85 Der Almanach wird im ersten Analyseteil der vorliegenden Studie den wichtigsten Teil des Korpus stellen, um vorherrschende literarische Konstruktionen zu identifizieren.86 Er wird durch das von Hans A. Neunzig herausgegebene Lesebuch der Gruppe 47 (1983) ergänzt, das einige weitere Essays von Gruppenmitgliedern sowie die wichtigsten literarischen Tagungstexte der Jahre 1962 bis 1967, also seit dem Erscheinen des Almanachs bis zum Ende der regelmäßigen Tagungen, enthält; es erschien anlässlich von Richters 75. Geburtstag.87

Richter selbst gab in späten Jahren noch den Band Im Etablissement der Schmetterlinge (1986) heraus, der „Einundzwanzig Porträts aus der Gruppe 47“88 versammelt, die insbesondere gute Hinweise auf die ansonsten geheimnisumwobenen Mitgliedschaftsstatus der geladenen Gäste bieten;89 Toni Richter veröffentlichte nach Richters Tod den Band Die Gruppe 47 in Bildern und Texten (1997). Dazu kommen ein TV-Feature über die Gruppe 47 von Sebastian Haffner aus dem Jahr 1964,90 weitere Essay-Anthologien Richters, die nicht explizit die Gruppe 47 betreffen, aber hauptsächlich Texte ihrer Mitglieder versammeln,91 sowie die eng mit der Gruppe verbunden Zeitschriften, die neben ihrer Hauptfunktion als Publikationsorgan vor allem für Gruppenmitglieder auch immer wieder Stellungnahmen zur Gruppe veröffentlichten,92 und die zahlreichen Rundfunkbeiträge einzelner Mitglieder.93 Die wichtigste Quelle für frühe politische Analysen aus dem Umkreis der Gruppe 47 ist die Zeitschrift Der Ruf.

Jennifer Bigelow zeichnet in ihrer Studie zu Konzeptionen des Bruchs nach 1945 und zum literarischen Engagement der Gruppe 47, die im Austausch mit der vorliegenden Studie entstanden ist, nach, wie im Ruf bereits die Narrative der Gruppe 47 vorgeprägt wurden.94

Das Quellen-Korpus wird ergänzt durch Essay-Bände, die von anderen zu Ehren Richters oder der Gruppe 47 publiziert wurden.95 Da der Fokus der vorliegenden Studie vorwiegend den literarischen Texten gilt, wurde von einer umfassenden Neubewertung dieser sehr zahlreichen Werke abgesehen. Dasselbe gilt für die unzähligen Interviews und Interviewbände,96 Zeitungsartikel, Briefwechsel und (Auto-)Biografien von und über einzelne Gruppenmitglieder97 wie auch die literarischen Anthologien von zentralen Mitgliedern der Gruppe 4798. Diese und ähnliche Bände, in denen selbst keine wissenschaftlichen Auswertungen vorgenommen werden, werden hier nicht abschließend diskutiert, sondern im Verlauf der vorliegenden Studie immer wieder aufgegriffen und hinsichtlich der spezifischen, jeweils im Interesse stehenden Fragen punktuell ausgewertet.

Wegen der großen Menge an Material über die Gruppe 47 als Institution und ihre einzelnen Mitglieder sind für die vorliegende Studie vor allem diejenigen Publikationen unverzichtbar, in denen bereits eine erste Zusammenstellung und Ordnung vorgenommen wurde. Allen voran Reinhard Lettaus 1967 erschienener Band Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik,99 in dem zahlreiche Rezeptionszeugnisse aus unterschiedlichen Quellen, insbesondere die Berichterstattung verschiedener Zeitungen über alle Tagungen der Gruppe 47, versammelt sind. Eine weitere nützliche Zusammenstellung bietet auch Artur Nickels Band Hans Werner Richter. Ziehvater der Gruppe 47 (1994). Darin sind Informationen zu Tagungsorten und Teilnehmenden (inkl. der interessanten Kategorie „Wichtige Autoren und Kritiker, die ihre Einladung nicht wahrgenommen haben“), zu gelesenen Texten, dokumentarischen Materialien und „Veranstaltungen und Meetings in Verbindung mit [den] Treffen“ zusammengetragen.100 Das Hauptziel des Bandes ist allerdings eine statistische Analyse von Zeitungsartikeln zur Gruppe 47. Ein umfassenderes und breiter aufgelegtes Handbuch bleibt ein Desiderat. Auch andere frühe wissenschaftliche Studien über die Gruppe 47 sind für die vorliegende Studie vor allem wegen ihres dokumentarischen Charakters interessant, da sie die literarischen Texte meistens ausblenden und in den neueren Überblicksdarstellungen größtenteils bereits ausgewertet wurden.101

Für die vorliegende Studie sind vor allem die kanonischen jüngeren Überblicksdarstellungen über die Gruppe 47 zentral, die diese und weitere frühen Publikationen und Quellen bereits systematisch gesichtet und geordnet haben. Den umfangreichen Sammelband Gruppe 47 aus der Reihe Text und Kritik hat Heinz Ludwig Arnold ursprünglich 1978 zusammen mit Studierenden erarbeitet. Der Band bietet einen Überblick über Zahlen, Fakten und die populärsten Anekdoten und weist dabei die zu erwartenden Stärken und Schwächen eines solchen Gruppenprojekts auf: Durch die vielen Beitragenden deckt er viele wichtige Informationen ab, enthält aber einige Wiederholungen und innere Widersprüche. 2004 erschien der Band in dritter, überarbeiteter Auflage, im selben Jahr erschien auch eine schmale Monografie Arnolds zur Gruppe 47, worin die wichtigsten Informationen aus dem Sammelband in eine konzisere Form gebracht sind.102 Arnolds Darstellungen bildeten, wie auch die hohe Auflagenzahl seines ursprünglich 1978 erschienenen Sammelbands zeigt, lange den State of the Art der Gruppe-47-Forschung.

In den letzten Jahren wurde dieser lange relativ unveränderte Kanon an dokumentarischer Gruppe-47-Literatur103 um mehrere Publikationen ergänzt. 2012 erschien Böttigers stringente Darstellung, die sehr gelobt und ausgezeichnet wurde;104 ihm verdankt diese Studie die unverzichtbare Vorarbeit eines geordneten und kenntnisreich reduzierten Überblicks der wichtigsten Diskussionen und Begebenheiten auf einzelnen Gruppentagungen und der Gruppenentwicklung. Zudem hat er die Grundlage für mehrere weitere in den letzten Jahren entstandene Monografien geschaffen, die seine dokumentarischen Materialien ergänzen.105

1.2.2 Der Mythos der Gruppe hinterfragt: Kritische Stimmen

Auch kritische Stimmen gegenüber der Gruppe 47 stammen lange Zeit vor allem von persönlich involvierten Personen und sind in Zeitungsartikeln, Interviews und Essaybänden zu finden, die schon zur Bestehenszeit der Gruppe 47 erschienen sind. Sie sind aufschlussreich bezüglich der gesellschaftlichen Stellung der Gruppe 47 und dem Verlauf ihrer Positionierung in Relation zum politischen Konsens der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Insbesondere in den ersten Jahren kamen kritische Beiträge meistens vonseiten rechtskonservativer Publizisten. Die bekanntesten Antagonisten der Gruppe 47 waren in den 40er und frühen 50er Jahren wohl Friedrich Sieburg und Hans Egon Holthusen,106 wobei ersterer die Gruppe unter anderem mit dem Vorwurf konfrontierte, die nationale Identität zu gefährden,107 sowie Günter Blöcker, der im Jahr 1959 mit seinem antisemitischen Verriss von Paul Celans Sprachgittern (1959) in Erscheinung trat.108 Die grundlegendste Kontroverse mit Blöcker fand bereits in späteren Jahren der Gruppe 47 statt und hat auch Eingang in den Almanach gefunden, wo mehrere der Festschriften implizit darauf eingehen.109

In diesen Jahren nahm aber allmählich auch die Kritik ‚von links‘ zu, die in den letzten Jahren der Gruppe 47 schließlich dominieren würde. Am eindrücklichsten wurde sie auf der letzten regulären Gruppentagung formuliert, wo Anhänger/-innen der Studierendenbewegung vor der Pulvermühle demonstrierten und die Gruppenmitglieder unter anderem als politisch zahnlose „Papiertiger“ beschimpften.110 So formulierte der jüdische Literaturkritiker und ehemalige Vorgesetzte Anderschs,111 Hans Habe, schon 1964: „Für einen Teil der Gruppe 47 ist der Verein eine Art HJ – eine literarische Halbstarken-Jugend, in deren Turnsaalgarderoben man die eigenen Minderwertigkeitsgefühle abzulegen und die Uniform des Selbstbewusstseins anzulegen vermag.“112 Die Implikation von NS-Kontinuitäten klingt in der Anspielung auf die Hitlerjugend relativ deutlich an; andere Kritiker sind weniger konkret und kritisieren, wie Böttiger schreibt, ein „allzu offensichtliches Anbiedern an die Macht“ vonseiten der Gruppe 47.113 So schrieb der Sozialdemokrat Robert Neumann, der ebenfalls Jude und im Nationalsozialismus emigriert war, der Gruppe 47 in der linken Zeitschrift konkret 1966 „mafiöse Strukturen“ zu;114 Hans Erich Nossack zog bald mit dem Vorwurf der „literarischen Prostitution“ nach.115

Die Zeitschrift konkret entwickelte sich in der Folge rasch auch zu einer wichtigen Plattform für Kritik an der Gruppe 47, einzelne politisch weit links stehende Gruppenmitglieder stellten sich ebenfalls auf die Seite der Kritisierenden.116 Wie bereits weiter oben in Bezug auf die hagiografischen Quellen festgehalten, können auch die zahlreichen kritischen Einzelstimmen, Zeitungsartikel und Debatten wegen ihres großen Umfangs hier nicht annähernd abschließend zusammengetragen werden. Da, wie noch zu zeigen ist, die meisten kritischen Texte zur Gruppe 47 außerliterarische Aspekte fokussieren, sind sie schon relativ gut dokumentiert, es gibt sogar mehrere Aufsätze, die sich spezifisch mit dem (selbst-)kritischen Diskurs um die Gruppe 47 befassen.117 Hier werden diese Positionen nicht mehr eigens aufgearbeitet, aber im Verlauf der Studie regelmäßig aufgegriffen und in Bezug auf spezifische Fragen weiter ausgewertet.

Die Revision der ‚Stunde Null‘

In den 70er Jahren begann sich die von Widmer bereits 1966 postulierte Vorstellung allmählich durchzusetzen, wenn Fritz Trommler 1971 schreibt: „Mit dem Jahre Null war es nichts.“118 Das Zitat geht auf Gruppenmitglied Hans Mayer zurück, den kommunistischen, jüdischen, in der Gruppe 47 überaus erfolgreichen Literaturkritiker; auf Trommlers kanonisch gewordenen Aufsatz „Der zögernde Nachwuchs. Entwicklungsprobleme der Nachkriegsliteratur in West und Ost“ (1971) folgte kurz darauf ein weiterer Aufsatz von Heinrich Vormweg mit derselben These.119 Ebenfalls im gleichen Jahr erschien die Monografie Der Nullpunkt (1971) von Volker Christian Wehdeking, in der die Nullpunkt-These anhand unzähliger Beispiele belegt werden soll, die also Vormwegs und Trommlers Argumentation in zentralen Punkten diametral entgegensteht, doch ebenfalls rasch den Status eines Standardwerks erlangte.120

Diese Polarisierung zeigt die Ausnahmeposition auf, die die Gruppe 47 im jeweiligen zeitgenössischen Diskurs innehatte: Wenn Wehdeking vom „andere[n] Deutschland“ und von engagierter Literatur schreibt, dann meint er auch Autoren wie Ernst Wiechert und Hans Carossa.121 Die Autoren der Gruppe 47 stehen, an seinem Maßstab gemessen, außerhalb jeder Kritik, wie an der folgenden Einschätzung Anderschs deutlich wird:

Alfred Andersch gewinnt im Laufe des Jahres 1947 im politischen und literarischen Essay an Genauigkeit (Deutsche Literatur in der Entscheidung, 1948); seine Kritik zweier Romane Thornton Wilders und Ernest Hemingways […] ist beispielhaft für faktische Informiertheit, soziologische Dimension, treffsichere Stilistik und knappe Formulierkunst.122

Zu dieser Wahrnehmung der Gruppenmitglieder trug sicher bei, dass sich einzelne Mitglieder der Gruppe 47 in den 60er Jahren selbst kritisch gegenüber dem Konstrukt der ‚Stunde Null‘ geäußert hatten, neben dem eingangs zitierten Hans Mayer auch Helmut Heißenbüttel und Walter Jens.123

Auch Trommler nimmt zwar die Gruppe 47 von seinen Thesen aus, wenn er schreibt: „Nur wenige – darunter der Kreis um die Zeitschrift Der Ruf und die spätere ‚Gruppe 47‘ – versuchten eine gründlichere Aufarbeitung. Über ihre schwache Basis wird zu reden sein“.124 Er postuliert auch, Schriftsteller wie Böll, Schnurre und Richter hätten in ihren frühen Romanen gelernt,

die beschwerliche Tatsache zu formulieren, daß der Nullpunkt noch gar nicht eingetreten sei, sondern die alten Ordnungen und Denkhaltungen weiterbestünden, der Krieg als Zwischenfall apostrophiert werde und die moralische Reinigung noch immer auf sich warten lasse.125

Dennoch sehen Trommler und Vormweg die Gruppe 47 nicht gleich unkritisch wie Wehdeking. Vormweg schrieb in den 90er Jahren einen der ersten Aufsätze über die „Kritiker der Gruppe 47 – innen und außen“ (1991), und Trommler impliziert bereits in seinem Nullpunkt-Aufsatz vorsichtig, aber stellenweise recht deutlich, es sei lange nur beim Versuch geblieben ‚die beschwerliche Tatsache‘ deutscher Kontinuitäten literarisch zu bearbeiten126 und betont in Bezug auf den deutschen Ruf, seine Autoren zeigten „keineswegs die analytische Klarheit, die die Nachkriegsaktivitäten französischer und italienischer Literaten und Regisseure auszeichnete.“127 Zudem stellt er einen Zusammenhang zwischen dem unkritischen „Nullpunkt-Denken“ und der Faszination vieler Gruppe-47-Mitglieder für Ernst Jünger her.128

Debatten in den 90er Jahren

Die Thesen Vormwegs und Trommlers zu der ‚Stunde Null‘ haben sich im Verlauf der 70er und 80er Jahre allmählich durchgesetzt; das Bild der Gruppe 47 dagegen war nach wie vor kaum von diesen neuen Impulsen berührt. Die in den 90er und 2000er Jahren einsetzenden kritischeren Untersuchungen der Gruppe 47 wurden maßgeblich von mehreren Debatten in den frühen 90er Jahren angestoßen. Die wahrscheinlich wichtigste war der große „Literaturstreit“ im Jahr der deutschen Wiedervereinigung 1990, der vom Journalisten Frank Schirrmacher mitinitiiert worden war und sich zunächst um Christa Wolf und die systemstabilisierende Funktion der ‚engagierten‘ Autoren und Autorinnen der DDR gedreht hatte,129 wobei Schirrmacher in seinem Debattenbeitrag auch NS-Kontinuitäten in der BRD und der DDR sowie Kollaborationen mit dem NS- und DDR-Regime durch ‚engagierte‘ Autoren/-innen beider Seiten wie Christa Wolf, Walter Jens oder Günter Grass kritisierte.130 In seinem Beitrag „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“ greift Schirrmacher noch einmal die Dekonstruktion der ‚Stunde Null‘ als Mythos auf und postuliert, die Gruppe 47 habe wesentlich zur Konstruktion dieser Vorstellung des Neuanfangs und zur Verdrängung von Erinnerung beigetragen;131 wie Vogt zusammenfasst, weist er dabei auch auf NS-Kontinuitäten hin und klagt „implizit eine Art Revitalisierung nationalliterarischer Traditionsbestände“ ein.132

Die kurze Zeit später geführte „Sebald-Debatte“ ist inzwischen ebenfalls umfassend dokumentiert worden.133 W. G. Sebald hatte in seinem 1993 veröffentlichten Essay Alfred Anderschs Rolle im Nationalsozialismus und deren rückwirkende Umformung thematisiert, wobei es ihm vor allem um (werk-)biografische Aspekte wie die Tatsache ging, dass sich Andersch 1943 von seiner ‚halbjüdischen‘ Ehefrau scheiden ließ und dies in seinem Aufnahmeantrag für die Reichsschrifttumskammer betonte, sich dann aber in Kriegsgefangenschaft darauf berief, seine (in Wahrheit nun eben geschiedene) Ehefrau sei ‚Halbjüdin‘.134 Aus diesen zunächst allzu persönlichen Vorwürfen entwickelten sich differenzierte Revisionen autobiografischer Aspekte des Werks von Andersch.135 Die Fronten blieben aber durchgehend verhärtet: Bis heute wird den Andersch-Kritikern eine undifferenzierte oder moralisierende Haltung vorgeworfen und den Kritikern, die diese Vorwürfe äußern, wiederum ihr apologetischer Gestus.136

Im Jahr 1998 setzte die lange anhaltende Debatte um den Antisemitismus in Martin Walsers Paulskirchenrede, in seinen Stellungnahmen und literarischen Texten ein;137 die insbesondere durch die negative Darstellung der jüdischen Figuren in Tod eines Kritikers (2002) erneut befeuert wurde.138 Um die Jahrtausendwende gab es die ersten Diskussionen um NSDAP-Mitgliedschaften wichtiger deutscher Germanisten und Schriftsteller, darunter auch mehrere Gruppenmitglieder, die wider die historische Plausibilität abstritten, von ihrer Mitgliedschaft gewusst zu haben.139 Als im Jahr 2006 schließlich Günter Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft enthüllt wurde, war die Diskussion um die moralischen Instanzen der Nachkriegszeit allem Anschein nach bereits in eine neue Phase übergegangen; inzwischen ließen bereits die ersten Analysen verlauten, eine übermäßige (hier erst antizipierte) Kritik an Grass wäre ungerechtfertigt.140

In der Monografie Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ (2003) des Literaturwissenschaftlers Klaus Briegleb klingt der kämpferische Gestus der Diskussionen in den 90er Jahren noch deutlich nach. Es handelt sich um die erste Monografie zur gesamten Gruppe 47, die sich vorrangig mit der Frage nach NS-Kontinuitäten beschäftigt; ganz im Sinne ihrer Anlage als „Streitschrift“ ist sie aber wenig ausgewogen gehalten, sondern einseitig und kämpferisch geschrieben und hat dementsprechend polarisiert. Auch wenn Briegleb darin seine Positionen, wie vielfach kritisiert, sehr zugespitzt darstellt und die Beispiele für seinen Befund des Antisemitismus auf den Tagungen und in den Briefen Richters oft mit wenig Kontext präsentiert, verdankt ihm die vorliegende Studie viel. Es handelt sich um ein wenig geordnetes, umfang- und kenntnisreiches Kompendium von Versäumnissen und Angriffen gegenüber jüdischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern durch die Gruppe 47, das auf Dynamiken hinweist, die auch für die vorliegende Studie wichtig sind.

Gruppe 47 ‚revisited‘: Die Entwicklung einer kritischen Gruppe-47-Philologie

Schon vor der Studie Brieglebs sind um die Jahrtausendwende auch weniger polemische wissenschaftliche Anstöße zur Neubewertungen der Gruppe 47 erschienen, in denen sich die für die vorliegende Studie nach wie vor grundlegenden Beobachtungen über Kontinuitäten und Brüche in der Gruppe 47 finden. Eine der wichtigsten ist Sabine Cofallas Edition der Briefwechsel Hans Werner Richters,141 auf die sich alle neueren Studien zur Gruppe 47 stützen: Diese „Briefe an und von Richter“ bieten eine unverzichtbare und, wie Cofalla bereits selbst betont, „eine – nicht selten kontrastive – Ergänzung zu den öffentlichen Darstellungen, Erinnerungen und Autobiografien aus dem Kreis der Gruppe 47 […].“142

Tatsächlich sind hier zahlreiche seither oft erwähnte Beispiele für problematische Aspekte der Gruppe 47 dokumentiert, so insbesondere zahlreiche Zeugnisse einer antisemitischen Haltung Richters, die auch Briegleb in seiner Studie aufgreift; am deutlichsten die seither oft zitierte Stellungnahme zu Herman Kesten in einem Brief an Christian Ferber: „Kesten ist Jude und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d. h., ich rechne Kesten nicht uns zugehörig, aber er empfindet es so“.143 Begleitend zu dieser Edition hat Cofalla auch eine knappe Monografie publiziert, in der sie zahlreiche Beobachtungen aus ihrer genauen Kenntnis der Briefe zusammenträgt und dabei unter anderem auch auf Hans Werner Richters Umgang mit der NS-Vergangenheit,144 den Exilautoren145 und jüdischen Gruppenmitgliedern146 sowie auf die verschiedenen Strategien der Abgrenzung147 eingeht. NS-Kontinuitäten werden dabei nicht systematisch untersucht, in einer frühen Fußnote bemerkt Cofalla aber bereits, was die Briefe tatsächlich sehr deutlich machen:

Wenngleich Widmers Vorgehen [in der Dissertation von 1966, NW] methodisch problematisch sein mag, stützen die Briefe von und an Hans Werner Richter jedoch seine Ergebnisse: Nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken der ‚jungen Generation‘ blieb weit über das Kriegsende hinaus von der Sozialisation im Nationalsozialismus geprägt.148

In den 90er und frühen 2000er Jahren sind auch mehrere kritische Sammelbände zur Gruppe 47 bzw. zur ‚jungen Generation‘ erschienen.149 Die Bände blieben als Sammelbände naturgemäß relativ fragmentarisch und die explizite Frage nach NS-Kontinuitäten wird auch in diesen Aufsätzen nur stellenweise berührt, so besonders in Clare Flanagans Aufsatz zum „Ruf and the Charge of Nationalism“ (1991), in Hans-Joachim Hahns Aufsatz zum Vorwurf der „Literarischen Gesinnungsnazis“ (1991) oder in Klaus Brieglebs wiederabgedrucktem Aufsatz über den nur scheinbaren „‚Neuanfang‘ in der westdeutschen Nachkriegsliteratur“ der Gruppe 47150. Alle vier Bände enthalten aber grundlegende Anstöße zur kritischen Neubewertung der Gruppe 47 und ihres Umgangs mit der NS-Vergangenheit und versammeln die Arbeiten weiterer kritischer Geschichts- und Literaturwissenschaftler wie Sabine Cofalla, Jochen Vogt, Jérôme Vaillant und der Herausgeber selbst.

Nach wie vor grundlegend ist Stephan Braeses Habilitationsschrift Die andere Erinnerung (2001), die Autoren der Nachkriegszeit fokussiert, die auf der ‚anderen Seite‘ der Gruppe 47 und ihrer hegemonialen Diskurse standen; dies, weil sie gerade nicht eingeladen wurden und mit ihr in Konflikt standen oder wie Hildesheimer zentrale Aspekte ihrer Identität und ihres Schaffens zurückdrängen mussten. Auch jüngere Studien zu einzelnen Außenseitern/ -innen der Gruppe 47 bieten oft wichtige Anstöße für die vorliegende Arbeit:151 So enthält Elke Schlinsogs Studie Berliner Zufälle (2005) zu Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt ein eigenes Kapitel zur Gruppe 47,152 in dem sie den Mythos von Bachmanns erster Lesung hinterfragt und auf einen fragmentarischen Bericht Bachmanns hinweist, in dem diese schreibt, sie habe sich in der Gruppe zeitweise wie „unter deutsche Nazis gefallen“ gefühlt.153 Celan-Philologin Christine Wiedemann benennt in mehreren Studien NS-Kontinuitäten, insbesondere Antisemitismus in den literarischen Texten der Gruppe 47, deutlicher als die meisten Philologen/-innen in Studien über im Krieg ‚dabei gewesenen‘ Gruppe-47-Autoren.154

Inzwischen liegen auch revisionistische Studien zu einzelnen Autoren aus dem ‚innersten Kreis‘ der Gruppe 47 vor, die von den Debatten der 90er Jahren ausgehend wissenschaftlich fundierte Neubewertungen vornehmen. Dabei haben die bereits erwähnten Bände von Cofalla zu Richters sozialem Austausch und seinem strategischen Agieren im literarischen Feld sowie Lorenz’ umfangreiche Revision des Gesamtwerks Martin Walsers wichtige Grundsteine gelegt. Lorenz geht auch auf die hier in den Blick genommene Frage nach NS-Kontinuitäten explizit ein, wenn er aufzeigt, dass hinter Walsers literarischem Antisemitismus „das Wunschbild einer homogenen und unbelasteten, also: Identifikation wieder zulassenden und Identität stiftenden Nation, die letztlich mit dem völkischen Gedanken eines einheitlichen ‚Urzustands‘ korrespondiert“, stehe.155 Walsers Mitgliedschaft in der Gruppe 47 habe lange als „Ausweis einer ‚anti-antisemitischen‘ Gesinnung“ gegolten; auch diese Zuschreibung sei aber nicht mehr unumstritten.156

Mit dem jüngeren Aufsatz zum Wechselspiel von NS-Kontinuitäten und inszeniertem Bruch in Günter Grass’ Novelle Katz und Maus (1961)157 konnte Lorenz inzwischen auch die Debatte um Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft für Lektüren seiner literarischen Texte fruchtbar machen. Der Aufsatz dient zudem als maßgebliche Grundlage für Bigelows Relektüre der Blechtrommel (1959).158 Inzwischen sind auch mehrere Studien erschienen, die eine differenziertere Sicht auf die in den 90er Jahren diskutierten Kritikpunkte an Alfred Andersch ermöglichen. Neben dem frühen kanonischen Aufsatz Ruth Klügers (1994) sind das vor allem die von Döring und Markus Joch publizierte umfangreiche Sammlung werkbiografischer Studien Alfred Andersch ‚revisited‘ (2011) sowie Dörings eigene Studie Alfred Andersch desertiert (2015), die in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Historikern Felix Römer und Rolf Seubert weitere grundlegende Fragen um die Desertion Anderschs und die Genese ihrer literarischen Aufarbeitung und Umformung aufklären konnte.

Den größten Teil der dieser Studie zugrunde liegenden Literatur macht neben historiografischen Arbeiten zur „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland159 die Fachliteratur zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Nachkriegsliteratur als Ganzes aus,160 in der die Gruppe 47 nicht im Mittelpunkt steht, aber oft angesprochen wird, und oft auch die Frage nach NS-Kontinuitäten anklingt. Sie kann hier nur in ihren wichtigsten Grundzügen erwähnt werden; besonders relevant waren die (ideologie-)kritischen Studien, deren Schwerpunkt auf dem Verhältnis dieser Nachkriegstexte zu ‚vergangenheitspolitischen‘ Diskursen in der BRD, zur NS-Vergangenheit und zur NS-Ideologie liegt.161

Die explizite Frage nach einer Kontinuität nationalsozialistischer Ideologie wird in literaturwissenschaftlichen Publikationen sehr selten gestellt;162 wobei mehrere einschlägige Studien zu literarischem Antisemitismus nach Auschwitz163 sowie einige Seitenblicke der historiografischen Forschung über NS-Moraldiskurse auf literarische Texte164 eine Ausnahme bilden, aus der die vorliegende Studie ihre wichtigsten Anregungen zieht; auf sie wird im folgenden Kapitel noch genauer eingegangen. Die zweite wichtige Tendenz ist die, dass Jahrzehnte nach der Dekonstruktion des Mythos der ‚Stunde Null‘ inzwischen zudem auch der Bruch im Jahr 1959 infrage gestellt wird; 2009 erschienen anlässlich des Jubiläums des ‚Wendejahrs‘ mit einem von Matthias N. Lorenz und Maurizio Pirro herausgegebenen Sammelband Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen sowie dem fünften Band des Jahrbuchs Treibhaus zum Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur zwei wichtige Kompendien, die sich mit der Neujustierung auch dieses Konstrukts befassen.165

1.3 Zwischenbilanz: Der heutige Stand der Diskussion um die Gruppe 47

Nach den hitzig geführten Debatten und verdienstvollen Studien in den 1990er und 2000er Jahren ist es wieder etwas ruhiger um die Gruppe 47 geworden. In aktuellen Bänden zur Nachkriegsliteratur wird die Rolle der Gruppe 47 dementsprechend hinsichtlich Kontinuitäten und Brüchen meist ambivalent gesehen und, wie beispielsweise Christian Adam in seinem aktuellen Band zum Traum vom Jahre Null (2016) schreibt, in der diskursiven „Grauzone“166 der Nachkriegszeit verortet. Als Konsens gilt größtenteils, wie Christian Sieg in seiner Monografie Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990 (2017) festhält: Die zahlreichen „Untersuchungen der letzten Dekaden haben aufgezeigt, wie höchst problematisch der Umgang vieler Mitglieder der Gruppe 47 mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war.“167

Einzelne Stimmen plädieren dafür, einer als einseitig wahrgenommenen kritischen Forschung etwas entgegenzuhalten. Insbesondere die Gießener Germanisten Carsten Gansel und Norman Ächtler blicken in neueren Studien zur Gruppe 47 und ihren wichtigsten Mitgliedern ihrerseits kritisch auf die kritische Forschungstradition zur Gruppe 47. Ächtler problematisiert in seiner Dissertation zum Soldatischen Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960 (2013) in diesem Sinne, dass bisher „primär gefragt“ worden sei: „Was hat die (Kriegs-)Literatur nach 1945 nicht geleistet?“168 Solche ideologiekritischen Ansätze seien „bereits hinreichend diskutiert“ worden,169 weswegen er seinen „narrativistische[n] Zugang“ entgegenhalten will.170 Den sehr detaillierten und kenntnisreichen Untersuchungen Ächtlers (2013, 2014, 2016) und Gansels (2011, 2012), die in diesem Sinne entstanden sind, verdankt auch die vorliegende Studie viel. Dem grundsätzlichen ‚Schlussstrich‘-Gestus, wie er von Gansel und Ächtler erneut 2017 im Call for Papers für eine Gruppe-47-Tagung formuliert wurde, wird hier aber nicht gefolgt:171 Sie betonen, die „Vor- und Frühgeschichte der Gruppe 47“ sei bereits „hinreichend erforscht[]“, weswegen sie auf ihrer Tagung „dezidiert ausgespart“ werden solle. Sie verweisen auf fünf Publikationen, darunter zwei von Ächtler selbst,172 was m. E. für die Aufforderung zum Schlussstrich eine schmale Grundlage darstellt.

Für einen solchen Schlussstrich dürfte es, so die Annahme in der vorliegenden Studie, schon deswegen zu früh sein, weil auch innerhalb der kritischen Gruppe-47-Forschung keineswegs Einigkeit besteht. Dies zeigen zwei jüngst erschienene Artikel von Lorenz und Böttiger exemplarisch, die beide an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit stehen und so den gegenwärtigen Diskursstand gut abbilden. Böttiger kommt im Jahr 2017 in einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur, teilweise in Revision seiner Darstellungen in der Gruppe-47-Monografie,173 zum Ergebnis, die Gruppe 47 werde zu großen Teilen zu Unrecht „mit ‚Antisemitismus‘ assoziiert“.174 Lorenz postuliert hingegen im selben Jahr in der linken Zeitschrift Junge Welt, schon vor den neuen „Enthüllung verschiedenster Verstrickungen in den Nationalsozialismus“ hätten Einzelstudien gezeigt, dass „eine Absage an faschistische Denkmuster wie etwa den Antisemitismus […] gerade bei zentralen Vertretern der Gruppe nicht durchgängig feststellbar [ist], im Gegenteil.“175 Die „Häufung der neueren Erkenntnisse [mache] eine Neubewertung der Gruppe 47 dringend notwendig.“176

Solche grundsätzlichen Differenzen in der öffentlichen Wertung – bei denen es sich nicht um Meinungen, sondern durchaus um begründbare Forschungspositionen handelt – lassen vermuten, dass zu der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der Gruppe 47, anders als im oben zitieren Call for Papers behauptet, noch viel zu sagen ist. Während viele kritische Beobachtungen über die Gruppe 47 als Einzelfälle ausgiebig diskutiert wurden, werden sie nämlich (wie gerade Böttigers, Ächtlers und Gansels Arbeiten zeigen) im Kontext der Gruppe 47 nach wie vor oft als Ausnahmen von der Regel gewertet.177 Dabei deuten nicht nur die Menge der angeblichen ‚Einzelfälle‘, die Verstrickungen einzelner Gruppenmitglieder in den Nationalsozialismus und Umformungen der eigenen Biografien, die in den letzten Jahrzehnten bekannt wurden,178 sondern auch die konkreten Begebenheiten auf Tagungen, die in der kritischen Forschung herausgearbeitet wurden, darauf hin, dass es sich dabei durchaus um konstitutive Aspekte der Gruppe 47 handelt.

So nahmen über die ganze Bestehenszeit der Gruppe fast keine jüdischen Autorinnen und Autoren an den Tagungen teil; die wenigen jüdischen Mitglieder waren nur um den Preis akzeptiert, dass sie über ihre Erlebnisse im Nationalsozialismus schwiegen.179 In den ersten Jahren der Gruppe 47 stellten sich die wichtigsten Mitglieder auch dezidiert gegen die „Literatur der Emigration“, deren Autorinnen und Autoren nicht an der nationalen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs teilgehabt und damit ihr Recht auf Mitsprache in Deutschland verwirkt hätten.180 Zu diesen Fakten kommen diskriminierende Stellungnahmen gegen einzelne Juden und Emigrierte auf den Tagungen hinzu; gerade vonseiten des ‚Gruppenchefs‘ Richter sind zahlreiche exkludierende Äußerungen überliefert, die sich nicht in der bereits zitierten Stellungnahme erschöpfen, Kesten sei der Gruppe ‚nicht zugehörig‘, weil er Jude sei.181 Er attestierte dem Autor Albert Vigoleis Thelen „Emigrantendeutsch“, das man im Kreis der Gruppe ‚nicht brauchen könne‘, woraufhin dieser an keiner Tagung mehr teilnahm.182 Bekannt ist auch die (nicht mehr unumstrittene) Episode, wie Paul Celan nach seiner Lesung der „Todesfuge“ abgekanzelt und beleidigt worden sei und daraufhin den Gruppentreffen fernblieb.183

Möchte man ausgehend von solchen Überlieferungen der Frage nach NS-Kontinuitäten in der Gruppe 47 nachgehen, kann, wie aufgezeigt, bereits auf viel Material zurückgegriffen werden; es gibt aber nach wie vor ganz zentrale Desiderate. Am offenkundigsten ist, dass es neben der qua Anlage polemischen und entsprechend einseitigen Studie von Klaus Briegleb und der älteren Ruf-Dissertation von Widmer keine einzige Monografie zur Frage nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Gruppe 47 gibt. Während die Gruppe als Institution ansonsten grundsätzlich gut beforscht ist, gibt es darüber hinaus kaum Forschungsliteratur zu den literarischen Texten der Gruppe 47. Und selbst außerhalb der Gruppe sind in der aktuellen Forschung explizite literarische NS-Kontinuitäten erst selten als solche untersucht worden.184 Die Ausnahme hierbei bilden Studien zu literarischem Antisemitismus und zu NS-Moraldiskursen, an die die vorliegende Studie anknüpft, wie im Folgenden genauer zu umreißen ist.

2 Vorgehen und theoretischer Rahmen

Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch, daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern.185

Diese Sätze aus einer Rede des ehemaligen Gruppe-47-Mitglieds Martin Walsers, die er 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche hielt, wurden, wie die gesamte Rede, ausgiebig debattiert.186 Die Debatte soll nicht neu aufgerollt, sondern nur hinsichtlich eines spezifischen Aspekts noch einmal aufgegriffen werden: In diesem besonders andeutungsreichen Zitat werden durch die Schlagworte „Erinnerungsdienst“, „Täter“ und „Opfer“ die wichtigsten Aspekte der deutschen Diskussion um ‚Vergangenheitsbewältigung‘ aufgegriffen und durch die herausragende Stellung des Begriffs „Schande“ moralisch aufgeladen. Raphael Gross und Werner Konitzer haben in einer genauen Analyse der Rede zeigen können, dass sich darin eine moralische Beurteilungsweise äußert, die an partikulare Moralsysteme des Nationalsozialismus anknüpft.187

Der Fokus auf die Erforschung literarischer Moraldiskurse bietet sich angesichts des bisher Erläuterten doppelt an: Einerseits ist die Wahrnehmung der Gruppe 47 nach wie vor maßgeblich von der Zuschreibung besonderer moralischer Verdienste und „Mentalität“ geprägt. Andererseits liegt, wie in der Folge genauer aufzuführen ist, hierzu ein handhabbares Instrumentarium vor, das die Frage nach einzelnen NS-Ideologemen und deren Fortsetzung ermöglicht, ohne literarische Texte als Ganze ‚abzuqualifizieren‘ oder, was klassischer Ideologiekritik oftmals vorgeworfen wird,188 als Zeugnisse eines falschen Bewusstseins ‚entlarven‘ zu wollen. Konkret soll danach gefragt werden, ob, und wenn ja, welche moralischen Implikationen sich in den Zeugnissen der Gruppe 47 als Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus verstehen lassen. Dabei sind Moralvorstellungen in den wichtigen literarischen Texten der Gruppe 47 von Interesse sowie die Frage danach, wie sich diese zu Moraldiskursen in der NS-Ideologie verhalten. Zeigt sich eine Kontinuität partikularistischer, exkludierender Moralkonfigurationen, setzen sich sogar konkrete NS-Moraldiskurse in den Texten fort? Und wie verhalten sich Konstruktionen ‚des Jüdischen‘ und literarischer Antisemitismus dazu?

Walsers eingangs zitierte Wendung von der „unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern“189 weist bereits auf die zentrale Rolle von dichotomen Zugehörigkeiten und damit auf Vorstellungen von Identität und Alterität hin, die den methodischen Zugriff der vorliegenden Studie leiten sollen. Doch zunächst sollen im Folgenden das dieser Studie zugrunde liegende Verständnis von NS-Kontinuitäten und die Theorien nationalsozialistischer Moral beleuchtet werden (2.1), bevor der Frage nachgegangen wird, wie Moral in literarischen Texten eigentlich untersucht werden kann (2.2), wobei der Fokus auf Konstruktionen von Identität und Alterität genauer auszuführen ist. Schließlich wird festgelegt, wie das weitere Untersuchungskorpus zustande kommt, wobei zu klären ist, welches die ‚wichtigsten Texte‘ der Gruppe sind und damit auch, welche Autoren und Autorinnen überhaupt als wirkliche zugehörige Gruppenmitglieder gelten (2.3). Aufgrund dieses Überblicks können die zentralen Begriffe der Studie geklärt und schließlich die Fragestellung geschärft werden (2.4).

2.1 Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus und ‚NS-Moral‘190

Von NS-Kontinuitäten zu sprechen, ist schon deswegen problematisch, weil bereits über die Deutung des Nationalsozialismus selbst kaum Einigkeit herrscht und die Kontroversen um seine Geschichtsschreibung einen außergewöhnlich „hohe[n] Emotionalitätsgrad“ aufweisen,191 wie Gross (2010) zusammenfasst:

Über die NS-Geschichte wurden und werden in Deutschland fortwährend Kontroversen ausgetragen. […] Grob können drei Ebenen unterschieden werden, auf welche sich diese Konflikte beziehen: die faktisch richtige Rekonstruktion des Geschehens, seine moralisch richtige Beurteilung und schließlich das der Geschichte angemessene Gedenken und Erinnern. Es ist von der Sache her unmöglich, die drei Ebenen getrennt voneinander zu analysieren, obgleich dies aus verschiedenen Überlegungen heraus immer wieder gefordert wird.192

Entsprechend kontrovers wird auch die Definition historischer Kontinuitäten diskutiert. Es kann und soll hier nicht die ganze Kontroverse aufgearbeitet und ergänzt werden, sondern nur wegen der Vielzahl möglicher Positionen eine Verortung in Bezug auf die wichtigsten Fragen vorgenommen und die zugrunde liegende Perspektive mit Schwerpunkt auf NS-Moraldiskurse eingeführt werden.

Die Historikerin Birthe Kundrus hat das Thema wiederholt bearbeitet und im Band Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts (2013) einleitend eine Zusammenfassung des Forschungsgebietes gegeben.193 Wie sie darlegt, ist die Frage, „wieviel Vergangenheit in eine gesellschaftliche Gegenwart eingeht“, aus naheliegenden Gründen ein „Kernproblem der Geschichtswissenschaft“,194 und gerade in Bezug auf den Nationalsozialismus verschärfen sich die diesbezüglichen Schwierigkeiten: Die vielen widersprüchlichen NS-Interpretationen im Verlaufe der Zeit ließen bis heute vor allem den Schluss zu, dass sich der Erfolg des Nationalsozialismus erst aus dem Zusammenspiel unzähliger Faktoren ergab.195 Einzelne dieser Faktoren – und eben auch die je einzelnen Aspekte der Ideologie –, als monokausale Begründung, als alleinige „Auslöser“ für die NS-Diktatur zu betrachten, ist angesichts dessen kaum möglich; aber die Frage nach Kontinuitäten einzelner Faktoren ist dennoch wichtig, denn auch wenn sie jeweils nicht die einzige Ursache waren, führten sie zusammengenommen dennoch zum „Zivilisationsbruch Auschwitz“196. Die Rede von der Kontinuität eines Diskurses impliziert in diesem Verständnis zunächst, dass die entsprechenden Ideologeme auch im Nationalsozialismus wichtig waren.197 Bei dem Hintergrund vieler 47er-Autorinnen und Autoren, die im Nationalsozialismus sozialisiert worden sind, kommt nun insbesondere dazu, dass der Bezug zum Nationalsozialismus am nächsten liegt: Selbst bei sehr eng gefassten Definitionen des Kontinuitätsbegriffs soll eine „partielle Identität“ der „Träger von Wissen und / oder Erfahrungen, seien es Personen oder Institutionen“ es legitimeren, von einer Kontinuität zu sprechen, wenn diese „über verschiedene Kontexte hinweg fortbestehen […].“198

2.1.1 ‚NS-Moral‘

Als Folie der Analysen in der vorliegenden Studie dient neuere Forschung zur Weltanschauung des Nationalsozialismus, die nach Werten, Normen und verbreiteten Moralvorstellungen der NS-Ideologie fragt.199 „Moral“ ist in diesem Zusammenhang rein deskriptiv zu verstehen, als „System von Normen, Werten und moralischen Gefühlen“,200 wie es Gross formuliert. Diese Betrachtungsweise kann zentrale Vorgänge im ‚Dritten Reich‘ gut erklären: Ethik-Debatten und genuin moralische Konzepte wie Treue, Ehre und Schande zogen sich nämlich sogar formativer als in anderen Systemen durch die NS-Ideologie. Augenfällig ist die zentrale Stellung moralisch aufgeladener Begriffe beispielsweise im SS-Eid „Meine Ehre heißt Treue“ oder in Himmlers Posener Geheimrede vom 4. Oktober 1943, wo er vom „moralischen Recht“ spricht, alle Juden umzubringen, und einen Katalog von „Tugenden“ listet, die seine SS-Männer mitzubringen hätten.201 Auch die Überzeugung vieler Kriegsverbrecher nach 1945, keine moralische Schuld zu tragen, korrespondiert mit der Annahme, dass im Nationalsozialismus Moralvorstellungen nicht einfach gänzlich zurückgedrängt, sondern auch justiert und zu einem integralen Teil der Ideologie wurden.202

Der Widerspruch zwischen NS-Unrechtsstaat und Moral lässt sich durch das Konzept der „partikularen Moral“ nach Ernst Tugendhat erklären.203 „Unsere“ vertraute universelle Moral sucht nach Werten und Normen, die für alle Menschen gleichermaßen gelten können. Eine partikulare Moral gilt dagegen nur für eine bestimmte Gruppe (im Nationalsozialismus natürlich die „arische Rasse“) – dies sowohl in den moralischen Pflichten als auch in den moralischen Rechten. Anders als zum Beispiel bei den biologistischen Aspekten der Rassenlehre handelt es sich bei solchen Moralvorstellungen um keine rein rational dekonstruierbaren Konzepte: Verstöße gegen eine eingeübte Moral lösen spontane Gefühle der Empörung aus; moralische Urteile beinhalten immer ein „vorratoides Moment der Erleidens“, wie der Moralphilosoph Dietmar Mieth formuliert.204 Dementsprechend schwierig sollte es sein, diese spontanen moralischen Urteile rational zu fassen und im Bestreben eines kompletten Neuanfangs von einem Tag auf den anderen zu verändern, was sie für die Frage nach Kontinuitäten auch soziologisch oder psychologisch besonders anbietet.

‚NS-Moral‘ in den Geschichtswissenschaften

NS-Moraldiskurse sind insbesondere im letzten Jahrzehnt intensiv beforscht worden. Neben zahlreichen Studien der Forschungsgruppe um Gross und Konitzer sind auch Monografien von Wolfgang Bialas (2014), Lothar Fritze (2012) Johann Chapoutot (2016) erschienen, zahlreiche Aufsätze,205 darunter mehrere einschlägige Sammlungen im Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts (2009; 2014, 2016) und der Sammelband von Bialas und Fritze, der im selben Jahr auf Deutsch und auf Englisch erschienen ist (2014b). Die Vorläufer der Beschreibung von NS-Moralvorstellungen und -diskursen hat Raphael Gross in seiner Monografie Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral (2010) umfassend zusammengetragen.206

Gross und Konitzer haben im Anschluss an Tugendhat vorrangig die grundsätzliche Frage nach einer ‚Moralität“207 der NS-Ideologie bearbeitet, worauf jüngere Studien aufbauen konnten. So hat der Philosoph und Kulturwissenschaftler Wolfgang Bialas anhand einer großen Menge an Quellen philosophische und politische Moraldebatten im Nationalsozialismus rekonstruieren und so ein umfangreiches Bild einer „rassenbiologische[n] Ethik“208 zeichnen können, in deren Sinne die nationalsozialistischen Theoretiker durch „die biopolitische Radikalisierung des Sozialdarwinismus und romantischer Konzepte von Nation und Volk […] eine wissenschaftliche Moral zu entwickeln“ suchten.209 Seine spezifischen Einzelbeobachtungen über den Umgang mit „Rasseninstinkt und moralische[r] Urteilskraft“,210 moralischen Bedenken211 oder Mitleid212 und insbesondere mit dem Konstrukt der Volksgemeinschaft als Ziel moralischen Strebens213 werden im Folgenden im Rahmen einzelner Analysen herangezogen und genauer ausgeführt. Auch der französische NS-Historiker Johann Chapoutot betont in seiner Einleitung zum jüngsten Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts die weitreichende Bedeutung, die die im Nationalsozialismus angestrebte „normative Revolution“214 für dessen philosophische Grundierung gehabt habe:

Es ist in der Tat vor und während der NS-Zeit viel zum Thema Normen geschrieben worden: in der Presse und an den Universitäten; Bücher, Artikel, Pamphlete, Gedichte. Man hat Filme gedreht, in denen es um diese Normen ging. Und man hat argumentiert. Juristen, Historiker, Biologen, Philosophen, aber auch weniger wissenschaftliche Wortführer des Nationalsozialismus haben viel geredet und geschrieben, um zu erklären, dass die überkommenen Normen falsch, ungesund und gefährlich seien und man daher eine normative Revolution durchführen müsse, wenn man die eigene ‚Rasse‘ retten wolle. Viel heißt hier wirklich viel.215

Obwohl sich die Betrachtung dieser NS-Normen, wie auch Jörn Retterath (2018) in seiner Rezension des Bands festhält, in diesem Sinn zunehmend und für ganz verschiedene Disziplinen als „sinnvoll und lohnenswert“ erweist,216 gibt es noch wenige Studien dazu, wie sie sich in fiktionalen Werken des Nationalsozialismus niedergeschlagen haben oder sogar nach dem Nationalsozialismus fortsetzten.217

Schwierigkeiten

Dass bisher nur wenige Studien zu Moraldiskursen in fiktionalen Werken im und nach dem Nationalsozialismus vorliegen, dürfte auch daran liegen, dass das Konzept nicht unproblematisch zu handhaben ist. So wurde in der Rezeption von Gross’ Monografie bereits ein Einwand laut, dem auch die vorliegende Studie begegnen muss: In Gross’ Theorie bleibe die Grenze zwischen ‚NS-Moral‘ und verwandten Konstrukten wie „Ideologie, Mentalität und Gesinnung […] durchaus fliessend“, so Ahlrich Meyer in der NZZ (2010). Die Ursache dafür ist allerdings nicht zuletzt in der Beschaffenheit dieser NS-Moraldiskurse zu sehen: Gross arbeitet einleitend heraus, dass in partikularistischen Moralsystemen solche Grenzen, insbesondere zwischen Konvention und Moral, verwischt würden.218 Es ist damit gerade ein konstitutives Moment der ‚NS-Moral‘, dass auch Konzepte moralisch aufgeladen wurden – das heißt ‚vorratoid‘ oder ‚intuitiv‘ beurteilt wurden –, die heute ‚neutraler‘ als Gesinnung oder Ideologeme wahrgenommen werden. Im Nationalsozialismus wurden Verstöße dagegen anders als heute von moralischen „Sanktionsgefühlen“ wie Groll und Empörung, Schuldgefühlen und Scham begleitet.219 Damit kann es gerade ein NS-Spezifikum einzelner Ideologeme sein, wie stark moralisch aufgeladen sie waren: Weder eine hochmoralische Aufladung von Treue noch die Vorstellung, es sei falsch zu desertieren, nicht einmal die Idealisierung von „Führertreue“ sind für sich genommen einzigartig für den Nationalsozialismus; wohl aber die enge Verknüpfung dieser Aspekte im Eid „Meine Ehre heißt Treue“.

Entsprechend vorsichtig muss die Frage nach Fortsetzungen solcher Diskurse beantwortet werden.220 Die Diskurse überhaupt genau erfassen zu können, ist ein junges und noch nicht zu einem vorläufigen Konsens konsolidiertes Forschungsziel von Gross’ Studie und den weiteren zentralen Studien zu Nationalsozialismus und Moral von Bialas, Konitzer oder Chapoutot, was den ‚praktischen‘ literaturwissenschaftlichen Umgang damit erschwert: Die Ergebnisse sind voraussetzungsreich und lassen es nicht zu, eine Art „Fragenkatalog“ einzelner Moralvorstellungen oder Ideologeme zu erstellen, nach denen literarische Texte anschließend befragt werden können. Selbst die moralischen Begrifflichkeiten sind je nach Kontext grundsätzlich anders zu verstehen:221 Ist die Rede von einer ‚guten‘ literarischen Figur, so bleibt sprachlich uneindeutig, ob es sich um einen moralisch handelnden Nationalsozialisten im Sinne eines NS-Moralsystems, im Sinne des jeweiligen Texts oder im Sinne einer heute aktuellen universalistischen Moralvorstellung handelt. Da der Begriff der Moral im Kontext der NS-Moraltheorien deskriptiv ist, muss seine Verwendung in der vorliegenden Studie auch relational bleiben. Normative Begriffe sind in diesem Sinn kontextabhängig, das heißt ‚moralisches Verhalten‘ bezeichnet, was im jeweiligen Kontext als solches markiert ist.

Für die vorliegende Studie wurde aus diesen Gründen ein Ansatz gewählt, der nicht nach spezifischen NS-Moraldiskursen ‚sucht‘, sondern zunächst von einzelnen Wertvorstellungen in den jeweiligen literarischen Texten ausgeht.222 Die moralischen Implikationen der Texte können nun wiederum mithilfe der Studien zu konkreten NS-Moraldiskursen ausgedeutet und in ihrer Nähe bzw. Distanz zum Wertesystem des Nationalsozialismus eingeordnet werden. Dieses Vorgehen setzt den weiten und nicht von vornherein abschließend definierten Moralbegriff, der in Bezug auf Gross’ Studie kritisiert wurde, gerade voraus. Damit kann an Nora Bernings Studie zu einer Critical Ethical Narratology (2013) angeschlossen werden, die, wie positiv hervorgehoben wurde, deutlich macht, „dass eine narratologische Analyse erzählerischer Wertekonstruktionen möglichst flexibel angelegt sein muss.“223

2.1.2 Identität und Alterität I: Partikulare Moral

Trotz dieser grundsätzlichen Offenheit soll nicht voraussetzungslos an die literarischen Texte herangetreten werden. Um den Blick auf Texte zu lenken, die hinsichtlich Kontinuitäten und Brüchen mit NS-Moraldiskursen relevant sein könnten, hat sich der Fokus auf moralische Zuschreibungen von Identität und Alterität als besonders gewinnbringend erwiesen. Der Grundsatz einer von Tugendhat als „partikularistisch“ beschriebenen Moralsystems bildet wie beschrieben den kleinsten gemeinsamen Nenner der zahlreichen Theorien zu ‚NS-Moral‘. Und diesem Moralsystem ist eine grundlegende Unterscheidung zwischen der ‚Wir-Gruppe‘ und ‚den Anderen‘224 konstitutiv eingeschrieben. Eine partikulare Moral schließt Nichtzugehörige der jeweiligen ‚Wir-Gruppe‘, das heißt ‚Andere‘, in doppelter Weise von der ‚eigenen‘ Moral aus:225

  • Erstens wird ‚den Anderen‘ zugeschrieben, für andere moralische Werte zu stehen als die ‚Wir-Gruppe‘. Im Nationalsozialismus äußerte sich diese Wahrnehmung am deutlichsten in der Hetze gegen die gesamte angeblich nicht-‚arische‘ und / oder ‚gemeinschaftsfremde‘ Bevölkerung,226 der dezidiert unmoralische Eigenschaften attribuiert wurden wie Falschheit in der antisemitischen, unehrliche und diebischer Lebensweise in der antiziganistischen oder „perverse“ Sexualität in der Homosexuellen-Hetze. In Vorstellungen wie der „Rassenschande“ zeigt sich die Radikalität dieser Sichtweise: Wie Gross am Beispiel der Gerichtsverhandlung gegen den NS-Richter Edmund Kessler herleitet,227 haftet bereits die Schande, die sexueller Kontakt einer/-s Einzelnen mit ‚Gemeinschaftsfremden‘ „für die deutsche Ehre bedeutet, […] gleichsam jedem einzelnen Deutschen an“;228 kann also die ‚eigene‘, naturgegebene Tugendhaftigkeit der deutschen Volksgemeinschaft gefährden.

  • Zweitens gelten in Bezug auf ‚Andere‘ auch andere moralische Pflichten. Sie brauchen nicht gemäß denselben moralischen Regeln behandelt zu werden wie die Angehörigen der ‚Wir-Gruppe‘. Himmlers Posener Rede ist auch hierfür ein gutes Beispiel, wenn er sagt: „Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich [also hochmoralisch, NW] haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und sonst zu niemandem“.229 Im Nationalsozialismus wurde diese Auffassung so weit getrieben, dass als unmoralisch galt, wer sich anderen „Rassen“ gegenüber moralisch verpflichtet fühlte: Normative Maxime war die bedingungslose Verpflichtung an die eigene Volksgemeinschaft und die Ächtung der „rassenindifferenten“, egalitären Gesellschaftsform;230 wie Tugendhat formuliert, wurde „den Außenstehenden gegenüber überhaupt keine moralischen Einschränkungen mehr anerkannt […].“231

Wichtig ist, wie Tugendhat an dieser Stelle betont, dass „Partikularismus und Universalismus sich nicht einfach ausschließen“.232 Ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation oder Kultur laufe einem moralischen Universalismus nicht grundsätzlich zuwider, doch „der Partikularismus hört auf, aus der Perspektive des Universalismus moralisch harmlos zu sein, sobald er eine Abwertung der anderen impliziert.“233 In der vorliegenden Studie ist die Konstatierung partikularer Moralvorstellungen in einzelnen Texten in diesem Sinne nicht gleichzusetzen mit einer grundsätzlichen Problematisierung dieser Texte.234 Insbesondere konkrete Schlüsse über eine Nähe oder Distanz zur NS-Ideologie können ausgehend von dieser Perspektive zunächst nur ex negativo gezogen werden, indem die Abwesenheit solcher dichotomer Konfigurationen eine deutliche Distanz zur ‚NS-Moral‘ nahelegt.

Enthalten Texte deutliche moralische Dichotomien, so sind diese dennoch nicht zwingend als Fortsetzungen nationalsozialistischer Vorstellungen zu lesen, und auch wenn sie vom heutigen Kenntnisstand aus mit NS-Ideologemen korreliert werden können, wurden sie deswegen in der Bestehenszeit der Gruppe 47 nicht zwingend ebenfalls als solche verstanden und gründen so nicht zwingend auf intentionalen Abwertungen.235 Sie können aber ein Zeugnis der „besonderen Bindungskraft moralischer Normen“ sein,236 die gemäß Gross zu ihrer Beständigkeit führt: Moralsysteme sind „tiefer in intersubjektiv eingeübte und subjektiv übernommene Verhaltensweisen, in Gefühle, spontane Beurteilungen und Reaktionsformen eingewoben als tagespolitische Überzeugungen“.237

2.1.3 Kontinuitäten partikularer Moral

Dass diese Perspektive auf die Gruppe 47 lohnenswert ist, zeigt Konitzers und Gross’ Analyse von Martin Walsers Paulskirchenrede,238 in der gerade die moralische Dichotomie zwischen der deutschen ‚Wir-Gruppe‘ und den ‚Anderen‘ besonders ins Gewicht fällt. Wie Konitzer und Gross zeigen konnten, zeugt das Leitmotiv der „Schande“ in Walsers Rede kaum von einer moralischen Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen. Dies würde nämlich Empörung oder Groll erfordern, Gefühle, die Walser bei einzelnen linken deutschen (nichtjüdischen) Intellektuellen aber gerade als heuchlerisch und als unrechtmäßige Annäherung an die Opferseite kritisiert.239 Stärker als von einer solchen Empörung zeugt seine Rede, wie die Analyse deutlich macht, von der partikularistischen Vorstellung, durch die Angehörigkeit zu einer Gemeinschaft, deren Moralsystem – und so auch den ‚moralischen Wert‘, das heißt allenfalls auch Zuschreibungen von unmoralischen Handlungen – selbstverständlich a priori mitzutragen und sich deswegen ggf. auch dafür schämen zu müssen.240

In dieser Wahrnehmung muss ein Urteil über ‚unsere‘ Taten vonseiten ‚Anderer‘ als Anmaßung und Kränkung empfunden werden.241 Und es setzt sich darin nicht nur die Art und Weise partikularen moralischen Urteilens aus dem Nationalsozialismus fort, sondern in direkter Konsequenz auch der Ausschluss ‚Anderer‘ aus seiner ‚Wir-Gruppe‘, die sich als Täter-Kollektiv konstituiert:

Angesichts eines Verbrechens kann und muss sich jeder moralische Mensch empören, sofern er nicht selbst Schuld daran hat. Ein Verbrechen ist eine Schande aber nur für diejenigen, die einer scheinbar im Voraus bestimmten Gemeinschaft angehören. Wo vom Holocaust als einer Schande für alle Deutschen gesprochen wird, darf ein Jude nicht mehr Deutscher sein.242

Für Walser gelte so wie bereits für die jungen Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit:

Dass sie sich für Handlungen schämten, die sie nicht begangen hatten, zeigt […], wie sehr sich die Form des moralischen Urteilens nach dem Krieg erhielt […]. Auschwitz war, so kann man sagen, in der Wahrnehmung dieser jungen Deutschen deshalb ein Verbrechen, weil es eine ‚Schande‘ war.243

Gross’ und Konitzers Beobachtung, dass die Opfer des Nationalsozialismus aus Walsers nationaler ‚Wir-Gruppe‘, die an ihrer Schande leidet, nach wie vor ausgeschlossen sind, ist nicht zu widersprechen. Zu erklären versuchen sie dies über einen generationellen Zugriff: Über Walsers Generation könne man „mit Gewissheit sagen, dass sie den Nationalsozialismus, allein schon aufgrund ihres jugendlichen Alters, gar nicht aktiv verschuldet haben kann“.244 Es sei aber diese Generation gewesen, die „die Maßstäbe der für den Nationalsozialismus charakteristischen partikularen Moral in ihrer Kindheit erlernt hat“; sodass „diese Form des Beurteilens selbstverständlich“ erlernt wurde.245 Lorenz äußert in seiner Studie zu Walsers Antisemitismus (2005) den Vorbehalt gegen solche generationellen Erklärungen: Es solle „nicht der Versuchung nachgegeben werden, Walsers Schreiben mit einem Generationenansatz zu begründen“, da „konkrete Texte aus dieser Gruppenidentität zu erklären, ein kurzschlüssiges, präjudizierendes Verfahren“ wäre.246 Die Argumentation müsse vielmehr anhand „nachvollziehbarer Textarbeit“247 erfolgen. Mittels Textarbeit konnte er in seiner Studie seine These einer „Werkkontinuität“248 belegen und zeigen, dass sich Walsers Haltung in den 90er Jahren nicht nennenswert von den Positionen unterschied, die er bereits in seinen frühen Jahren in der Gruppe 47 vertreten hatte.249

Die Maxime nachvollziehbarer Textarbeit soll selbstverständlich auch für die vorliegende Studie gelten. Da sich in der Gruppe 47 anders als im Werk eines einzelnen Autors zahlreiche unterschiedliche Moralvorstellungen und unterschiedliche Schreibweisen dieser Moralvorstellungen finden, muss ein möglichst offener Ansatz gewählt werden, der dieser Pluralität gerecht werden kann. Da dies wie beschrieben dadurch ermöglicht werden soll, dass von Verknüpfungen von Identität und Alterität mit Moralvorstellungen innerhalb einzelner Texte ausgegangen wird, sind im Folgenden zunächst die Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung von Moralvorstellungen in Texten zu eruieren und danach zu fragen, wie ein möglichst repräsentativer Blick auf die ‚Literatur der Gruppe 47‘250 ermöglicht werden kann.

2.2 Methodische Fragen: Narrative Ethik, Alterität in der Literatur

Auch die Frage nach Moralvorstellungen in der Literatur ist nämlich nicht einfach zu beantworten. Seit dem sog. „ethical turn“ der 90er Jahre251 liegt das Heranziehen von Theorien der narrativen Ethik nahe, die für die Literaturwissenschaft schon fruchtbar gemacht, aber sehr unterschiedlich konzeptualisiert wurden.252 Ursprünglich gewann das Konzept in theologischen und philosophischen Theorien der späten 70er-Jahren an Bedeutung;253 in den Fokus der Literaturwissenschaft rückte die narrative Ethik im Rahmen einer Debatte zwischen dem Rechtswissenschaftler Richard Posner und der Philosophin Martha Nussbaum im Jahr 1997, in der verhandelt wurde, ob Literatur überhaupt eine benennbare Ethik enthalte und ob man ihrer Vielschichtigkeit durch entsprechende Analysen gerecht werden könne.254 Der daraus entstandene Fokus prägt noch immer die meisten Theorien narrativer Ethik: Warum und wie ist es sinnvoll, mit moralischen und ethischen Fragen an ‚schöne Literatur‘ heranzutreten?

Die daraus hervorgegangenen Überlegungen zu moralischen Implikationen, Ethik und literarischen Texten sollen im Folgenden grob dargestellt werden, bevor die wichtigsten dieser Studie zugrunde liegenden Theorien narrativer Ethik sowie methodischer Zugänge zu Identitäts- und Alteritätskonstruktionen in literarischen Texten umrissen werden.

2.2.1 ‚Ethical Turn‘ und die ‚Moral der Geschichte‘

Ausgangspunkt der meisten aktuellen Studien über narrative Ethik ist das Konstatieren einer neuen Sehnsucht nach Werten, der der „postmoderne Nihilismus“255 oder die „postmoderne Blasiertheit“256 gewichen sei. Das stelle auch die Literaturwissenschaft vor neue Herausforderungen; „Gefordert ist eine Literaturwissenschaft, die […] das Sinnangebot des Textes ernst nimmt“.257 Dabei geht es nicht vorrangig darum, Sets von Normen und Werten zu identifizieren; die leitende Frage ist, wie der Theologe und Philosoph Dietmar Mieth formuliert, was Literatur zu der „Konstituierung des ethischen Subjektes und seines moralischen Weltverständnisses“ beitragen könne.258 Im Lesen würden Aushandlungsprozesse angestoßen, durch die die Lesenden ihre Position im Diskurs reflektieren könnten; diese ethischen Sinnangebote gelte es zu beschreiben.259

Die methodischen Grundlagen dazu sind in der Literaturwissenschaft noch nicht ausdifferenziert, was Mieth damit begründet, dass der Autor auch dann, wenn er moralische Themen anschneide, ästhetischen Gesetzen folge, weswegen man ihn „nicht unmittelbar bei moralischen Implikationen greifen“ könne.260 Dennoch ruft er dazu auf, man dürfe der Interpretation literarischer Texte „durchaus zumuten, auch diese moralischen Implikationen zu erhellen.“261 Obwohl sich die narrative Ethik aber bereits „auf eine plurale internationale Diskussion in Philosophie und Theologie abstützen“ könne, habe sie „unter den ‚erzähltheoretischen Handlungsmodellen‘ noch keinen Platz gefunden“262 – was er damit belegen kann, dass im erzähltheoretischen Standardwerk von Matías Martínez und Michael Scheffel263 weder „Moral“ noch „Ethik“ im angehängten „Lexikon und Register erzähltheoretischer Begriffe“264 Platz gefunden haben.265

Dabei spielt Erzähltheorie natürlich dennoch eine zentrale Rolle für die Frage nach Moralvorstellungen in literarischen Texten. Ein erster Anknüpfungspunkt an Moral und Literatur liegt auf der Hand, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Frage nach der ‚Moral der Geschichte‘ wohl die erste Grundlage aller reflektierten Lektüren und viel älter als die Literaturwissenschaft ist.266 Dafür, dass diese Frage so nahe liegt, gibt es aber erst sehr wenig methodische Zugänge, die sich konkret mit dem Aspekt der Moral auseinandersetzen. Dennoch ist die narratologische Terminologie hilfreich. Martínez/Scheffel fassen mit dem Begriff „Geschichte“ denjenigen inhaltlichen Aspekt eines Texts, der nicht nur die chronologische,267 sondern auch die kausale Abfolge der Geschehnisse berücksichtigt.268 Im Anschluss an diese Definition kann in der vorliegenden Studie die Formel ‚Moral der Geschichte‘ beibehalten werden, da hier diejenigen Aspekte der so verstandenen „Geschichte“ eines Texts relevant sind, die auf ein dahinterstehendes Wertesystem verweisen.

Ähnlich argumentiert auch Mieth, wenn er als Aufgabe einer narrativen Ethik in der Literaturwissenschaft sieht, „zitierbare Kurzformen eines ethisch relevanten Musters“ zu identifizieren.269 Er äußert den Anspruch, „nicht nur de[n] Gewinn (oder Verlust) der Literatur(wissenschaft) für die Ethik, sondern auch de[n] Gewinn der Ethik für die Literatur(wissenschaft)“ neu zu überdenken,270 und will zu diesem Zweck eine systematische Herangehensweise an die Frage nach Moral und Ethik in literarischen Texten anregen. Zu diesem Zweck denkt Mieth eine Liste von narratologischen Fragen an, die eine systematische narrative Ethik an Texte stellen sollte. Seine noch nicht zu einem systematischen Werkzeug ausgebauten ersten Vorschläge zielen darauf ab, die „Implikationen der erzählerischen Haltung“ zu fassen:271

[W]ird auktorial erzählt, wird polyphon und perspektivisch erzählt? Wann wird erzählt, wie wird erzählt, wer erzählt wem? Hat die Wahl der Erzählhaltung moralische Voraussetzungen oder strebt sie Folgen an? Werden moralische Überzeugungen expliziert und reflektiert? Geschieht dies durch die Erzählinstanz, durch die Figuren, ihr Blickfeld und ihre Reflexion, durch die Handlungen und ihre wechselseitige Erschließung? Geht die Erzählung ‚aufs Ganze‘, etwa einer Totalität der Welterschließung? Inwieweit reflektiert sie sinnbildende und / oder ordnende Funktionen? Inwiefern und inwieweit erhebt sie Anspruch auf Repräsentanz, auf Bündnisse mit Positionen und Meinungen oder andersherum, inwieweit legt sie Wert auf eine Außenseiterperspektive?272

Solche Fragen leiten auch die Lektüren in der vorliegenden Studie, insbesondere im letzten Teil, wo nach Reflexionen partikularer Moral auf der Textoberfläche, das heißt der ‚Moral der Geschichte‘ im hier definierten Sinn, gefragt wird.273

Zudem soll aber auch über die Frage nach solchen ‚intentionalen‘ bzw. in den Texten angelegten moralischen Aussagen hinausgegangen werden. Sie ist zu ergänzen um die Frage nach dem, was im Folgenden mit Moralsystem oder Moraldiskursen in den Subtexten der literarischen Werke benannt wird: also nach dem Set an Normen und Werten hinter der ‚Moral der Geschichte‘. Damit wird der Annahme Rechnung getragen, dass wenig gezielte Abwertungen ‚Anderer‘ vorliegen, sondern die Texte der Gruppe 47 vor allem unterschwellige Fortsetzungen partikularer Wertvorstellungen aufweisen. Den wichtigsten theoretischen Rahmen für das Moral- und Ethikverständnis in der vorliegenden Studie gibt die Untersuchung der Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Stephanie Waldow, die im Folgenden etwas detaillierter ausgeführt werden soll.

2.2.2 Moral und Ethik

Waldow geht von der These aus, die „für die Moderne und Postmoderne vorgenommene Trennung von Ethik und Ästhetik“ könne in der Gegenwart „nicht mehr aufrechterhalten werden“.274 Damit können ihre Überlegungen für die Fragestellung der vorliegenden Studie und die Literatur der Nachkriegszeit nicht unmittelbar ins Gewicht fallen, da sie dezidiert vom Jetztzustand und dem Wissen der Postmoderne ausgeht und deren mögliche ‚Überwindung‘ postuliert. Sie beleuchtet eine „neue Generation von Texten“, die möglicherweise dabei sei, den „Postmodernen Nihilismus“ zu überwinden.275 Die Fragestellung ihrer Arbeit trifft aber über die postmoderne Literatur hinaus auch die „Literaturwissenschaft heute“, die sie „als Form des ethischen Dialogs“276 versteht; die damit verbundenen Reflexionen und begrifflichen Differenzierungen sind grundlegend, um der voraussetzungsreichen Fragestellung der vorliegenden Studie angemessen zu begegnen.

Der Studie Waldows liegen philosophische Grundlagentexte der Postmoderne von Judith Butler, Michel Foucault, Emmanuel Levinas und Paul Ricœur zugrunde, als deren Gemeinsamkeit sie „die enge Verknüpfung von Subjekt, Sprache und Ethik und schließlich de[n] Aufruf zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Sprache“ identifiziert.277 Literatur erscheint in diesem Sinne besonders geeignet dafür, vorherrschende Diskurse zu subvertieren, sich im Diskurs als ‚Anderes‘ zu positionieren und so kritische ethische Gegenmodelle zu entwerfen.278 Darin, was sie mit Foucault als „Haltung einnehmen“ bezeichnet, sieht sie die Möglichkeit einer Rückkehr des Subjekts nach der Postmoderne: „Im Bewusstsein des Diskurses wird eine Subversion des Diskurses vorgenommen, die schließlich zu einer authentischen Positionierung des Subjekts führt.“279

Ausgehend von den philosophischen Grundlagentexten ist es das Ziel ihrer Studie,

aus der Ästhetik heraus eine Ethik zu formulieren, eine Ethik also, die den konkreten Text als Ausgangspunkt der Beobachtung nimmt und auf dieser Basis erst theoretische Prämissen formuliert. Die literarischen Texte fungieren demzufolge nicht als bloßes Anschauungsmaterial, sondern sind genuiner Bestandteil der zu entwickelnden Ethik-Konzeption.280

Gefragt wird also gerade nicht „nach moralischen Implikationen von Literatur […], sondern vielmehr nach ethischen Entwürfen in literarischen Texten“;281 Literatur soll nicht einfach auf einen „Wissensvorrat“ reduziert werden, „den es zu analysieren gilt“.282 Das (post-)postmoderne Verständnis der Wechselwirkung zwischen Literatur und Ethik, das Waldows Studie zugrunde liegt, ist weit entfernt von Weyrauchs programmatischer Forderung nach einer moralischen realistischen Literatur, die er 1949 in der bereits erwähnten Formel „Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser“ gefasst hat.283

Dennoch ist eine Moral, wie sie Weyrauch postuliert, nicht einfach ein Gegenbegriff zu Ethik; beide Konzepte sind im Sinne von Levinas nicht trennscharf zu unterscheiden.284 Während „Moral“ stärker mit einem Set von Normen, ‚Sittlichkeit‘ und mit konkreten Handlungsanweisungen korreliert ist, ist Ethik ein Prozess der Aushandlung und des Dialogs, die sich eben narrativ konstituiert:285

Grundlegendes Spezifikum von Ethik scheint es demnach zu sein, dass sie sich als ein ständig zu erneuerndes Modell versteht, welches vom Subjekt selbst entworfen wird. Anders hingegen die Moral, die ein von außen gesetztes Wertesystem voraussetzt, an dem sich Teilnehmer einer gesellschaftlichen Ordnung abarbeiten und dem sie sich letztlich unterordnen. Moral erhebt Anspruch auf Normativität, Pflicht und Allgemeingültigkeit, während Ethik die Wollens- und Könnensansprüche des Individuums und den Moment der Selbstverpflichtung in den Mittelpunkt stellt.286

Die Ansätze, auf die Waldow sich bezieht, sind in diesem Sinne einer Ethik verpflichtet, die dauernd Gegenstand von Aushandlungen ist, und „verweigern […] sich dadurch einer festschreibenden Definition, die immer schon Ausdruck von (Diskurs)Macht wäre“.287 Da Ethik aber zugleich als das „Reflexionsorgan von Moral“ anzusehen ist, hat auch jede moralische Setzung ethisches Potential, was die Perspektive für die vorliegende Studie fruchtbar macht: Mit der Frage nach Moraldiskursen können die normativen Wertesysteme in den literarischen Texten beschrieben, untereinander korreliert und zugleich das ethische Potenzial der moralischen Reflexionen mitgedacht werden.

2.2.3 Identität und Alterität II: Das ‚absolut Andere‘

Die von Waldow herausgearbeitete Perspektive narrativer Ethik ist für die vorliegende Studie zudem insbesondere deshalb zentral, da es sich um eine „Ethik vom Anderen her“288 – bzw. wie der Titel sagt ‚als Begegnung mit dem Anderen‘ – handelt. Gerade dadurch, dass Ethik nur prozessual zu fassen ist, wird die Frage nach dem Umgang mit ‚dem Anderen‘ grundlegend, mit dem Ethik erst dialogisch ausgehandelt werden kann. Alterität erscheint hier nun nicht wie in NS-Moraldiskursen als Ort des Unmoralischen, sondern als Gegenüber zur ethischen Verständigung und Ziel ethischen Strebens. Neben der Aufforderung zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Sprache und zur aktiven Positionierung im Diskurs sieht Waldow darin den zweiten konstitutiven Aspekt der Theorien narrativer Ethik: „Für alle drei Autoren [Foucault, Butler, Levinas, Anm. N. W.] ist der Andere unerlässlich für die Konstitution des Subjekts, erst in der sozialen Beziehung zum Anderen erwacht das ethische Bewusstsein“.289 Die ethische Aufgabe sei es gemäß allen Ansätzen, „den herrschenden Diskurs von den Rändern der Andersheit her aufzubrechen und zu unterlaufen mit dem Ziel, die an ihm beteiligten Subjekte zu einer Neukonstitution aufzufordern.“290

Levinas’ Ansatz des „absolut Anderen“ hat dabei eine gesonderte Stellung; er könne, wie Waldow schreibt, „als programmatisch für die Zeit nach der Postmoderne gelesen werden.“291 Seine Argumentation erscheine

als radikale Weiterführung der Debatte um Ethik und Narration […]. Es ist in erster Linie Levinas, der für eine dezidiert narrative Ethik der Gegenwart herangezogen werden kann, da er in seinen Texten immer wieder darauf hinweist, dass die Ich-Konstitution allein in der sprachlichen Begegnung mit dem Anderen stattfindet.292

Identität entsteht so in diesem Sinne nicht in Abgrenzung, sondern gerade in der Begegnung mit dem ‚Anderen‘; das „Subjekt hat […] kein Sein außerhalb seiner Beziehung zum Anderen.“293 Levinas wendet sich damit gegen die abendländische Subjektphilosophie, die er in einem Gewaltzusammenhang verortet;294 er sieht Ethik als wichtigste Frage der Philosophen vor ontologischen Bestimmungen der Wahrnehmung und Identität an und will von den Beziehungen statt von den Subjekten ausgehen, um sich ihr zu nähern:

Die Anerkennung der Andersartigkeit des Anderen bewahrt seine Würde, er wird unantastbar. Darin liegt das ethische Moment der Begegnung. Der Andere wird nicht als Objekt wahrgenommen, sondern als ein unabhängig von meiner Wahrnehmung Seiender, der sich jeglicher Beschreibung durch das Subjekt entzieht.295

Ethisches Handeln bedeutet in diesem Sinne also nicht einfach eine Art ausgeprägte Toleranz für Abweichungen, sondern das positive Anerkennen von absoluter Alterität, die sich „meiner Beschreibbarkeit und gewaltsamen Zuschreibung entzieht“.296 Ethisch zu schreiben, ist im Sinne von Levinas die Vermeidung von Zuschreibungen und Eröffnung eines Dialogs, in dem „die Andersheit der anderen Rede anerkannt wird “.297 Das Subjekt kommt darin „dem Anderen nahe, indem es sich dem Anderen öffnet und seine festgeschriebene Identität verlässt.“298

Für die vorliegende Studie ist dieser Ansatz gerade deswegen so bemerkenswert, weil er den radikalen Gegenpol zu partikularistischen Moralsystemen darstellt, in denen Alterität die Begründung und das Ziel der Abwertung ist.299 Dass auch hier das ‚Andere‘ im Zentrum steht, zeigt auch von der anderen Seite her, wie fruchtbar der Fokus auf Identität und Alterität ist, wenn die literarischen Texter ergebnisoffen nach den ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen befragt werden sollen. Abschließend ist deswegen zu klären, welche literaturwissenschaftlichen Ansätze es gibt, um der Frage nach Verbindungen von Moralvorstellungen mit Identität und Alterität nachzugehen.

2.2.4 Identität und Alterität III: Strukturelle Dichotomien und diskursive Verknüpfungen

Ausgehend von Waldows postmodernem Ethikbegriff und dem Fokus auf Alterität in literarischen Texten bietet es sich an, sich für den konkreten Textzugriff an narratologischen und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu orientieren, die literarisch konstruierte Oppositionen fokussieren. Mit Foucault und Butler sind zentrale Grundlagentexte aus Waldows Theorie der narrativen Ethik auch für die Cultural Studies von zentraler Bedeutung. Zwar steht die vorliegende Studie schon durch den Untersuchungszeitraum der Nachkriegsliteratur nicht direkt in deren Tradition, kann aber durch die Bezugnahme darauf an einige gut ausgearbeiteten Zugänge und eine etablierte Terminologie anknüpfen.

Imagined Communities und Identitätspolitik

Die vorliegende Studie ist einem konstruktivistischen Identitätsbegriff im Sinne von Benedict Andersons Imagined Communities (1983) und Stuart Halls Reflexionen über die Prozesshaftigkeit kultureller „Identifikation“ verpflichtet.300 Postmoderne Subjekte konstituieren sich in diesem Verständnis als „fortlaufende[r] Prozess der Artikulation von Identifikationen auf Basis verschiedener, insbesondere auch medial vermittelter kultureller Ressourcen.“301 Demgemäß sind Vorstellungen nationaler, popkultureller, ethnischer und geschlechtlicher Identität anti-essentialistisch als Ergebnisse von gesellschaftlichen Zuschreibungen zu verstehen, die letztlich „nichts anderes als eine Erzählung, eine Art der Repräsentation“ sind.302

In diesem Sinne sollen im Folgenden die literarisch gestalteten „narrativen Identitätskonstruktionen“ und damit verbundenen „Alteritätskonstituierungen“303 in den literarischen Texten genauer beleuchtet werden. Vor allem die nationalen und ethnischen Zuschreibungen kultureller Identität stehen in der vorliegenden Studie im Zentrum, da sie bekanntermaßen auch in der nationalsozialistischen Propaganda eine hervorgehobene Rolle spielten; insbesondere Vorstellungen ‚des Fremden‘ sind es also, auf die hin die literarischen Texte der Gruppe 47 untersucht werden.

Wenn im Folgenden nach solchen Vorstellungen des ‚Anderen‘ oder ‚Fremden‘ und Identitätskonstruktionen in literarischen Texten der Gruppe 47 gefragt wird, dann aber selbstverständlich nicht mit der Erwartungshaltung, dass ihnen dieses postmoderne und postkoloniale Identitäts- und Alteritätsverständnis zugrunde liegt oder liegen sollte. Das Bewusstsein um die Prozesshaftigkeit von Identitätskonstruktionen muss aber schon deswegen mit bedacht werden, um essentialistische Zuschreibungen in der vorliegenden Arbeit zu vermeiden; wenn in diesem Sinne vom ‚Eigenen‘ – in der Gruppe 47 oft deutsche Angehörige der Tätergesellschaft – die Rede ist, dann ist das immer bereits als Analyseergebnis zu verstehen im Sinne dessen, dass der Text dieses ‚Eigene‘ als solches konstruiert hat. In diesem Sinne werden die entsprechenden Zuschreibungen auch durchgehend in einfachen Anführungszeichen geschrieben.

Dabei interessiert im Folgenden also weniger die ‚strategische‘ Identitätskonstruktion im Sinne Pierre Bourdieus, durch die sich die Akteure der Gruppe 47 als Subjekte im literarischen Feld positionieren.304 Es geht um kulturelle Selbstzuschreibungen und deren Korrelation mit Moral, und erst wenn diese wiederum mit Moraldiskursen aus dem Nationalsozialismus korrelieren, können Aussagen über NS-Kontinuitäten getroffen werden. Dabei ist im Sinne des partikularen Moraldiskurses im Nationalsozialismus insbesondere die Partikularisierung dieser Vorstellungen und ihre Abgrenzung gegenüber ‚Anderen‘ zentral, sodass neben der Konstruktion von Identität auch die Konstruktion von Alterität in den Blick geraten muss.

Othering und manichäische Weltbilder

Othering ist bereits unabhängig von Moraldiskursen grundlegend für die Frage nach NS-Kontinuitäten, da auch den rassistischen und antisemitischen Zuschreibungen im Nationalsozialismus dieses Prinzip zugrunde lag. Lajos Brons zitiert eingangs seiner Studie über Othering ein Zitat der kroatischen Journalistin Slavenka Drakulić:

I understand now that nothing but ‚otherness‘ killed Jews, and it began with naming them, by reducing them to the other. Then everything became possible. Even the worst atrocities like concentration camps or the slaughtering of civilians in Croatia or Bosnia.305

In diesem Sinne werden die negativen Alteritätskonstruktionen in den literarischen Texten der Gruppe 47 auch in dieser Studie insgesamt als relevant für die Frage nach NS-Kontinuitäten eingeschätzt, da der Unterschied zwischen ‚gutem‘ und ‚schlechten‘ Othering nicht sinnvoll gezogen werden kann: Brons’ Analyse, die der Frage nach dieser Unterscheidung nachgeht, ergibt, dass Othering immer mit einer Abwertung einhergehen muss, außer wenn der ‚Andere‘ als „radically alien“ wahrgenommen wird:306 auch scheinbar „sophisticated othering“ erweist sich so größtenteils als „crude“,307 wenn es Festschreibungen des ‚Anderen‘ beinhaltet.308

Diesen Zusammenhang zeigen auch gegenwärtige Nationalismus-, Rassismus-, Queer- oder Gendertheorien auf,309 und bereits in Martin Gubsers Theoretisierung von literarischem Antisemitismus wird deutlich, wie eng Othering im Sinne einer strengen Unterscheidung zwischen Eigenschaften des ‚Eigenen‘ und Eigenschaften der ‚Anderen‘ oder ‚Fremden‘ mit einer moralischen Abwertung verbunden ist. Wie er zeigt, sind die von ihm so genannten „manichäische[n] Grundmuster“310 ein grundlegendes Moment der Konstruktion antisemitischer literarischer Fiktionen: Man dürfe annehmen, dass es sich „beim Antisemitismus um eine stark ‚manichäisch‘[…] geprägte Anschauung handelt, die sich […] auch auf textueller Ebene nachweisen lassen muß.“311 „Manichäismus“ fasst er nicht als religiöses, sondern als philosophisches Konstrukt,312 wie es bereits Jean-Paul Sartre in seinen „Betrachtungen der Judenfrage“ (1948) beschreiben hat: „Er erklärt den Lauf der Welt durch den Kampf des Guten mit dem Bösen. Zwischen diesen beiden ist kein Ausgleich möglich. Der eine muß siegen, der andere untergehen.“313 Gubser spezifiziert, dass er den Begriff dem des „Dualismus“ vorziehe,314 weil er implizieren wolle,

daß sich nicht nur zwei Kräfte gegenüberstehen, sondern auch, daß die eine von diesen Kräften als ‚Prinzip‘ des Lichts und die andere als ‚Prinzip‘ der Finsternis gemeint ist. Aufgrund dieser Unterscheidung scheint mir ‚Manichäismus‘ die Abwertung, die jüdische Figuren in Werken mit manichäisch-antisemitischer Grundstruktur erfahren, besser zum Ausdruck zu bringen.315

Bei manichäischen Weltbildern handelt es sich quasi um die radikalste Form von partikularer Moral und von Othering, da jegliche ‚unmoralische‘ Verhaltensweisen auf das ‚Andere‘ ausgelagert sind, das als das ‚böse Prinzip‘ erscheint. Die Annahme in der folgenden Studie ist nun, dass sich durch Othering partikulare Moralsysteme auch weniger umfassend äußern können, in Dichotomien einzelner moralischer Diskurse, in Bezug auf moralische Deutungshoheit oder Mitleid; weniger umfassende Konfigurationen, die für die vorliegende Studie ebenfalls von Interesse sind.

Strukturelle Oppositionen und Moral

Methodisch heißt das, dass der Blick zunächst auf narrative Identitäts- und Alteritätskonstruktionen und damit auch auf narrativ konstruierte Oppositionen gelenkt wird. Damit schließt sich der Kreis zu den bereits aufgebrachten narratologischen Aspekten. Klassische narratologische und kulturwissenschaftliche Fragen nach literarisch konstruierten binären Oppositionen und Differenzen dienen als methodische Grundlagen, um deren Zusammenhang mit Wertzuschreibungen herauszuarbeiten. Neben den am nächsten liegenden Fragen nach relevanten Gattungsmerkmalen und stereotypen Zuschreibungen ‚des Fremden‘ wird deswegen (wie eingangs zitiert von Mieth vorgeschlagen) auch unter anderem nach verschiedenen Perspektiven in den Texten und möglicher Polyphonie gefragt, das heißt nach den Erzählstimmen, nach Reflexionen „sinnbildende[r] und / oder ordnende[r] Funktionen“316 oder nach Außenseiterperspektiven.317 Zudem spielen die Figurenkonstellationen und raumsemantischen Konstruktionen der Texte318 eine wichtige Rolle – Aspekte, die Gubser als ‚textstrukturelle Ebene‘ fasst.

Auf diese Weise strukturalistisch an die Texte heranzugehen, bietet sich auch deswegen an, weil die „Hauptstärke des (Post-)Strukturalismus“, wie Hall schreibt, darin zu sehen sei, dass er es ermögliche, „über die Beziehungen innerhalb einer Struktur nachzudenken, […] ohne sie auf bloße Beziehungen zwischen Personen zu reduzieren.“319 Das gilt für die vorliegende Studie im besonderen Maße, da sie nicht die Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 infrage stellen soll, die solche Oppositionen narrativ konstruieren; die entsprechenden Mechanismen aber dennoch aufzeigen und auch nicht verharmlosen will.

In Bezug auf die Fragestellung nach NS-Kontinuitäten unmittelbar relevant ist deswegen auch erst ein zweiter Schritt, in dem die diskursive Verortung solcher narrativ konstruierten Oppositionen beleuchtet wird. Literatur wird als Interdiskurs im Sinne von Jürgen Link (1988) verstanden, in dem Zuschreibungen von Identität und Alterität mit Vorstellungen von moralisch ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Handeln oder moralischem Wert verknüpft sein können. Erst ausgehend von solchen moralischen Zuschreibungen ist die Frage zu stellen, ob und inwiefern die Wertesysteme in den Texten mit Moraldiskursen des Nationalsozialismus in Bezug stehen. Auch von dieser Seite her hat die Studie insofern ein kritisches Potenzial, als Moral im Sinne von Link zugleich eine Form hegemonialen Drucks sein kann320 und nach Fortsetzungen gewaltsamer NS-Moraldiskurse gefragt wird.321 Da Moral zugleich auch die wichtigste Ausdrucksform ethischer Reflexionen ist,322 kann der Fokus auf ihre diskursiven Verknüpfungen mit Identitäts- und Alteritätskonstruktionen aber zugleich den Texten zugrunde liegende Ethiken erhellen, die sich gerade in dezidierter Distanz zu diesem Aspekt der NS-Ideologie positionieren.

2.3 Die ‚Literatur der Gruppe 47‘: Was ist das und wer schrieb sie?

Man spricht oft von der Literatur der Gruppe 47, aber eine solche Literatur gibt es nicht und hat es nie gegeben.323

Wenn man den literarischen oder den kritischen, aber auch oft den politischen Maßstäben nicht gewachsen war oder den ‚Traditionen‘ und der Mentalität dieser Gruppe nicht gerecht werden konnte, dann wurde die Einladung nicht wiederholt.324

Diese beiden Zitate unterschiedlicher Gruppe-47-Mitglieder aus verschiedenen Jahrzehnten nebeneinanderzustellen, erscheint zunächst etwas ‚unlauter‘; Richter hat im Jahr 1962 mit letzterem Zitat selbstverständlich nicht Reich-Ranickis zuerst zitierter Aussage aus einem Spiegel-Interview von 1997 widersprochen. Die beiden Aussagen stecken aber die beiden Pfeiler ab, zwischen denen die Frage nach Wertvorstellungen in ‚der‘ Literatur der Gruppe 47 sich in der vorliegenden Studie bewegt: Einerseits ist die starke Heterogenität der Gruppe 47 und ihrer literarischen Texte zu berücksichtigen, andererseits auch Richters klares Verständnis davon, wer zur Gruppe 47 gehörte und wer nicht und mit welcher Haltung das korreliert.

Der beschriebene kulturwissenschaftliche Blick auf die Texte legt es nahe, das zweite Zitat als eine Art Widerspruch zum ersten zu verstehen: Hier wird davon ausgegangen, dass sich die von Richter behauptete gemeinsame ‚Mentalität‘ trotz aller stilistischer Unterschiede und literarischer Entwicklungen dennoch in den literarischen Werken der wichtigsten Autoren/-innen niederschlagen sollte, und dies wegen ihrer Beständigkeit auch während der ganzen Bestehenszeit der Gruppe 47.325 Damit genauer beleuchtet werden kann, um welche Mentalität es sich handelt und wie sie sich zum Nationalsozialismus verhält, ist hier abschließend noch die Frage zu klären, welche Autorinnen und Autoren und welche Texte in diesem Zusammenhang überhaupt relevant sind.

Bereits die Ausmaße der Gruppe 47 stellen eine literaturwissenschaftliche Analyse nämlich vor Schwierigkeiten: Die Gruppe hat über 20 Jahre lang regulär bestanden, von der unmittelbaren Nachkriegszeit über die wirtschaftlichen ‚Wunderjahre‘ bis zum politischen Umsturz der späten 60er Jahre, durch eine Reihe verschiedener historischer Kontexte, gesellschaftlicher und medialer Entwicklungen. In dieser Zeit hat sie 31 Mal getagt, der Kreis der Eingeladenen wurde über lange Jahre erweitert, auch später haben sich die Mitglieder bis in die 90er Jahre sporadisch weiterhin getroffen. Meyer (2013) verzeichnet dementsprechend 200 Autoren/-innen,326 ein Vielfaches an Teilnehmern/-innen,327 die irgendwann in dieser Zeitspanne an den Gruppe-47-Tagungen beteiligt waren.

Entsprechend viele Texte wurden auf Gruppentagungen gelesen. Richter spricht bereits in seinem Almanach-Vorwort 1962 von „fast über vierhundert Lesungen“.328 Artur Nickel (1994) hat Informationen zu ungefähr 550 Erzählungen, Roman- oder Dramenkapiteln, Hörspielen und Gedichtkonvoluten zusammengetragen, die auf Tagungen gelesen wurden,329 und selbst bei ihm sind die Lesungen – besonders, aber nicht nur aus den ersten Jahren – nur unvollständig dokumentiert. Gemäß seiner Schätzung, dass er ca. 80 % aller Lesungen ermitteln konnte,330 kämen noch einmal weitere rund 100 Texte dazu. Nicht nur war die Zahl der Lesungen schon sehr groß, obwohl nicht alle dokumentiert sind; dazu kommt noch, dass auch von den dokumentierten Texten viele nie publiziert wurden oder heute vergriffen sind. Eine Beschaffung und Sichtung der gesamten Literatur der Gruppe 47 im weitesten Sinne aller auf Tagungen gelesener Texte wäre nach wie vor ein eigenes großes Forschungsprojekt.

Hier sollen nun in Anbetracht dieser Erwägungen nur die wichtigsten und einflussreichsten Texte untersucht werden – wozu zunächst geklärt werden muss, wer als die wichtigsten und einflussreichsten Mitglieder galten, welche Autorinnen und Autoren für die Fragestellung der vorliegenden Studie relevant sind und schließlich, welche Texte als besonders repräsentativ für die Gruppe 47 gelten können.

2.3.1 Teilnehmer/-innen aus dem ‚innersten Kreis‘

Hans Werner Richter hat immer ein Geheimnis darum gemacht, wer wirklich zur Gruppe 47 gehörte; so betonte er schon 1955 in einem Radio-Interview, sie sei „keine Organisation. Es gibt keine Mitglieder. Es gibt keinen Präsidenten. Es gibt eben entsprechend keine Statuten und keine Beiträge.“331 Auch Marcel Reich-Ranicki hebt im oben bereits anzitierten Interview aus den 90er Jahren hervor, dass es nie eine Mitgliederliste gegeben habe: „Richter sagte gern: ‚Wer Mitglied ist, weiß nur ich, aber ich sage es niemand.‘ Er entschied über die Zugehörigkeit.“332 Zu dieser Darstellung gehört auch die Behauptung, die Gruppe sei gar keine wirkliche Gruppe, die Bezeichnung sei „durch Zufall entstanden. Es ist ein Freundeskreis […]“,333 wie Richter im Interview von 1955 formuliert. Hans Magnus Enzensberger schrieb ebenfalls in diesem Sinne in seinem bekannten Almanach-Essay „Die Clique“,334 die Gruppe sei „eigentlich nichts anderes als ihre eigene Tagung“, wenn diese vorbei sei, löse sie sich „in einen Schwarm von Individuen auf“, sodass sie „an 362 Tagen des Jahres […] nur virtuell vorhanden“ sei.335

Trotz solcher Darstellungen ist man sich heute aber relativ einig, dass es, wie in Arnolds Text-und-Kritik-Band zur Gruppe 47 (2004b) formuliert ist, dennoch ein „nicht allein auf die Treffen beschränkte[s] ‚Wir-Gefühl‘“ gab,336 das auch von anderen Autoren und Autorinnen getragen wurde, nicht nur von Richter; „ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl“ der Gruppe-47-Mitglieder.337 In Richters Nachwort zum Etablissement der Schmetterlinge (1986) wird bereits deutlich, dass die diesbezügliche Selbstwahrnehmung ambivalent war. Richter betont hier zwar erneut, es habe keine Mitglieder gegeben, weist aber auch auf die sehr spezifische Mentalität hin, die Zugehörigkeit eben doch zu definieren scheint:

Man kann den Eindruck gewinnen, dies sei ein fluktuierender Kreis von Freunden gewesen, aber es war nicht so, der Kern blieb immer erhalten, war immer da, diese Freundschaften der ersten Nachkriegsjahre hielten über zwanzig Jahre hinweg. Es war in jenen jungen Leuten der Kriegsgeneration wohl eine Mentalität entstanden, die unzerstörbar war. Nur so ist dies und die zähe Haltbarkeit der ‚Gruppe 47‘ zu erklären. Es war deswegen auch nicht nötig, irgend etwas zu gründen. Wir brauchten keine Statuten, keinen Verein, keine Abmachungen, um zusammenzubleiben und zusammenzuhalten. Sowenig wie es Mitglieder gegeben hat, sowenig hat es einen Gründer oder hat es Mitbegründer gegeben. Alles entstand so, entwickelte sich – ich sage das gern – organisch, nach einem ungeschriebenen Gesetz, wenn es so etwas gibt.338

Auf diese etwas widersprüchlich scheinende Definition von Gruppenzugehörigkeit ist weiter unten in diesem Kapitel noch einmal einzugehen, weil sie auch hinsichtlich der Frage nach Fortsetzungen von Vorstellungen aus dem Nationalsozialismus bemerkenswert ist.339 Zunächst aber wird deutlich, dass sich die Mitgliedschaft in der Gruppe 47 zumindest rückblickend anhand solcher Zuschreibungen eben doch herleiten lässt, auch wenn niemand aktiv ‚beigetreten‘ ist. Dieser Meinung war nicht nur Richter selbst. Schon Fritz J. Raddatz schrieb beispielsweise bereits 1962 im Almanach-Vorwort, stilistisch zeichne sich eine „gewisse Neuorientierung“ seit den frühen Texten der Gruppe 47 ab, die ein „Aufschreien ohne Schrei“ gewesen seien,340 sie seien aber auch „notwendige moralische Befreiungen“ gewesen, und: „wenn die Gruppe 47 heute noch irgendeine politische Substanz hat, dann bezieht sie sie dort. Das ist das Elternhaus.“341

In diesem Sinne haben verschiedene Mitglieder und vor allem Richter selbst in Interviews und Essays auch immer wieder konkrete Angaben darüber gemacht, wer zu ihrem ‚Freundeskreis‘ gehöre. Davon sollen nur die wichtigsten kurz erwähnt werden, um einen groben Eindruck zu vermitteln. Allen voran dürfte Richters jüngste Auswahl, nämlich der gerade zitierte Band Etablissement der Schmetterlinge aus dem Jahr 1986, als repräsentativ gesehen werden. Hier zeichnet Richter, so der Untertitel, „Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47“.342 Diese anekdotisch gehaltenen Beschreibungen und Erinnerungen widmet er Aichinger, Amery, Andersch, Bachmann, Böll, Dor, Eich, Enzensberger, Grass, Hildesheimer, Höllerer, Jens, Johnson, Kaiser, König, Kolbenhoff, Mayer, Reich-Ranicki, Schnurre, Walser und Weiss.343 Im Nachwort schränkt er aber ein, es gebe keine klaren Gründe, „warum ich gerade über diese einundzwanzig Autoren geschrieben habe und nicht über andere. Jemand könnte meinen, dies sei eine Auslese, aber das ist es nicht.“344 Wie er schreibt, hätte er noch 21 weitere Autorinnen und Autoren nennen können;345 er erwähnt im Folgenden auch tatsächlich noch zahlreiche weitere Mitglieder, die er für zentral hält346 und die ihm gemäß „alle […] zum ersten Kreis der ‚Gruppe 47‘“ gehört hätten;347 „viele blieben ihr bis zum Schluß treu.“348 Neben dieser wichtigsten Quelle können unter anderem auch Briefe Richters349 konsultiert werden, Interviews350 oder unvollständige Listen in verschiedenen Berichten über die Gruppe;351 die früheste Aussage über Mitglieder der Gruppe 47 stammt bereits aus deren Gründungsjahr.352

Entsprechend zahlreich und teilweise widersprüchlich wurden die Mitglieder der Gruppe 47 auch in der Forschungsliteratur verzeichnet. So ist im Anhang von Arnolds Gruppe-47-Sonderband Text und Kritik (2004b) eine ausführliche Liste von 119 als „Gruppenmitglieder“ bezeichneten Personen enthalten,353 von denen noch einmal 124 „Gäste der Gruppe 47“ unterschieden werden.354 An einer anderen Stelle des Bands (der wegen seiner mehrfachen Autorschaft einige interne Widersprüchlichkeiten aufweist)355 ist dagegen eine Liste zusammengestellt worden, die nach Generationen des Beitritts und nach ‚Beständigkeit‘ der Mitgliedschaft unterscheidet.356 Hier sind nun bloß noch zehn Namen genannt, die zum „beständigsten Teil“ der Gruppe gehören, da sie „von den Anfängen bis weit in die sechziger Jahre hinein mit einer gewissen Regelmäßigkeit anwesend“ gewesen seien;357 nämlich neben Richter selbst Böll, Dor, Eich, Hildesheimer, Jens, Lenz, Mannzen, Weyrauch und Schnurre.358 Dazu kommen 46 weitere Namen, die entweder „in den ersten Jahren ständig, seit Mitte der fünfziger Jahre jedoch nicht mehr dabei waren“,359 die sich „seit Beginn der sechziger Jahre zurückziehend“ zeigten,360 „seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre neu hinzugekommen und in der Gruppe teilweise dominierend“361 waren oder „zu Beginn der sechziger Jahre die neue Generation, die bis zum Ende das Bild der Gruppe mitprägte“,362 waren.363

In seiner Monografie hat sich Arnold dann auf 28 Namen beschränkt, die er als die „wichtigsten Autoren und Kritiker der Gruppe 47“ auflistet.364 Damit bleibt er nach wie vor sehr nahe an Richters Auswahl in Etablissement der Schmetterlinge, die er um Becker, Bichsel, Bobrowski, Fried, Handke, Heißenbüttel, Lenz, Raddatz und Richter selbst ergänzt (also neben Richter alles Personen, die dieser alle auch im Nachwort der Schmetterlinge erwähnt hat); nur Bachmann, Dor und Mayer, die von Richter in Etablissement der Schmetterlinge porträtiert wurden, lässt Arnold erstaunlicherweise weg.365 Diese Synthese dieser beiden Listen, ergänzt um die in Arnolds Sammelband identifizierte Gruppe derer, die über die ganze Bestehenszeit relativ regelmäßig anwesend waren,366 dürfte nun also diejenigen 33 Autorinnen und Autoren umfassen, über deren Zugehörigkeit zur Gruppe alles in allem die wenigsten Differenzen bestanden:

Ilse Aichinger (*1921), Carl Amery (*1922), Alfred Andersch (*1914), Ingeborg Bachmann (*1926), Jürgen Becker (*1932), Peter Bichsel (*1935), Johannes Bobrowski (*1917), Heinrich Böll (*1917), Paul Celan (*1920), Milo Dor (*1923) Günter Eich (*1907), Hans Magnus Enzensberger (*1929), Erich Fried (*1921), Günter Grass (*1927), Peter Handke (*1942), Helmut Heißenbüttel (*1921), Wolfgang Hildesheimer (*1916), Walter Höllerer (*1922), Walter Jens (*1923), Uwe Johnson (*1934), Joachim Kaiser (*1928), Barbara König (*1925), Walter Kolbenhoff (*1908), Walter Mannzen (*1905), Hans Mayer (*1907) Siegfried Lenz (*1926), Fritz J. Raddatz (*1931), Marcel Reich-Ranicki (*1920), Hans Werner Richter (*1908), Wolfdietrich Schnurre (*1920), Martin Walser (*1927), Peter Weiss (*1916), Wolfgang Weyrauch (*1904).367

Dazu kommen aber zahlreiche weitere Autorinnen und Autoren, die über lange Zeit, je nach Perspektive oder je nachdem, wen man gefragt hat, ebenfalls zum engsten oder engeren Kreis oder zumindest zu den Mitgliedern gewählt wurden; sonst hätten schließlich nicht die erwähnten ausführlichen Listen in Arnolds Sammelband (2004b) mit über 100 und die Liste von Meyer (2013) mit sogar 200 Autoren/-innen der Gruppe 47 entstehen können. Es gibt Namen, die nicht zu jedem Zeitpunkt oder nicht von allen Mitgliedern zum Kern gezählt oder in manchen Aufzählungen vergessen wurden, weil sie eher am Rand des ‚innersten Kreises‘ standen; so vor allem viele frühe Mitglieder wie Horst Mönnich, Heinz Friedrich oder Franz Joseph Schneider. Zudem gibt es Widersprüche; zum Beispiel zählt Raddatz in Arnold 2004b nur zu den Gästen,368 Richter erwähnt ihn im Nachwort der Schmetterlinge als Mitglied369 und in seiner Monografie hat ihn Arnold (2004) sogar in seine Liste der wichtigsten 28 Autoren und Kritiker aufgenommen.370

Es wird deutlich, dass der hier zusammengetragene Überblick keineswegs einfach als verbindlich oder abschließend anzusehen ist. Er soll nur einen Eindruck vermitteln, inwiefern solche und ähnliche Informationen im Weiteren als Hinweis darauf dienen können, ob sich die Untersuchung von Texten einzelner Autoren/-innen im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit lohnt, und im Verlauf der Argumentation kann darauf zurückgegriffen werden; vom innersten Kern abgesehen, handelte es sich aber tatsächlich um einen eher „fluktuierende[n] Kreis von Freunden“.371

2.3.2 Die relevanten Autoren/-innen-Jahrgänge

Die gerade zusammengetragene Liste der wichtigsten Gruppenmitglieder weist auf einen offenbar relativ zentralen Aspekt hin, der die Gruppenzugehörigkeit neben ‚mentalitären‘ Aspekten beeinflusst zu haben scheint: Nämlich der Jahrgang. Von den 33 Namen, die als wichtigste Mitglieder gezählt werden können, sind nur vier später als 1930 geboren, nämlich Jürgen Becker (*1932), Peter Bichsel (*1935), Peter Handke (*1942) und Uwe Johnson (*1934) – dies obwohl sehr viele junge Mitglieder wie Handke erst Anfang / Mitte der 40er Jahre geboren sind,372 und bereits seit den frühen 60er Jahren größere Tagungen mit entsprechend vielen jüngeren Autorinnen und Autoren stattfanden.373 Da sie dennoch bis zuletzt zum ‚inneren Kreis‘ zählten, wird sich die vorliegende Studie auf diejenigen Autorinnen und Autoren beschränken, die vor 1930 geboren sind – wie kurz umrissen werden soll, bietet sich diese Auswahl sowohl angesichts des Selbstverständnisses der Gruppe 47 als auch angesichts der Frage nach NS-Kontinuitäten an.

Das Selbstverständnis zeichnet sich schon in Richters zahlreichen bis hier erwähnten Definitionen des ‚inneren Zusammenhalts‘, ‚ideellen Ausgangspunkts‘ oder der ‚Mentalität‘ der Gruppe 47 ab. In Etablissement der Schmetterlinge betont er, die „zähe Haltbarkeit der ‚Gruppe 47‘“ komme daher, dass „in jenen jungen Leuten der Kriegsgeneration“ eine „unzerstörbar[e]“ Mentalität entstanden sei und dass die Leute mit dieser Mentalität den „Kern“ der Gruppe bilden würden.374 Bereits im Almanach hält er fest, man sei in der Gruppe 47 dann „unter sich“, wenn alles dem „Geist der ersten Jahre“, das heißt der unmittelbaren Nachkriegszeit, entspräche.375 Und in diesen ersten Jahren hätten die Mitglieder nun keinesfalls älter als Jahrgang 1930 und damit 17 Jahre alt sein können. Diese Altersgrenze – an die sich Richter wie gesehen auch tatsächlich noch im Jahr 1986 gehalten hat, als er aus großer Distanz die wichtigsten Mitglieder auflistete – korreliert zudem mit einer der wichtigsten und ersten Quellen zur Frage danach, wer zur ‚jungen deutschen Generation‘ der Nachkriegszeit gehöre: Gemäß Anderschs bereits einleitend zitiertem Essay zählen dazu nämlich

Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gefangenschaftserlebnis, das eingesetzte Leben also […].376

Damit sind, da der Essay aus dem Jahr 1946 stammt, die Jahrgänge zwischen 1911 und 1929 gemeint. Die ‚junge Generation‘ wird dadurch auf diejenige Altersgruppe festgelegt, die frühestens im Jahr 1931 aktiv- und erst 1936 passiv wahlberechtigt war,377 das heißt auch zum Zeitpunkt der ‚Machtergreifung‘ politisch noch nicht vollständig mündig war.378 Es handelt sich also um jene Gruppe im Nachkriegsdeutschland, die sicherlich nicht vorrangig für Nationalsozialismus und Krieg verantwortlich war, aber dennoch den Krieg bereits bewusst erlebt hat und eingezogen werden konnte; die sich also wirklich gegebenenfalls ‚unschuldig schuldig‘ machen mussten.

Insbesondere das bewusste Erleben des Kriegs steht für Richter auch noch in seinem langen Rückblick-Essay „Wie entstand und was war die Gruppe 47“ (1979) nicht nur in Bezug auf die junge Generation, sondern in Bezug auf die gesamte Gruppe 47 im Zentrum: Über die „erste Wende der Entwicklung“379 der Gruppe 47 in Niendorf 1952 mit den Lesungen von Aichinger, Bachmann oder Celan betont er, diese neuen Mitglieder seien „die Jugendlichen des Dritten Reiches“ gewesen, „die die Barbarei des Faschismus im eigenen Leben schmerzlich erfahren hatten.“380 Auch die in den darauffolgenden Jahre dazustoßenden Autoren und Autorinnen beschreibt er primär über deren Bezug zum Nationalsozialismus; sie seien bei der Machtübernahme „drei oder vier Jahre alt oder gerade geboren, als der Krieg zu Ende ging und das Dritte Reich zusammenbrach, waren sie noch Schüler wie Hans Magnus Enzensberger oder gehörten zum letzten Aufgebot wie Günter Grass.“381

Er wundert sich darüber, dass diese jüngere, mehrheitlich von der Universität kommende Generation – erwähnt werden hier zum Beispiel auch Walser und Kaiser – sich in die Gruppe integrieren konnte; betont zunächst, wie „sehr viel agiler, schneller und präziser in ihren Reaktionen“ sie waren als die Älteren; sie hätten „alles parat“ gehabt, „jedes Zitat, jeden Vergleich und die oft spielerische und artistische Möglichkeit, alles einzuordnen“.382 Dennoch hätten sie sich problemlos eingefügt – was er sich wie folgt erklärt:

Was sie darüber hinaus mit uns verband, war […] die gleiche Mentalität, die man oberflächlich als links bezeichnen kann. Es bleibt trotzdem erstaunlich, daß diese Generation sich ganz ohne Opposition integrieren ließ. Ich glaube, es gibt nur eine Erklärung dafür: Obwohl sie die Kinder des Krieges waren, war für sie die entscheidende Erlebniswelt das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg, wie auch für viele von uns.383

Die ‚junge Generation‘ aus Anderschs Definition und der ‚innere Kreis‘ der Gruppe 47, den Richter über die gesamte Bestehenszeit der Gruppe als mentalitär zugehörig verstanden haben – und die bis heute in der Forschungsliteratur als wichtigste Mitglieder gelten –, sind damit altersmäßig fast deckungsgleich. Mit diesen Feststellungen soll nun nicht impliziert werden, die Gruppe 47 habe die gesamte ‚junge Generation‘ umfasst,384 auch nicht, alle Mitglieder der Gruppe 47 würden diesen Jahrgängen angehören. Wichtig ist aber, dass von Anderschs frühem Ruf-Essay von 1946 bis hin zu Richters spätesten Stellungnahmen zur Gruppe 47 im Rückblick-Essay von 1979 und im Nachwort zum Etablissement von 1986 die ‚Kern‘-Identität, die die Gruppe ausmachen soll, damit in Bezug steht, im Krieg dabei gewesen zu sein.

Und im Krieg bewusst dabei gewesen zu sein, ist nun naheliegenderweise wiederum auch hinsichtlich der Frage nach NS-Kontinuitäten in der vorliegenden Studie von Bedeutung. Bereits Widmer stellt in seiner Dissertation von 1966 diesen Zusammenhang her, er wählt sogar eine engere Definition der ‚jungen Generation‘ als diejenige Anderschs, wenn er sich auf Autoren/-innen konzentriert,

die bei Kriegsende zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt waren. Sie sind 1915 und später geboren und bildeten sich, ob sie wollten oder nicht, sprachlich in der Luft des ‚Dritten Reiches‘. Für sie war das Jahr 1945 wirklich ein Jahr Null.385

Widmer geht es hier also um die ‚generationelle‘ Prägung, die in sehr ähnlicher Weise auch noch Gross und Konitzer implizieren, wenn sie die Fortsetzung partikularer Moral in Martin Walsers Friedenspreisrede damit erklären, er habe der Generation angehört, die „die Maßstäbe der für den Nationalsozialismus charakteristischen partikularen Moral in ihrer Kindheit erlernt hat.“386 In der vorliegenden Studie wird zwar nicht a priori davon ausgegangen, dass der Nationalsozialismus die entsprechenden Jahrgänge entscheidend geprägt hat,387 aber das entsprechende Untersuchungsinteresse, dem anhand konkreter Analysen nachgegangen werden soll, kommt nicht zuletzt aufgrund dieser naheliegenden Hypothese zustande.388 Und auch im Sinne historiografischer Theorien über NS-Kontinuitäten rechtfertigt es sich wie gesagt dann am deutlichsten, von Kontinuitäten zu sprechen, wenn direkte Linien in der Biografie einer Person nachgezeichnet werden können.389

Deswegen erscheint es auch in der vorliegenden Untersuchung sinnvoll, wenn die untersuchten Autorinnen und Autoren die Zeit des Nationalsozialismus bewusst wahrgenommen haben können, was auch von dieser Seite her die Altersgrenze Jahrgang 1930 nahelegt.390 Da es in der vorliegenden Studie nicht um eine jugendliche Infiltration wie bei Widmer391 oder um Zuschreibungen von Schuld wie in Anderschs Definition392 geht, sondern um die allfällige diskursive Fortsetzung von NS-Werten – die weniger nach 1945, aber durchaus auch schon vor 1933 erlernt worden sein können – spielt die Altersgrenze gegen oben hier keine Rolle. Anders als im Ruf, den Widmer untersuchte, ist die Altersgrenze gegen oben in der Gruppe 47 sowieso relativ eng gesteckt; das älteste Mitglied der ‚wichtigsten‘ und frühen Mitglieder ist mit Jahrgang 1904 Wolfgang Weyrauch; auch er war 1933 erst 29 Jahre alt. Die Untersuchung wird also auf diejenigen Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 beschränkt, die a) die Zeit des Nationalsozialismus zumindest partiell auch in Deutschland oder in von Deutschland besetzen Gebieten verbracht haben und b) vor 1930 geboren sind.

Da die Autoren/-innengruppen innerhalb der Gruppe 47 wie gesehen in der Sekundärliteratur bisher meistens nicht nach Jahrgängen, sondern nach der Chronologie der Teilnahme, dem Zeitpunkt der ersten Lesung oder der Distanzierung von der Gruppe unterteilt wurden, müssen die Begrifflichkeiten zur Einordnung der Gruppenmitglieder hier etwas genauer definiert werden,393 wobei auf die bereits bestehende Terminologie auch in der vorliegenden Studie zurückgegriffen wird. Meistens wird die Ruf- oder Gründergeneration unterschieden, die auch als erste Generation bezeichnet werden kann; dazu werden meist, und auch in der vorliegenden Studie, die etwas später dazugestoßenen Autoren wie A. G. Bauer oder H. G. Brenner gezählt;394 also alle, die in der Konstituierungsphase der Gruppe dazugekommen sind. Als zweite Generation gelten die allmählich in den 50er Jahren dazugekommenen Autoren/-innen und Kritiker wie Aichinger und Bachmann, Kaiser, Walser, Enzensberger oder Grass.395 Die späten Generationen, die nach dem ‚Wendejahr‘, als die Gruppe den Höhepunkt ihrer Popularität erreichte, oder in der Spätphase dazukamen, spielen in der vorliegenden Studie schließlich keine große Rolle mehr, da sie zu großen Teilen nach 1930 geboren sind – wobei mit Heinz v. Cramer (*1924) beispielsweise auch ein Autor zu diskutieren sein wird, der erst 1961 zur Gruppe gestoßen ist.396

Ausgehend von diesen chronologischen Gruppen werden nach wie vor auch die wichtigsten inhaltlichen Schlüsse gezogen, so wenn Böttiger über die Tagung im Jahr 1953 in Mainz schreibt:

Diese zweite Generation der Gruppe 47 prägte das Bild ihrer Institution viel stärker als die Gründergeneration um Richter. Kaisers Ablehnung eines Autors wie Mehring war rein ästhetisch begründet. Mehring und Richter standen, obwohl der eine Emigrant, der andere ein deutscher Soldat gewesen war, auf der anderen Seite. Und Kaiser ist in seinen ästhetischen Prämissen ohne Weiteres mit dem Emigranten Thelen zu verbinden. Man sollte Richters Ressentiments, die auch in seinem umfangreichen Briefwechsel manchmal aufblitzen, also keineswegs mit der Gruppe gleichsetzen.397

Angesichts der erwähnten Diskussion um Walter Mehring (*1896) meint Böttiger mit Ressentiments hier die Ablehnung der Exilautoren und die Antisemitismen im Briefwechsel.398 Zu seiner impliziten Annahme, dass die ‚neue‘ Generation in diesen Hinsichten grundsätzlich anders eingestellt gewesen sei als die Gründergeneration, kommt Böttiger aufgrund der Selbstaussage von Kaiser im Interview mit der Akademie der Künste 1988399 sowie, wie gerade zitiert, aufgrund dessen, dass Kaiser „in seinen ästhetischen Prämissen ohne Weiteres mit dem Emigranten Thelen zu verbinden“ sei. Er zieht also ästhetische und chronologische Argumente heran, um möglicherweise antisemitische oder diskriminierende Motive Kaisers a priori abzulehnen – dies obwohl Kaiser, wenn er Mehrings Lesung als gönnerhafte ‚Ausnahme‘, ihn vor ‚jungen Deutschen‘ lesen zu lassen (Mehring war nur 8 Jahre älter als beispielsweise Weyrauch), als Kitsch, Nostalgie und ‚Pseudo-Brillanz‘ abqualifiziert,400 ganz ähnliche Kritikpunkte aufbringt wie Richter in Bezug auf Thelen oder auf Celan, und in der damit implizierte Wirklichkeitsferne der Texte auch ein antisemitisches Motiv anklingt.401

Die Grenze zwischen Richters Ressentiments und Kaisers ‚objektiver‘ Kritik ist mit Sicherheit nicht so deutlich zu ziehen, wie Böttiger das tut; Kaisers Interview dient Briegleb in dessen Streitschrift denn immerhin sogar gerade im Gegenteil als Beispiel dafür, „wie jene Einkapselung und Wirkung vermittelter Antisemitismen in der Gruppen-Geschichte funktioniert“.402 Bereits der Zeitgenosse Hans Habe wandte sich einige Jahre später an Kaiser mit dem Vorwurf des Antisemitismus in der Gruppe 47, was Kaiser im selben Interview und im selben Zusammenhang erzählt, wie er über den Affront gegen Mehring berichtet.403 Hier sollen diese Positionen noch nicht ergänzt, sondern vorerst nebeneinander stehen gelassen werden; das Beispiel macht aber deutlich, dass gerade hinsichtlich der Frage nach NS-Kontinuitäten der einfache Verweis auf ästhetische und chronologische Entwicklungen keine abschließende befriedigende Antwort bieten kann. Böttigers Postulat, die Gruppe 47 könne nicht mit Richters Ressentiments gleichgesetzt werden, soll hier deswegen nicht übernommen, sondern gerade geprüft werden, indem die untersuchte Gruppe von Autorinnen und Autoren näher an Richters eigener Zuschreibung von Mentalität bleibt.

Deswegen ist in der vorliegenden Studie wie gesehen nicht nur die ästhetische, sondern auch die altersmäßige Zuteilung in Gruppen wichtig, die begrifflich ebenfalls klar eingeführt werden muss, weil ja beispielsweise im Zusammenhang mit der ‚Jungen Generation‘ der Begriff ‚Generation‘ schon nicht mehr auf die Gruppengeschichte, sondern eben auf das Alter abzielt. Wie gesehen, liegt Richters Fokus nicht einfach auf dem Alter an sich, sondern insbesondere auf ‚dem Erlebnis‘ des Zweiten Weltkriegs oder der NS-Diktatur als Kind. Wichtig ist deswegen im Folgenden neben der Bezeichnung ‚relevante Jahrgänge‘, die eben alle vor 1930 Geborenen meint, auch die Kategorisierung ‚Dabeigewesene‘ / ‚Nichtdabeigwesene‘, die auf den Zweiten Weltkrieg referiert. Zu den ‚Dabeigewesenen‘ gehören die männlichen Angehörigen der Tätergesellschaft, die aktiv in einer NS-Organisation und / oder am Krieg beteiligt waren;404 zudem auch Frauen, die an der ‚Heimatfront‘ aktiv waren, und die NS-Jugendgeneration zwischen 1927 und 1930 – in der vorliegenden Studie geht es ja nicht um die Kriegshandlungen, sondern um die NS-Ideologie. Bevor auf mögliche Kontinuitätslinien bereits im Konstrukt der ‚jungen Generation‘, auf das sich die frühen Gruppenmitglieder bezogen, noch etwas tiefer eingegangen wird, da es hinsichtlich des Wechselspiels von Kontinuität und Bruch eine zentrale Rolle spielt, soll zunächst noch das Untersuchungskorpus definiert werden.

2.3.3 Korpus

Die Heterogenität der literarischen Texte, auf die Reich-Ranicki mit seiner eingangs zitierten Aussage, es habe nie eine Literatur der Gruppe 47 gegeben,405 anspielt, ist neben der Heterogenität der Gruppe selbst und ihrer moralischen Funktion ein weiterer grundlegender Topos der Gruppengeschichtsschreibung. In Arnolds Sammelband (2004b) sind zahlreiche entsprechende Aussagen von Gruppenmitgliedern bereits zusammengetragen worden.406 Weiter heißt es aber:

Kann man eine noch so allgemein beschriebene und mit negativen Begriffen umrissene, von ideellen moralischen Hoffnungen getragene gemeinsame Haltung der Gruppe 47 aber für den politischen Bereich annehmen, so wird man mit einigem Recht, wenngleich mit Vorsicht, auch von einer gewissen Gemeinsamkeit in Sachen Literatur sprechen dürfen, zumal das Politische mit dem Literarischen, wie Äußerungen von Gruppenmitgliedern aus der Gründungszeit der Gruppe belegen […], nicht nur ‚irgendwie‘ verbunden war, sondern erklärtermaßen eine Einheit bildete.407

Bereits bei Arnold wird deswegen angenommen, es gebe eben doch eine ‚Literatur der Gruppe 47‘;408 und um diese zu beschreiben, wird insbesondere auf den Almanach der Gruppe 47 (1962c) eingegangen, da die darin enthaltenen Texte, wie es lapidar heißt, „als für die literarische Produktion der Gruppe 47 repräsentativ verstanden werden können“.409 Im dort folgenden Überblick wird chronologisch vorgegangen, auf „Innovationen und Strömungen“ und auf die „Entwicklung“ fokussiert;410 aus diesem Grund werden auch zeitgleich entstandene weitere Texte von Guppe-47-Autorinnen und Autoren berücksichtigt.411

Hier soll ja diese Chronologie gerade keine Rolle spielen, aber da im Folgenden insbesondere die vorherrschenden Moraldiskurse in den literarischen Texten der Gruppe 47 interessieren, ist auch die Auswahl der repräsentativsten Texte sinnvoll. Der Almanach der Gruppe 47 ist mit Blick auf die populärsten und breit akzeptierten Diskurse schon deswegen besonders relevant, da die Auswahl ohne größere zeitliche Distanz erfolgte. Er erschien im Jahr 1962, fünf Jahre vor dem Ende der regelmäßigen Gruppentreffen, und wie Richter betont, wurden die Almanach-Texte

nicht nach der Qualität ausgesucht. Es soll vielmehr ein Querschnitt dessen sein, was gelesen wurde: das Unvollkommene und das Gelungene, das noch zu Erarbeitende wie das sich schon fertig Gebende und auch einiges, was der Kritik verfiel. Es widerspräche dem Geist der Gruppe 47, hätte man nur das ausgewählt, was nach Ansicht der Kritik literarisch Bestand hat.412

Die Repräsentativität der darin enthaltenen Erzählungen bringt Richter also gerade mit jenem beständigen „Geist“ der Gruppe 47 in Zusammenhang, der ja seit den „ersten Jahren“ immer „erhalten“413 geblieben sei. Der Almanach bildet deswegen im ersten Analyseteil der Studie (Kap. II) das Hauptkorpus, um die wichtigsten und häufigen Verknüpfungen von Identitätskonstruktionen und Wertvorstellungen in den Subtexten der literarischen Texte zu identifizieren. Auch um nur Texte von vor 1930 Geborenen zu untersuchen, bildet der Almanach eine ideale Auswahl, da die älteren Jahrgänge in den ersten 15 Jahren in größerer Zahl auf den Treffen vertreten waren.414 Zudem hat die Gruppe in den frühen Jahren öfter getagt, weswegen im Almanach bereits immerhin 23415 von 31 Tagungen vertreten sind. Damit in Teil II dennoch alle Tagungsjahrgänge abgedeckt sind, werden bereits hier auch noch die preisgekrönten Texte aus den späteren Jahren dazugenommen. Dadurch wird auch die ‚schweigende Mehrheit‘ einbezogen; die Preisverleihung wurde, anders als die Einladungen und die Auswahl und Reihenfolge der Lesungen, tatsächlich in einem demokratischen Prozess eines mehrgängigen anonymen Wahlverfahrens entschieden, an dem sich auch alle an den jeweiligen Lesungen Anwesenden beteiligen durften.416

Ausgehend von diesen Ergebnissen werden im zweiten Analyseteil der Studie (Kap. III) auch weitere Texte von Autorinnen und Autoren einbezogen, die 1930 oder früher geboren sind,417 In diesem zweiten Analyseteil wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern die im ersten Teil herausgearbeiteten Moraldiskurse in den Subtexten auch auf der Textoberfläche, im Rahmen der ‚Moral der Geschichte‘ reflektiert werden. Hierfür kann auch breiter gesucht werden; das einzige zwingende Kriterium ist, dass die Lesung des Texts auf einer Gruppentagung in einer der verschiedenen Quellen dokumentiert ist.418

2.4 Zwischenbilanz: Zusammenfassung und verfeinerte Fragestellung

Ausgehend von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Gruppe 47 als moralische Instanz sowie davon, dass aktuell in der Philosophie wie auch in den Geschichtswissenschaften Moraldiskurse im Nationalsozialismus intensiv beforscht werden,419 interessiert sich die vorliegende Studie also für Moralvorstellungen in den wichtigen literarischen Texten der Gruppe 47 sowie dafür, wie sich diese zu Moraldiskursen in der NS-Ideologie verhalten. Zeigt sich eine Kontinuität partikularistischer Wertsysteme, setzen sich sogar konkrete NS-Moraldiskurse in den Texten fort? Um ergebnissoffen zu arbeiten, wird nicht primär nach einzelnen Diskursen gefragt, sondern offener danach, wie Identitäts- und Alteritätskonstruktionen in den literarischen Texten mit Moral verknüpft werden. Die zentralen Fragestellungen der Arbeit lauten:

Wie werden in wichtigen Texten der Gruppe 47 Identität und Alterität narrativ konstruiert und mit Werten aufgeladen, wie wird das ‚Eigene‘ zum ‚Anderen‘ hinsichtlich moralischer Fragen ins Verhältnis gesetzt? Gibt es Dichotomien, gibt es ein Ungleichgewicht, was die moralischen Werte oder Rechte dieser konstruierten Gruppen anbelangt? Geschieht dies in einer Weise, die auf Ähnlichkeiten mit partikularistischen Moraldiskursen in der nationalsozialistischen Ideologie hindeutet? Wenn ja, werden in manchen literarischen Konstruktionen konkrete NS-Moraldiskurse fortgesetzt? Oder werden solche Diskurse und literarischen Konstruktionen vielleicht sogar explizit thematisiert beziehungsweise in ihr Gegenteil verkehrt?

Die Untersuchung diskursiver Verschränkungen von Moral und Identität / Alterität hat sich aus mehreren Gründen als fruchtbar und methodisch sinnvoll erwiesen: Einerseits weil die Abwertung des ‚Anderen‘ und Aufwertung des ‚Eigenen‘ den Kern nationalsozialistischer Moraldiskurse bildet, sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner aller spezifischen NS-Normen. Andererseits ist der Fokus auch methodisch anschlussfähig: Alterität ist in den aktuellen Theorien zum Verhältnis von Ethik und Literatur und insbesondere zur „narrativen Ethik“ zentral,420 hier im Sinne eines ‚radikal Anderen‘ (Levinas) und vom Diskurs Unterdrückten.421 In ethischen Texten wird das ‚Andere‘ gerade dialogisch in den Diskurs einbezogen. Durch die Berücksichtigung auch dieser Theorien können auch literarische Werke aus der Gruppe 47 in den Blick genommen werden, die sich von partikularen NS-Moraldiskursen gerade dezidiert abwenden und das ‚Andere‘ gleichberechtigt in ihre Textethik einbeziehen.

Für den konkreten Zugang zu den Texten können zahlreiche literatur- und kulturwissenschaftliche Reflexionen über die narrative Konstruktion von kultureller Identität und Alterität422 und von strukturellen Dichotomien oder Manichäismen423 herangezogen werden, von deren Methodik die konkreten Lektüren profitieren können. Durch diese mehrfache Anschlussfähigkeit soll die Fragestellung eine differenzierte Neubewertung der Moraldiskurse in der Literatur der Gruppe 47 ermöglichen, die auch Platz für Schattierungen und unerwartete Ergebnisse lässt.

Das Untersuchungskorpus konnte mithilfe eines Überblicks über die zahlreichen dokumentierten Aussagen von Gruppenmitgliedern über den ‚inneren Kreis‘ der Gruppe 47 und ihre spezifische ‚Mentalität‘ sowie der bestehenden Forschungsliteratur auf Texte der ‚wichtigsten‘ und – was sich wie gesehen meistens überschneidet und auch im Zusammenhang mit der verfolgten Fragestellung sinnvoll scheint – vor 1930 geborenen Mitglieder festgelegt werden. Die Analyse der literarischen Texte soll in zwei Teilen erfolgen: Zunächst, im Hauptteil der Studie (Teil II), soll es um implizite Verknüpfungen von Identität und Alterität mit Moral in den Subtexten der wichtigsten Erzählungen gehen. Dabei muss das Korpus noch enger gefasst werden, um Motive und Narrative herausarbeiten zu können, die mit hegemonialen Diskursen in der Gruppe 47 einhergehen, bzw. um umgekehrt erkennen zu können, wenn es sich um seltene Konstruktionen handelt. Das Untersuchungskorpus wird hier wie bereits erwähnt auf den Almanach der Gruppe 47 und die von der Gruppe 47 preisgekrönten Texte beschränkt. Teil III der Studie ist daraufhin stärker textimmanent ausgerichtet; hier geht es um die expliziten Thematisierungen verschiedener Verknüpfungen zwischen ‚Eigenem‘ / ‚Fremdem‘ und Moral. Anders als in Teil II werden hier vor allem genaue Einzellektüren besonders relevanter Texte vorgenommen, in denen die Frage nach Identität und Alterität im Zentrum der ‚Moral der Geschichte‘ steht, also von Texten, die auf der Textoberfläche Moraldiskurse, die auch im Nationalsozialismus wichtig waren, Vorurteile oder sonstige partikularistische Verknüpfungen zwischen Identitätskonstruktionen und Moralvorstellungen reflektieren. Hier kommen grundsätzlich alle auf Tagungen gelesenen Texte von Gruppenmitgliedern, die vor 1930 geboren sind, infrage.

Nachdem die Rezeption der Gruppe 47, jüngere Debatten um ihre moralische Integrität und die Herangehensweise an die literarischen Texte herausgearbeitet sind, bleibt noch die Frage offen, ob sich bereits von den außerliterarischen Begebenheiten in der Gruppe 47, aus ihrer Identitätskonstruktion und ihren essayistischen Stellungnahmen, Bezüge zur Frage nach Kontinuitäten einer ‚NS-Moral‘ herstellen lassen. In der bestehenden Fachliteratur über die Gruppe 47 gibt es bereits deutliche Hinweise darauf, dass sich in diskriminierenden Praktiken auf Gruppentagungen und Stereotypisierungen in Texten auch gewisse problematische Denkfiguren und Diskurse aus dem Nationalsozialismus fortsetzen.

Zum Abschluss von Teil I sollen deswegen einige dieser bereits gut erforschten außerliterarischen Begebenheiten und publizistischen Stellungnahmen zur Gruppe 47 daraufhin befragt werden, inwiefern sie für die hier verfolgte Fragestellung relevant sind und ob sie auf Kontinuitäten von NS-Moraldiskursen hinweisen: Wie konstruieren diese Autoren ihre Identität in der Gruppenzugehörigkeit, wovon grenzen sie sich ab? Und weisen die Gemeinsamkeiten der Werte und Normen, die ‚Mentalität‘, die Richter seinem ‚innersten Kreis‘ zuweist, Bezüge zu NS-Moraldiskursen auf?

3 „Man blieb […] immer unter sich.“ Nonfiktionale Texte und Begebenheiten auf den Tagungen

Ich schrieb: schauen Sie, die Gruppe 47 hat auch deutsche Schriftsteller, die vor 33 produzierten, oder die während der Nazizeit berühmt waren, nicht eingeladen, weil sie sich als eine junge Gruppe empfindet. […] Die werden halt auch nicht eingeladen, genausowenig wie Sie; ich schreibe Ihnen das nur, um Ihnen klar zu machen, daß das mit Antisemitismus oder Fremdenhaß nichts zu tun hat, sondern eine spezifische Eigentümlichkeit der Gruppe 47 ist; jede Gruppe muß sich selbst Gesetze geben und definieren, wenn sie nicht vollkommen diffus sein soll.424

Wie bis hierhin schon deutlich geworden ist, weist Richters Verständnis der Gruppen-‚Mentalität‘ darauf hin, dass es trotz der Weigerung, über Grundsätzliches zu diskutieren,425 implizite ‚Maßstäbe‘ gab, die den kleinsten gemeinsamen Nenner aller wirklich zugehörigen Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 ausmachten. Fast alle Stellungnahmen in diesem Zusammenhang machen auch deutlich, dass diese Vorstellung von Zugehörigkeit einen dezidiert exkludierenden Aspekt enthält, der meist sogar ganz explizit gemacht wird, so in Richters bereits zitierter Betonung, dass man „bei allen Veränderungen, bei allen zeitweiligen Gästen, bei aller Abwanderung und bei allem Zuwachs, immer unter sich“ geblieben sei.426 Das hier einleitend angeführte Zitat von Joachim Kaiser war seine briefliche Antwort auf Hans Habes Vorwurf von „Ende der 50er, Anfang der 60er“,427 die Gruppe 47 sei antisemitisch, weil sie kaum jüdische und emigrierte Autoren/-innen lesen lasse.428 Auch hier klingt die enge Verknüpfung zwischen der postulierten Jugend, dem Ausschluss ‚anderer‘ und zumindest dem Eindruck diskriminierender Gesten deutlich an. Dieser Verknüpfung und ihrem Zusammenhang mit der Identitätskonstruktion der Gruppe 47 als moralisches Kollektiv soll nun zum Schluss des ersten Studienteils in Bezug auf die wichtigsten der vieldiskutierten außerliterarischen Begebenheiten nachgegangen werden.

Die Exklusivität, die Richter für ‚seine‘ Gruppe 47 beanspruchte, galt wie bereits gesehen nicht nur in der Theorie; wenn jemand der von Richter entworfenen Gruppenidentität nicht entsprach, „den ‚Traditionen‘ und der Mentalität dieser Gruppe nicht gerecht werden konnte, dann wurde die Einladung nicht wiederholt“.429 Und Richter hat über die gesamte Bestehenszeit der Gruppe 47 die Einladungen für die Treffen verschickt;430 auch wenn er sich von seinen Vertrauten im Gruppenumfeld beraten und beeinflussen ließ, traf er letztlich immer die alleinige Entscheidung darüber, wer an den Gruppentreffen dabei sein konnte und wer nicht.431 Es handelte sich bei der Zugehörigkeit zur ‚wirklichen‘ Gruppe 47 also um eine durchgehend streng kontrollierte und abgegrenzte Zugehörigkeit, und gerade in diesem Zusammenhang, in diesem ‚innersten Kreis‘, verstand man sich, wie bereits zu Beginn der vorliegenden Studie gesehen, auch als dezidiert moralisches Kollektiv. Im Sinne des hier verfolgten Forschungsinteresses für die Verknüpfung von Wertvorstellungen und Zugehörigkeit liegt es angesichts dessen nahe, danach zu fragen, ob vielleicht bereits in dieser strikt abgegrenzten Identitätskonstruktion an sich Kontinuitätslinien aus dem Nationalsozialismus angelegt sind.

Darauf deutet eine bereits weiter oben zitierte Aussage Richters zur Gruppenzugehörigkeit hin, wenn man die darin beschriebene Vorstellung, worin sich diese Zugehörigkeit ausdrückt, genauer betrachtet:

Es war in jenen jungen Leuten der Kriegsgeneration wohl eine Mentalität entstanden, die unzerstörbar war. Nur so ist dies und die zähe Haltbarkeit der ‚Gruppe 47‘ zu erklären. […] Alles entstand so, entwickelte sich – ich sage das gern – organisch, nach einem ungeschriebenen Gesetz, wenn es so etwas gibt. Ich habe dafür keine historischen Vergleichsmöglichkeiten, und wahrscheinlich gibt es auch keine. Dies erklärt auch, warum ich keine Schriftsteller der damals älteren Generation eingeladen habe. Und wenn es doch einmal vorgekommen ist, zeigten sich schnell die Gegensätze.432

Der Aspekt der Exklusivität von Richters Generationenkonstrukt – alle, die der Gruppenmentalität nicht entsprechen, werden nicht eingeladen –, wird hier lapidar dadurch begründet, dass sich Gegensätze zeigen. Alterität wird in selbstverständlicher Weise negativ beurteilt, es scheint ein ‚automatischer‘ kausaler Zusammenhang damit zu bestehen, dass man nicht mehr eingeladen wird. Insbesondere angesichts der Beschreibung der Gruppe 47 als ‚organische‘ und ‚natürliche‘, die den als ‚anders‘ Markierten gegenübersteht, klingt sogar eine biologistisch begründete Idealisierung der Gemeinschaft an – einer Gemeinschaft, wie sie im Nationalsozialismus in der radikalsten Version als rassische Volksgemeinschaft propagiert wurde, bei der Zugehörigkeit als natürliche, eben: „organisch, nach einem ungeschriebenen Gesetz“ verlaufende, und unter dem selbstverständlichen Ausschluss ‚Anderer‘ verstanden wurde.433 Der Begriff der ‚Rasse‘ wird hier durch den grundsätzlich durchlässigeren Begriff der ‚Mentalität‘ ersetzt; indem die Mentalität aber als naturgegeben beschrieben wird, nähern sich die beiden Konzepte einander an.

Im letzten Kapitel wurde ausgeführt, dass die ‚tatsächliche‘ Haltung der Autorinnen und Autoren der untersuchten Literatur grundsätzlich nicht im Zentrum dieser Studie stehen soll; wichtig sind vor allem diskursive Formationen der Texte auf semantischer und textstruktureller Ebene. Diese können prinzipiell auch entgegen den Haltungen des empirischen Autors auf ‚subkutane‘ moralische Kontinuitäten hinweisen. Dennoch sollen im Folgenden zumindest einige Schlaglichter auf diese außerliterarischen Haltungen der Autoren/-innen geworfen werden, um einen groben Eindruck des Kontexts dieser Texte zu gewinnen. Auch bei der hier verfolgten These spielen die Jahrgänge und die Prägung der Autoren/-innen eine Rolle, und die Texte werden in ihrer konkreten Verhaftung in der Nachkriegszeit gedeutet.

Es wird zudem davon ausgegangen, dass die literarischen Texte auf einen ‚impliziten Autor‘ im Sinne von Wayne C. Booth schließen lassen,434 der, wie Nünning zusammenfasst, sowohl „die Struktur und Bedeutung eines literar[ischen] Textes als auch dessen Werte- und Normensystem“ verantwortet;435 also für den Sinn- und Wertezusammenhang eines Texts steht. Auch wenn die außerliterarischen Positionen der empirischen Autoren/-innen in Bezug auf die literarischen Texte noch keine endgültigen Schlüsse zulassen, kann ein exemplarischer Überblick solcher Positionen allenfalls die in den darauffolgenden Lektüren gezogenen Schlüsse auf Werte und Normen plausibilisieren, wenn sich Parallelen zwischen den impliziten und den explizit geäußerten Haltungen der Autoren/-innen zeigen.

Da Richter, wie gesehen, mit der ‚Mentalität‘ der Gruppe 47 insbesondere die Zuschreibung der ‚jungen Generation‘ verband, erscheint es sinnvoll, dieses Konzept im Folgenden etwas genauer zu beleuchten. Das plausibilisiert nun bereits, dass in der oben zitierten Stelle über Richters Bild des ‚Gruppengeists‘ tatsächlich die Vorstellung von der Volksgemeinschaft anklingt, da zumindest seine ‚junge Generation‘ an sich nämlich sehr wohl ein ‚historisches Vorbild‘ hatte, das er nicht zu kennen meint; nämlich die propagierte ‚junge Generation‘ im Nationalsozialismus (3.1). Um der Frage näher zu kommen, welche ‚Anderen‘ es sind, deren Einladung Richter jeweils „nicht mehr wiederholt“ hat, soll daraufhin in einer Relektüre eines der wichtigsten Gruppe-47-Gründungsdokumente, Alfred Anderschs Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung ([1947] 1948), exemplarisch der Frage nach Moralvorstellungen nachgegangen werden (3.2), um daraufhin erste Schlüsse ziehen zu können, inwiefern sich partikulare Deutungsmuster in der Gruppe 47 als Institution fortgesetzt haben mochten. Ausgehend davon werden außerdem einige der bereits bis hier angesprochenen außerliterarischen Begebenheiten daraufhin befragt, ob und wie sie auch mit partikularen Moralvorstellungen zusammenhängen (3.3).

3.1 Die ‚junge Generation‘

Gerade das Konstrukt der ‚jungen Generation‘ selbst, das heißt der quasi ‚institutionelle‘ Rahmen qua Alter, den sich die Gruppe 47 gab, ist nun hinsichtlich der Frage nach Kontinuitäten und Brüchen im Verhältnis zum Nationalsozialismus bereits bemerkenswert. Bereits Cofalla hat nicht nur auf die schuldabwehrenden Effekte des Konstrukts hingewiesen, sondern auch betont, es habe auch maßgeblich der Distinktion gedient, wie in Anderschs Definition der ‚jungen Generation‘ als Personen „zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gefangenschaftserlebnis“436 besonders deutlich werde:

Diese Definition rehabilitierte erstens die Wehrmacht als nationale Armee ohne unmittelbare Verbindung zum Nationalsozialismus. […] Sie befreite zweitens alle Wahlberechtigten, die 1933 bei ihrem Votum für Hitler unter dreiundzwanzig Jahre alt gewesen waren, von politischer Verantwortung. Und sie grenzte drittens über das ‚Front- und Gefangenschaftserlebnis‘ Exilanten aus sowie auch – indirekt – die mehrheitlich der Zivilbevölkerung angehörenden Frauen.437

Markus Joch weist in einer jüngeren Analyse desselben Essays438 aus feldtheoretischer Perspektive darauf hin, dass das Konstrukt abgesehen von diesem distinguierenden Effekt gar nicht plausibel sei: Eine „künstlerische Generation“ umfasse in der Moderne üblicherweise weniger als zehn Jahre, der Altersunterschied unter den Gruppenmitgliedern betrage hingegen mehr als 20 Jahre, sie verbinde nichts als das Kriegserlebnis. Deswegen sei das ästhetische Programm im Essay wie auch in der Gruppe 47 so vage: Was die Gruppe statt eines stilistischen oder literarischen Ideals zusammengehalten habe, sei vielmehr der moralische Anspruch eben der kompletten Überwindung des Nationalsozialismus bzw. eines möglichst ‚unbelasteten‘ Neuanfangs.439

Norman Ächtler arbeitet in seiner Dissertation Generation in Kesseln (2013) in Abgrenzung zu Joch heraus, dass dieser Anspruch insbesondere aus der gemeinsamen („totalen“) Erfahrung als deutsche Opfer von Nationalsozialismus und Krieg erklärt werden müsse, der auch den Generationenbegriff rechtfertigte.440 Ächtlers Lesart ordnet die Dominanz der soldatischen ‚Wir-Gruppe‘ in programmatischen Nachkriegstexten als eine der „typischen Strategien der Selbstermächtigung und Gruppenbildung“ ein.441 Bereits in einem früheren Aufsatz betont er zudem den engagierten Impetus gerade in der Generationenkonstruktion, da, wie er zeigen kann, ein Aufruf zu moralischem Handeln eng damit verbunden ist.442 Darauf wird am Schluss dieses Kapitels noch einmal eingegangen; zunächst soll eine weitere Lesart der ‚jungen Generation‘ in den Blick genommen werden.

Die Studien des Historikers Benjamin Möckel zur ‚jungen Generation‘ im und nach dem Nationalsozialismus konnten zeigen, dass die Vorstellung der ‚jungen Generation‘ im und nach dem Nationalsozialismus direkt an dieselbe Vorstellung im Nationalsozialismus, die bereits in der NS-Propaganda eine zentrale Rolle spielte, anschließt bzw. sich größtenteils damit deckt.443 Diese Tatsache ist im Zusammenhang mit der Identitätskonstruktion der Gruppe 47 noch nicht berücksichtigt worden und soll deswegen kurz umrissen werden. Möckels Überlegungen sind für die vorliegende Studie aber auch deswegen besonders interessant, weil auch er zunächst den natürlich dennoch zentralen Aspekt des Bruchs und der Abgrenzung vom Nationalsozialismus der ‚jungen Generation‘ in der Nachkriegszeit herausarbeitet, aber gleichzeitig die engen Verbindungen zum Nationalsozialismus mitdenkt, die gerade in diesem intendierten Bruch enthalten sind. Beide Aspekte sollen im Folgenden kurz beschrieben werden.

3.1.1 ‚Junge Generation‘ als Verteidigung gegen Fremdzuschreibung

Im Aufsatz „‚Warum schweigt die junge Generation? Die Jugend des Zweiten Weltkriegs im Spannungsfeld ambivalenter Generationserwartungen“ (2013) interpretiert Möckel das „generation building444 der frühen Gruppe-47-Mitglieder noch einmal anders als Cofalla, Joch oder Ächtler.445 Wie er zeigen kann, ist insbesondere Richters Ruf-Essay „Warum schweigt die junge Generation“ (1946) ein gutes Beispiel dafür, dass es sich bei der Zuschreibung ‚junge Generation‘ zunächst weniger um eine Selbstinszenierung als um eine Reaktion auf „Diskurse über diese Jugendjahrgänge“ handelt.446

Der Diskurs über den Nationalsozialismus in den ersten Nachkriegsjahren sei nämlich durch Stimmen wie die von Kaschnitz, Wyneken und Schempp447 oder auch dem geflohenen Friedlaender448 geprägt gewesen, die teilweise von ihrer eigenen Erfahrung der jugendlichen Radikalisierung nach dem Ersten Weltkrieg ausgegangen seien. Mit diesem Hintergrund der ‚Älteren‘ sei die Vorstellung „von der Jugend als einer fanatisch am Nationalsozialismus festhaltenden Generation“449 sehr verbreitet gewesen: Man befürchtete, jene Jahrgänge, die im Nationalsozialismus aufgewachsen waren, seien besonders tiefgehend durch die NS-Ideologie indoktriniert worden, ging also schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit von einer möglichen generationellen Prägung aus, wie sie auch die Fragestellung der vorliegenden Studie angeregt hat. Insbesondere die Exilautoren/-innen sowie die Besatzer/-innen haben, wie Möckel zeigt, befürchtet, die junge Generation könnte das „größte[] Hindernis eines friedlichen Neuanfangs in Deutschland“450 werden. Die Unterstellung, indoktriniert zu sein, ging auch mit der Annahme einer gefügigen, passiv undemokratischen oder apolitischen Haltung einher, und gerade in diesem Kontext der „Sorge um eine politische Radikalisierung und soziale ‚Verwahrlosung‘“ wurde die Jugend in der Nachkriegszeit also „zum ersten Mal als eine gemeinsame Generation interpretiert“.451

Der Drang, dieser Zuschreibung etwas entgegenzuhalten, das ‚Schweigen der jungen Generation‘ anders zu erklären – und durch entsprechende Stellungnahmen zu brechen, also dem Vorwurf, apolitisch zu sein, etwas zu entgegnen –, ist nun ganz vorrangig in diesen Zusammenhang einzuordnen. Und so wurde im Ruf nicht nur eine Satire auf diese Zuschreibungen abgedruckt, nämlich eine anonyme „500ste Rede an die junge Generation“, die frei nach Ernst Wiechert gestaltet sei;452 Richters Essay „Warum schweigt die Junge Generation“ sei sogar die erste „generationelle Selbstzuschreibung“ überhaupt,453 sie nehme darin auf genau diese Vorwürfe der Älteren Bezug, wenn sie die ‚schweigende‘ junge Generation anspreche – und das Schweigen werde „zum ersten Mal als positive Selbstzuschreibung umgedeutet“.454

Richter gehe in seinem Essay durch die „dichotomische Gegenüberstellung zweier klar voneinander getrennter Generationen“455 von einem ähnlichen Ausgangspunkt aus wie die Älteren, interpretiere das Schweigen ‚seiner‘ Generation aber gerade als die einzig angemessene Reaktion auf die Ereignisse im Nationalsozialismus. Möckel postuliert, Richter habe dadurch einer Denkweise Vorschub geleistet, die „auf doppelte Weise als generationelle Abgrenzungsstrategie der sogenannten ‚45er‘ Verwendung fand“; nicht nur von der Nachkriegsgeneration des Ersten Weltkriegs, sondern später auch von der 68er Bewegung, „der man die eigene gesunde Nüchternheit als genuin demokratisches Bewusstseinsmaterial gegenüberstellte.“456

3.1.2 Junge Generation im Nationalsozialismus und danach

Diese ‚junge Generation‘ wurde nun aber nicht erst in der Nachkriegszeit als solche beschworen. Sie hatte vielmehr schon im Nationalsozialismus unter dem identischen Schlagwort einen besonderen Stellenwert, galt naheliegenderweise bereits dort als wichtige Instanz und als Hoffnungsträger für die Zukunft des ‚deutschen Volkes‘ – und wurde, wie später noch ausgeführt wird, ebenfalls als eine Art Erlebnisgemeinschaft inszeniert, wie auch die junge Nachkriegsgeneration, die sich über die gemeinsame Kriegerlebnisse definierte.457 Bei der ‚jungen Generation‘, der sich der Ruf und die Gruppe 47 zuordneten, dürfte es sich zunächst sogar bewusst um genau denselben Personenkreis gehandelt haben, den auch schon die nationalsozialistische Propaganda angesprochen hatte.458 Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext eine weitere Studie von Möckel (2014), für die er die Tagebücher junger Deutscher im und nach dem Nationalsozialismus ausgewertet und auf ihre Einstellung gegenüber der NS-Propaganda über Gemeinschaft und Kriegserlebnis befragt hat. Seine Ergebnisse stehen in engem Zusammenhang mit der Identitätszuschreibung der Gruppe 47. Gerade von der Propagierung eines dezidiert distinktiven Gemeinschaftsideals sei die Jugend nämlich besonders stark betroffen gewesen:

Auf der einen Seite war sie eine jener Bevölkerungsgruppen, die unter dem Schlagwort der ‚jungen Generation‘ besonders stark im Fokus des nationalsozialistischen Gemeinschaftsdiskurses stand. Zugleich kann angenommen werden, dass auch die Jugendlichen selbst oft sehr viel stärker als andere Altersgruppen distinkte Gemeinschaftssehnsüchte besaßen, die vom Nationalsozialismus auf vielfältige – und nicht selten sehr erfolgreiche – Weise instrumentalisiert worden sind.459

Die ersten privaten Deutungsversuche der ‚jungen Generation‘ in der Nachkriegszeit verliefen denn auch in genau dem Rahmen, der in der NS-Ideologie bereits vorgegeben worden war. Möckels Beobachtungen beziehen sich auf persönliche Dokumente junger Männer und Frauen, die im Nationalsozialismus als die ‚junge Generation‘ angesprochen worden waren; angesichts der frühen Selbstinszenierung der Gruppe 47 ist ziemlich deutlich, dass seine Beobachtungen auch für die literarische Öffentlichkeit und deren ‚junge Generation‘ von Bedeutung sind. So diente die rückblickende Selbstzuschreibung, man habe im Nationalsozialismus zur jungen Generation gehört, auch in den persönlichen Dokumenten der ersten Nachkriegsjahre der Abgrenzung und der Selbstexkulpation. Ein junges Mädchen formuliert es 1946 in einem von Möckel ausgewerteten Schulaufsatz wie folgt:

Mir und vielen anderen jungen Menschen wurde es zum Verhängnis, daß unsere Jugendzeit […] mit der vollkommenen Machtentfaltung des Nationalsozialismus zusammenfiel. Ich wuchs hinein in diese neue Ideenwelt mit einer Selbstverständlichkeit, mit der die Jugend wohl immer ihrer eigenen Zeit gegenübersteht, wenn sie nicht von der älteren Generation mit Bedacht geleitet wird.460

An genau diese Vorstellung, die ältere Generation habe als orientierende Instanz versagt, knüpft auch Anderschs Bild der jungen Genration im Ruf an, was die „Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler“ angeht, die die Jungen „von den Älteren“ trenne.461 Wenn sich Richter in seinem Essay über die ‚junge Generation‘ darüber beklagt, dass die „ältere Generation ihr vorzuwerfen pflegt“, dass sie – und hier zitiert er –, „‚in der Phrase, das heißt in der Lüge aufgewachsen, mit Phrase genährt worden, von Phrasen entscheidend gebildet worden ist‘“,462 dann fällt er allerdings hinsichtlich seiner Aufarbeitung des Nationalsozialismus hinter die Aussage aus dem gerade zitierten Schulaufsatz zurück. Wie das zitierte Mädchen knüpft auch er an das zugeschriebene generationelle Deutungsmuster eben jener älteren Generation an, aber anders als sie weist er den Vorwurf komplett zurück, die ‚junge Generation‘ könnte durch diese Indoktrinierung tatsächlich von der „Ideenwelt“ des Nationalsozialismus geprägt sein.

Dabei ist es ganz offensichtlich eine sehr ähnliche ‚junge Generation‘ wie diejenige, die im Nationalsozialismus als besonderes Ziel der Propaganda galt, die Richter in seinem frühen Appell im Ruf anspricht:

Der Mensch, der junge Mensch, der zwischen diesen beiden Kriegen aufgewachsen ist, der durch ein Inferno der Not, des Hasses, der Leidenschaft, der Begeisterung und des Rausches schritt, der Jahre der Einsamkeit und der geistigen Einengung auf den Kasernenhöfen ertrug und der schließlich durch die Hölle des Krieges, durch den Todestaumel der Front und durch die seelische Abgeschiedenheit der Gefangenenlager ging, er hat sich gewandelt.463

Eine von Möckel auch in den Tagebüchern aus dem Nationalsozialismus identifizierte naive Begeisterung der Jugend in den ersten Jahren des Nationalsozialismus und in der Vorbereitung des Kriegs,464 wie auch die Ernüchterung und Isolation durch das Kriegserlebnis,465 werden hier angesprochen und sozusagen in den Deutungsrahmen einer Erlebnisgemeinschaft eingepasst.466 Die ‚Erlebnisgemeinschaft‘ war ein zentrales Moment der NS-Propaganda für die Jugend,467 und ihre Nähe zum Gruppe-47-Kriterium, ‚dabei gewesen‘ zu sein, ist groß. Dass Richters ‚junge Generation‘ „zwischen diesen beiden Kriegen aufgewachsen ist“, entspricht (naheliegenderweise, da der Text nur ein Jahr nach Kriegsende entstanden ist) ebenfalls genau der jungen Generation im Nationalsozialismus, die Möckel auf die 1920er Jahrgänge festlegt.468 Sie umfasst also sogar später Geborene als die in der Gruppe 47 besonders wichtige Andersch-Definition, in der die Jahrgänge 1911 bis 1929 angesprochen werden.469

3.1.3 Identität und Moral in der ‚jungen Generation‘

Diese Parallelen zwischen NS- und Nachkriegsvorstellungen wurden nicht betont, um die Rede von einer jungen Generation allgemein als NS-Kontinuität zu klassifizieren, zumal der Rückgriff auf die NS-Zuschreibung ja dennoch vorrangig dem Bruch mit dem NS-System dient. Die ‚junge Generation‘ konnte sich schon im ‚Dritten Reich‘ als die unschuldig hineingezogene verstehen; ihre Angehörigen waren noch Kinder, als die entscheidenden Schritte hin zur NS-Diktatur und Krieg vollzogen wurden, sodass eine Zugehörigkeit die Abgrenzung von Führungselite und Nationalsozialisten der ersten Stunde stärkt.

Dennoch zeigt Möckels Studie der Tagebücher und Schulaufsätze deutscher Schülerinnen und Schüler der Nachkriegszeit, dass eine Fortsetzung der als positiv empfundenen Aspekte einer jugendlichen Gemeinschaftlichkeit, wie sie im Nationalsozialismus unter dem Schlagwort ‚junge Generation‘ propagiert wurden, nicht unwahrscheinlich ist:

Die Inszenierung und vorgetäuschte Erfüllung spezifischer Gemeinschaftssehnsüchte gehörte zu den wichtigsten Aspekten der nationalsozialistischen Propaganda. […] Es war zugleich jener Aspekt der nationalsozialistischen Ideologie, der auch nach 1945 auf zum Teil verdeckte oder verdrängte Weise in einigen Bereichen aktuell blieb. […] Dies gilt möglicherweise in besonderen Maße für […] [d]ie Gruppe der Jugendlichen, […] die […] in besonderer Weise mit der Gemeinschaftsrhetorik des Nationalsozialismus verbunden war.470

Dass die Gruppe 47 in ihrer Selbstdefinition nahe an dem bereits im Nationalsozialismus propagierten Konstrukt der ‚jungen Generation‘ anschloss, ist deswegen für die weiteren Erwägungen in der vorliegenden Studie bemerkenswert. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung ist nun vor allem wichtig, ob diese Selbstzuschreibungen der ‚jungen Generation‘ auch mit Moralvorstellungen korrelieren; ob es also moralische Werte oder moralische Pflichten gibt, die gerade aus der dichotom konstruierten Zugehörigkeit abgeleitet werden.

Bereits das Sendungsbewusstsein, das in der Gruppe 47 gerade aus der Erfahrung von Krieg und Nationalsozialismus abgeleitet wird, ist in diesem Zusammenhang relevant: Etwa wenn Richter behauptet, die ‚junge Generation‘ hätte durch ihre Prägung im Nationalsozialismus auch gerade „ein besonderes Empfinden für die Lüge entwickelt“.471 Und gerade dadurch schlägt Richter einen – per se nicht problematischen, aber sehr deutlichen – Bogen zurück zu Deutungsmustern aus dem Nationalsozialismus, wenn er die moralische Überlegenheit aus der Zugehörigkeit zur NS-Erlebnisgemeinschaft ableitet. Gerade weil die ‚junge Generation‘ indoktriniert worden sei, wolle sie, so sein Deutungsangebot, nun „einmal die Wahrheit, einmal das Recht, einmal die Freiheit sehen, von der ihr so viel gesprochen worden ist […].“472

Wie Ächtler in seinem Aufsatz (2011) über den Ruf-Artikel „Warum schweigt die junge Generation“ herausarbeitet, sieht Richter in diesem Sinne gerade in der als „distinktiv“ verstandenen473 Generationszugehörigkeit den entscheidenden Impetus dafür, dass man geeignet sei, einen literarischen Neuanfang zu begründen. Er ruft die ‚schweigende Generation‘, wie Ächtler nachweisen kann, in einer Rhetorik der Störung und mit einem „appellgleichen Unterton“474 zum Schreiben auf und inszeniert sich als „communal voice“, um der schweigenden Gruppe einen Anstoß zum Sprechen zu geben.475 Ächtler führt aus, dass der Text dadurch zwar einen gewissen „Manifestcharakter“ habe,476 es ihm aber vor allem um die Störung an sich gehe und ein erster „Bezugsrahmen“ abgesteckt werde,477 wobei das gemeinsame Kriegserlebnis einen der Eckpfeiler bilde.478

Dennoch deute sich gerade darin bereits ein Zusammenhang mit Sartres Konzept der engagierten Literatur an, wo „stilistische Individualität zum existentiellen Ausdruck selbstbestimmter, engagierter Autorschaft“ werde.479 Dieses Verständnis von literarischem Engagement, das aus einer diffusen Mischung von unpolitischem Nonkonformismus und engagiertem Impetus in Anlehnung an den Existentialismus gewonnen wurde, sollte die Gruppe 47 über ihre ganze Bestehenszeit prägen.480 Gerade ausgehend von der Vorstellung, man sei durch die eigene Jugendlichkeit unschuldig involviert gewesen und dadurch besonders kritisch geworden, gründet also auch das moralische Pflichtgefühl, aus dem sich die engagierte Literatur der Gruppe 47 speist.481

Aus verschiedenen Zeugnissen ist damit herzuleiten, dass die Gruppe 47 als ‚junge Generation‘ durchaus bereits die Ansprüche vertrat, die ihr bis heute die Wahrnehmung als moralische Instanz verschafft haben. Diese moralische Rolle wird in den frühen Zeugnissen gerade mit exklusiven Eigenschaften begründet, die an anderen Stellen durch die strenge Abgrenzung zum ‚Anderen‘, die „Gegensätze“ zur Mentalität der Gruppe zeigen, konstruiert werden. Und die Konstitution dieser exklusiven Gruppe erfolgte in all ihren wichtigsten Zügen bereits im Nationalsozialismus, auch wenn sie in der Nachkriegszeit paradoxerweise der Abgrenzung von demselben dienen sollte. Ob das auch für das konkrete Programm und Moralvorstellungen, die im Rahmen dieser ‚jungen Generation‘ formuliert wurden, gilt, soll im Folgenden genauer beleuchtet werden.

3.2 Alfred Anderschs programmatischer Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung (1948)482

Dazu wird exemplarisch das wichtigste Gründungsdokument der Gruppe 47 beleuchtet, der Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung483, den Alfred Andersch im Rahmenprogramm der zweiten Gruppentagung im November 1947 vorgetragen hat. In Böttigers Gesamtdarstellung der Gruppe 47 wird dieser Text als „große Ausnahme“484 bezeichnet: Waren während des offiziellen Teils der Tagungen Grundsatzdebatten über Kunst und Politik ungern gesehen, habe Andersch hier ausnahmsweise, im Anschluss an die offiziellen Lesungen, dem Bedürfnis entsprochen, „die Existenz der Gruppe durch etwas Programmatisches zu legitimieren.“485

Der Essay soll dementsprechend auch gemäß Richter mit „spontaner Begeisterung“ aufgenommen worden sein;486 wie Arnold schreibt, „feierten“ die Mitglieder der jungen Gruppe den „Blick auf die Zukunft“,487 den er eröffnete. Bis heute gilt der Essay in allen einschlägigen Gesamtdarstellungen als erste und einzig relativ explizite Programmatik der Gruppe 47 – davon also, dass ein grundsätzlicher Konsens über die darin vertretenen Maximen bestand, kann angesichts dieser als durchweg positiv tradierten Rezeption ausgegangen werden.

Andersch war gerade in den ersten Jahren ein wichtiger Förderer junger Gruppenmitglieder, wurde als ihr Stratege betrachtet488 und gilt neben Richter als „wichtigste[r] Protagonist[] in der Initiationsgeschichte der Gruppe 47 […].“489 Seinen richtungsweisenden Essay paradigmatisch für die Prämissen der Gruppe zu lesen, bietet sich demnach auch aus diesen Gründen an.490 Die Analyse der Argumentation in Anderschs Essay soll exemplarisch breit akzeptierte Moraldiskurse in der frühen Gruppe 47 aufzeigen und herausarbeiten, in Bezug auf welche Themen und auf welche Weise die Verknüpfung von Moral und Identität erfolgen konnte.

3.2.1 Der Essay und sein historischer Kontext

Zunächst zum Thema und zur Struktur des Texts. Wie Anderschs kurzes Vorwort (AD 3 f.) signalisiert, ist es sein Ziel, im Essay „die Verquickung der Literatur mit den herrschenden Tendenzen der Epoche […] ins Auge zu fassen“ (AD 3). Im ersten Kapitel, „Deutsche Literatur als innere Emigration“ (AD 5–14), erläutert Andersch sein Verständnis des Verhältnisses von Literatur und Politik im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Darauf aufbauend will er zwischen 1933 und 1945 vorherrschende literarische Strömungen innerhalb Deutschlands kategorisieren und ihre Beziehung zum Nationalsozialismus interpretieren. Im zweiten Kapitel widmet er sich der „[d]eutsche[n] Literatur als offener Widerstand“ (AD 15–23), wobei primär emigrierte Autoren/-innen thematisiert werden. Ernst Jünger, Thomas Mann und Bertolt Brecht sind neben größeren Gruppen wie den „Volkstümler[n]“ (AD 9 f.), der „Kalligraphie“ (AD 11–13) oder der „realistische[n] Tendenzkunst“ (AD 19 f.) in eigenen Unterkapiteln verhandelt.

Das darauffolgende Kapitel „Deutsche Literatur im Vorraum der Freiheit“ (AD 24–31) ist der Zukunft der deutschen Literatur gewidmet, die nun vor einer „tabula rasa“ stehe, vor der „Notwendigkeit, in einem originalen Schöpfungsakt eine Erneuerung des deutschen geistigen Lebens zu vollbringen“ (AD 24). Die Autoren, die seines Erachtens in Frage kommen, diesen schöpferischen Akt zu leisten, sind zu großen Teilen Mitglieder der Gruppe 47; ihr Programm wird unter den Schlagworten „Realisten und Surrealisten“ (AD 25) – Letztere ungefähr der Idee des magischen Realismus entsprechend, den einige Autoren/-innen der Gruppe 47 in ihren Anfängen für sich beanspruchten –491 gefasst. Dieser letzte Teil wird komplettiert von einer Klage über die US-amerikanische Besatzungspolitik und einer eigenwilligen Interpretation des französischen Existenzialismus.492

Für das Verständnis des Essays ist der Kontext der Emigrations-Debatte („Große Kontroverse“) zwischen Frank Thiess, Walter von Molo und Thomas Mann, die im Vorjahr in den Feuilletons ausgetragen worden war, wesentlich.493 Markus Joch (2002) hat bereits gezeigt, wie Andersch bei seinem Versuch, sich in Deutsche Literatur in der Entscheidung zwischen den beiden Polen – Thiess’ konservativer, nationalistischer, die Emigration verurteilender, und Manns modernerer, kosmopolitischer Einstellung – zu positionieren, wesentlich näher an Thiess’ Position steht, als es auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Zwar wird Thomas Mann von Andersch als der „größte lebende Autor deutscher Sprache“ (AD 18) bezeichnet, doch: „Den Missfallensbekundungen Manns aber hat er sich nicht angeschlossen, die Vorstellung von Thiess nicht mit erbitterten Buhrufen quittiert“.494

Andersch war bekanntermaßen ein großer Bewunderer Manns und trug mit seinen Rundfunkbeiträgen dazu bei, dass dieser bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder öffentliche Plattformen in der BRD bekam.495 Joch weist zudem darauf hin, dass der Hinweis auf die „kalligraphischen“ Autoren, von denen Andersch sich abgrenzen will, immerhin als Seitenhieb gegen Thiess verstanden werden könne.496 Thiess selbst ist aber mit keinem Wort erwähnt – und die Argumentationslogik Anderschs impliziert zuletzt eine diametrale Gegenposition zu Mann, der im Rahmen der Debatte „Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten“, vehement als „weniger als wertlos“ qualifiziert hatte.497 Andersch postuliert dagegen, „daß jede Dichtung, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ans Licht kam, Gegnerschaft gegen ihn bedeutete, sofern sie nur Dichtung war“ (AD 7). Darauf wird gleich noch einmal genauer eingegangen.

Die Literatur der Emigrantinnen und Emigranten wird im Essay dagegen implizit abgewertet. Stephan Braese ordnet in seiner Habilitationsschrift zur „andere[n] Erinnerung“ (2001) jüdischer Autorinnen und Autoren in Westdeutschland Anderschs Essay als einen der entscheidenden Texte für die exkludierende, einseitige Entwicklung des westdeutschen Literaturbetriebs der Nachkriegszeit ein.498 Er fasst zusammen, dass ‚andere‘ Stimmen zum Einbezug von jüdischer Literatur, hier diejenigen Thomas und Klaus Manns, schon zum Zeitpunkt, als Anderschs Essay erschien, kaum mehr gehört wurden: „Die Maßgaben darüber, was die deutsche Gegenwartsliteratur künftig bestimmen sollte, kamen, wie die ersten Zeugnisse ihres repräsentativen Ausdrucks, schon von ‚deutschen Stellen‘.“499

3.2.2 Identität und Schuld

Joch deutet Anderschs apologetische Argumentation als Versuch einer Positionierung im literarischen Feld, den Andersch aufgrund seiner eigenen publizistischen Vergangenheit500 in dieser Weise vornehmen wollte. Ein weiteres zentrales Moment des Essays, das für den hier verfolgten Fokus wichtiger und noch weniger gut beleuchtet ist, ist die Art und Weise, wie diese Positionierung vollzogen werden soll. Zunächst geht es tatsächlich um Aufwertung des ‚Eigenen‘, indem die Schuld der ‚Dabeigewesenen‘ abgewehrt wird. Der Anfang des ersten Kapitels soll hier etwas ausführlicher zitiert werden:

Was soll, so möchte man grübeln, die Frage nach der Literatur Deutschlands, da dieses Land ganz und gar vom Hunger und vom Schwarzmarkt und von einer Hoffnungslosigkeit ohnegleichen gezeichnet erscheint? Darf die Forderung, die in dieser Frage liegt, an die geistig schöpferischen Menschen Deutschlands überhaupt gestellt werden, obgleich sie, genau wie der größte Teil des deutschen Volkes, gleich Tieren auf der Nahrungssuche, auf der Jagd nach einer warmen Unterkunft, im Kampf mit den widrigsten und lächerlichsten Auswüchsen einer bürokratischen Verwaltung des Nichts sich befindet? […] Die Folgen des historischen Irrtums, in den das deutsche Volk durch seine führenden Schichten getrieben wurde, liegen besonders schwer auf den Trägern des Geistes in Deutschland. Mit […] Genauigkeit […] registrieren sie das Maß der Verantwortung, das einem Teil von ihnen als Treibenden oder Getriebenen […] zukommt. Aber nicht nur diese Einsicht ist es, die ihnen manchmal den Atem nimmt, sondern auch die Schwere des Vorwurfes, der gegen Sie, wie gegen ihr ganzes Volk erhoben wird, die unmittelbar nach der Niederlage vom Ausland, von einzelnen Kräften der Emigration […] gegen sie erhoben wurde. Jede Untersuchung des Zustandes der deutschen Literatur […] muß daher von einer sorgfältigen Betrachtung des wahren Verhaltens des deutschen Geistes in den Jahren der Diktatur ausgehen. Eine solche Betrachtung wird die Frage entscheiden, ob die geistigen Kräfte der deutschen Gegenwart in den trüben Strudeln der Selbstbezichtigung notwendig untergehen müssen, oder ob der Druck der Verzweiflung, den eine solche Anklage mit sich bringt, gelüftet werden kann. (AD 5 f.)

Ein zentrales Anliegen von Andersch ist bereits in dieser Einleitung formuliert: Andersch bemüht sich, den unerträglichen Druck der ausländischen Anklage gegen ‚das deutsche Volk‘, insbesondere gegen ‚seine Intellektuellen‘, zu lindern. Die Verzweiflung, die diese Einleitung prägt und gegen die Abhilfe geschafft werden soll, ist explizit nicht primär (bzw. „nur“) durch das Wissen um die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands motiviert, sondern dadurch, dass „das Ausland“ diese Verbrechen dem gesamten deutschen Volk und den „geistigen Kräfte[n] der deutschen Gegenwart“ anlastet. Die Ehre des Volkes muss wiederhergestellt, der „deutsche Geist“ muss von der Schande vor „dem Ausland“ befreit werden. Andersch will, wie er in der Folge formuliert, sich einsetzen für „eine Zukunft, deren höchste Forderung an den deutschen Geist die Wiederherstellung seiner Reinheit und Unabhängigkeit verlangt.“ (AD 6)

Schon in diesem ersten Abschnitt zeigen sich die Verfahren, die Andersch in diesem Zusammenhang verwendet. Der Nationalsozialismus wird – ganz im Sinne der zeitgenössischen Diskurse um Doppelmoral und Verführung ‚von oben‘ –501 als ein „Irrtum“ dargestellt, in den „das Volk durch seine führenden Schichten getrieben“ worden sei. Das Konzept der Schuld ist damit schon auf ‚Andere‘ ausgelagert: Wer in die Irre geführt wird, kann für seine Entscheidungen kaum vollständig verantwortlich gemacht werden. Die deutschen Intellektuellen sollen dennoch eine Verantwortung registrieren; um welche Art von Verantwortung es sich dabei handelt, wird allerdings nicht thematisiert. Betont wird vielmehr, dass sie nicht nur „Treibende“, sondern auch „Getriebene“ gewesen seien.

Eine weitere Strategie, den Druck der „Schwere des Vorwurfs […] vom Ausland“ zu lindern, ist die Betonung des eigenen Opferstatus, mit der die ganze Argumentation einsetzt. Hunger, Schwarzmarkt und Hoffnungslosigkeit des deutschen Volkes werden im ersten Satz aufgerufen; Obdachlosigkeit, der Kampf mit einer widrigen Bürokratie und der elende Zustand, „gleich Tieren auf der Nahrungssuche“ zu sein, im zweiten. Dass diese Lamentos eher Assoziationen mit der Opfer- als mit der Tätergruppe wecken, ist kein Zufall; deutsche Opfernarrative waren in der unmittelbaren Nachkriegsliteratur sehr populär.502 Zu Ende gedacht bedeutete das auch, dass das „eigene“ Leiden dem der vormaligen Opfer der ‚Nazis‘ vergleichbar sei, womit letztlich auch der Anspruch eines Schuldenausgleichs angedeutet ist, wie er ja tatsächlich schon in den ersten Nachkriegsjahren gefordert wurde.503 Der Holocaust504 hingegen kommt im ganzen Text Anderschs kein einziges Mal vor.

Diese Beobachtungen sprechen zwar dagegen, dass die Programmatik entsprechend dem Anspruch der Gruppe 47 eine Position außerhalb des herrschenden Diskurses einnimmt; sie sind aber noch wenig überraschend. Die folgenden Argumentationsschritte sind das schon eher. Nun geht Andersch zunächst auf den Vorwurf ein, innerhalb Deutschlands habe es keinen echten Widerstand gegeben. Dieser Ansicht widerspricht er vehement:

Denn deutsche Literatur, soweit sie den Namen einer Literatur noch behaupten kann, war identisch mit Emigration, mit Distanz, mit Ferne von der Diktatur. Das muß einmal ausgesprochen und festgehalten werden, daß jede Dichtung, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ans Licht kam, Gegnerschaft gegen ihn bedeutete, sofern sie nur Dichtung war. (AD 7)

Aufgrund dieser Prämisse verurteilt er nicht etwa einen Großteil der Literatur der „inneren Emigration“ als Nicht-Dichtung. Vielmehr wertet er fast ausnahmslos alle Publikationen der Zeit zwischen 1933 und 1945 mit dem tautologischen Argument auf, ihr literarischer Wert sei allein schon ein Beweis für ihre Widerständigkeit, was zur Folgerung führt: „Die Tatsache, dass es eine deutsche Literatur während dieser Zeit überhaupt gab, genügt allein schon, die Absurdität der Behauptung vom kollektiven Verrat der deutschen Geistesarbeiter am Geist nachzuweisen“ (AD 8). Die partielle Anerkennung einer Schuld des „deutschen Geist[es]“, wie sie im einleitenden Abschnitt vorgenommen wurde, ist damit fast restlos wieder aufgehoben.

Wie konfus dieser Schluss hergeleitet wird – und die sehr problematischen Implikationen einer solchen Haltung –, wurde schon im Kontext werkbiografischer Lesarten konstatiert, die auf Anderschs individuelles Interesse an einer solchen Beurteilung hinweisen.505 Die Bemerkung von der „Absurdität“, einen „kollektiven Verrat der deutschen Geistesarbeiter“ zu behaupten – die im Kontext der Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit zu verstehen ist –506 zeigt aber, dass das Anliegen zur Exkulpation hier über individuelle Interessen privater Schuldabwehr hinausgeht.

3.2.3 Die deutsche Nation

Tatsächlich kommt bei Anderschs Schuldabwehr nämlich noch ein weiterer zentraler Argumentationsschritt dazu. Die Identität, die Andersch der ‚jungen Generation‘ und den ‚Geistesarbeitern‘ zuschreibt, ist sehr eng an die deutsche Nation bzw. an das ‚deutsche Volk‘ geknüpft: Identität wird nicht nur über das Konzept einer ‚jungen Generation‘ imaginiert, sondern eben auch über das ‚Deutsche Volk‘. Dabei ist es nicht einfach unhistorisch, in diesem Zusammenhang vom Nationalismus des Texts zu sprechen. Im Rahmen von Anderschs explizit kommuniziertem Vorhaben, ein Programm für das mehr oder weniger junge Schriftsteller/-innen-Deutschland zu propagieren, ist bemerkenswert, dass es nicht die Schriftsteller sind, sondern vielmehr das Konstrukt der Nation, um die sich ein Großteil der Argumentation entspinnt: Das Lexem „deutsch“ wird auf den 23 Seiten 79 Mal verwendet; zum Vergleich erscheint das Wort „Literatur“ dagegen nur 33 Mal. Auch die Argumentation macht deutlich, wie der Kampf gegen Schuldvorwürfe nicht nur einem autobiografischen, sondern zugleich einem zutiefst moralischen Anliegen zugunsten der ‚eigenen‘ Nation entspringt:507 Einerseits wird es zu einem Kampf fürs ‚Volk‘ stilisiert, andererseits stärkt es abermals das konsequent aufgebaute deutsche Opfernarrativ, da betont wird, wie sehr man unter den Vorwürfen zu leiden hat.

Damit verbunden impliziert der Kampf gegen die Schuldvorwürfe an den ‚deutschen Geist‘ noch eine weitere partikulare Kategorie. Mit der konstruierten „Wir“-Gruppe, die an den Vorwürfen von außen verzweifelt und deren nationale Ehre gerettet werden soll, ist Deutschland eindeutig nicht nur in Abgrenzung zu anderen Nationen, sondern auch zum ‚Fremden‘ innerhalb der Nation gemeint: im Nationalsozialismus verfolgte Minderheiten können in einem Kollektiv, das aus diesen Gründen leidet, ja kaum mitgemeint sein. Die Personengruppe, für die eine neue Zukunft geplant und deren Bild rehabilitiert werden muss, ist so implizit ganz unmissverständlich diejenige Gruppe, die von Schuldvorwürfen überhaupt getroffen werden konnte, nämlich das deutsche, nicht jüdische, nicht homosexuelle, körperlich und geistig nicht eingeschränkte – also ‚arische Volk‘. Diese essentialistische und exklusive Vorstellung des Konstrukts der Nation steht einerseits in einer direkten Kontinuität eines zentralen Aspekts auch der NS-Ideologie, im Einklang mit dem vorherrschenden Diskurs der Nachkriegszeit, in dem, wie Moeller im Zusammenhang mit Opferausgleichzahlungen festgestellt hat, nur die deutschen508 Opfer „Mitglieder der westdeutschen imagined community“ waren, die „Opfer der Deutschen hingegen gehörten dieser Gemeinschaft nicht an.“509

Die expliziten Stellungnahmen gegen nationalistisches Denken durch populäre Mitglieder der Gruppe 47, nicht zuletzt durch Andersch selbst im hier diskutierten Essay, stehen dem nur vordergründig entgegen.510 In den Schlussbetrachtungen seiner Abhandlung ruft Andersch zum Kampf gegen die deutsche „Kolonialität“ (AD 26), den Status der Deutschen als Angehörige eines „halbkolonialen Volkes“ (ebd.) auf. Dieser Kampf müsse sich nicht nur gegen die Besatzungspolitik – die Ursache des angeblichen Kolonialstatus – richten, sondern „ebensosehr gegen die latente Bedrohung der Freiheit aus dem Denken heraus […], also mithin gegen den deutschen Nationalismus und das Ressentiment, das er heute produziert, gegen jegliches Aufkommen von Revanchegedanken, gegen den deutschen Superioritätskomplex“ (AD 27). Dass diese Aussage so deutlich den im Rest des Essays vorausgesetzten Werten und Idealen widerspricht, lässt sich auf zwei verschiedenen Ebenen erklären.

Einerseits wird auch hier eine strategische Positionierung im literarischen Feld vorgenommen: Ein Grund dafür, dass der deutsche Ruf unter Redaktion von Richter und Andersch angeblich511 verboten worden sei, war der Vorwurf des Nationalismus durch Carl Hermann Ebbinghaus in der Neuen Zeitung und vom späteren Ruf-Redaktionsleiter Erich Kuby unter dem Pseudonym „Alexander Parlach“ in der Süddeutschen Zeitung.512 Anderschs Bemerkung im Jahr dieser Auseinandersetzung kann sicher auch als indirekte Replik darauf, als versuchte Festigung seiner progressiven Rolle, verstanden werden.

Andererseits gibt es schon vor sowie auch deutlich nach dieser Auseinandersetzung klare Stellungnahmen Anderschs gegen den Nationalismus. So im bereits mehrfach wegen seines Generationenkonstrukts zitierten Essay „Das junge Europa formt sein Gesicht“ von 1946,513 in dem er auch seine „Ablehnung nationaler und rassischer Vorurteile“ betont,514 oder in einem 1955 erschienenen Aufsatz in seiner Zeitschrift Texte und Zeichen über Thomas Mann, in dem er problematisiert, wie sich Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg „in ein nationalistisches Ressentiment fast ohne Beispiel in der neueren Geschichte“ verloren habe.515 Auch im Ruf zeigt sich ein gespaltenes Verhältnis zum Nationalismus. Clare Flanagan weist in ihrem Artikel „Der Ruf and the Charge of Nationalism“ (1999) beispielsweise auf einen Leitartikel Heinz Friedrichs hin, in dem dieser „emphasised that while nationalism had proved its destructive potential, this did not mean ‚daß wir nicht mehr vaterländisch denken dürfen‘“.516

Flanagans Artikel zeigt, dass beinahe alle Definitionen von Nationalismus auf das politische Programm des Ruf zutreffen – aber, wie sie betont, diese Form nationalistischen Denkens sich vom „messianism, […] pan germanism, […] triumphalism“517 des nationalsozialistischen Nationalismus abhebe.518 Diese Beobachtung kann auch die Diskrepanz zwischen geäußerter Intention und tatsächlicher Argumentation in Anderschs Texten erklären: Im Zuge der NS-Propaganda war das Konzept des Nationalismus mit scheinwissenschaftlichen Theorien und populistischem Pathos wie dem Konstrukt der arischen Herrenrasse, der Idealisierung einer deutschen Volksgemeinschaft und der kultischen Überhöhung alles Germanischen aufgeladen.519 Dieser über angebliche Fakten funktionierende Nationalismus, der durch Propaganda konstruiert und perpetuiert wurde, konnte durch Aufklärung im Rahmen von Reeducation und ‚Entnazifizierung‘ auf rationaler Ebene relativ einfach als falsches Bewusstsein erkannt werden, und Andersch hat dazu beigetragen, liberaldemokratischeres Denken aus seiner Kriegsgefangenschaft in den USA nach Deutschland zu tragen und zu popularisieren.520

Dennoch zeugt es von einer einseitigen Prägung im Nationalsozialismus, nur diese ideologisch klar umrissene Form des Nationalismus als solchen zu erkennen und zu verurteilen;521 diese erlernte Wahrnehmung, das liberaldemokratische Denken, scheint mit länger eingeübten Diskursen partikularer Moral zu konfligieren, da sich dennoch ein starkes Bedürfnis zeigt, das national definierte ‚Eigene‘ aufzuwerten, das von denselben Gruppen abgegrenzt wird wie zuvor. Das Postulat vom kompletten Bruch mit der Vergangenheit bei gleichzeitiger Subversion der Gegenwart wird im Essay doppelt unterwandert: Die Moralkonfiguration im Text entspricht vielmehr einer Kontinuität nationalistischer Diskurse, wie sie in der gerade entstehenden BRD nach wie vor dominant waren.522

3.2.4 Besatzung und Exil: Moralische Rechte ‚der Anderen‘ in Deutschland

Nicht zuletzt zeigt sich dieser Impuls zur Aufwertung ‚des Deutschen‘ gerade an jener Stelle des Essays, wo Andersch postuliert, dass der Nationalismus zu bekämpfen sei. Die oben zitierte Argumentation wird wie folgt fortgesetzt:523

Die Aufgabe der Intellektuellen ist also eine zweifach unpopuläre: er muß im Namen der wahren Demokratie die Heuchelei derjenigen enthüllen, die heute die Demokratie durch ihre Politik gegenüber Deutschland diskreditieren, und er muß den Geist der Demokratie verteidigen gegen alle, die aus der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, an der wir leiden, bereits wieder ihre faschistischen Schlüsse ziehen.

Damit beschreibt er die zweifellos schwierige Situation der jungen Intellektuellen in einem Nachkriegsdeutschland, das zwei Jahre nach 1945 noch immer von der nationalsozialistischen Ideologie geprägt war. Genau besehen enthält selbst diese Stelle aber einen argumentativen Dreh, der alle Angehörigen des ‚deutschen Volks‘ größtenteils entlastet: Wenn Andersch sagt, die faschistischen Schlüsse kämen aus der „Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis“, das heißt aus dem Fehlverhalten und einer Art unterstellten ‚Doppelmoral‘ der Besatzungsmächte, dann verortet er die Schuld daran implizit auf der Seite der ‚Anderen‘; in dieser Logik handelt es sich bei diesem ‚Faschismus‘ um einen Schluss, der erst wegen der Besatzung gezogen wird.524

Klarer noch positioniert sich der Essay hinsichtlich des Rechts ‚Anderer‘, moralisch zu urteilen, insbesondere im zweiten Teil, wo Andersch die deutsche Exil-Literatur beschreibt. Obwohl er konstatiert: „Die Emigration war es, die das internationale Ansehen des deutschen Namens wenigstens teilweise retten konnte“ (AD 16) – auch hier das prominente Interesse der Ehre des ‚Volkes‘ –, geschieht in der Folge quasi die Umkehrung dessen, was zuvor in Bezug auf die Autoren/-innen der ‚inneren Emigration‘ vorgenommen wird: Das anfängliche Lob wird allmählich relativiert, zuletzt erscheint das Potenzial der Unterstützung durch Autoren/-innen im Exil bei der Ausformung einer neuen deutschen Literatur als dürftig – und zwar weil sie „abgetrennt vom Raum der deutschen Sprache und damit vom Strom des deutschen Lebens“ (AD 17) gewesen seien. Thomas Manns Literatur sei nur deswegen so gut geblieben, weil er nicht wie andere, „assimiliert von der Fremde, einer unheilvollen Isolation anheim[gefallen]“ (ebd.), sondern im Geiste ganz bei Deutschland geblieben sei: „In Wirklichkeit ist er niemals fortgewesen […].“ (AD 18)

Hierin ist ein früher und klarer Beleg jenes problematischen Verhältnisses der Gruppe 47 zu den Exilautoren/-innen zu sehen, das lange Zeit prägend bleiben sollte und auch in Brieglebs Streitschrift zum Thema Antisemitismus in der Gruppe 47 wichtig ist.525 Einer der meistgelobten Autoren in Anderschs Exilliterartur-Kapitel „Literatur als offener Widerstand“ ist denn auch dazu passend der ‚daheimgebliebene‘ Erich Kästner, der nichtsdestotrotz als „echter Emigrant“ (AD 21) anzusehen sei. Jüdische Exilautoren/-innen werden nur wenige erwähnt, keine unter einer eigenen Überschrift;526 und das Lob, das dem zu diesem Zeitpunkt immer noch im Exil verbliebenen Bertolt Brecht zuteilwird, ist anders als das für Kästner durchgehend im Konjunktiv gehalten: „Er wie kein anderer würde in unsere gleichfalls flackernde, unsichere und aufgerissene deutsche Gegenwart passen, könnte zum Richtpunkt und Rückhalt der jungen Generation gegen die lastende Masse eines sogenannten Kulturerbes werden“ (AD 23) – wenn er denn wieder in Deutschland leben würde. Die Emigration könne „auf die zukünftige Entwicklung der deutschen Literatur nur Einfluß nehmen, wenn sie sich als Emigration selbst aufhebt, das heißt also: wenn sie zurückkehrt“ (AD 17).

Auch räumlich wird dadurch die Kompetenz, moralisch zu urteilen, in Deutschland verortet.527 Eine nationalistische Begründung moralischer Rechte ist in Anderschs Argumentation eindeutig tiefer verankert als nur als rhetorisches Mittel zum Zweck der Abwehr eigener Verfehlungen vor 1945. In anderen kulturpolitischen Stellungnahmen taucht sie überdies in sehr ähnlicher Weise auf: So beispielsweise in dem schon erwähnten Ruf-Artikel „Das junge Europa formt sein Gesicht“,528 dessen Titel das Gegenteil vermuten ließe. Zwar spricht Andersch dort zunächst von der „Forderung nach europäischer Einheit“, unter deren Gesetz die europäische Jugend antrete.529 Der vielzitierte LTI-Satz,530 dass diese Jugend den „Kampf gegen alle Feinde der Freiheit fanatisch führen“ werde,531 mag dabei auch dem Versuch geschuldet sein, möglichst breit rezipiert zu werden. In der Aussage, dass die Wurzeln dieses gemeinsamen Kampfes in der „Gemeinsamkeit der Haltung und des Erlebens“532 im „religiösen Erlebnis […] aus dem Kriege“533 liege, geht die Kontinuität aber eindeutig über das Sprachliche hinaus: Erneut sind Opfer und Geflohene aus denjenigen „Wir“-Gruppen exkludiert, die für die Zukunft Europas verantwortlich seien. Und die Autorinnen und Autoren im Exil werden schließlich auch in sehr ähnlichen Worten wie im Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung zur Besinnung aufgerufen: Für Deutschland gelte,

dass die Emigration für uns fruchtbar werden muß. Emigration kann überhaupt nur leben aus der Erwartung der Heimkehr. Wir fordern und erwarten die Vereinigung der Emigration mit Deutschlands junger Generation.534

Andersch legt mit solchen Postulaten nahe, man könne nur adäquat über deutsche Belange schreiben, wenn man selbst ein Teil davon sei und die nationalen Erlebnisse unmittelbar teile. Implizit diskreditiert das die Bedeutung moralischer Urteile aller in seinem Urteil Außenstehenden: nur die Deutschen selbst könnten über ihre eigene Schuld adäquat urteilen. Mit der universalistischen Ethik allgemeiner Menschenrechte und internationaler Verantwortung, wie sie durch die Reeducation vermittelt wurden, ist diese Einstellung kaum mehr vereinbar. Vielmehr werden partikulare Moralkonfigurationen unterschwellig in Anderschs Bemühungen um eine liberale literarische Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus weitergetragen:535 Indem diese Einheitsfront nach wie vor ausschließlich als exklusive Gruppe denkbar bleibt, aus der gerade die Opfergruppen des Nationalsozialismus weiterhin ausgeschlossen sind.

Aus der Perspektive einer partikularen Moral lässt sich gut beschreiben, wie diese nationalistischen, partikularen Vorstellungen einem adäquaten Umgang mit der Vergangenheit bis heute entgegenstehen kann. In Bezug auf Martin Walsers Friedenspreisrede hebt der Historiker Gross, wie weiter oben schon ausgeführt, hervor, wie ungebrochen die partikulare Moral im Beklagen einer „deutschen Schande“, im Gefühl einer Scham an Stelle von Empörung oder Hass, bestehen bleibt: Die Vorstellung, dass ein ‚Volk‘ als Kollektiv in seiner Ehre beschädigt sei und nun damit zu kämpfen habe, ist im Kern etwas grundsätzlich anderes als die Verachtung für die Verbrechen des Nationalsozialismus.536

Die „Last“, unter der die jungen Deutschen bzw. in Anderschs Fall die jungen „Träger des Geistes in Deutschland“ wie einleitend zitiert zusammenbrechen, scheint in einem ganz ähnlichen Sinne ganz andere Ursachen als eine Ablehnung der nationalsozialistischen Verbrechen zu haben: nämlich einerseits das materielle Elend der Nachkriegszeit und andererseits die Schande, die über das „deutsche Volk“ und den „deutschen Geist“ gekommen sei, dessen Ehre nun wiederhergestellt werden müsse. Opfer und Geflohene, als Außenstehende des nationalen Konstrukts, kommt in dieser Vorstellung von moralischer Verantwortung in der Nachkriegszeit kaum Relevanz zu.

Ein partikulares Moralverständnis zeigt sich hier – neben dem Mangel an Mitgefühl für die ‚Anderen‘537 – auch darin, dass Urteile wie auch Verantwortung gegenüber der ‚Wir-Gruppe‘ anders gewichtet sind als gegenüber ‚den Anderen‘. Einerseits äußert sich diese Asymmetrie im Postulat der moralischen Verantwortung für das „deutsche Volk“, dessen Anerkennung und Ehre vor anderen partikularen Gemeinschaften – „dem Ausland“ und „einzelnen Kräften der Emigration“ – wiederhergestellt werden muss. Andererseits äußert es sich darin, dass moralische Urteile über dieses ‚Volk‘ nur Mitgliedern der eigenen Nation zugestanden werden; ‚Fremde‘ scheinen dieses Recht grundsätzlich nicht zu besitzen; und man kann es darüber hinaus sogar verwirken, wenn man zu lange durch Emigration von der Nation „abgetrennt“ war.

3.3 Deutung, Mitleid und Tugend in außerliterarischen Zeugnissen der Gruppe 47

Der exemplarische Nachvollzug des frühen Selbstverständnisses der Gruppe 47 deutet nun alles in allem, wie zum Abschluss dieses ersten Teils ausgeführt werden soll, auf zwei verschiedene Ausprägungen einer partikularistischen Beurteilungsweise moralischer Fragen hin: Alterität erscheint entweder hinsichtlich moralischer Fragen als weniger relevant als das ‚Eigene‘ oder als weniger tugendhaft, also weniger prädisponiert, die moralischen Werte des ‚Eigenen‘ zu verkörpern. Beide dieser Ausprägungen scheinen nun auch den verschiedenen diskriminierenden Handlungen und Haltungen zugrunde zu liegen, wie sie in Kritiken der Gruppe 47 schon oft erwähnt worden sind und auch schon in dieser Studie angesprochen wurden. Diesem Zusammenhang soll in der Folge anhand ausgewählter Beispiele genauer nachgegangen werden, wobei danach gefragt wird, ob und inwiefern die diskriminierenden Begebenheiten auf Tagungen und Aussagen in Briefen, die im Verlauf der Argumentation bereits angesprochen worden sind, mit einem partikularen Moralverständnis zusammenhängen.

3.3.1 Identität, Alterität und moralische Relevanz

Wie beschrieben erscheint Alterität in den bisher betrachteten Zeugnissen und im Selbstverständnis der gesamten Gruppe 47 zunächst als moralisch weniger relevant als das ‚Eigene‘. So wird es gerade als Merkmal der Gruppenidentität bzw. -‚mentalität‘ verstanden, dass man zu Urteilen besonders (und damit stärker als die Nichtzugehörigen) befähigt sei. Richter leitet dies in seinem Ruf-Essay zu der ‚jungen Generation‘ daraus her, die ‚junge Generation‘ habe durch ihre unschuldige Verwicklung in den Nationalsozialismus „ein besonderes Empfinden für die Lüge entwickelt […].“538 Und Anderschs Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung macht auch den überindividuellen Aspekt dieser Vorstellung relativ explizit, wenn er ‚deutsche Identität‘ und moralische Verantwortung verknüpft. Andersch betont, die Exilautoren/-innen könnten wegen ihrer räumlichen Distanz zu Deutschland, die er mit ‚Isolation‘ gleichsetzt, nichts zu dessen ‚geistiger Erneuerung‘ beitragen, das heißt schon wegen räumlicher Distanz zu der ‚Wir-Gruppe‘ nicht das leisten, was der Gruppe zugeschrieben wird und was sie sich selbst zuschreibt: eine moralische Instanz für Deutschland zu sein, das Gewissen der Nation zu verkörpern und zur Demokratisierung der Nachkriegsgesellschaft beizutragen.

Diese Dichotomisierung von moralischer Relevanz kann sich also einerseits in Bezug darauf äußern, inwiefern ‚Anderen‘ moralische Deutung zugestanden wird. Dass auch Mitgefühl und die Thematisierung der Opfer des Nationalsozialismus vorrangig für das ‚Eigene‘ von Bedeutung sind, ist ein zweiter Aspekt einer einseitigen Verteilung moralischer Relevanz. Mit beiden Aspekten lassen sich, wie hier angenommen wird, mehrere Konflikte und Haltungen in der Gruppe in einen engeren Zusammenhang bringen.

Deutung

Die Nichtzuständigkeit einzelner abgegrenzter Gruppen für Fragen der jeweils anderen und damit auch eine Partikularisierung von moralischer Deutung wurde bis in die späten Jahre der Gruppe 47 immer wieder explizit geäußert, vor allem in Bezug auf nationale Fragen. Wie bei Lettau (1967) nachzulesen ist, haben sich die Gruppenmitglieder 1960 in einer Erklärung gegen den Algerienkrieg geäußert. Anders als die französischen Demonstranten/-innen haben sie aber nicht zu „Ungehorsam und zur Kriegsdienstverweigerung“ aufgerufen,539 sondern sich, als die französische Demonstration verboten wurde; nur „bewußt auf einen Protest gegen diese Repressalien [beschränkt], um nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einzugreifen.“540 Wie schon 1947 bei Andersch postuliert, berief man sich hier nach wie vor darauf, am nationalen ‚Strom des Lebens‘ beteiligt sein zu müssen, um eine legitime Haltung dazu zu haben.

Aus ähnlichen Gründen kam es schließlich bei der Auslandstagung in Princeton im Jahr 1965, wie schon gut dokumentiert ist, ebenfalls zu Streit, da einige Gruppenmitglieder die US-amerikanische Politik kritisieren wollten, der ‚innere Kreis‘ der Gruppe 47, insbesondere Richter und Grass, das aber verurteilte, weil sie sich auch hier aus ‚fremden‘ Angelegenheiten heraushalten wollten; den jungen Aktivisten/-innen sei, wie Weiss in seinen Erinnerungen zusammenfasst, entgegengehalten worden, dass „wir als ‚deutsche Schriftsteller‘ nicht das Recht hätten, uns in amerikanische Angelegenheiten einzumischen.“541

Diese beiden Beispiele entsprechen einer bis heute verbreiteten Haltung. Dennoch liegt ihnen aber eindeutig nicht das grundsätzliche universelle Moralverständnis zugrunde, wie es Gross und Konitzer beschrieben haben:

Verantwortungsvolles Handeln gründet sich auf universell gültige moralische Werte, und dazu gehört es, dass alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten haben. […] In diesem Sinne ist es falsch zu sagen, manche Menschen seien wegen ihrer historischen Situation, wegen ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation verantwortlicher als andere. […] Alle Menschen sind gleichermaßen verpflichtet, moralisch zu handeln – hier zeichnet sich niemand vor anderen aus.542

Problematisch wird ein davon abweichendes Verständnis da, wo es nicht zu ‚eigener‘ Zurückhaltung führt, sondern ‚anderen‘ das Recht abspricht, Urteile zu fällen, wenn sie nicht zur jeweils identifizierten Gruppe gehören. Dies geschah im Zuge der gerade schon angesprochenen Tagung in Princeton beim Zwischenfall mit Weiss; die weitere Notiz in seinem Tagebuch führt in Bezug auf denselben Konflikt noch weiter und wurde auch schon im Zusammenhang mit Antisemitismus in der Gruppe 47 angeführt.543 Weiss notierte:

Zusammenstoß im Hotelzimmer. Ich hätte mich in amerikanische Angelegenheiten nicht einzumischen. Mißbrauche die Gastfreundschaft. Und überhaupt: was ich denn für ein Recht hätte, auf diese Weise politisch Stellung zu nehmen. Hätte auch über deutsche Fragen schon viel zuviel gesagt. Wo ich denn während des Kriegs gewesen wäre.544

Die rückblickend notierte Erinnerung im Jahr 1978 expliziert, wie man plötzlich zu diesen Vorwürfen wegen Weiss’ Exil – er war als Sohn jüdischer Eltern gezwungen zu fliehen – kam:

Wir waren dann auf die Notwendigkeit zu sprechen gekommen, sich gegen Brutalitäten zur Wehr zu setzen, wo auch immer sie auftraten. Auch Kritik an Deutschland, sagte ich, hielte ich nicht zurück, weil ich in Schweden ansässig sei. Und dann kam es: du kannst dich über Deutschland nie äußern, du bist draußen gewesen, in der Sicherheit der Emigration, wir waren drinnen, wir haben am Krieg teilgenommen […].545

Bei diesem Zwischenfall ist zwar anonym von Gruppe-47-‚Senioren‘ die Rede, angesichts der vorhergehenden Konflikte liegt aber die Vermutung nahe, es habe sich unter anderem um Grass und Richter gehandelt.546

Gerade bei Richter gibt es auch weitere Zeugnisse für diese Haltung – wer nicht zugehörig sei, habe nicht zu urteilen –, die bei ihm mit deutlicher Ablehnung einherging. Das wird auch an der eingangs dieser Studie schon anzitierten Stelle in seinem Briefwechsel besonders deutlich, an der er an Christian Ferber 1961 über Hermann Kesten schreibt:547 „Kesten ist Jude und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d. h., ich rechne Kesten nicht uns zugehörig, aber er empfindet es so“.548 Der ausführlichere Kontext dieses Zitats zeigt nun zudem, dass in diesem Konflikt moralische Relevanz auch in einem anderen Zusammenhang abgesprochen wird, da auch keinerlei Mitgefühl für die Hintergründe des ‚Anderen‘ zu bemerken ist.

Mitleid

Um diesen letztgenannten Aspekt zu verdeutlichen, soll die meistens nur knapp widergegebene Kesten-Stelle etwas ausführlicher zitiert werden:

Doch zu dem eigentlichen Anlass Deines Briefes. […] Als ich das von Kesten las, war ich sehr unangenehm berührt […]. Ich hätte gern darauf geantwortet, sehe aber immer wieder zwei Schwierigkeiten: Kesten ist Jude und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d. h., ich rechne Kesten nicht uns zugehörig, aber er empfindet es so. Wie aber soll man diesem eitlen und von sich so überzeugten Mann beibringen welches Unheil er anrichtet. […] Ich habe überlegt, ob ich Deiner Mutter nicht einen Brief schreiben soll. Ich würde es gern tun, einfach um ihr zu sagen, daß ich sie nie so gesehen habe wie es der Herr Kesten tut. […] Für mich ist Nationalsozialismus eine Mentalitätsfrage, und obwohl ich Deine Mutter nicht kenne, kann sie niemals Nationalsozialistin gewesen sein. […] Ich habe […] niemals etwas anerkannt oder gar bewundert, was aus nationalsozialistischen Federn kam. In dieser, aber nur in dieser Hinsicht, ist mir noch niemals ein Irrtum unterlaufen.549

In Cofallas Kommentar zum Briefwechsel550 ist nachzulesen, dass sich Ferber zuvor anlässlich eines Beitrags von Kesten in der Zeitschrift Kultur an Richter gewandt hatte. Kesten weist dort darauf hin, dass in der BRD viele Auszeichnungen für Autorinnen und Autoren vergeben würden, die eine „pronazistische Vergangenheit“ hätten.551 Er erwähnt neben vielen anderen auch Ina Seidel und schreibt:

Das Gedicht zu Hitlers 50. Geburtstag, zahlreiche nationalsozialistische Abscheulichkeiten. 1948 Bayrische Akademie der Künste, München. 1955 Westberliner Akademie der Künste. […] 1959 der große Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, mit der Begründung ‚Wir ehren in Ina Seidel die Hüterin unvergänglicher Werte‘. Aber sie ehrte den millionenfachen Mörder Hitler, ‚le bel Adolphe‘.552

Ferber hat sich über Kestens Beitrag zutiefst erschütterst gezeigt – auch, durchaus nachvollziehbar, weil der Artikel seiner kranken Mutter „zur Kenntnisnahme“ ins Spital geschickt wurde, worüber sich Richter nun, wie er ihn brieflich bat, beim Verlag beschweren solle.553 Cofalla hat dokumentiert, wie er betont habe „zu wissen, ‚wo und wie meine Mutter politisch irrte und daß sie diesen Irrtum nicht nur eingesehen, sondern auch recht gründlich öffentlich bekannt hat‘ “;554 nach Kriegsbeginn 1939 habe sie sich von Hitler abgewandt. Ferber behauptet in seinem Brief, Kesten „verleumde Ina Seidel bewußt, offensichtlich habe er solcherlei Lügen nötig, um von sich reden zu machen“.555 Mag Ferbers Haltung als Sohn erklärbar sein, ist doch spätestens die Antwort Richters höchst problematisch und dementsprechend bereits mehrfach kritisiert worden. Briegleb hat dazu bemerkt, dass Richter bei seinem „engen Freund“556 Ferber offen darüber sein konnte, warum er Kesten ablehne: der Grund lasse sich „Ferber gegenüber […] in aller Härte festschreiben und in aller Verächtlichkeit!“557

Eine Rekapitulation der Vergangenheit Seidels zeigt, wie viel von Richter und Ferber ausgeblendet werden musste, da ihr Werk von einer deutlichen Kontinuität ideologischer Versatzstücke des Nationalsozialismus zeugt. Ernst Klee hat Seidels Verstrickung im Kuturlexikon zum Dritten Reich (2009) zusammengetragen: Bereits in ihrem Erfolgsroman Das Wunschkind aus dem Jahr 1930 geht es um die bedingungslose Aufopferung einer liebenden Mutter und kriegsverherrlichende Ideologie.558 Auch die von Kesten erwähnte Hitler-Ode aus dem Jahr 1939 spricht in dieser Hinsicht eine besonders deutliche Sprache:

Wir Mit-Geborenen der Generation, die im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts aus deutschem Blute gezeugt war, waren längst Eltern der gegenwärtigen Jugend Deutschlands geworden, ehe wir ahnen durften, daß unter uns Tausenden der eine [also Adolf Hitler, N. W.] war, über dessen Haupte die kosmischen Ströme deutschen Schicksals sich sammelten, um sich geheimnisvoll zu stauen und den Kreislauf in unaufhaltsam mächtiger Ordnung neu zu beginnen.559

Und auch noch in Meyers Kulturlexikon von 1942 steht, Seidels Literatur zeige ‚in allen Schicksalen das Bluterbe als Lebensgesetz‘;560 bis Kriegende stand sie dementsprechend auf Hitlers „Sonderliste der sechs wichtigsten Schriftsteller der Gottbegnadeten-Liste“.561 Sollte sie sich nach Kriegsbeginn tatsächlich von Hitler distanziert haben, wie Ferber sagt, dann angesichts dieser Rolle im Nationalsozialismus wohl nicht wegen dessen menschenverachtender Ideologie, sondern wegen der Konsequenzen des Kriegs für Deutschland. Dass Kesten dennoch als Jude und damit als Opfer der antisemitischen Verfolgung, nicht der Kampfhandlungen, von Richter und Ferber als Lügner und Ignorant gesehen wird, weil er Textstellen wie die eben zitierte als „nationalsozialistische Abscheulichkeiten“ bezeichnet hat,562 zeigt das eklatante Missverhältnis, zu dem der Wunsch nach einer Aufwertung des ‚Eigenen‘ führen kann: nämlich zu einer radikalen Beschränkung auf diese eigene Perspektive und eine damit einhergehende Verweigerung von Empathie für die ‚nicht uns Zugehörigen‘.

Diese Unterscheidung zwischen ‚eigenem‘ und ‚fremdem‘ Leid wird auch noch in Richters Beitrag über Wolfdietrich Schnurre im Etablissement der Schmetterlinge (1986) deutlich. Schurre wird dort als ‚emotioneller‘ und labiler Hitzkopf beschrieben:

Ganz besonders konnte er sich erregen, wenn eine vorgelesene Geschichte sich mit dem Schicksal des Judentums beschäftigte. Ja, in solchen Augenblicken erschien er mir als Philosemit, der auch den geringsten Anlaß zu einem kämpferischen Auftritt benutzte. Nichts hatte ihn so getroffen wie das Schicksal des europäischen Judentums. Es ließ ihn nie mehr los. Dagegen erschienen ihm seine eigenen Kriegserlebnisse harmlos und unbedeutend. Er hatte den Krieg in Rußland mitgemacht und eine erfrorene Nase zurückgebracht. Aber das war wohl nicht der einzige Schaden, den er genommen hatte.563

Der letzte Satz ist ambivalent, er könnte sich auch auf die zuvor beschriebene leichte Erregbarkeit Schnurres beziehen. Der Zusammenhang zum ‚Philosemitismus‘ liegt aber näher, und in beiden Lesarten wird deutlich, dass Richter es noch im Jahr 1986 als absurd empfindet, wie sehr das Schicksal der Juden Schnurre bewegt – mehr sogar als die eigene Kriegserfahrung, wie Richter verblüfft konstatiert.

Dieser Aspekt des Beschweigens jüdischer Opfererinnerungen und Verweigerung von Empathie in der deutschen Nachkriegszeit – der sich auch in den erwähnten Dokumenten besonders darin äußert, dass der Holocaust bei aller Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit nie erwähnt wird – ist schon gut erforscht und wird im weiteren Verlauf der Studie vor allem im Sinne einer kritischen Sichtung der bereits bestehenden Forschung aufgegriffen.564 Auch auf außerliterarische Aspekte einer deutsch-jüdischen Opferkonkurrenz wird in diesem Zusammenhang im zweiten Teil dieser Studie noch einmal eingegangen, da sie für die Literatur der Gruppe 47 von Bedeutung sind: Speziell Paul Celan wurde als Figur in mehreren Romanen von Gruppe-47-Autorinnen und -Autoren verarbeitet. Im auf die Literatur bezogenen Teil dieser Studie soll danach gefragt werden, ob eine Verweigerung von Empathie – die Celan persönlich in der Gruppe 47 ja sehr stark wahrnahm – sich in diesen Romanen wiederfinden lässt.565

3.3.2 Identität, Alterität und ‚Tugend‘

Neben dieser Unterscheidung moralischer Relevanz kann nun Identität auch über Zuschreibungen von Tugendhaftigkeit mit Moralvorstellungen verknüpft sein, nämlich indem das ‚Eigene‘ als moralischer wahrgenommen wird als das ‚Fremde‘ oder sonstiges ‚Anderes‘. Im Selbstverständnis der Gruppe 47 ist die Vorstellung moralischer Relevanz von Beginn an mit derjenigen der moralischen Integrität und Tugendhaftigkeit der ‚Wir-Gruppe‘ verknüpft. Die Selbstwahrnehmung lautet: Wir sind verpflichtet, Stellung zu beziehen und moralische Urteile zu fällen, weil wir die sind, die im Krieg unschuldig blieben, die sich moralisch nichts zuschulden haben kommen lassen – eben weil wir ‚die Guten‘ sind.

Wie grundlegend diese Vorstellung von Tugendhaftigkeit die Identität der Gruppe definierte, wird daran deutlich, dass ehemalige Gruppenmitglieder selbst des ‚innersten Kreises‘, deren moralische Integrität öffentlich in Frage gestellt wurde, „am Selbstbild der Gruppe gemessen und gegebenenfalls ausgemustert“ wurden, wie es Lorenz zusammenfasst.566 Das geschah bei Walser567 genauso wie bei Eisenreich568, die beide einen angeblichen ‚Rechtsruck‘ vollzogen und damit den ‚Geist der Gruppe 47‘ verraten hätten. Lorenz weist darauf hin, dass auch weitere, zeitgeschichtlich jüngere Konflikte um die Gruppe sowie die NSDAP-Mitgliedschaften unter anderem von Höllerer oder Lenz und die Waffen-SS-Vergangenheit von Grass vermuten lassen, dass es sich „bei den diskutierten Einzelfällen der letzten Jahre eben nicht um solche und damit Abweichungen“ handle; vielmehr liege es in Bezug auf die Gruppe 47 nahe, „es hier mit Variationen eines Standards zu tun zu haben.“569

Dieser Standard scheint dahingehend mit Moral zusammenzuhängen, dass im Selbstverständnis nur dazugehören durfte, wer ‚moralisch‘ war, und es im Gegenzug fast tautologisch als ‚moralischer‘ Akt galt, zur Gruppe zu gehören. Dabei scheint nun insbesondere die moralische Integrität des ganzen exklusiven Kollektivs zu interessieren, sodass in einem partikularistischen Verständnis Unmoral auf jede/-n Einzelne/-n der ‚Wir-Gruppe‘ zurückfallen kann. Ein Beispiel dafür, das sich schon lange vor den jüngeren ‚Skandalen‘ um NS-Verstrickungen abspielte, hat Helmut Peitsch (1999) genauer betrachtet: Er zeichnet nach, dass bereits 1959 das zuvor wichtige Gruppenmitglied Rolf Schroers von der Gruppe 47 ausgeschlossen wurde, weil das Gerücht umging, er sei im Krieg als Oberleutnant an einer kriminellen Ermordung eines italienischen Partisans in einem Verhör beteiligt gewesen.570 Die tatsächlichen Geschehnisse scheinen in diesem Zusammenhang gar nicht besonders wichtig gewesen zu sein; Peitsch geht davon aus, dass Richter auch aus Konkurrenzgründen in der Anti-Atombewegung ein politisches Interesse an Schroers ‚Sturz‘ gehabt habe.571 Bemerkenswert ist aber in unserem Zusammenhang, wie Richter den Ausschluss in diesem „Fall Schroers“ begründet hat:

Es geht mir nicht darum, ob Herr Schroers sich zu Recht oder Unrecht krimineller Geiselerschießungen bezichtigt hat; dies mag er mit seinem Gewissen abmachen. Es geht mir darum, daß Herr Schroers sich unbestritten dieser Verbrechen bezichtigt hat. Ob er dies tat, weil er angetrunken war oder weil – wie er erklärt – er sich mit seinen Romanfiguren identifizierte, mag für die Frage des Vorliegens eines Straftatbestandes von Bedeutung sein, ist es aber nicht für die Frage, ob ein Mann geeignet ist, führend an einem moralischen Kampf teilzunehmen.572

Auch später würde Richter immer von „Vorwürfe[n] betreffs der Selbstbezichtigungen des Herrn Schroers“,573 und nicht des Mordes, sprechen. Diese Aussage widerspiegelt ein paradoxes Verhältnis zwischen kollektiver Identitätskonstruktion (als ‚moralische Kämpfer‘) und Interesselosigkeit für individuelle Haltungen, solange sie die moralische ‚Wir-Gruppe‘ nicht beschädigen. Taten sie es dennoch, konnte das nicht die Integrität des Kollektivs infrage stellen, sondern nur verdeutlichen, dass sie eben doch kein Teil der ‚Wir-Gruppe‘ (mehr) sein konnten.

Wie stark die einzelne Identität von kollektiven Wir-Gefühlen beeinflusst war, zeigt der nationalistische Gestus, den Flanagan, wie bereits im Zusammenhang mit Anderschs Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung erwähnt, in zahlreichen Ruf-Artikeln identifiziert hat. So an der bereits anzitierten Stelle, an der Heinz Friedrich, frühes und langjähriges Gruppenmitglied,574 die moralische Pflicht zur Überwindung des NS-Nationalismus mit einem flammenden neuen Nationalismus und dem Dienst am Vaterland begründet:

Wir Deutschen […], die wir nun endlich nach der Katastrophe von 1945 aus diesem engen, verderblichen Nationalismus herauskommen wollen, die wir eine freiere und umfassendere Basis suchen, um unserem Vaterland zu dienen. Wir sind froh, endlich die Scheuklappen ablegen zu dürfen […]. […] Das heißt nicht, daß wir uns entwurzeln sollen, daß wir nicht mehr vaterländisch denken dürfen oder unser Volk oder unser Land aufgeben müssen – im Gegenteil: Gerade durch das Aufgeben des extremen Nationalismus können wir völkisch frei werden und die nationalen Kräfte fruchtbar wirken lassen.575

Daran kann nicht nur eine ungebrochene Fortsetzung von Nationalismus abgelesen werden, sondern auch, dass es bereits früh Stimmen aus der politischen Linken gab, die das Programm der ‚jungen Generation‘ sehr kritisch sahen: Wie das ja bereits die oben zitierte Ruf-Stellungnahme gegenüber Ebbinghaus und nicht zuletzt die Konflikte mit der Ruf-Redaktionsleitung selbst zeigten,576 warf man der Chefredaktion des Ruf um Richter und Andersch gerade diesen Nationalismus vor. Und dieser Vorwurf war schließlich, wie oben gesehen, auch ein zentraler Grund dafür, dass die Zeitschrift abgesetzt wurde.577

Umgekehrt ging diese positive Identitätskonstruktion denn auch wirklich im Sinne des oben beschriebenen Wechselspiels von Othering und Aufwertung des Selbst mit einer deutlichen Abwertung ‚Anderer‘ einher. Bereits das politische Anliegen des Ruf äußerte sich ja insbesondere in der Ablehnung der Besatzung, die neben dem nationalistischen und „chauvinistischen“ Impetus578 der zweite Grund dafür war, dass man die Chefredaktion auswechselte.579 Und es war ein wichtiger Aspekt dieser Ruf-Kritik an der Besatzung, dass man der fremden Besatzung Böswilligkeit oder sogar Bösartigkeit, das heißt Unmoral, unterstellte.

Einer der Ruf-Artikel, die schließlich zensiert wurden und damit zum endgültigen Bruch zwischen den Gründungsmitgliedern der Gruppe 47 und dem Periodikum führten, stammt von Andersch. Unter dem Pseudonym Gerd Klaass problematisiert er ein Warnschild an einem deutschen Brunnen, das nur auf Englisch geschrieben auf die schlechte Trinkqualität des Brunnenwassers aufmerksam macht. Der Autor kommentiert: „Das Trinkwasser auf dem Mindener Bahnhof in seiner Ungenießbarkeit macht einen klaren Unterschied zwischen deutschen Kindern und alliierten Soldaten.“580 Die Brisanz solcher schnippischer Vorwürfe an die Besatzer wird deutlich angesichts des vorherrschenden öffentlichen Diskurses, wie ihn in einem anderen Ruf-Artikel Theodor Steltzer, der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, formuliert.581 Er konstatiert, dass „die Verwaltung so negativ wirkt und das deutsche Volk so übermäßig zu leiden hat“, dass es nicht verwundern dürfe, „daß die Masse der Deutschen in ihr ein Instrument sieht, um Deutschland für alle Zeiten niederzuhalten.“582 Er teile zwar nicht die Auffassung, „England wolle Deutschland vernichten [!]“, müsse aber „zugeben, daß bisher die Verwaltung diesen Eindruck – gewiß durchaus ungewollt – erweckt hat.“583 Diese verschwörungstheoretische Unterstellung erscheint hier noch deutlich von der NS-Propaganda geprägt (die England stets als den eigentlichen Kriegstreiber darstellte). Indem die Chefredaktoren des Ruf in dieselbe Richtung argumentierten und die Kritik an der Besatzung zu einem ihrer Kernanliegen machten, waren sie ein wichtiges Organ dieser Kritik.

Auch die Skepsis gegenüber den Exilautoren/-innen war in der Gruppe 47 nicht auf die bereits angesprochene Verweigerung von Deutungslegitimation beschränkt, sondern traf auch den moralischen ‚Wert‘ der Emigrierten an sich. Wie Cofalla ausgehend von ihrer fundierten Kenntnis der Briefwechsel Richters in einem jüngeren Aufsatz beschreibt, bewies auch die „in den dreißiger Jahren hergestellte Verknüpfung der Begriffe ‚Emigrant‘ und ‚Vaterlandsverräter‘“ in der Wahrnehmung der Gruppe 47 gegenüber dem Exil „über 1945 hinaus Kontinuität.“584 Cofalla fasst zusammen:

Das zentrale Argument lautete: Aufgrund der räumlichen Entfernung verfügten Exilierte weder über die moralische noch die politische Basis, sich über Deutschland ein Urteil zu bilden. Das erzwungene Exil wurde entpolitisiert, zum bequemen Auslandsaufenthalt erklärt und mit dem Vorwurf mangelnder Heimatliebe verbunden.585

Eine weitere, noch grundsätzlichere Form der moralischen Dichotomie zwischen ‚uns‘ Guten und ‚ihnen‘ Schlechten wäre nun eine a priori angenommene Abwertung im Sinne rassistischer und antisemitischer Stereotype. Dieses Phänomen, das sich anhand der literarischen Texte bzw. der fiktionalen Figuren der Gruppe 47 noch deutlicher nachvollziehen lässt als in ihren essayistischen Stellungnahmen, wird im nächsten Teil der vorliegenden Studie im Detail betrachtet.

An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass sich die Gruppe 47 in ihren frühen Jahren und auch in zahlreichen späteren Stellungnahmen als exklusive Moralgemeinschaft gegen zwei Seiten abgrenzt: Wer nicht in ihrem Sinn moralisch ist, gehört nicht mehr dazu (Schroers, Walser) und wer nicht zu ihnen gehört, erscheint als weniger moralisch (Besatzung) oder hat weniger Recht auf moralische Urteile (Exil). Diese unterschiedlichen Versionen relativ enger Verknüpfung von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen mit Moralvorstellungen deuten darauf hin, dass der Beurteilungsmodus der partikularen Moral, wie ihn Gross beschreibt, auch in der Gruppe 47 eine wichtige Rolle spielt.

4 Zwischenfazit I

Ihre ideellen Ausgangspunkte […] blieben immer erhalten […]. Ob und inwieweit die Gruppe 47 diese hochgesteckten Ziele der ersten Nachkriegsjahre auch nur zum Teil erreicht hat, […] bleibt dahingestellt. Sie wurden nie ausgesprochen, auch nicht innerhalb der Gruppe. Sie waren ihr von Anfang an immanent. Sie waren durch ihren Vorläufer, der Redaktion des Ruf, der Zeitschrift der damals jungen Generation, wie selbstverständlich gegeben.586

Mit der exemplarischen Betrachtung des Selbstverständnisses der ‚jungen Generation‘, des wichtigsten Gründungsdokuments der Gruppe 47 und einem partikularistischen Verständnis von moralischer Deutung in einigen jüngeren Gruppe-47-Zeugnissen schließt sich ein Kreis zum Anfang dieser Studie. Einige jüngere außerliterarische Stellungnahmen der ‚jungen Generation‘, die seit dem Ruf den ‚mentalitären‘ Kern der Gruppe 47 bilden sollen, deuten bereits darauf hin, dass die „ideellen Ausgangspunkte“, die gemäß Richter bereits der Redaktion des Ruf „selbstverständlich gegeben“ gewesen seien, wirklich erhalten geblieben sind. Alfred Andersch – der bereits Mitglied in besagter Ruf-Chefredaktion war und der die vorliegende Studie mit einem Zitat eröffnet hat, das bereits Urs Widmer hinsichtlich der sprachlichen Kontinuitäten im Ruf hervorgehoben hatte – hat mit seinem Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung in der vorliegenden Studie nun eine Grundlage dafür geschaffen, auch inhaltliche Kontinuitäten in der Gruppe 47 genauer zu beleuchten. Nachdem einige außerliterarische Begebenheiten eine erste Ordnung in mögliche Varianten einer partikularen Verknüpfung von Zugehörigkeit und Moral gebracht haben, wird ausgehend davon im weiteren Verlauf der Studie auch die Literatur der Gruppe 47 genauer beleuchtet. Zu diesem Zweck soll die bisherige Argumentation knapp rekapituliert werden.

Kapitel 1: Das Untersuchungsinteresse der vorliegenden Studie ergibt sich, wie im ersten Kapitel gesehen, daraus, dass die Gruppe 47 bis heute als moralische Instanz der Nachkriegszeit gilt, ein Bild, das durch zahlreiche gesellschaftspolitische Verdienste der Institution und einzelner Mitglieder entstanden ist. Die Gruppe-47-Mitglieder gehörten derjenigen ‚jungen Generation‘ an, die schon wegen ihres Alters nichts zum Aufstieg der Nationalsozialisten beigetragen hatte, ‚unschuldig‘ in den Krieg verstrickt worden war und sich nun, in einer nach wie vor stark von NS-Ideologie und personellen Kontinuitäten geprägten Gesellschaft, für Demokratie und für eine offene Debattierkultur einsetzte. In der Gruppe kamen von Beginn an weibliche und auch früh jüdische Mitglieder zu Wort; außerhalb der Tagungen setzten sich viele Mitglieder politisch für eine progressivere und pazifistische BRD ein. Zugleich geriet dieses Bild als gänzlich ‚unbefleckte‘ junge Generation aber spätestens seit den frühen 90er Jahren immer mehr in Zweifel, da immer mehr NS-Verstrickungen sowie Antisemitismus unter den wichtigsten Mitgliedern ans Licht kamen und öffentlich diskutiert wurden. Obwohl die kritische Literatur zu einzelnen Mitgliedern, im Feuilleton auch schon teilweise zur Gruppe 47 als Institution, seither bereits recht umfangreich wurde, gibt es noch kaum Studien zu NS-Kontinuitäten in der gesamten Gruppe 47 und noch keine Studie, die sich in diesem Zusammenhang auf die literarischen Texte konzentriert.

Kapitel 2: Aus diesen beiden Desideraten – einer bisher kaum theoretisch fundierten Frage nach inhaltlichen Kontinuitäten in der Gruppe 47 und der in diesem Zusammenhang noch nicht beachteten Literatur der Gruppe – leitet sich die Fragestellung nach diskursiven Verknüpfungen von Identität, Alterität und Moral in den Subtexten und in der ‚Moral der Geschichte‘ der literarischen Gruppe-47-Texte sowie deren Verhältnis zu NS-Moraldiskursen her, deren theoretischer Rahmen im zweiten Kapitel diskutiert wurde. Der Fokus auf Identität und Alterität ist erstens angesichts gegenwärtiger Theorien zu partikularer Moral und NS-Moraldiskursen fruchtbar, in denen die normative Aufladung der nationalsozialistischen Ideologie herausgearbeitet wurde, was eine neue Perspektive auf NS-Kontinuitäten ermöglicht. Zudem ist das Verhältnis von Identität und Alterität auch in Theorien narrativer Ethik zentral, die die Untersuchung von Moral und Ethik in literarischen Texten in der vorliegenden Studie zusammen mit aktuellen kulturwissenschaftlichen Perspektiven, die Identitätspolitik und Othering als gesellschaftliche Konstruktionen sichtbarmachen, theoretisch fundieren. In diesem Kapitel war zudem zu klären, welche literarischen Werke überhaupt als ‚Literatur der Gruppe‘ gelten und wie diese angesichts ihrer großen Menge auf die wichtigsten Texte beschränkt werden können. Der Nachvollzug, wer zum ‚inneren Kreis‘ der Gruppe gehört und damit die ‚Mentalität‘ der Gruppe 47 gemäß Richter prägen soll, führte zum Schluss, die Untersuchung auf Gruppemitglieder zu beschränken, die vor 1930 geboren sind. Das Korpus setzt sich aus deren Tagungslesungen, für den ersten Teil insbesondere dem Almanach der Gruppe 47, den Richter selbst herausgegeben hat, und denjenigen Texten, die den Preis der Gruppe 47 erhalten haben, zusammen.

Kapitel 3: Im dritten Kapitel wurden ausgehend davon die wichtigsten außerliterarischen Aspekte der Gruppe-47-Identität auf mögliche Zusammenhänge mit partikularen Moralvorstellungen befragt. Dabei verdeutlichte die Kontextualisierung des zentralen Distinktionsmerkmals der Gruppe 47 – die Generation unschuldiger, aber ‚dabei gewesener‘ Junger zu sein – dass in der Zuschreibung der ‚jungen Generation‘ selbst direkt an Vorstellungen angeknüpft wurde, die bereits im Nationalsozialismus propagiert worden waren. Gerade daraus wurde nun die exklusive moralische Rolle abgeleitet, die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Gruppe 47 lange prägen sollte. Anderschs Reflexionen über die Aufgaben der deutschen Literatur in der Nachkriegszeit im Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung, der in der Gruppe 47 begeistert aufgenommen wurde, verdeutlicht die Exklusivität der moralischen Aufladung dieser Konstruktion und zeigt, dass Negativbilder wie insbesondere die Exilautoren/-innen und die Besatzungsmächte das konstruierte Selbstbild noch zusätzlich schärften. Diesen ‚Anderen‘ werden im Essay das Vermögen und die Legitimation abgesprochen, moralische Urteile zu fällen, ihr Leben in der ‚Fremde‘ erscheint mit ‚Unheil‘ verknüpft. Der moralische Dienst an Deutschland wird als wichtigste Aufgabe der jungen ‚dagebliebenen‘ Deutschen skizziert, wobei auch alle Opfergruppen des Nationalsozialismus weiterhin aus der Identitätskonstruktion ausgeschlossen sind, und zwar in einem partikularistischen Argumentationsmuster, dessen sich Martin Walser rund 50 Jahre später nach wie vor bedient, wenn er ‚unsere Schande‘ beklagt. Einige bereits im Verlauf der vorherigen Argumentation erwähnte, bekannte außerliterarische Beispiele von Exklusion wurden schließlich noch einmal herangezogen, um sie daraufhin zu befragen, ob und inwiefern sie mit verschiedenen Äußerungsformen partikularer Beurteilungsweisen in Zusammenhang stehen könnten.

Dieser Überblick ließ eine erste Ordnung verschiedener Varianten zu, wie sich eine Fortsetzung partikularer Moralvorstellungen in Konstruktionen von Identität und Alterität in der Gruppe 47 äußern konnte. Einerseits scheint Alterität oft als weniger relevant bewertet zu werden: ‚Die Anderen‘ hätten sich auch in moralischen Fragen nicht in ‚unsere‘ internen Angelegenheiten einzumischen; dem Recht auf moralisches Urteilen wird also seine Universalität abgesprochen. Ebenfalls ein Aspekt von geringerer Relevanz ist die Verweigerung von Mitleid, die wie gesehen auch noch 1986 so weit geht, dass Richter belustigt berichtet, Schurre hätte das Leid der Juden schlimmer gefunden als die eigenen Kriegserfahrungen. Eine zweite Variante partikularen moralischen Beurteilens ist die, dass Alterität a priori als weniger tugendhaft verstanden wird; dass man also Vorurteile gegenüber ‚Anderen‘ hat, sie abwertet – und im Gegenzug auch Zugehörige ausschließt, wenn sie sich entgegen der herrschenden Moral verhalten, was implizit der Logik entspricht: Wer nicht wie ‚wir‘ tugendhaft ist, gehört ab jetzt zu ‚den Anderen‘.

Die Ergebnisse aus allen drei Kapiteln sollen im folgenden Teil II dieser Studie den Hintergrund bilden, um den Fragen nachzugehen, ob sich ein solcher partikularer Beurteilungsmodus auch in den literarischen Texten der Gruppe 47 niederschlägt und ob und inwiefern in den fiktionalen Texten auch eine Kontinuität spezifischer NS-Moraldiskurse mit den Verknüpfungen von Zugehörigkeit und Moralvorstellungen verbunden ist; kurz: wie sich die entsprechenden literarischen Konstruktionen zu einzelnen Ideologemen der NS-Ideologie verhalten.

1

Widmer [1965] 1967, S. 330 f. Zum Zitat fügt Widmer an: „Diese sprachlichen Hammerschläge stammen von Alfred Andersch. Ich denke, es ist ein Symptom, wenn brillante Stilisten wie er (und andere) sich so hilflos ausdrücken.“ (Ebd.).

2

Ebd.

3

Aus der Redaktion des deutschen Ruf ging die Gruppe 47 hervor, womit Widmer seine Wahl der Zeitschrift auch begründet: „Ich habe diese Zeitschrift gewählt, weil sie durch die personelle Verbindung zum ‚Kahlschlag‘ und zur ‚Gruppe 47‘ – also zur Literatur der jungen Generation – eine Sonderrolle für unsere Untersuchungen spielt. Hans Werner Richter […] weist auf diese enge Verbindung zwischen dem literarischen Leben von heute und der politischen Publizistik der ersten Nachkriegsjahre eigens hin: ‚Der ‚Ruf‘ wurde von der amerikanischen Militärregierung verboten. Es entstand die Gruppe 47. Sie wurde von vornherein von derselben Mentalität geprägt.‘“ (Widmer 1966, S. 29; vgl. dazu weiter unten in Teil I der vorliegenden Studie.)

4

Die Dissertation trägt den Titel 1945 oder die „neue Sprache“. Studien zur Prosa der „Jungen Generation“ (1966). Bereits Widmer setzt den Begriff „junge Generation“ in Anführungszeichen; so wird es wegen des deutlichen Konstruktionscharakters dieser Zuschreibung auch in der vorliegenden Studie gehandhabt; vgl. zur ‚jungen Generation‘ weiter unten in Teil I dieser Studie.

5

Dabei stützt er sich auf Wörterbücher aus dem Nationalsozialismus (vgl. ebd., S. 27) und auf linguistische Analysen des Nationalsozialismus, darunter die inzwischen oft aufgelegten Studien Victor Klemperers (LTI. Notizbuch eines Philologen, 1947) sowie Dolf Sternbergers, Gerhard Storz’ und W. E. Süskinds (Aus dem Wörterbuch des Unmenschen; Erstdruck 1957, Widmer bezieht sich auf die Ausgabe von 1962); vgl. Widmer 1966, S. 27 f.

6

Ebd., S. 196.

7

Ebd., S. 197.

8

Ebd., S. 32. Hier geht es um Anderschs Satz im Ruf-Artikel „Das junge Europa formt sein Gesicht“ (1946), wo Andersch schreibt, die Jugend Europas werde „den Kampf gegen alle Feinde der Freiheit fanatisch führen.“ (Andersch 1946, S. 1.) Widmer merkt dazu an: „Das ist ‚braune‘ Sprache: erst Hitler und Goebbels haben den Kampf für Deutschland fanatisch geführt, das Schlagwort (und andere) unermüdlich wiederholt. Alfred Andersch schwimmt, ohne es zu wissen, in ihrem Fahrwasser. Ein erklärter Anti-Faschist – die Mitarbeiter des ‚Ruf‘ sind politisch über jeden Zweifel erhaben – bedient sich des Vokabulars ihrer [sic] Gegner.“ (Widmer 1966, S. 32.)

9

Die vorliegende Studie ist im Rahmen eines Forschungsprojekts entstanden, das ausgehend von diesen Debatten die biografie- und generationengeschichtlichen Brüche und Kontinuitäten in literarischen Texten von Autoren/-innen der Gruppe 47 noch einmal neu beleuchtet hat. Das Projekt fragte aus zwei unterschiedlichen Perspektiven nach den literarischen Implikationen zum einen biografie- und generationengeschichtlicher Brüche und zum anderen mentalitärer und ideologischer Kontinuitäten. Es wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert und von Matthias N. Lorenz und Klaus-Michael Bogdal betreut. Parallel zu der vorliegenden Arbeit ist Jennifer Bigelows Studie mit dem Arbeitstitel „… die Gewissheit einer unaustilgbaren Lebensschuld“? Erinnerungsdiskurse und Identitätskonstruktionen in der Literatur der Gruppe 47 [2020] entstanden, die den Fokus auf biografische Brüche und Identitätskonstruktionen in der Gruppe 47 richtet. Die Verweise auf ihre Studien erfolgen wegen der parallelen Entstehung ohne Seitenzahlen.

10

Vgl. den Forschungsüberblick weiter unten im vorliegenden Teil I der Studie.

11

Vgl. Weber 2015.

12

Vgl. insbesondere Briegleb 2003.

13

Lorenz 2005.

14

Hieber 2014; vgl. auch Kap. 4.2.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

15

Vgl. Döring/Joch 2011; vgl. auch Kap. 4.1.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

16

Vgl. Bigelow 2015; auf diese einzelnen Debatten wird im Verlauf von Teil I der vorliegenden Studie genauer eingegangen.

17

Vgl. den Theorieteil weiter unten im vorliegenden Teil I dieser Studie.

18

Auch deren Ablauf wird an dieser Stelle nur grob umrissen, da die einzelnen Argumentationsschritte in den jeweiligen Zwischenbilanzen detaillierter und in den Fazits der drei Hauptteile dieser Studie noch einmal zusammengefasst sind.

19

Toni Richter über Hans Werner Richter, T. Richter 1997, S. 10.

20

Der wohl meistzitierte Überblick über diese Entwicklung stammt von Hans Werner Richter selbst im langen Aufsatz „Wie entstand und was war die Gruppe 47?“ (1979). Darauf beziehen sich bis heute die wichtigsten Überblicksdarstellungen. Die vorliegende Studie verdankt ihre Informationen über Begebenheiten auf Tagungen, zeitliche Abläufe und Teilnehmende insbesondere den einschlägigen Publikationen von Böttiger (2012), der Bundeszentrale für politische Bildung (2007), Gilcher-Holtey (2007; 2000), Arnold (2004, 2004b), Nickel (1994) und Vaillant (1978); die wichtigsten „Stereotype zur Gruppe 47“ hat Guntermann (1999) zusammengetragen; vgl. den Literaturüberblick weiter unten in diesem Kapitel.

21

Nun mit dem Zusatz „Unabhängige Blätter der jungen Generation“, Neunzig (1976) hat eine Auswahl der wichtigsten Artikel zusammengestellt.

22

Vgl. Vaillant 1978.

23

Die Nullnummer des Skorpion wurde 1948 in einer Auflage von 100 Stück gedruckt, heute ist sie als Reprint erhältlich (Arnold 1991).

24

Zur Konstruktion des Bruchs mit dem Nationalsozialismus und den damit verbundenen Narrativen der Gruppe 47 vgl. Bigelow [2020].

25

Vgl. Richter 1962, S. 10.

26

Die zahlreichen publizistischen Reflexionen über politische und literarische Belange, die von frühen Mitgliedern der Gruppe 47 in den ersten Jahren verfasst wurden, haben einen wichtigen Teil zu diesem Selbst- und bald auch öffentlichen Bild beigetragen. So prägte Wolfgang Weyrauch 1949 in seiner Anthologie Tausend Gramm den Begriff des literarischen Kahlschlags, Heinrich Böll kanonisierte 1952 denjenigen der Trümmerliteratur (vgl. Weyrauch 1989, S. 178; Böll 1979, S. 31–34).

27

1964 triumphal in Sigtuna, 1966 konfliktreich in Princeton; vgl. dazu Böttiger 2012, S. 339–354, 378–395.

28

Daraus, wer genau dazugehörte und wer nicht, wurde zwar immer ein Geheimnis gemacht: „Nicht jeder sei automatisch Mitglied der Gruppe 47, nur weil er ihre Tagungen besuchen dürfe. Die Gruppe 47 sei nur ein sehr kleiner Kreis, und wer einmal darin aufgenommen sei, das werde er, Hans Werner Richter, nie sagen.“ (Ebd. 2012, S. 340.) Verschiedene Mitglieder und vor allem Richter selbst haben aber in Interviews oder Essays Aufzählungen gemacht, wer zum ‚innersten Kreis‘ gehöre; diese Zuschreibungen sind in Kap. 2.3.1 im vorliegenden Teil I der Studie zusammengetragen.

29

Diese Stellungnahmen wurden zwar konsequenterweise nie von der Gruppe als Institution verfasst, sie wurden aber oft im inoffiziellen Teil der Tagungen initiiert, direkt mit der Gruppe in Verbindung gebracht und fanden einen enormen Widerhall in den Medien. Die „Resolutionen“ aus dem Kreis der Gruppe 47 zusammengetragen hat Arnold (2004, S. 109). Einen Überblick über die Rezeption der Gruppe in den Medien hat Lettau (1967) zusammengestellt.

30

Die rasante gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik der unmittelbaren Nachkriegszeit und der 50er und 60er Jahre ist historisch breit dokumentiert. Sie wird hier auch deswegen nicht genauer aufgerollt, weil Helmut Böttiger diese gesellschaftlichen Kontexte, in deren Milieu sich die Gruppe 47 entwickelte, in seiner Monografie über die Gruppe 47 (2012) bereits ausführlich geleistet hat (wie auch Lorenz (2013) anmerkt, der die „Entfaltung eines Panoramas der fünfziger und sechziger Jahre“ lobt, vgl. ebd., Passage 21). Die folgenden Schlaglichter sollen bloß exemplarisch an diesen Hintergrund erinnern und das Gewicht verdeutlichen, das auch etwaigen problematischen Anstößen zur Aufarbeitung der Vergangenheit und vor allem des Holocaust in diesem Umfeld zuzuschreiben ist.

31

Moeller 2001; der Aufsatz ist die auf Deutsch übersetzte Zusammenfassung einer Monografie des Autors mit dem Titel War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany (2001).

32

Moeller 2001, S. 37.

33

Vgl. ebd., S. 39 f.: „Die Gesetzgebung engte die Kategorie der rechtmäßigen Opfer in zweifacher Weise ein. Zum einen hatten die Opfer den Nachweis zu erbringen, daß ihre Rasse oder ihre Überzeugungen für die erlittenen Verluste und Leiden ausschlaggebend gewesen waren. Zum anderen waren nur diejenigen anspruchsberechtigt, die entweder noch Ende 1952 in der Bundesrepublik lebten oder – sofern sie durch die Nazis deportiert worden oder nach 1945 emigriert waren – den Nachweis erbringen konnten, daß sie zuvor innerhalb des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 ihren Wohnsitz gehabt hatten. Vom Kreis der Berechtigten ausgeschlossen waren somit alle Bürger anderer Staaten, die in ihr jeweiliges Heimatland zurückgekehrt waren – so zum Beispiel polnische oder russische Staatsangehörige, die während des Krieges die Mehrheit der zivilen Zwangsarbeiter in Deutschland gestellt hatten. Nach den Bestimmungen des Gesetzes konnten ihre Wiedergutmachungsforderungen nur auf dem Wege staatlicher Reparationsforderungen ihrer Herkunftsländer geltend gemacht werden.“

34

Ebd., S. 40.

35

Ebd., S. 38–43. Fast gänzlich chancenlos blieben die Ansprüche der homosexuellen Verfolgten, die auch nach dem Krieg noch einem diskriminierenden Verbot unterstanden, ebenso die Ansprüche der sog. „Asozialen“ und der Sinti und Roma. Es wurde jeweils abgestritten, dass ihre Verfolgung mit „nationalsozialistischem Gedankengut“ zu erklären sei, wie es für eine Entschädigung nötig gewesen wäre; vielmehr hielt man die Verfolgung auch „rückblickend zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung für unerläßlich“ (vgl. ebd., S. 40). Ähnlich wurde auch in Bezug auf Opfer von Zwangssterilisierung und auf verurteilte ‚Rassenschänder/-innen‘ argumentiert. (Ebd., S. 41.) Politisch Verfolgte wurden grundsätzlich als Opfer anerkannt, nicht aber Kommunisten, von denen man vermutete, sie würden nach wie vor „ein anderes totalitäres politisches System […] unterstützen.“ (Ebd.)

36

Ebd., S. 54.

37

Vgl. ebd., S. 43–56.

38

Vgl. ebd., S. 41 f.

39

Bergmann 2007, S. 20.

40

Vgl. IfZ München–Berlin 2015: „Auf der ersten Untersuchungsebene der Studie, der Frage der NS-Belastung des leitenden Personals beider Ministerien sowie der möglichen personellen Kontinuität zur NS-Zeit, standen sowohl die nachweisbaren beruflichen Stationen der einzelnen Mitarbeiter während der NS-Zeit wie die Frage, welche ‚Vergangenheiten‘ nach 1945 als ‚belastend‘ begriffen und zugeschrieben wurden, im Mittelpunkt des Interesses. Der Begriff der ‚Belastung‘ wurde auf seine Problematik sowie auf seine Zeit- und Standortabhängigkeit hin reflektiert und entsprechend differenziert. Relativ leicht feststellen lässt sich die ‚formale‘ Belastung im Sinne einer nachweisbaren Mitgliedschaft in der NSDAP oder in einer ihrer Parteiorganisationen. Sie erwies sich im BMI als ausgesprochen hoch: Hier lag die Zahl der früheren NSDAP-Mitglieder 1950 bei 50 Prozent und stieg danach bis Anfang der 1960er Jahre kontinuierlich an. In den Jahren 1956 und 1961 erreichte die Entwicklung mit einem Anteil von 66 Prozent ihren Höhepunkt und ging bis 1970 wieder auf das Ausgangsniveau zurück. Das BMI erreichte damit einen Spitzenwert unter den bisher untersuchten bundesdeutschen Ministerien und wurde darin, so weit bislang bekannt, nur durch das dem BMI nachgeordneten Bundeskriminalamt übertroffen. Ähnlich entwickelte sich der Anteil ehemaliger SA-Mitglieder: Er lag 1950 bei 17 Prozent, stieg bis 1961 auf 45 Prozent an und sank bis 1970 auf 25 Prozent ab. Weitgehend konstant blieb demgegenüber die Zahl der ehemaligen Angehörigen der SS, die zwischen 5 und 8 Prozent schwankte.“ (Ebd., S. 141 f.)

41

Vgl. Prenzel 2015, S. 307.

42

Wie Höckes Infragestellung des Gedenkens an den Holocaust (Höcke 2017, o. S.) oder Frauke Petrys Ansinnen, den Begriff „völkisch“ aufzuwerten (vgl. Biermann 2016, o. S.).

43

Vgl. Horaczek 2018.

44

Vgl. Böttiger 2012, S. 42–60.

45

Die Sendung mit dem Titel „Bleibt der Antisemitismus ein deutsches Problem? Gespräch mit Karl Anders (Deutschland-Korrespondent der englischen Tribune), Axel Eggebrecht, Eugen Kogon, Karl Thieme (aus dem Schweizer Exil zurückgekehrter Theologe) und Wilhelm Weinberg (Frankfurter Rabbiner und Landesrabbiner für Hessen)“ wurde am 29.11.1949 im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt und dreimal wiederholt (Wiederholungen am 11.12.1949, 21.8.1951 und 21.9.1951); zit. n. Sarkowicz 2016, S. 243.

46

Vgl. Heer 2004, S. 171: Bölls erste Texte um 1946 wurden alle abgewiesen.

47

In der sog. „Dufhues-Affäre“, vgl. Böttiger 2012, S. 312–316.

48

So allen voran Richter; dessen „bewusst nicht genau definierte Aktivität als Chef der Gruppe 47 trat neben weitere Aktivitäten, die Richter als zeitkritischer Journalist und gesellschaftspolitisch engagierter Intellektueller begann: vor allem im ‚Grünwalder Kreis‘, der sich gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands wandte, sowie als Protagonist des ‚Kampfs gegen den Atomtod‘.“ (Ebd., S. 217.)

49

Vgl. ebd., S. 366–370.

50

Vgl. zur Entwicklung des Verhältnisses von Hildesheimer zur Gruppe 47 Braese 2001, S. 233–320 (i. e. Kap. „Die widerrufene Remigration“); Bigelow 2016; Bigelow [2020].

51

Besonders aufschlussreich über sein Verhältnis zur Gruppe 47 ist Reich-Ranickis 1999 erschienene Autobiografie Mein Leben, in der deutlich wird, wie grundlegend die Gruppe 47 dazu beigetragen hatte, dass Reich-Ranicki in der BRD der Nachkriegszeit Fuß fassen konnte.

52

Zu diesem Aspekt der Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit vgl. Bigelow [2020].

53

Andersch 1946, S. 2; vgl. auch Kap. 3.1 im vorliegenden Teil I Studie.

54

Andersch 1946, S. 2.

55

Böttiger 2012, S. 43.

56

Das aktive Wahlrecht erlangte man von 1918–1945 mit 20 Jahren, das passive mit 25; vgl. z. B. den Überblick im Band Wahlen in Deutschland (Vogel/Nohlen/Schultze 1971), S. 147. Die wichtigste Ausnahme zu dieser generationellen Zuordnung der Gruppe 47 bildet allerdings schon der 1908 geborene Gruppengründer Hans Werner Richter selbst; vgl. zu den Jahrgängen der Gruppe 47 auch Kap. 2.3.2 im vorliegenden Teil I der Studie.

57

Gustav René Hocke prägte diesen Begriff 1946 in einem Ruf-Artikel; Andersch wie auch Weyrauch nahmen in ihren Programmatiken Bezug darauf. Vgl. Hocke 1946.

58

Vgl. Egyptien/Louis 2007, insbesondere S. 220–237.

59

Weyrauch 1989, S. 178.

60

Ebd., S. 181.

61

Böttiger 2012, S. 62.

62

Wie es in Arnold 2004b festgehalten ist: „Repräsentativ für diese Haltung war Walter Jens: ‚Mir schien es so, daß mein Gefühlssozialismus, das moralische Engagement, die allgemeine Position […], die Opposition derer war, die ein für allemal genug hatten von großen Worten und großen Taten. Der Begriff Antifaschist war immer ein Ehrenname im Kreise der Gruppenmitglieder. Dieser gemeinsame Konsens war gegeben […]‘. Der emotionale Antifaschismus und Gefühlssozialismus spiegelten sich dann in der Haltung gegenüber der gesellschaftspolitischen Entwicklung der Bundesrepublik wider.“ (Ebd., S. 158; vgl. auch ebd., S. 35.)

63

Richter 1962, S. 13; vgl. zu den Implikationen dieser exklusiven Vorstellung von Mentalität das Kap. 3 im vorliegenden Teil I der Studie.

64

Im kurzen Almanach-Essay spricht Richter noch an zwei weiteren Stellen davon und betont noch ein zweites Mal, die Mentalität sei ausschlaggebend für die Zugehörigkeit gewesen, wenn er schreibt: „Wenn man den literarischen oder den kritischen, aber auch oft den politischen Maßstäben nicht gewachsen war oder den ‚Traditionen‘ und der Mentalität dieser Gruppe nicht gerecht werden konnte, dann wurde die Einladung nicht wiederholt.“ (Richter 1962, S. 12; vgl. auch ebd., S. 10.)

65

Richter 1979.

66

Ebd., S. 58, 120 f., 145, 171.

67

Ebd., S. 171.

68

Ebd., S. 171. Es seien sich auf dieser letzten Tagung „ideologische Verkrampfung auf der einen Seite, hochentwickelter Formalismus auf der anderen“ gegenübergestanden, und in „den Mühlsteinen zwischen beiden konnte die ‚Gruppe 47‘ nicht existieren.“ (Ebd.)

69

Ebd., S. 131.

70

Richter, zit. n. T. Richter 1997, S. 201.

71

T. Richter 1997, S. 10.

72

Eine Darstellung dieser inhaltlichen Entwicklung der Programmatik und Poetik der Gruppe 47 wird in der parallel entstandenen Studie von Bigelow [2020] nachvollzogen und hier nur knapp zusammengefasst, da sich der Fokus im Folgenden auf Kontinuitäten richtet, die sich über diese Entwicklungen hinaus dennoch beständig halten (vgl. dazu Kap. 2.1 im vorliegenden Teil I der Studie).

73

Wie Böttiger formuliert: „Am entrücktesten ist mittlerweile wohl die gesellschaftliche Funktion, die die Gruppe gehabt hat und die heute vor allem mit der Person von Günter Grass identifiziert wird – mit jener Art moralischer Instanz, die er für sich in Anspruch nimmt. Man assoziiert mit der Gruppe 47 automatisch etwas sozialdemokratisch Leitartikelhaftes.“ (Böttiger 2012, S. 10.)

74

Vgl. z. B. Guntermann 1999, S. 27; Grass berichtet in einer ZDF-Kurzdokumentation über sein Leben (ZDF 2015), er und Böll hätten sich immer gegen diese Zuschreibung gewehrt (ebd., ca. 4:30–4:35).

75

Döring 2015.

76

Vgl. Böttiger 2012: „Paradoxerweise trug aber gerade ihre gesellschaftspolitische Funktion erheblich zu ihrer Wirkung bei. Es wirkt im Rückblick fast zwangsläufig, dass diese 1967 überholt schien; die Gruppe 47 hatte zu diesem Zeitpunkt ihren Zweck erfüllt.“ (Ebd., S. 15.) Gegen Schluss bestätigt er noch einmal: „Die Gruppe 47 spiegelt nicht einfach den Demokratisierungsprozess der Bundesrepublik wider, sie war ein erheblicher Teil davon.“ (Ebd., S. 430.)

77

Döring 2015, o. S.

78

Geppert 2013, o. S.

79

Die Begründung: „Nie kapituliert Böttiger vor der Fülle der Anekdoten, um so plastischer treten markante Situationen wie die Kirke-Episode hervor, in der Ingeborg Bachmann 1954 Landser und Avandgardisten [sic] am Cap Circeo bei Rom versammelt. In Szenen wie diesen verdichtet sich ein Grundzug dieses vielstimmigen, klug komponierten Buches: Sein Autor erzählt die Geschichte der Neuformierung der Literatur und Erfindung des Literaturbetriebs in Deutschland nach 1945 mit dem Sensorium des Lesers und Kritikers – und mit den Mitteln der Literatur selbst.“ (o. A. 2013 [Pressemeldung].)

80

Lorenz 2013, Abs. 17.

81

Vgl. ebd., Abs. 17–18.

82

Döring 2015, o. S.

83

Cammann 2012, o. S.

84

Ebd.

85

Vgl. zu der Auswahl Richter 1962, S. 13 f.; vgl. auch Kap. 2.3.3 im vorliegenden Teil I der Studie.

86

Vgl. dazu Kap. 2.3.3 im vorliegenden Teil I der Studie.

87

Vgl. Neunzig 1983.

88

Richter 1986, Untertitel.

89

Vgl. zum Mitgliederstatus Kap. 2.3.1 im vorliegenden Teil I der Studie. Im Band porträtiert sind Ilse Aichinger, Carl Amery, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Wolfgang Hildesheimer, Walter Höllerer, Walter Jens, Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Barbara König, Walter Kolbenhoff, Hans Mayer, Milo Dor, Marcel Reich-Ranicki, Wolfdietrich Schnurre, Martin Walser und Peter Weiss, vgl. Richter 1986.

90

Haffner 1964.

91

Am wichtigsten sind der Band Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz (Richter 1962d), in dem fast alle der „sechsunddreissig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten“ (ebd.) von Mitgliedern der Gruppe 47 stammen, und der von Weyrauch herausgegebene Band Ich lebe in der Bundesrepublik (1961), in dem kein einziger jüdischer Autor vertreten ist und den Hermann Kesten mit dem Band Ich lebe nicht in der Bundesrepublik (1964), in dem die jüdischen und exilierten Autoren zu Wort kommen, gekontert hat; vgl. dazu Lamping 1998, S. 130.

92

Besonders wichtig sind Hans Werner Richters Die Literatur (1952–1953), Walter Höllerers und Hans Benders Akzente (1953–1967), Alfred Anderschs Texte und Zeichen (1955−1957) und Hans Magnus Enzensbergers Kursbuch (1965–2008).

93

Vgl. dazu Böttiger 2012, S. 108–111, 212–217, 467–468.

94

Vgl. Bigelow [2020].

95

Henry Meyer-Brockmann (der selbst schon für den Ruf gearbeitet hatte, vgl. Richter 1979, S. 58) stellte zum 15-jährigen Jubiläum der Gruppe 47 den Band Die Gruppe 47 und ihre Gäste (1962) mit eigenen Zeichnungen, vor allem Porträts von Gruppenmitgliedern und Texten aus der Rundfunkberichterstattung der letzten 15 Jahre zusammen; die von Neunzig herausgegebene Sammlung Hans Werner Richter und die Gruppe 47 (1979) ist ein Kompendium von Lobreden auf den Gruppenchef durch viele wichtige Gruppenmitglieder; aus diesem Band stammt der Essay „Wie entstand und was war die Gruppe 47?“, der längste und wohl meistzitierte Text über die Gruppe 47 von Hans Werner Richter selbst (ebd., S. 41–176). Jürgen Schutte et al. stellten im Namen der Akademie der Künste zu Richters 80. Geburtstag den Band Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur (1988) zusammen, in dem, wie Peter Härtling im Vorwort formuliert, „ihm [Richter] als Geschenk und uns zur lehrreichen Unterhaltung in Dokumenten, Briefen, Schnipseln die Geschichte der Gruppe 47“ (Härtling 1988, S. 5) vorgeführt werden soll. Barbara König, ebenfalls Gruppenmitglied, veröffentlichte anlässlich des 50. Jubiläums der Gruppe 47 einen Gedenkband mit dem Titel: Hans Werner Richter. Notizen einer Freundschaft (1997).

96

Für die vorliegende Studie ist Manfred Durzaks umfangreicher Band Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts. Werkstattgespräche. Interpretationen (32002) besonders ertragreich, der Einträge über und Interviews mit zahlreichen Schriftstellern und Schriftstellerinnen aus dem inneren Gruppe-47-Kreis enthält.

97

Allen voran natürlich die von Cofalla 1997 herausgegebenen Briefwechsel Hans Werner Richters (Richter 1997).

98

Besonders wichtig ist hier Weyrauchs 1949 erschienene Anthologie Tausend Gramm (1989), die mehrere frühe Gruppe-47-Texte enthält und in deren Nachwort er wie bereits erwähnt das Konzept des „Kahlschlags“ prägte; vgl. dazu auch Kap. 1.1 in Teil III der vorliegenden Studie.

99

Lettau 1967. Lettau galt in den 60er Jahren als „Gruppenliebling[]“ (Benziner 1983, S. 61).

100

Nickel 1994, S. 339–407.

101

Bemerkenswert ist eine abseitig erschienene wissenschaftliche Publikation von Lothar Ulsamer mit dem Titel Zeitgenössische deutsche Literatur als Ursache oder Umfeld von Anarchismus und Gewalt? Aufgaben und Wirkungen der Kulturintelligenz, dargestellt an exemplarischen Beispielen (1987), die die Gruppe 47 noch in den 80er Jahren von ‚rechts‘ mit ähnlichen Motiven angreift wie einige Medienschaffende in der frühen Nachkriegszeit; indem er sie als ‚linke Clique‘ abqualifiziert, in die nur Eingang gefunden habe, wer diesem ‚Mainstream‘ entsprochen habe (vgl. ebd.). Die meisten Untersuchungen aus den 1980er und 1990er Jahren zur Gruppe als Ganzes haben einen weniger polemischen Ton, es handelt sich aber meistens nicht um literaturwissenschaftliche Studien. So schreibt Fredrik Benzinger 1983 an der Universität Stockholm eine soziologische Monografie über Die Tagung der Gruppe 47 in Schweden und ihre Folgen. Im Jahre 1997 erscheint ein medienwissenschaftlicher Tagungsband von Peter Gendolla zum Thema Die Gruppe 47 und die Medien. Friedhelm Kröll hat die beiden umfangreichsten und meistrezipierten Bände in diesem Sinne verfasst: Auf seine Habilitationsschrift Die „Gruppe 47“ (1977) folgte der schmalere Band Gruppe 47 (1979). Das wichtigste Fazit seiner Habilitationsschrift (die „das ideologische Profil“ und die „soziale Bewegung“ der Gruppe als „spezifische Ausdrucksmomente der Entwicklung der objektiven Gesamtlage literarischer Intelligenz und ihres subjektiven, handlungskonstitutiven Widerscheins“ analysiert, vgl. Kröll 1977, S. 1) ist eine differenzierte Unterteilung der Gruppenentwicklung in vier Phasen, auf die noch aktuelle Publikationen zur Gruppe 47 aufbauen: Er unterscheidet aufgrund von Auskünften und schriftlichen Zeugnissen der Gruppenmitglieder zwischen Konstituierungs- (1947–1949), Konsolidierungs- (1950–1957), Hoch- (1958–1963) und Spätphase (1964–1967) der Gruppe 47; Sonja Meyer übernimmt diese Einteilung in ihrem Band Die Gruppe 47 und der Buchmarkt der frühen Bundesrepublik (2013, S. 10–34). Besonders verdienstvoll ist auch Jérôme Vaillants frühe Studie Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945–1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung (1978), der bereits früh zentrale Gründungsmythen der Gruppe 47 widerlegt, aber in der darauffolgenden Gruppe-47-Forschung kaum rezipiert wurde (dazu kritisch Lorenz 2009, S. 54–58).

102

Arnold 2004 bzw. Arnold 2004b, auf diese beiden letzten Versionen von Arnolds Studien bezieht sich die vorliegende Studie.

103

Nicht zu vergessen sind auch der verdienstvolle Aufsatz von Ingrid Gilcher-Holtey „Zur Rolle der Gruppe 47 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit“ (2000) sowie die Zusammenstellung der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Broschüre Gruppe 47 (2007).

104

Böttiger 2012; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

105

Ein Jahr darauf publizierte Sonja Meyer den bereits erwähnten Band Die Gruppe 47 und der Buchmarkt der frühen Bundesrepublik (2013), in dem sie eine quantitative Perspektive auf die Gruppe 47 wählt, um die Bedeutung der Gruppe 47 auf dem Buchmarkt zu eruieren. Ihr Forschungsinteresse und Befund, dass „rein quantitativ […] zu keinem Zeitpunkt von einer Monopolisierung der Literatur durch den Kreis um Hans Werner Richter gesprochen werden“ könne (ebd., S. 172), ist angesichts der zeitgenössischen Debatten um die Gruppe 47 bemerkenswert; für die vorliegende Studie besonders wichtig sind die auf CD-ROM beigefügten Materialien: In je einem umfangreichen Autoren-, Teilnehmer-, Titel- und Verlagskorpus stellt Meyer die Ergebnisse ihrer Recherchen nach Tagungen und Verlagen in tabellarischer Form zur Verfügung (vgl. ebd., Beilage „Korpora auf CD-ROM“). Die englischsprachige Studie von Aaron D. Horton über German POWs, Der Ruf, and the Genesis of Group 47 (2014) erhellt noch einmal die Gründungsphase der Gruppe 47 und das Verhältnis ihrer frühen Exponenten zu der US-amerikanischen Besatzung. Fast literarisch gehalten ist das jüngste Buch des Walser-Philologen Jörg Magenau über Princeton 66: Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47 (2015); auch er wurde im Feuilleton sehr positiv besprochen und konnte der vorliegenden Studie vor allem hinsichtlich spezifischer Hintergründe und Konstellationen zu außerliterarischen Gruppe-47-Begebenheiten interessante Impulse geben. Wiebke Lundius’ 2017 erschienene Studie über Die Frauen in der Gruppe 47 (vgl. auch ihren zusammenfassenden Aufsatz, 2017b) sowie Jörg Dörings 2019 erschienener Band Peter Handke beschimpft die Gruppe 47 konnten nicht mehr im Detail eingearbeitet werden; sie bieten aber willkommene Ergänzungen zu weiteren Aspekten der hier gewählten Fragestellung, die im Folgenden wenig beleuchtet werden.

106

Vgl. unter anderem Böttiger 2012, S. 13.

107

Vgl. ebd., S. 170 f.

108

Vgl. Kap. 2.3.3 in Teil II der vorliegenden Studie m. w. H.

109

Am ausführlichsten Enzensberger im Text „Die Clique“ (Enzensberger 1962). Blöcker selbst erklärt einen Monat nach Erscheinen des Almanachs in einem Zeit-Artikel mit dem Titel „Die Gruppe 47 und ich“ (Blöcker [1962] 1967), warum er „einem on dit zufolge als Gegner der Gruppe 47“ gelte (ebd., S. 353; vgl. dazu Böttiger 2012, S. 293 f.). Eigentlich sei ihm die Gruppe egal, schreibt er – die „Sonderbare[] Inbrunst“ (Blöcker [1962] 1967), mit der die Teilnehmer der Tagungen das „kritische[] Gemetzel“ auf den Tagungen schildern (ebd.), die „Härteproben“, die ihn an „die Mannbarkeitsriten gewisser primitiver Völkerstämme“ (ebd.) oder an die „Elite-Vorstellungen einer schlagenden Verbindung“ erinnerten (ebd., S, 356), sowie die Einstellung Richters, Haltung bei Hinnahme der Kritik sei wichtiger als schriftstellerische Qualität, seien ihm aber in der Tat suspekt (ebd.). Blöcker benennt hier erstaunlich treffend etliche derjenigen Aspekte der Gruppe, die auch heute noch, wenn auch aus anderen Gründen, kritisch betrachtet werden.

110

Vgl. Böttiger 2012, S. 396–418.

111

1945, bei der Neuen Zeitung als Assistent Erich Kästners, vgl. Böttiger 2012, S. 46.

112

Habe 1964, zit. n. Walser 1964, o. S.

113

Böttiger 2012, S. 397 f.

114

Neumann 1966, zit. n. Böttiger 2012, S. 397 f.

115

Nossack 1966, zit. n. Böttiger 2012, S. 397 f.

116

„Aber die Ballung von Gruppe-47-feindlichen Texten in konkret, lauter schnell explodierende Knallkörper, beschäftigte Richter sehr. Sie schlossen daran an, was auch linke Gruppenrenegaten wie Martin Walser, Peter Weiss oder Heinrich Böll schon moniert hatten. Als Experte in publizistischen Dingen war Richter klar, was dieser Gegenwind zu bedeuten hatte, der der Gruppe 47 nun entgegenschlug. Robert Neumann, den linken Emigranten, der zudem eine sehr flotte Feder schrieb, musste er als Gegner äußerst ernst nehmen.“ (Böttiger 2012, S. 402) Der Band von Hans Dollinger Außerdem: deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel? (1967) zeigt die angespannte Stimmung, die inzwischen herrschte, wenn er dezidiert ausschließlich Nicht-Mitglieder der Gruppe abdruckt (vgl. ebd., Vorwort).

117

Vgl. Vormweg 1991; Preece 1999.

118

Trommler 1971, S. 14; Trommler zitiert Mayer 1968. Zur Entwicklung und Wahrnehmung der ‚Stunde Null‘ vgl. auch Hobuß 2015.

119

Heinrich Vormwegs Aufsatz trägt den Titel „Deutsche Literatur 1945–1960: Keine Stunde Null“ (1971); vgl. ebd., S. 20.

120

Zusammengefasst ist diese Polarisierung u. a. bei Hoffmann 2006, S. 13–19, der Wehdekings (1971) These, die Jahre 1945–1952 seien als eine Art „Miniepoche“ zu sehen, in der der Nullpunkt als „schriftstellerische Arbeitshypothese“ stark gewirkt habe (Hofmann 2006, S. 17), die dann aber von einem Bruch abgelöst worden sei, mit Vormweg (1971) widerspricht: Ab 1950 hätten sich die Gruppe-47-Mitglieder intensiv mit der literarischen Moderne auseinandergesetzt, ihre Neuerungen „beruhten somit gerade auf einer spezifischen Akzentverschiebung in der Aneignung der Tradition (statt auf einem Bruch mit dieser).“ (Hoffmann 2006, S. 18.)

121

Wehdeking 1971, S. 42–53.

122

Ebd., S. 140; wobei hier auch Wehdekings besonderes Interesse an Alfred Andersch mitspielt, der auch in der weiteren Karriere Wehdekings einen Forschungsschwerpunkt bildete (u. a. Wehdeking 1983, 2016).

123

Vgl. Peitsch [2006], S. 4 f.

124

Trommler 1971, S. 9.

125

Ebd., S. 20.

126

Vgl. beispielweise ebd., S. 14: „Besonders die Autoren der ‚Gruppe 47‘ integrierten in ihren Kurzgeschichten, Berichten und Gedichten […] das Bewußtsein von der Verantwortlichkeit in dieser geschichtlichen Stunde. Der späteren Frage gegenüber, warum deutsche Autoren nach dem Kriege ihre konkrete Geschichtserfahrung nicht wie ihre Kollegen in Frankreich oder Italien […] in ebenso konkrete, aufrüttelnde literarische Werke zu verwandeln vermochten, muß man mit aller Vorsicht auf die Grenzen dieser Programmatik verweisen, die zwar nicht literarisches Talent ersetzen, wohl aber wichtige Voraussetzungen zur Darstellung der Gegenwart liefern konnte. Angesichts der Tatsache, daß in Deutschland die Tradition gesellschaftskritischer Literatur nur schwach ausgebildet war und ohne die Emigranten vollends verschüttet gewesen wäre, ist die volle Beantwortung der Frage stark davon abhängig, wie genau die Schriftsteller die historische Situation durchschauten, eine Situation, die, wie sich langsam herausstellte, den Nullpunkt keineswegs zur Voraussetzung hatte.“

127

Ebd., S. 15.

128

Ebd., S. 32 f.

129

Die ganze Debatte ist zusammengefasst von Anz ([1996] 2011), der die wichtigsten Beiträge bereits ein Jahr nach dem Streit im Band Es geht nicht um Christa Wolf (1991) dokumentiert hat.

130

Vgl. Schirrmacher 1990; Jochen Vogt (1991) fasst Schirrmachers Thesen im Streit in Bezug auf die BRD wie folgt zusammen: „Erstens: Die Literatur der Bundesrepublik ist wesentlich das Produkt einer Generation von Gründervätern und -müttern, die sich fast vollständig in der Gruppe 47 versammelt hatten und rund um 1960 diejenigen Romane, Dramen und Gedichte hervorbrachten, die bis heute den ‚klassischen‘ Bestand der westdeutschen Nachkriegsliteratur ausmachen. Diese Literatur hat, zweitens, nach der totalen Niederlage von 1945 – und der damit einhergehenden Entwertung nationaler Mythen – unserer Nachkriegsgesellschaft im Westen eine neue Identität, ein ‚Ich‘ verliehen. Sie sei Produktionsstelle der westdeutschen Identität gewesen […]. Eine Legende sei beispielsweise Grassens Behauptung, er habe sich gegen eine reaktionäre und nationalistische Öffentlichkeit durchsetzen müssen. Drittens nun: Derart identitätsstärkend in einer Epoche des globalen Ich-Zerfalls, und das heißt für Schirrmacher letztlich: geradezu staatstragend habe diese Literatur wirken können, weil sie die sogenannte ‚Stunde Null‘ als unüberschreitbaren ‚Anfang der Geschichte‘, als ‚Zäsur zur Vorwelt‘, als ‚Abschied vom Holocaust‘ gesetzt und insofern den ‚Preis der Vergangenheit‘ gezahlt habe. Diese Literatur habe sich ‚mit guten Gründen veranlaßt‘ gesehen, ‚die Vergangenheit als Erinnerung wachzuhalten, von ihr zu erzählen […]‘. Zugleich aber, und darin lag ihr Widerspruch, versuchte die neue westdeutsche Literatur, auf anderem Wege diese Vergangenheit auszulöschen und Kontinuitäten zu brechen, ganz ähnlich wie das ‚restaurative Establishment‘. Durch diese Fixierung auf das ‚Gedächtnis einer Generation‘ verschließe sie – viertens und letztens – den Zukunftshorizont fast ebensosehr, wie sie Vergangenheit und Tradition verkürze.“ (Vogt 1991, S. 453.) Vgl. dazu aber im selben Kontext auch Klaus-Michael Bogdals (1991) differenzierende Stellungnahme gegen die Vorwürfe durch Schirrmacher und insbesondere Bohrer und Greiner. Wie Bogdal betont, habe die Rolle „des Schriftstellers als politisch-moralische Instanz“ eine reiche Tradition (ebd., S. 598); er äußert sich gegen die generalisierte Skepsis gegen „eine Wiederkehr der Moral in die Literatur“ (ebd., S. 601) und zeigt auf, dass die Einschränkungen, die in der Debatte für die engagierte Literatur durch Autorinnen und Autoren, die in der Diktatur leben mussten, gefordert wurden, faktisch ein „lebenslanges Sprech- und Schreibverbot“ (ebd., S. 602) implizieren würden. Diese Haltung laufe der traditionellen Rolle von Autoren/-innen in der Gesellschaft und auch Michel Foucaults Konzeption des kritischen Umgangs mit Macht zuwider (ebd., S. 602 f.).

131

Schirrmacher 1990, o. S.

132

Vogt 1991, S. 453 f.

133

Vgl. Ritter 2007, Hahn 2011, Joch 2011.

134

Sebald 1993, S. 80–84.

135

So durch Ruth Klüger (1994), die auf die klischierten Judenfiguren in Anderschs Werk hinweist (Klüger 1994; vgl. Kap. 4.1.2 in Teil II der vorliegenden Studie), Publikationen von Johannes Tuchel und Felix Römer, die rekonstruieren konnten, dass Anderschs KZ-Haft in Dachau nicht wie dieser geschrieben hatte ein „Vierteljahr“ bzw. später angegeben ein halbes Jahr, sondern maximal 6 Wochen gedauert hatte (Tuchel 2008, S. 33; vgl. Römer 2011 und Joch 2011, S. 262 f.). Rolf Seubert führt im Band Alfred Andersch ‚revisited‘ (2011) sogar zahlreiche Indizien dafür an, dass die Haft sogar erfunden sein könnte (vgl. Seubert 2011); vgl. auch weitere im selben Sammelband zusammengetragene werkbiografische Widersprüchlichkeiten, so in Bezug auf Anderschs Desertion (dazu detailliert auch Döring/Römer/Seubert 2015).

136

Vgl. dazu noch die stark polarisierten Debattenbeiträge auf literaturkritik.de zum 100. Geburtstag Anderschs von Jaumann 2014, Lamping 2014, Joch 2014.

137

Vgl. die Dokumentation der Walser-Bubis-Debatte von Schirrmacher 1999 und Lorenz 2015.

138

Aufgearbeitet in Lorenz 2005, S. 79–220; vgl. auch Kap. 2 in Teil III der vorliegenden Studie.

139

Walter Jens und Walter Höllerer (2003), die Schriftsteller Martin Walser und Siegfried Lenz (2007) und Hans Werner Henze (2009); vgl. dazu Weber 2015.

140

Vgl. zur Debatte um Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft Bigelow 2015. Der Verlauf dieser Debatten um die Gruppe 47 und ihre wichtigsten Vertreter lässt sich adaptiert mit einer Beobachtung aus der Frankfurter Rundschau illustrieren, die Matthias N. Lorenz in seiner Monografie zu literarischem Antisemitismus im Werk Martin Walsers aus dem Jahr 2005 umschreibt: „Zunächst gebe es den Antisemiten. Er fühle sich als Opfer einer Verschwörung, die je nach Prägung Weltjudentum, Wallstreet oder Medienmacht heißen könne. Gleichwohl verstehe sich der Antisemit nicht als Judenfeind und meine, dies auch nicht zu erkennen zu geben. Sein Gegenspieler sei der Anti-Antisemit. Er müsse den Antisemiten überführen […]. Dazu bediene sich der Anti-Antisemit des Verdachts: Er überprüft Sprache und Rhetorik des Verdächtigen und suche nach Anzeichen einer latenten Judenfeindschaft […]. Da der Anti-Antisemit nur mit Verdachtsmomenten und mit seinen eigenen Interpretationen arbeite, werde er sein Urteil nie beweisen, sondern immer nur begründen können. Es gebe aber noch den Typus des Anti-Anti-Antisemiten. Dieser unterstelle dem Anti-Antisemiten, sich ebenso wie der Antisemit in einem Wahnsystem zu bewegen […]. Diese Haltung werde schließlich kritisiert vom Anti-Anti-Anti-Antisemiten. […] Treffender lässt sich die erhitzte, moralisierende und verquaste deutsche Antisemitismusdebatte in ihrer überkomplizierten Begrifflichkeit und Verkrampftheit nicht fassen.“ (Lorenz 2005, S. 16 f.; er bezieht sich auf einen Artikel in der Frankfurter Rundschau von Speck 2002.) Auch wenn Antisemitismus und als solche benannte NS-Kontinuitäten im „Literaturstreit“ und in der Sebald-Debatte nur am Rande eine Rolle spielten, zeigten sich ähnliche Diskursmechanismen.

141

Richter 1997.

142

Cofalla 1997, S. 9.

143

Richter 1997, S. 336 [Brief an Ferber vom 25.01.1961].

144

Vgl. Cofalla 1997, insbesondere S. 110–113.

145

Vgl. ebd., insbesondere S. 19–27.

146

Vgl. ebd., insbesondere S. 23–25.

147

Vgl. ebd., insbesondere S. 17–30 und 62–65. Sie folgert mit Bourdieu: „Die genannten Überschneidungen erschwerten es der aufstrebenden ‚jungen Generation‘, sich gegenüber den etablierten Autoren der ‚inneren Emigration‘ zu profilieren. Ihre Durchsetzungsstrategien im literarischen Feld der ersten Nachkriegsjahre zeugen von der Problematik einer Distinktion bei relativer Nähe.“ (Ebd., S. 29.)

148

Cofalla 1997, S. 21.

149

Der Band von Justus Fetscher et al. zur Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik (1991), Stephan Braeses Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47 (1999), Stuart Parkes’ und John J. Whites The Gruppe 47 Fifty Years on. A Re-Appraisal of its Literary and Political Significance (1999) und schließlich Hans-Gerd Winter: „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur (2002).

150

Briegleb 1999, erstmals abgedruckt 1996.

151

Der 2019 erschienene Sammelband Im Abseits der Gruppe 47 (Eickmans/Jung/Pütz 2019) konnte nicht mehr im Detail eingearbeitet werden. Hier liegt der Schwerpunkt aber weniger auf der Beziehung ausgeschlossener Autoren/-innen zur Gruppe 47 als auf deren eigenen Werken. Besonderer Fokus gilt Albert Vigolais Thelen, dem gleich vier Aufsätze gewidmet sind. Zu Thelens Status in der Gruppe 47 vgl. Kap. 2.3.2 im vorliegenden Teil I der Studie.

152

Schlinsog 2005, S. 69–78.

153

Bachmann 2005, S. 376, hier zit. n. Schlinsog 2005, S. 71; vgl. dazu Kap. 3 in Teil III der vorliegenden Studie.

154

Vgl. Wiedemann 2000; 2013; 2015; vgl. zur zentralen Rolle des ‚Dabeigewesenseins‘ in der Gruppe 47 Kap. 2.3.2 und 3.3.1 im vorliegenden Teil I sowie Kap. 3 in Teil II der vorliegenden Studie; auf Antisemitismus in der Literatur Gruppe 47 wird auch in der vorliegenden Studie im Verlauf der Argumentation immer wieder eingegangen, da er, wie sich herausstellt, eng mit der untersuchten Fragestellung zusammenhängt; vgl. insbesondere Kap. 2.3., 2.4., 4.3 und das Zwischenfazit in Teil II sowie Kap. 1.2., 2.2 und das Fazit in Teil III der vorliegenden Studie.

155

Vgl. Lorenz 2005, S. 483.

156

Ebd., S. 16.

157

Lorenz 2011.

158

Bigelow [2020].

159

Im Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“, das von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz (2015) herausgegeben wurde, sind die zahlreichen Entwicklungslinien, die Fachliteratur sowie „Debatten und Diskurse“ ausführlich zusammengetragen. Einleitend ist die Problematik des Begriffs „Vergangenheitsbewältigung“ dargelegt, der die Möglichkeit impliziert, wenn man sich ihr genügend stelle, werde die Vergangenheit komplett überwunden, der aber dennoch mehr Dimensionen umfasse als genauere, politischere Begriffe (Fischer/Lorenz 2015b, S. 15 f.).

160

Neben der großen Menge von Aufsätzen und Sammelbänden (jüngst von Maldonado-Alemán/Gansel 2018 und Baßler/Hubert/Schutte 2016) bieten didaktisch aufbereitete Monographien (Dieter Hoffmanns Arbeitsbuch Deutschsprachige Prosa seit 1945, 2006, wirft auch einen kritischen Blick auf die Gruppe 47) und das Handbuch Nachkriegsliteratur (Agazzi/Schütz 2013) gute Überblicke.

161

So u. a. die einschlägigen Publikationen von Dieter Lamping (1998, 2005), Klaus Briegleb (1989, 1996, 1997, 1999), Stephan Braese (1998), Jochen Vogt (1991, 2014), Helmut Peitsch (2009), Janina Bach (2007), Klaus-Michael Bogdal (1991, 2017) oder Sigrid Weigel (1994, 2014) bzw. Sigrid Weigel mit Brigit Erdle (1996) und mit Bernhard Böschenstein (1997), aber auch kritische geschichtswissenschaftliche Publikationen mit einem kulturgeschichtlichen Schwerpunkt wie, neben vielen anderen, die in den Einzelkapiteln herangezogen werden, die Bände Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? (Glienke/Paulmann/Perels 2008) oder Nachkrieg in Deutschland (Naumann 2001).

162

Aufschlussreich für das diesbezüglich wenig weit entwickelte Instrumentarium ist beispielsweise die (inzwischen schwierig erhältliche) Studie von Andreas Lothar Günter zu Präfaschistischer Weltanschauung im Werk Max Halbes (2002), der zunächst selbst ‚(prä-)faschistische‘ Ideologeme zu identifizieren versucht, die er mit der Ideologie in Halbes Werk korrelieren kann (vgl. ebd., S. 34–71); zu NS-Kontinuitäten und Literaturwissenschaft vgl. auch Kap. 2.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

163

Für die vorliegende Studie besonders wichtig sind Klüger 1994, Gubser 1998, Körte 2004, Lorenz 2005, Lorenz 2005b, Bogdal/Holz/Lorenz 2007; einen Überblick über den älteren Forschungsstand gibt Bogdal 2007, S. 3.

164

Insbesondere bei Gross 2010, S. 201–236; zum Forschungsstand zur ‚NS-Moral‘ vgl. Kap. 2.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

165

Sie stellen damit eine verbreitete Wahrnehmung infrage, die bereits in einem Spruch Enzensbergers von 1969, mit der Publikation der Blechtrommel habe die Nachkriegsliteratur 1959 „das Klassenziel der Weltkultur“ erreicht, verbürgt ist (zit. n. Lorenz/Pirro 2011, S. 10); ebenso wie die Analyse Arnolds, 1959 habe ein ‚Sprung‘ stattgefunden (Arnold 1973, S. 70–80). Dass die Postulate beider ‚Brüche‘ 1945 und 1959 aus dem engsten Umfeld der Gruppe 47 stammen, hat sicher maßgeblich dazu beigetragen, dass die zahlreichen Kontinuitäten oft übersehen werden; vgl. dazu auch die Einleitung zu Teil II sowie Kap. 2.3.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

166

Adam 2016, S. 355: In diesem Band wird auch deutlich, wie wenig das Thema abgeschlossen ist, da er immer noch der Narration folgt, mit dem Bild vom ‚Jahre Null‘ müsse aufgeräumt werden. Sein Fazit mit dem Titel „Ausgeträumt“ (ebd., S. 357–362) wird mit dem folgenden Satz eingeleitet: „So dramatisch die Einschnitte und Umwälzungen waren, die Deutschland und der deutsche Buchmarkt von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlebten, ein Jahr Null lässt sich in diesen Jahrzehnten nicht verorten. Das Bild der Tabula rasa war allenfalls ein Traum, den Autoren, Büchermacher oder Leser aus unterschiedlichsten Gründen bisweilen träumten.“ (Ebd., S. 357.)

167

Sieg 2017, S. 78.

168

Ächtler 2013, S. 19.

169

Ebd., S. 9: „Die Publizistik der sogenannten ‚Jungen Generation‘ aus den Jahren 1945-1949 wurde unter (kultur-)politischen und poetologischen, unter sprach- und ideologiekritischen Gesichtspunkten bereits hinreichend diskutiert.“

170

Ebd. Aus diesen Überlegungen geht Ächtlers sehr fundierte Studie über die „narrative[] Diskursebene der Texte“ hervor; wie er zusammenfasst ein „bislang wenig beachteter Analyseansatz, der den publizistischen Arbeiten einen rhetorischen Eigenwert einräumt und die Erzählstrukturen aufzeigt, in die die jungen Autoren das Soldatische Opfernarrativ kleideten.“ (Ebd., S. 10.)

171

Gansel/Ächtler 2017; der Sammelband, der aus der Tagung vom 16. bis 18. November 2017 im Hans Werner Richter-Haus in Bansin/Usedom hervorgehen wird, ist im Entstehen begriffen.

172

„Arnold 2004; Gansel/Nell 2009; Döring/Joch 2011, Ächtler 2013, 2016“, vgl. ebd.

173

Vgl. zur Lesung Paul Celans Böttiger 2012, S. 133–137.

174

Böttiger 2017, S. 3; vgl. dazu Kap. 2.4 in Teil II der vorliegenden Studie.

175

Lorenz 2017, S. 12.

176

Ebd., S. 13.

177

Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

178

Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

179

Vgl. insbesondere Braese 1999 und Briegleb 2003; vgl. auch Kap. 2.3 in Teil II der vorliegenden Studie.

180

Vgl. dazu Kap. 3.2.4 im vorliegenden Teil I der Studie.

181

Richter 1997, S. 336; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

182

Vgl. Briegleb 2003, S. 137 f.; auch Böttiger 2012, S. 155.

183

Zuletzt Böttiger 2017; vgl. Kap. 2.4 in Teil II der vorliegenden Studie m w. H.

184

Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

185

Walser 1999, S. 11.

186

Die wichtigsten Beiträge sind dokumentiert in Schirrmacher 1999; zur wissenschaftlichen Aufarbeitung vgl. auch weiter unten in diesem Kapitel m. w. H.

187

Gross 2010, S. S. 201–236; vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel.

188

Vgl. dazu z. B. Cruz/Sonderegger 2014, S. 27–32.

189

Walser 1999, S. 11 [Hervorhebung N. W.].

190

Einzelne Teile dieses Kapitels wurden bereits in einer älteren Fassung publiziert (vgl. Weber 2015).

191

So Gross 2010, S. 204 zur öffentlichen Kontroverse zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer im Jahr 1988.

192

Gross 2010, S. 203.

193

Kundrus/Steinbacher 2013, S. 9–29.

194

Ebd., S. 12.

195

Einen umfangreichen Überblick über Interpretationen des Nationalsozialismus und Debattenverläufe in der BRD gibt das Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ (Fischer/Lorenz 2015).

196

Der Begriff wurde von Dan Diner (1988) geprägt, der auf den wichtigen Aspekt hinweist, dass der Fokus auf Kontinuitäten Gefahr laufen kann, die Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus zu missachten – diese mussten das Jahr 1945 sehr wohl als grundlegende Zäsur empfinden (ebd. S. 7 f.).

197

Vgl. z. B. Kundrus/Steinbacher 2013, S. 15–21; der Historiker Philipp Sarasin hat diesen Punkt jüngst in einem polemischen Zeitungsartikel über gegenwärtigen Rassismus in Deutschland pointiert formuliert: „Der NS war nicht einfach ein schicksalhafter Zivilisationsbruch, sondern die von vielen gewollte und mitgetragene Radikalisierung einer bestimmten Form der Moderne. Rassismus, Diktatur und Vernichtungskrieg sind nicht unerklärliche ‚Tragik‘, sondern auch Teil der Geschichte Europas.“ (Sarasin 2016, o. S.)

198

Vgl. Kundrus/Steinbacher 2013, S. 12 f.

199

Der wichtigste Bezugspunkt der vorliegenden Studie ist Raphael Gross’ Monografie Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral (2010); zu der breiten Forschungsliteratur, auf die zusätzlich zurückgegriffen werden kann, vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

200

Gross 2010, S. 52.

201

Himmler 1943, S. 123.

202

Vgl. u. a. Gross 2010, Kap. 7: „Die Ethik eines wahrheitssuchenden Richters“, S. 143–170.

203

Tugendhat 1993; vgl. auch Tugendhat 2009, Gross 2010, S. 7–15.

204

Mieth 2007, S. 221; zur Verortung der Moral zwischen Vernunft und Verstand vgl. ebd., S. 220–223; vgl. auch Gross 2010, S. 205–228.

205

Konitzer 2005, Fritze 2009 und alle Beiträge in den im Folgenden erwähnten Sammelbänden.

206

Gross 2010, S. 237–257.

207

„Moralität des Bösen“ lautet der Titel des vom Fritz Bauer Institut herausgegebenen Jahrbuchs „zur Geschichte und Wirkung des Holocaust“ aus dem Jahr 2009.

208

Bialas 2014, S. 15.

209

Ebd., S. 13.

210

Ebd., S. 39.

211

„Zu [den klassischen moralischen Denkfiguren], die übernommen und funktional in die neue moralische Ordnung integriert wurden, gehörten das Gewissen als innere Instanz moralischer Selbstbefragung, die ethische Diskriminierung des Egoismus als unmoralisch und das Zulassen von Bedenken als Zeichen moralischer Ernsthaftigkeit und deren Überwindung als Beleg moralischer Stärke.“ (Ebd., S. 13.) Vgl. auch Kap. 1.3 in Teil III der vorliegenden Studie.

212

Ebd., insbesondere S. 220–232; vgl. auch Kap. 2 in Teil II der vorliegenden Studie.

213

Ebd., insbesondere S. 54–62 (i. e. Kapitel: Das Ethos des Dienstes an der Gemeinschaft); vgl. Kap. 1.2 in Teil III der vorliegenden Studie.

214

Chapoutot 2016, S. 16.

215

Ebd.

216

Retterath 2018.

217

Insbesondere zu Wertvorstellungen im NS-Film (Kleinhans 2016) und zu ihrer Fortsetzung im Film (Klockow 2016) sind bereits erste Studien erschienen. Auf der Tagung zum Sammelband von Konitzer/Palme 2016 wurde zudem ein aus literaturwissenschaftlicher Sicht besonders bemerkenswertes Projekt der Germanistin Katrin Henzel und des Pädagogen Stefan Walter vorgestellt: Die interdisziplinäre Studie erforscht Grundwerte des Nationalsozialismus anhand von Poesiealben der NS-Zeit. Auf einer breiten empirischen Basis im Vergleich mit Bänden aus DDR und BRD konnten sie vier „Solitäre Kernwerte“ des Nationalsozialismus identifizieren, also vier Bereiche, die nur im Nationalsozialismus den Charakter moralischer Imperative eingenommen haben: „1. Totale Identifikation mit eigener Rasse, Volk und Nation; 2. Antisemitismus, Rassenhygiene und Rassenerhaltung; 3. Ungleichheit der Individuen, Auslese, Führerprinzip; 4. Bäuerlich-ländliche Lebensweise (Vortragstitel: „Du trägst dein Blut nur zur Lehn …“ – Wertvorstellungen des NS-Staats in Poesiealben zwischen 1933 und 1945“; die Publikation ist noch in Vorbereitung. Herzlichen Dank an Katrin Henzel und Stefan Walter, die mir ihre Unterlagen zur Verfügung gestellt haben).

218

Vgl. Gross 2010: „Universelle und partikulare Moralen unterscheiden sich also auch durch die Art und Weise der Begründung ihrer Normen. Partikulare Moralsysteme verzichten, wie gesagt, auf Begründungen allen gegenüber, und sie unterscheiden nicht sehr scharf zwischen Moral und Konvention. Dies ist nicht einfach zufällig, sondern darauf zurückzuführen, dass hier die Begründung moralischer Normen in derselben Weise funktioniert wie die Begründung von Konventionen, nämlich im Sinne eines apodiktischen ‚Wir machen es so‘. […] Während in einer universellen Moral die Einhaltung moralischer Normen in ganz anderer Weise emotional eingefordert wird als das Befolgen von Konventionen, lösen sich diese Unterscheidungen in einer partikularen Moral immer mehr auf.“ (Ebd., S. 14 f.)

219

Gross (2010) spricht in diesem Zusammenhang von ‚moralischen Gefühlen‘ (ebd., S. 39), in denen er auch die von Sartre als solche beschrieben „antisemitische Leidenschaft“ im Nationalsozialismus begründet sieht, wenn er erläutert: „Diese Leidenschaft […] gewinnt ihre Brisanz aus der Tatsache, dass sie sich auf geteilte und gegenseitig einforderbare Gefühle von Schuld, Scham, Groll und Empörung stützen kann, kurz: auf moralische Gefühle.“ (Ebd.)

220

Zum Begriff der NS-Kontinuität vgl. auch weiter oben in diesem Kapitel.

221

Dies noch davon abgesehen, dass sie in der Ethik als eigenes Gebiet der Philosophie sowieso schon Gegenstand immer neuer Aushandlungen sind. Auf solche grundsätzlichen Betrachtungen wird in der vorliegenden Studie gänzlich verzichtet, die Terminologie orientiert sich am theoretischen Rahmen.

222

Die Werke zunächst allgemein auf ihre Moralvorstellungen hin zu befragen, soll eine unvoreingenommene Herangehensweise gewährleisten. Insbesondere unter Berücksichtigung des wenig fortgeschrittenen Forschungsstandes zu NS-Moral in literarischen Werken scheint es gewinnbringender, die Analysen in diesem Sinne in einer klassischen kulturwissenschaftlichen Vorgehensweise anzugehen, und die Erkenntnisse der NS-Moralforschung sowie weitere Kontexte, wie nichtliterarische Zeugnisse der Gruppe 47 und Rezeptionszeugnisse erst zur Deutung der Ergebnisse heranzuziehen. Daraus ergibt sich die Grundlage, die eine Zusammenstellung moralischer Strukturen aus dem / mit Bezug zum Nationalsozialismus in literarischen Texten überhaupt ermöglichen kann, sollten sich diesbezüglich bemerkenswerte Regelmäßigkeiten zeigen.

223

Hubmann 2015, S. 106; die methodischen und theoretischen Prämissen der narrativen Ethik und der Cultural Studies, die in der vorliegenden Studie die methodische Grundlage dafür bieten, werden weiter unten in diesem Kapitel ausgeführt.

224

Zu dem der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Verständnis von Identität und Alterität vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

225

Diese Überlegungen sind eine Synthese der Ergebnisse Tugendhats (1993) und Gross/Konitzers (Gross 2010).

226

Vgl. Gross 2010, S. 203 mit Hinweis auf Peukert 1982.

227

Gross 2010, S. 46–53.

228

Ebd., S. 52.

229

Himmler 1943, S. 123.

230

Vgl. z. B. Bialas/Fritze 2014, S. 18: „Tiere, die aus der Art schlügen und sich widernatürlich verhalten würden, hätten dank des Gesetzes natürlicher Auslese keine Überlebenschancen. Bei Menschen sei das grundsätzlich anders. Die Geschichte menschlicher Zivilisation könne als fehlgeschlagenes Experiment der prinzipiellen Förderung von Vielfalt, Differenz und Toleranz beschrieben werden. […] In bewusster Gegensteuerung zur kulturellen Domestizierung müssten die ihrer biologischen Natur entfremdeten Menschen erst wieder lernen, Versuchungen zu rassenindifferentem Verhalten zu widerstehen und die Souveränität eines artgemäßen Egoismus auszubilden. Ihre Konditionierung zu instinktsicherem Verhalten legte ihnen ein solches Verhalten als moralisch nahe.“

231

Tugendhat 2009, S. 73.

232

Ebd., S. 72.

233

Ebd. Wie er ausführt, ist es deswegen sinnvoll, „vom Partikularismus als solchem diejenige Haltung zu unterscheiden, in der die Identifizierung mit der Gruppe dazu führt, gegenüber den Außenstehenden nicht mehr die universalistischen Normen einzuhalten“, in der also „das Partikularistische […] dem Universalistischen nicht mehr untergeordnet“ wird (ebd., S. 72 f.).

234

Auch wenn im Sinne gegenwärtiger Ansätze der Cultural Studies davon ausgegangen wird, dass der Übergang zur von Tugendhat als problematisch benannten „Abwertung der anderen“ fließend ist, wird diese Problematik nicht mit einer NS-Kontinuität gleichgesetzt und ein Schreiben im Sinne dieses postmodernen Identitätsverständnisses nicht von der Gruppe 47 erwartet; vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

235

Martin Gubsers (1998) in diesem Zusammenhang formuliertes Postulat „sine ira et studio“ (ebd., S. 155) wie auch an die von ihm an dieser Stelle zitierte sehr treffende Aussage Ruth Klügers über klischierte Judenfiguren in literarischen Texten gelten auch für die vorliegende Studie: „Bei der Auswahl der Beispieltexte ist das Prinzip sine ira et studio unerlässlich: Die Tatsache, daß selbst vornehmste Exponenten der deutschen Literaturgeschichte nicht immer frei sind von amisemitischen Regungen, sollte nicht zum Verdikt gegen diese gebildet werden. Ruth Klüger schreibt zu dieser Gefahr: ‚Die Beschäftigung mit ihnen [Werken mit antisemitischer Tendenz] erfordert von der Kritik eine Bereitschaft, sich mit moralischen und ästhetischen Widersprüchlichkeiten geduldig auseinanderzusetzen. Es geht einerseits nicht an, Werke, in denen negative jüdische Gestalten auftauchen, pauschal zu verwerfen. Aber ebensowenig sollten wir verkennen, daß diese Gestalten Produkte der Judenfeindlichkeit sind, daß ihnen, bildlich gesprochen, eine untergeschobene Leiche zugrundeliegt.‘“ (Klüger 1994b, S. 104, zit. n. Gubser 1998, S. 155 f.)

236

Gross 2010, S. 219. Diese besondere Bindungskraft beruhe darauf, „dass Handlungsregeln unmittelbar in die Gefühle und Stimmungen der moralischen Person eingelassen sind. Auf diese Weise greifen sie schon in die Bildung der Absichten ein. Von jemandem, der sich generell schlecht fühlt, wenn er gegen eine Norm verstößt, kann ich mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten, dass er sich an die Norm hält.“ (Ebd.)

237

Ebd., S. 210.

238

Zuletzt abgedruckt ebd., S. 201–236.

239

„Es geht ihnen, so kann man seine Darstellungen verstehen, nicht darum, die Handlungen der rechtsradikalen Täter zu verurteilen. Vielmehr, so Walser, wollten die Kritiker mit ihrer Empörung über die Gewalttaten der Rechtsradikalen eine bestimmte Gruppe von Menschen (die Deutschen) verletzen, ohne dafür wirklich einen Grund zu haben. Als Motiv für diese Verhaltensweise unterstellt Walser ihnen, dass sie sich auf diese Weise entschuldigen wollten, dass sie sich von der Seite der Beschuldigten lösen und ‚für einen Augenblick näher bei den Opfern als bei den Tätern‘ sein wollten.“ (Ebd., S. 224.)

240

Dies im Sinne der nationalsozialistischen essentialistischen Vorstellung, dass man entweder ‚von Natur aus‘ zu einem moralischen Kollektiv gehöre oder niemals; Deutsche konnten dieses Recht zwar durch gemeinschaftsschädigendes Handeln verwirken, Juden waren aber von vornherein von der Möglichkeit der Zugehörigkeit ausgeschlossen: „Ein Deutscher, der Widerstand leistete, verwirkte seine Rechte als Deutscher, ein Jude aber hatte gar nicht die Möglichkeit, seine Rechte zu verwirken, da er a priori keine besaß.“ (Ebd., S. 228.)

241

Wie Gross/Konitzer konsequenterweise auch in Bezug auf die ‚positive‘ Deutung ablehnen, Deutsche hätten eine größere moralische Verantwortung als alle anderen: „Verantwortungsvolles Handeln gründet sich auf universell gültige moralische Werte, und dazu gehört es, dass alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten haben. Niemand darf also allein wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe benachteiligt oder bevorzugt werden. In diesem Sinne ist es falsch zu sagen, manche Menschen seien wegen ihrer historischen Situation, wegen ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation verantwortlicher als andere. Wenn damit gemeint sein soll, dass Deutsche irgendwie besonders moralisch sein müssten, so ist dieser Gedanke schlicht unverständlich. Alle Menschen sind gleichermaßen verpflichtet, moralisch zu handeln – hier zeichnet sich niemand vor anderen aus.“ (Ebd., S. 214.)

242

Ebd., S. 226. Walser äußert diese exklusive Definition der deutschen Nation später auch explizit, wie Gross und Konitzer zusammenfassen: „‚Was wir in Auschwitz begangen haben, haben wir als Nation begangen, und schon deswegen muß diese Nation weiterbestehen als Nation‘, erklärte Walser im Gespräch mit Ignatz Bubis – und schloss Bubis damit aus der Einheit dieser Nation aus.“ (Ebd.)

243

Ebd., S. 213.

244

Ebd., S. 217.

245

Ebd., S. 217.

246

Lorenz 2005, S. 488 f.

247

Ebd., S. 489.

248

Ebd., S. 31; vgl. ebd., S. 31–34.

249

Vgl. ebd., Resümee des Hauptkapitels „Werkkontinuität oder -diskontinuität?“, S. 485–487.

250

Vgl. zu deren Definition in der vorliegenden Studie weiter unten in diesem Kapitel.

251

Vgl. Lubkoll 2009; Waldow 2013, S. 22–24.

252

Vgl. den Überblick ebd., S. 29–35.

253

Vgl. Mieth 2007, S. 215, der für sich in Anspruch nimmt, den Begriff „narrative Ethik“ 1976 in die Theologie eingeführt zu haben.

254

Zusammengetragen in Davis 2001.

255

Waldow 2013, S. 18.

256

Sidowska 2013, S. 13.

257

Waldow 2013, S. 24.

258

Mieth 2000, S. 9.

259

Vgl. Kupczyńska 2013, S. 10–12.

260

Mieth 2007, S. 231.

261

Ebd., S. 216.

262

Ebd., S. 231.

263

In der vorliegenden Studie in der 9. Auflage (2012) zitiert.

264

Das gilt auch noch für die neuste Auflage, vgl. Martínez/Scheffel 2012, S. 208–215.

265

Dem kann angefügt werden, dass die Begriffe „Moral“ (Martínez/Scheffel 2012, S. 103, 105) und „Werte“ (ebd., S. 181) im Fließtext des Bands durchaus einige Male vorkommen, aber nicht standardisiert verwendet werden. Mieth ergänzt zudem, dass auch zum Begriff der „Implikation“ nur auf wenige kurze Stellen verwiesen wird. Wenn man sich erwähnten Stellen genauer ansieht, erweist sich Mieths Verständnis von „Implikationen“ aber als deutlich abweichend von demjenigen in Martínez/Scheffels Erzähltheorie. Vgl. Mieth 2007, S. 231; Martínez/Scheffel 2012, S. 211 f.

266

Nicht nur in der Analyse von Fabeln und Märchen, bereits in der Tradition der Bibelexegese ist es ja das primäre Ziel, konkrete Handlungsanweisungen aus Textdokumenten abzuleiten, die diese nur implizit äußern.

267

In diesem Zusammenhang sprechen sie von „Geschehen“, vgl. ebd., S. 28.

268

Dieser Aspekt eines fiktionalen Texts wird im Begriff der „Fabel“ (Lämmert) oder Fabula (Bal, Segre, Sternberg, Tomasevskij); „story“ (Chatman, Rimmon-Kenan, White); Geschichte (Pfister; Schmid; Stierle) erfasst, vgl. Martínez/Scheffel 2012, S. 27 f.

269

Mieth 2007, S. 232.

270

Ebd., S. 216.

271

Ebd., S. 316.

272

Ebd., S. 317.

273

Vgl. Teil III der vorliegenden Studie.

274

Waldow 2013, S. 19; sie lehnt aber ab, von einer „Nachpostmoderne“ oder „Postpostmoderne“ zu sprechen, sondern belässt es bei dem weniger voraussetzungsreichen Terminus „Gegenwart“ (ebd., S. 14).

275

Ebd., S. 16; im zweiten Teil der Studie analysiert sie literarische Texte von Christoph Peters, Terézia Mora, Ulrike Draesner, Markus Orths, Michael Lentz, Minka Pradelski, Doron Rabinovici und Eva Menasse unter diesem Blickwinkel.

276

Ebd., S. 380.

277

Ebd., S. 33.

278

Vgl. auch ebd., S. 16: „Wenn in dieser Arbeit die erzählende Literatur im Mittelpunkt steht, so u. a. aufgrund von Ricœurs Prämisse, nach der die Erzählung das ‚erste Laboratorium des moralischen Urteils‘ sei. In dieser Funktion sei sie ‚immer ethisch und niemals neutral‘.“

279

Ebd., S. 19.

280

Ebd., S. 21.

281

Ebd., S. 22.

282

Ebd., S. 380.

283

Weyrauch 1989, S. 181; vgl. Kap. 1.1 im vorliegenden Teil I der Studie; vgl. zu diesem Programm auch Kap. 3.4.1 in Teil II und 3.2.3 in Teil II der vorliegenden Studie.

284

„Levinas trennt häufig nicht scharf zwischen den Begriffen Ethik und Moral, für ihn ist Ethik nicht als Entgegensetzung zur Moral zu verstehen. Dementsprechend liefert er auch keine neuerliche Ethik-Theorie. Für ihn ist Ethik einzig und allein eine ethische Beziehung, die er auch absolute Beziehung nennt, da diese präontologisch gedacht wird.“ (Waldow 2013, S. 95.)

285

Vgl. ebd., S. 30–35.

286

Ebd., S. 33.

287

Ebd., S. 31.

288

So auch der Titel des theoretischen Teils von Waldows Studie, vgl. ebd., S. 29–196.

289

Ebd., S. 91. Auch Ricœur wird in diese Reihe gestellt; zu differenzieren ist, dass bei Foucault und Butler das ‚Andere‘ primär als „ein vom Diskurs Ausgeschlossenes“ gedacht werde, bei Ricœur und Levinas „an die konkrete Person des Gegenübers, oder wie bei Levinas an den stets mitgedachten Dritten, gebunden“ sei (ebd., S. 36).

290

Ebd., S. 36.

291

Ebd., S. 92.

292

Ebd., S. 91; davon geht sie aus, obwohl Butler und Foucault Levinas in ihren Texten bereits diskutieren, vgl. ebd.

293

Ebd., S. 106.

294

Vgl. ebd., S. 106.

295

Ebd., S. 107.

296

Ebd., S. 132.

297

Ebd., S. 165.

298

Ebd., S. 134.

299

Wie sich im Verlauf der vorliegenden Untersuchung gezeigt hat, gibt es mit (mindestens) Bachmann, Celan und Aichinger mehrere Gegenstimmen in der Gruppe 47, die sich auf Martin Buber und damit auf einen Grundlagentext und Bezugspunkt von Levinas’ Theorie beziehen, und gerade hier lässt sich eine Auseinandersetzung mit hegemonialen Gruppe-47-Diskursen nachzeichnen; vgl. dazu Kap. 3 in Teil III der vorliegenden Studie.

300

Die Grundlage für den folgenden knappen Abriss bietet das Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse von Hepp et al. 2015.

301

Hepp 2015, S. 259.

302

Hall 1994, S. 74; dazu Krönert/Hepp 2015, S. 267.

303

Schmidt-Lauber 2010, S. 7.

304

Dazu Cofalla 1997, Bigelow [2020].

305

Drakulić 1992, zit. n. Brons 2015, S. 69.

306

Brons 2015, S. 72.

307

Ebd., S. 72.

308

Vgl. ebd., S. 86 f.

309

Vgl. Anderson 1983; Hepp et al. 2015, S. 49–58 bzw. 299–321.

310

Gubser 1998, S. 86–93.

311

Ebd., S. 87.

312

In Anlehnung an die Definition der „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“ von 1988: „‚Manichäisch‘ verstehe ich hier in dem eingeschränkten, nicht religiösen Sinne, wie ihn die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie beschreibt: ‚In der Philosophie wurde Manichäismus polemische Kennzeichnung dualistischer Systeme. […] Im System Manis stehen die ‚Prinzipien‘ des Lichts (Gon) und der Finsternis (Materie) in dauerndem Kampf miteinander bis zur Endzeit.‘“ (Ebd., S. 156.)

313

Sartre 1948, zit. n. Gubser 1998, S. 87.

314

Gubser 1998, S. 156.

315

Ebd.

316

Mieth 2007, S. 317.

317

Ebd.; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

318

Lotman/Keil 1972.

319

Hall 1999, S. 129.

320

Vgl. Link 1988, S. 298 f.

321

Mit Gross 2010; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

322

Waldow 2013; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

323

Reich-Ranicki 1997, S. 218.

324

Richter 1962, S. 12.

325

So auch Arnold 2004b, S. 82; vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

326

Vgl. Meyer 2013, Anhang „Autorenkorpus“.

327

Vgl. ebd., Anhang „Teilnehmerkorpus“.

328

Richter 1962, S. 12.

329

So ca. 520 Texte auf den regulären Tagungen (ohne die „Fernsehspieltagung“ von 1961) von 1947–1967; dazu noch einmal ca. 30 von den späteren Tagungen 1972, 1977 und 1990; vgl. Nickel 1994, S. 341–407.

330

Nickel beschreibt im Anhang, wie er bei der Auswertung zahlreicher Zeitungsartikel, Umfragen und Interviews mit ehemaligen Gruppenmitgliedern auf viele Widersprüchlichkeiten und Dokumentationslücken stieß (vgl. ebd., S. 339 f.). Er schätzt aber: „Trotz dieser Einschränkungen konnten in der Dokumentation etwa 70 % der Tagungsbesucher pro Treffen und etwa 80 % aller Lesungen ermittelt werden. (Eine Ausnahme bildet bekanntlich die Zusammenkunft im September 1948 in Allenbeuren.) Sie ist damit weitaus umfassender und auch sehr viel genauer als alle anderen Dokumentationen, die bislang über die Gruppe 47 erschienen sind.“ (Ebd., S. 340.)

331

Richter 1955, zit. n. Böttiger 2012, S. 98.

332

Reich-Ranicki 1997, S. 216.

333

Richter 1955, zit. n. Böttiger 2012, S. 98.

334

Enzensberger 1962; dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass er sich hier gerade gegen einen Vorwurf von außen – nämlich von Günter Blöcker, der diesen Vorwurf in der Folge in der Zeit noch einmal detailliert ausführte (Blöcker 1962) – wehrt; es handele sich bei der Gruppe 47 um ein eingeschworenes Kollektiv, eben um eine „Clique“.

335

Enzensberger 1962, S. 23.

336

Arnold 2004b, S. 159.

337

Vgl. ebd., S. 159.

338

Richter 1986, S. 280 f.

339

Vgl. die Einleitung zu Kap. 3.2 im vorliegenden Teil I der Studie.

340

Raddatz 1962, S. 54.

341

Ebd.

342

Richter 1986.

343

Vgl. ebd.

344

Ebd., S. 275.

345

Vgl. ebd., S. 276 f.

346

Nämlich Lenz (ebd., S. 274), Heißenbüttel, Bobrowski, Bichsel und Becker (ebd., S. 276). Später die Kritiker Raddatz, Karasek und Baumgart, die Frauen Rehmann, Elsner, Nowak, Wohmann und Bachér (ebd., S. 277); Roehler, Buch, Fichte Piwitt, Born, Herburger, Wellershoff (ebd., S. 278) und Kluge (ebd., S. 279). Dazu kämen etliche, die „von Anfang an dabei waren und noch zu den engsten Mitarbeitern unserer Zeitschrift ‚Der Ruf‘ gehört haben: Walter Maria Guggenheimer, Friedrich Minssen und Walter Mannzen. […] In diesen Kreis gehören auch Wolfgang Bächler […] und Heinz Friedrich.“ (Ebd.) Später erwähnt er „Horst Mönnich, Franz Josef Schneider, Hans Josef Mundt, Christian Ferber, Armin Eichholz, Jürgen von Hollander, Roland H. Wiegenstein, Ernst Schnabel“ sowie die „Ausländer“ Morriën und Nowakowski (ebd., S. 280).

347

Ebd., S. 280.

348

Ebd. Das schreibt er übrigens vor der Nennung der beiden letzten Namen, die er ganz am Schluss pars pro toto für „die Ausländer“ erwähnt: „Sie alle gehörten zum ersten Kreis der ‚Gruppe 47‘ und viele blieben ihr bis zum Schluß treu. Ausländer nahmen fast immer an den Tagungen teil […].“ (Ebd.)

349

So beispielsweise in einem Brief vom 22.10.1949 an Franz Josef Schneider, in dem er schreibt: „Als Angehörige der Gruppe betrachten wir: Günter Eich, Ernst Schnabel, Hans Jürgen Söhring, Walter Kolbenhoff, Nikolaus Sombart, Hans Georg Brenner, Fred Andersch, Friedrich Minssen, Walter Mannzen, Willi Steinborn, Rudolf Krämer-Badoni (falls er nicht ablehnt), Walter Hilsbecher, Wolfgang Bächler, Ilse Schneider-Lengyel, Hans Joseph Mundt, Georg Hensel, Wolfdietrich Schnurre, Bastian Müller, Toni Wiss-Verdier, Louis Clappier, Adrian Morrien, Fritz Kracht, Jürgen v. Hollander, Armin Eichholz, Horst Männich, Heinz Ulrich, Walter Heist, Hans Werner Richter, Hartmann Görtz, Karl August Horst, Gunter Groll, Franziska Violet und Franz Joseph Schneider (falls er Wert darauf legt), Heinz Friedrich. Gäste der Gruppe waren: Gottfried Beutel, Arnold Bauer […], Claus Hardt, Reinhart Holt, Prof. Rasch, Rosengarten usw.“ (Richter 1997, S. 93)

350

So im von Toni Richter (1997) abgedruckten Interview von Cofalla mit Delius und Schütte (ebd., S. 188–200), wo die verschiedenen Generationen ebenfalls namentlich benannt und jeweils einige dazugehörige Mitglieder aufgezählt werden (vgl. ebd., S. 195).

351

Insbesondere in Einleitungen von Berichten über die Gruppe; Arnold schreibt zu Beginn seiner Monografie beispielsweise, „um zentrale Autoren der Gruppe 47 wurden noch immer die spektakulärsten Schlachten im deutschen Feuilleton- und Literaturbetrieb geschlagen: um Günter Grass und Martin Walser, um Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf. Auch Siegfried Lenz, Dieter Wellershoff, Gabriele Wohmann, Peter Härtling, Jürgen Becker, Peter Handke, Peter Bichsel, Günter Kunert, F. C. Delius, Carl Amery, Ingrid Bachér, Ernst Augustin haben mit vielen anderen, die zur Gruppe 47 gerechnet werden, die deutsche literarische Landschaft auffällig geprägt […].“ (Arnold 2004, S. 8.)

352

In einer Meldung der Neuen Zeitung vom 7.11.1947, zit. n. Arnold 2004b, S. 68; wie bei Arnold hervorgehoben ist, fasste diese Meldung „die Gruppe bereits als Institution auf und wies den Teilnehmern des Treffens Mitgliederstatus zu.“ Als zugehörig benannt wurden „die Schriftsteller Hans Werner Richter, Heinz Ulrich Walter Kolbenhoff, Alfred Andersch, Wolfdietrich Schnurre, Heinz Friedrich, Ernst Kreuder, Walter M. Guggenheimer, Wolfgang Bächler, Friedrich Minssen, Nicolaus Sombart, Walter Mannzen, Günter Eich, Siegfried Heldwein, Walter Hilsbecher, Wolfgang Lohmeyer, Dietrich Warnesius, Walter Heist und andere […].“ (Ebd.)

353

Arnold 2004b, S. 321–323.

354

Ebd., S. 323 f.

355

Vgl. Kap. 1.2 im vorliegenden Teil I der Studie.

356

Arnold 2004b, S. 164 f.

357

Ebd., S. 164.

358

Ebd.

359

Ebd.; genannt werden: Schneider-Lengyel, Schroers, Sombart, Ulrich, Hilsbecher, Hollander, Bauer, Brenner.

360

Ebd., S. 164; genannt werden: Aichinger, Bächler, Schneider, Bachmann, Andersch, Schallück, Kolbenhoff, Morriën, Federmann.

361

Ebd.; genannt werden: Amery, Enzensberger, Ferber, Hey, Johnson, Röhler, Bachér, Grass, Heißenbüttel, Höllerer, Rehmann, Walser.

362

Ebd., S. 165; genannt werden: Bayerm Bichsel, Cramer, Herburger, König, Fichte, Weiss, Rühmkorf, Wohmann, Becker, Delius, Haufs, Kluge, Elsner, Fried, Wellershoff.

363

Ebd., S. 164 f.

364

Vgl. Arnold 2004, S. 145–147; er nennt Aichinger, Amery, Andersch, Becker, Bichsel, Bobrowski, Böll, Celan, Eich, Enzensberger, Fried, Grass, Handke, Heißenbüttel, Hildesheimer, Höllerer, Jens, Johnson, Kaiser, König, Kolbenhoff, Lenz, Raddatz, Reich-Ranicki, Richter, Schnurre, Walser und Weiss.

365

Vgl. ebd., S. 145–147.

366

Also Böll, Dor, Eich, Hildesheimer, Jens, Lenz, Mannzen, Weyrauch und Schnurre (Arnold 2004b, S. 164), vgl. weiter oben in diesem Kapitel; Weyrauch und Mannzen werden weder von Arnold (2004) noch von Richter (1986) erwähnt.

367

Synthese den Namen aller Porträtierten in Richter 1986, Arnold 2004, S. 145–147 und Arnold 2004b, S. 164.

368

Vgl. ebd., S. 323 f.

369

Vgl. Richter 1986, S. 277.

370

Vgl. Arnold 2004, S. 145.

371

Richter 1986, S. 280.

372

Darunter zum Beispiel Hans Christoph Buch (1944), F. C. Delius (1943), Gerd Fuchs (1941), Elisabeth Plessen (1944) oder Guntram Vesper (1941); vgl. Meyer 2013, die 15 nach 1940 geborene Autorinnen und Autoren (vgl. ebd., Anhang „Autorenkorpus“) und 20 nach 1940 geborene Teilnehmerinnen und Teilnehmer (vgl. ebd., Anhang „Teilnehmerkorpus“) listet; wobei in beiden Listen ein nennenswerter Anteil der Jahrgänge unbekannt bleibt.

373

Auch die jungen Autoren selbst nahmen wahr, dass sie nicht zum inneren Kreis gehörten. So zitiert Böttiger aus seinem Gespräch mit Klaus Stiller über die Tagung in Princeton im Jahr 1965, bei der dieser erst 25 Jahre alt war: „Es gab eine Solidarität des ‚inneren Freundeskreises‘, wie der Hans Werner Richter das sagte, nicht offiziell sagte, aber ich hab das zufällig einmal gehört, als er mit anderen sprach, vom ‚inneren Freundeskreis‘ sprach, zu dem gehörten wir alle nicht! Es war dann eher dieses Abschotten gegenüber diesen jungen Leuten, die vielleicht in Amerika allein von der Haltung her schon besser angekommen wären.“ (Stiller, zit. n. Böttiger 2012, S. 390 f.)

374

Richter 1986, S. 280 f.; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

375

Richter 1962, S. 13; vgl. auch Kap. 3.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

376

Andersch 1946, S. 2.

377

Reichsgesetzblatt 06.03.1924, T. 1, S. 159 f., zit. n. Bernhard/Nohlen/Schulze 1971, S. 367 f.; vgl. auch ebd., S. 170–174.

378

Cofalla betont, dass diese Definition „alle Wahlberechtigten, die 1933 bei ihrem Votum für Hitler unter dreiundzwanzig Jahre alt gewesen waren, von politischer Verantwortung“ befreit habe (Cofalla 1997, S. 18). Gansels Deutung dagegen ist angesichts dessen, dass man das passive Wahlrecht – also das Recht, zu Wählen –, bereits mit 20 erhielt, verunklarend, wenn er schreibt: „Das Alter von 33 Jahren entschuldete nämlich jene Jungen, die 1933 unter 23 Jahren und somit nicht wahlberechtigt waren.“ (Gansel 2011, S. 24.) Es war nur das aktive Wahlrecht, dass diese Jungen noch nicht hatten; sie hatten also 1933 nicht für die NSDAP in das Parlament gewählt werden, aber durchaus gerade seit dem Aufstieg der NSDAP wählen können.

379

Richter 1979, S. 109; vgl. zu dieser Tagung Böttiger 2012, S. 122–156 [Kapitel: Fräulein Kafka. Aichinger, Bachmann, Celan: Ein unvermutet neues Abc].

380

Richter 1979, S. 109.

381

Ebd., S. 119.

382

Ebd., S. 120. Zu der Verknüpfung von Intellektualität und ‚mentalitärer‘ Gruppenzugehörigkeit vgl. auch Kap. 3 in Teil II der vorliegenden Studie.

383

Richter 1979, S. 121.

384

Wie beispielsweise der Sammelband über die „Junge Generation“ von Winter (2002) zeigt, der auch Beiträge über Bruno Hampel, Claus Hubalek, Susanne Kerckhoff, Max Frisch oder Wolfgang Borchert enthält, sind dazu zahlreiche weitere junge Autorinnen und Autoren zu zählen.

385

Widmer 1966, S. 8.

386

Gross 2010, S. 217; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

387

Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

388

Vgl. Kap. 1.3 im vorliegenden Teil I der Studie.

389

Kundrus/Steinbacher 2013, S. 12 f.; vgl. weiter oben in diesem Kapitel m. w. H.

390

Die vor 1930 Geborenen können sich als letzte zumindest diffus an die „Machtergreifung“ 1933 erinnern, da sie zu diesem Zeitpunkt mindestens drei Jahre alt waren, der entwicklungspsychologisch entscheidende Zeitpunkt, zu dem die ersten Erinnerungen einsetzen. Im Jahr 1945 waren sie mindestens sechzehn Jahre alt; damals wie heute eine wichtige Stufe bei Fragen nach Schutzalter und Mündigkeit (z. B. war es in Deutschland bis 2017 bereits mit 16 Jahren erlaubt, eine Ehe einzugehen). Die jüngsten Vertreter der vor 1930 Geborenen absolvierten die gesamte obligatorische Schulpflicht, die zweifellos grundlegend für die Ausbildung von Werten ist, in der NS-Diktatur.

391

Widmers Entscheidung, sich auf die Jahrgänge zu beschränken, die nach 1915 geboren sind, kommt von seiner Prämisse einer jugendlichen ‚Infiltrierung‘, der in der vorliegenden Studie nicht a priori gefolgt wird; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

392

Die mit den Jahrgängen, die nach 1911 geboren sind, nur diejenigen Jahrgänge umfasst, die 1933 noch kein Wahlrecht hatten; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

393

So in der bereits erwähnten Tabelle in Arnolds Sammelband (2004b, S. 164 f.), die sich an der frühen literatursoziologischen Studie von Kröll (1977) orientiert. In die dort unerscheidenen Konstituierungs- (1947–1949); Konsolidierungs- (1950–1957); Hoch- (1958–1963) und Spätphase (1964–1967) der Gruppe 47 können auch die Mitglieder nach ihren ersten Lesungen eingeteilt werden.

394

Die beide im Jahr 1949 zur Gruppe 47 stießen, vgl. Arnold 2004b, S. 164.

395

Vgl. Böttiger 2012, S. 164.

396

Vgl. Arnold 2004b, S. 165.

397

Böttiger 2012, S. 164 f.

398

Vgl. Cofalla 1997b; Braese 2001, Briegleb 2003; vgl. dazu Kap. 3.3 im vorliegenden Teil I der Studie.

399

Vgl. Kaiser 1988. Wie Böttiger es verharmlosend zusammenfasst, „mokiert sich“ Kaiser darin „ein bisschen über jenen ‚nostalgisch-verkitschten Berliner Ton, jenen zweitklassig pseudo-brillanten Stil‘ Mehrings und konstatiert, dass es ‚eine Ausnahme, vielleicht eine etwas sentimentale Ausnahme‘ gewesen sei, dass Mehring überhaupt lesen durfte: ‚Mehring hatte sehr gebeten: er wollte unbedingt einmal lesen, sich den jungen Deutschen vorstellen.‘“ (Böttiger 2012, S. 164.) Kaisers Bericht der Kritik lautet: „Und da legte ich, Punkt für Punkt, dar, so logisch ich konnte, warum ich diese Art von Prosa nicht in Ordnung finde, warum ihre Form auf etwas ganz anderes zu zielen scheint als auf das, was ungenau ausgedrückt wird, und warum mir vieles schlecht feuilletonistisch vorgekommen ist, wenig durchdacht und einfach flüchtig. Als ich fertig war, hatten viele Zuhörer offenbar den Eindruck, ich hätte ungefähr das verbalisiert, was sie auch empfunden hatten. Und es war auch nicht ‚böse‘ gemeint gewesen. Ich hatte alles sehr höflich gesagt. Aber das Höfliche kann ja besonders schneidend wirken. Jedenfalls: Mehring reagierte daraufhin ungeheuer bestürzt, reiste wohl auch gleich ab.“ (Kaiser 1988, S. 7 f.; vgl. Böttiger 2012, S. 164); Briegleb deutet das Interview ganz anders als Böttiger, vgl. Briegleb 2003, S. 260 f.; vgl. dazu auch Braese 1999b, S. 190 f. und weiter unten in diesem Kapitel.

400

Kaiser 1988, S. 8.

401

Vgl. Wiedemann 2014, S. 48 („Der durch seinen Intellekt geprägte ‚Jude‘ hat keinen natürlichen Bezug zu Landschaft und Natur; zutiefst unkreativ kombiniert er bereits vorliegendes Material.“) Vgl. Kap 3.3.2 in Teil II der vorliegenden Studie zu der Gruppe-47-Lesung des Kapitels „Das jähe Ende des Pater Sebaldus“ von Carl Amery ([1957] 1962), in der er genau diese Haltung, die hier Kaiser im Sinne des ganzen ‚inneren Kreises‘ vertritt, zu persiflieren scheint.

402

Briegleb 2003, S. 24; vgl. ebd., S. 260 f.

403

Vgl. Kaiser 1988, S. 9; Briegleb weist ebenfalls auf diesen offenbar assoziativen Zusammenhang hin (Briegleb 2003, S. 261).

404

Der Begriff wird in der vorliegenden Studie durchgängig in Anführungszeichen geschrieben, um den Konstruktionscharakter dieser Einteilung und scheinbaren Zusammengehörigkeit auszustellen, zumal sich die Erfahrungen im Krieg und in Gefangenschaft beispielsweise je nach Einsatzort oder Rang diametral unterscheiden konnten und die unterstellten Gemeinsamkeiten ganz andere Gründe hatten; vgl. auch Kap. 3 in Teil II der vorliegenden Studie.

405

Reich-Ranicki 1997, S. 218; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

406

„‚Die Gruppe hat kein gemeinsames literarisches Programm. […] Sie besteht aus Individuen, die nichts weiter gemeinsam haben als die schriftstellerische Tätigkeit und den Wunsch, dann und wann miteinander zu reden.‘ (Christian Ferber) […] Oder: die Gruppe sei lediglich ein Freundeskreis, ‚der sich mit lebendiger Literatur beschäftigt‘ (Hans Werner Richter) […]. Und: ‚Jeder schreibt, wie er will: fortschrittlich oder traditionell, realistisch oder verspielt, verstiegen oder ‚funkisch‘ ‘, so Joachim Kaiser […]. Auch Fritz J. Raddatz stellte in seinem einführenden Kommentar zu den Texten des Richterschen ‚Almanach‘ die Gruppe vor als ein ‚Phänomen des Heterogenen, sowohl im, Verzeihung, ideologischen Ansatzpunkt als auch im ästhetischen Resultat‘ […]. Und weitergehend konstatiert er, daß nach der Ermattung des pathetisch-moralischen Aufbruchs der ‚Ruf‘-Zeit mit einer ‚Literarisierung der Literatur […] auch eine gewisse Individualisierung‘ […] eingesetzt habe.“ (Arnold 2004b, S. 80.)

407

Ebd., S. 82.

408

Vgl. ebd., S. 80–84.

409

Vgl. ebd., S. 83.

410

Ebd., S. 84.

411

Ebd., S. 83; vgl. S. 184–156.

412

Richter 1962, S. 13.

413

Ebd.

414

Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

415

Richter 1962, S. 12.

416

Vgl. dazu Arnold 2004, S. 59–64. Ob auf einer Tagung überhaupt ein Preis vergeben wurde, wurde jeweils relativ kurzfristig von Richter mitgeteilt; es entschied sich nach seinem Gutdünken und danach, ob ein ausreichend hohes Preisgeld – das von Verlagen oder Gönnern gestiftet wurde – zusammengekommen war. Der Preis wurde nach der Auszeichnung von Grass zeitweise zum „bedeutendsten deutschen Literaturpreis“ (Böttiger 2012, S. 232). Insgesamt wurden zehn Preise vergeben, sie gingen an: 1. Günter Eich (für Gedichte, Inzigkofen im Mai 1950, 1’000 DM); 2. Heinrich Böll (für „Die schwarzen Schafe“, Bad Dürkheim im Mai 1951, 1’000 DM); 3. Ilse Aichinger (für „Spiegelgeschichte“, Niendorf im Mai 1952, 2’000 DM); 4. Ingeborg Bachmann (für Gedichte, Mainz im Mai 1953, 2’000 DM); 5. Adriaan Morriën für „Zu Große Gastlichkeit verjagt die Gäste“, Cap Circeo im April/Mai 1954, 1’000 DM); 6. Martin Walser (für „Templones Ende“, Berlin im Mai 1955, 1’000 DM); 7. Günter Grass (für zwei Kapitel aus der Blechtrommel, Großholzleute im Oktober/November 1958, 5’000 DM); 8. Johannes Bobrowski (für Gedichte, Berlin im Oktober 1962, 6’000 DM); 9. Peter Bichsel für Kapitel aus Die Jahreszeiten, Berlin im November 1962 7’000 DM); 10. Jürgen Becker (für Kapitel aus Ränder, Pulvermühle im Oktober 1967, 6’000 DM).

417

Vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

418

Die Korpora beider Teile werden in den jeweiligen Teilen noch genauer reflektiert und festgelegt.

419

Tugendhat 1993; Tugendhat 2009; Gross 2010; Bialas 2014; Sammelbände zum Thema u. a. von Gross/Konitzer 2009; Bialas 2014; Konitzer 2016; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

420

Insbesondere Mieth 2007 und Waldow 2013; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

421

Insbesondere Waldow 2013, die das ‚Andere‘ ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

422

Hall 1994, Hall 2004, Hepp 2015, Schmidt-Lauber/Schwibbe 2010, Brons 2015; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

423

Insbesondere Lotman/Keil 1972, Gubser 1998, Hall 1999, Hepp 2015; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

424

Joachim Kaiser an Hans Habe „Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre“, Zitat aus der Erinnerung Kaisers in einem Interview für die Gruppe-47-Ausstellung der Akademie der Künste; vgl. Kaiser 1988, S. 10.

425

Vgl. Böttiger 2012, S. 62; vgl. Kap. 1.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

426

Richter 1962, S. 13; vgl. auch Kap. 2.3 im vorliegenden Teil I der Studie.

427

Kaiser 1988, S. 10.

428

Vgl. ebd.

429

Richter 1962, S. 12.

430

Vgl. Böttiger 2012, S. 340.

431

Vgl. z. B. ebd., S. 277–280, wo Böttiger rekonstruiert hat, wie Richter sich von verschiedenen Seiten beraten ließ, als er 1962 wieder nur noch den ‚innersten Kreis‘ der Gruppe 47 tagen lassen wollte und nicht sicher war, ob er Reich-Ranicki dazu einladen sollte; anscheinend hatten u. a. Hildesheimer, Aichinger und Eich sich unmutig über ihn geäußert, während sich Lenz und Ferber für ihn einsetzten (vgl. ebd., S. 279). Richter rechtfertigte sich zwar gegen alle Seiten, aber entschied ganz deutlich alleine, wenn er schließlich Hildesheimer um „Nachsicht und Vergebung“ bat, „falls ich unter dem Ansturm solcher heraufbeschworener Gefühle schwach werde“ (zit. n. Böttiger 2012, S. 280), und am selben Tag auch schon Reich-Ranickis Einladung abschickte (vgl. ebd.). Reich-Ranicki selbst betonte 1997 im Interview, „[ü]brigens wollte Richter, wie gar mancher Herrscher auf dieser Erde, keinen zweiten Führer neben sich dulden.“ (Reich-Ranicki 1997, S. 216.) Den NS-Begriff ‚Führer‘ wird er bei seinem feinen Sprachempfinden an dieser Stelle wahrscheinlich kaum versehentlich gewählt haben.

432

Richter 1986, S. 281.

433

Vgl. zur Kontinuität einer Imagination der Volksgemeinschaft die Kap. 3.1 in Teil II und 1.2 in Teil III der vorliegenden Studie. Richters Aussage ist auch deswegen bemerkenswert, weil auch sie zunächst den Bruch betont: Man lehnt jede Zugehörigkeit zu Vereinen und Gruppierungen wie Parteien ab, in denen man auch im Nationalsozialismus die Macht verortete. Dabei ist diese vehemente Betonung, man habe keine Statuten etc. gehabt und niemand sei beigetreten, seltsam; Beitreten war ja gerade deshalb nicht möglich, weil Richter alleine als „guter Diktator“ über die Einladungen entschied. Wenn dazu noch das ‚Organische‘, d. h. naturgegebene, wie nach einem Gesetz Verlaufende der Zugehörigkeit positiv gegen „Gegensätze“, d. h. Alterität, ausgespielt wird, dann wird hier schon eine Nähe zu der Vorstellung einer Volksgemeinschaft deutlich, der man ebenfalls nicht ‚beitreten‘ konnte, aber durch vermeintliche Ähnlichkeit angehörte.

434

Booth hat das Konzept in seiner (zuerst 1961 auf Englisch erschienenen) Studie Die Rhetorik der Erzählkunst (1974) geprägt (vgl. ebd., S. 74).

435

Nünning 2013, S. 46.

436

Andersch 1946, S. 2; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

437

Cofalla 1997, S. 18.

438

Joch 2002.

439

Vgl. Joch 2002, S. 77.

440

Ächtler 2013, u. a. S. 89–110.

441

Ebd., S. 95.

442

Ächtler 2011.

443

Vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

444

Möckel 2013, S. 162.

445

Vgl. zu Cofalla, Joch und Ächtler weiter oben in diesem Kapitel.

446

Möckel 2013, S. 164 [Hervorhebung im Original]. Es sei „sehr deutlich, dass die Rede von einer vermeintlich ‚schweigenden Generation‘ nicht auf die Selbstzuschreibung einer bestimmten Generation verweist, sondern auf eine mediale Fremdzuschreibung […].“ (Ebd., S. 166.)

447

Ebd., S. 154 f.

448

Ebd., S. 162.

449

Ebd., S. 163.

450

Ebd., S. 162.

451

Ebd., S. 163.

452

O. A. 1946, S. 12; vgl. Möckel 2013, S. 167. Dafür, wie dominant das Thema war, spricht auch, dass der Artikel, der in der ersten Münchner Ruf-Ausgabe vom 15.08.1946 abgedruckt wurde, gemäß eigener Angabe bereits „dem ‚Kurier‘, der deutschen Tageszeitung für die französische Zone Berlins“, entnommen wurde (o. A. 1946, S. 12).

453

Möckel 2013, S. 167.

454

Ebd., S. 168.

455

Ebd.

456

Ebd., S. 169.

457

Vgl. Kap. 3.1 in Teil II der vorliegenden Studie.

458

Möckel 2014 untersucht in seiner aufschlussreichen Studie über die „Jugendjahrgänge des Zweiten Weltkriegs […] in Anlehnung an zeitgenössische Definitionen vor allem die Geburtsjahrgänge der 1920er Jahre“ (ebd., S. 158). Dass die Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus zunächst selbstverständlich und bekannt waren, erst allmählich durch die jüngeren Generationen verschleiert worden seien, betont Peitsch [2006, S. 3] mit Verweis auf Schwarz 1981.

459

Möckel 2014, S. 157 f. Darauf, welche Sehnsüchte geweckt wurden und inwiefern sich diese in der Gemeinschaftskonstruktion auch der Gruppe 47 niederschlugen, wird im zweiten Teil der vorliegenden Studie noch genauer eingegangen (vgl. Kap. 3.1 in Teil II der vorliegenden Studie). Dort wird auch das Fazit von Möckels Quellenstudie wichtig, dass in der „Vorstellung des Kriegs als ‚Generationserfahrung‘ womöglich auch ein Teil jener Gemeinschaftssehnsucht erhalten [blieb], der ein Überhang aus den Erwartungen an den Krieg darstellte“, wie sie in der NS-Ideologie genährt worden waren (Möckel 2014, S. 179). Die NS-Fortsetzung beschränkt sich also nicht auf den Begriff der ‚jungen Generation‘, der ja noch „primär der Abgrenzung und strategischen Umdeutung der Vorwürfe ‚von außen‘“ gedient hat (ebd.).

460

Zit. n. ebd., S. 78.

461

Andersch 1946, S. 2; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

462

Richter 1946, S. 2 [Hervorhebung N. W.]. Der Satz, die Jugend sei in der Phrase aufgewachsen, weist Richter als ein Zitat aus, das aber nicht belegt ist.

463

Ebd., S. 1.

464

Vgl. Möckel 2014, S. 164–169; vgl. Kap. 3.1 in Teil II der vorliegenden Studie.

465

Vgl. Möckel 2014, S. 170 f.

466

Ebd., S. 171–179.

467

Vgl. dazu Kap. 3.1.1 in Teil II der vorliegenden Studie.

468

Möckel 2014, S. 158.

469

Vgl. Kap. 2.3.2 im vorliegenden Teil I der Studie.

470

Möckel 2014, S. 157. Vgl. zu der Kontinuität einer Idealisierung der Erlebnisgemeinschaft in den Wertvorstellungen der ‚jungen Generation‘ und der Gruppe 47 in der Nachkriegszeit das Kap. 3 in Teil II der vorliegenden Studie.

471

Richter 1946, S. 2; vgl. Ächtler 2011.

472

Richter 1946, S. 2.

473

Ebd., S. 57, S. 61.

474

Ebd., S. 56.

475

Ebd., S. 54.

476

Ebd., S. 67.

477

Ebd., S. 66.

478

Ebd.

479

Ebd.

480

Vgl. Bigelow [2020].

481

Vgl. Kap. 1.1 im vorliegenden Teil I der Studie.

482

Teile dieses Kapitels wurden bereits in älterer Fassung publiziert (vgl. Weber 2018).

483

Andersch [1947] 1948; in der Folge im vorliegenden Kapitel im Fließtext zitiert (Sigle: AD).

484

Böttiger 2012, S. 62.

485

Ebd.

486

Richter 1997, S. 62 [Brief an Schnurre vom 14.11.1947].

487

Arnold 2004, S. 51.

488

Z. B. ebd., S. 52: „Alfred Andersch war, verglichen mit dem pragmatischen Hans Werner Richter, der sich mit den Realitäten arrangieren konnte, der weitaus reflektiertere, auch theoretisch versiertere Kopf.“

489

Ebd., S. 17.

490

Das wurde auch schon mehrfach unternommen (vgl. weiter unten in diesem Kapitel) und zuletzt harsch kritisiert: In seiner Rezension zu der Studie Alfred Andersch Desertiert von Döring et al. (Döring/Römer/Seubert 2015, dazu Ächtler 2015, o. S.), die auch auf den Essay eingehen, kritisiert Ächtler die Tatsache, die Forschergruppe würde den „historisch-werkbiografischen Entstehungskontext“ von Andersch Essay ignorieren (ebd.) – bei einer solchen „Abwertung“ dieses Essays handle es sich um eines der „verbreitetsten unhistorischen Umdeutungen seiner Kritiker.“ (Ebd.) Gemäß Ächtler formuliere Andersch stattdessen „mit seiner Generalapologie der inneren Emigration und dem Brückenschlag zum Exil sowie zur eigenen Autorengeneration im Jahr des ersten und einzigen gesamtdeutschen Schriftstellerkongresses eine Einladung zur Bildung einer antifaschistischen Einheitsfront aller ‚Gutwilligen‘“ (ebd.). Dieser Auffassung wird hier nicht gefolgt, wie im Folgenden genauer auszuführen ist. Gerade angesichts einer historischen Kontextualisierung wird deutlich, so die These, die im Folgenden verfolgt wird, dass kein echter Brückenschlag zum Exil stattfindet, sondern den geflohenen Autoren/-innen hinsichtlich ihrer Befähigung, etwas zu den innerdeutschen Diskursen beizutragen, vielmehr große Skepsis signalisiert wird. Und vor allem – und es erschiene gelinde gesagt etwas problematisch, wenn die Konstatierung dieses Fakts von heute aus als ‚unhistorisch‘ gebrandmarkt würde – sind weitere Opfergruppen des Nationalsozialismus, insbesondere die Juden, nach wie vor aus der von Andersch imaginierten moralischen ‚Einheit‘ von ‚Gutwilligen‘ ausgeschossen. Insbesondere da dies in einer sehr ähnlichen Weise erfolgt, wie Gross das in Bezug auf die mehr als 40 Jahre spätere – und ebenso bejubelte – Friedenspreisrede von Martin Walser 1989 beschrieben hat, erscheint es hier notwendig, eine Beschreibung exkludierender Aspekte im Text nicht mit Rücksicht auf den empirischen Autor Andersch zu beschweigen. Die historische Verhaftung ist der Grund, dass Andersch auch hier keineswegs verurteilt werden soll; nichtsdestotrotz sollen die aus der historischen Verhaftung erwachsenden exkludierenden Diskurse beschrieben werden, um die Linien, die zurück in den Nationalsozialismus und nach vorne bis in die Gegenwart reichen, erfassen zu können.

491

Vgl. Hoffmann 2006, S. 342–358.

492

Vgl. Rahner 1993.

493

Gesammelt in: Mann/Thiess/Molo 1946. Neu zusammengestellt und kommentiert – beides einseitig zugunsten von Molo und Thiess – in Grosser 1963.

494

Joch 2002, S. 69 [Hervorhebungen im Original] – Jochs Theater-Metaphorik spielt auf Frank Thiess’ Aussage an, im Exil habe man „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zugeschaut“ (vgl. ebd., S. 67).

495

Vgl. Sarkowicz 2016, S. 235 f.

496

Vgl. Joch 2002, S. 77.

497

„Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.“ (Mann 1963, S. 31.)

498

Braese 2001, S. 56–67.

499

Ebd., S. 67.

500

Vgl. auch Döring/Joch 2011.

501

Vgl. Gross 2010, S. 124–142 [Kapitel 6: Der Führer als Betrüger. Moral und Antipositivismus in Deutschland 1945/46 am Beispiel Fritz von Hippels].

502

Vgl. Ächtler 2013; vgl. dazu Kap. 2, insbesondere 2.2.1 in Teil II der vorliegenden Studie.

503

Sehr pointiert formuliert ist diese Denkfigur als Figurenrede in einer Erzählung aus Wolfgang Weyrauchs Anthologie Tausend Gramm, deren Nachwort wohl als zweitwichtigste Programmatik der Gruppe 47 gilt. Ein deutscher Soldat, der seine Familie in einem Bombenangriff verloren hat, erklärt sich einem jüdischen Händler [!]: „‚Die Mörder waren von Gott erlöst. Darum sind oder werden sie gerichtet. Und die Dulder der Sintflut erdulden heute den Schlamm.‘ […] ‚Die Rechnung stimmt also, meinen Sie?‘, fragte Barnabas [der jüdische Händler − N. W.]. Und Steiner: ‚Das Maß bestimmt Gott allein. Niemand sollte seinen Scheffel eichen.‘“ (Pohl 1989, S. 111); vgl. dazu auch Weber 2017, S. 312–214.

504

In der vorliegenden Studie wird meistens der Begriff „Holocaust“ verwendet, da er international seit den 70er Jahren am gängigsten ist. Zu Problematik und Rechtfertigung dieser Entscheidung vgl. die Ausführungen in Lorenz’ Monografie zum Antisemitismus im Werk Walsers (2005), S. 15 (mit Hinweis auf Jasper 2004 und Klüger 1992): Obwohl problematische Assoziationen darin mitgetragen werden, ist eine solche Chiffre zur Verständigung unabdingbar; sonst, wie Klüger schreibt, „muß man jedesmal erklären, wovon die Rede ist.“ (Klüger 1992, zit. n. Lorenz 2005, S. 15.) Der im jüdischen Diskurs gebräuchliche Begriff „Shoah“ kann in der Verwendung aus Perspektive der Tätergesellschaft problematisch sein (vgl. ebd.); in der vorliegenden Studie wird er stellenweise aufgegriffen, wenn es aufgrund direkter Darstellungen der Opferperspektive passender zu sein scheint.

505

Joch 2002; vgl. auch Williams 1991, S. 30 f.; vgl. zu Anderschs persönlichen biografischen Verstrickungen Kap. 4.1.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

506

Norbert Frei beleuchtet, wie die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit als Mythos aufgebaut wurde, obwohl sie nie von öffentlicher Seite geäußert wurde (Frei 2005, S. 145 f.). Er interpretiert dies primär als Hinweis auf ein schlechtes Gewissen und damit gerade als „unbewußte Anerkennung der Kollektivschuldthese“ (ebd., S. 155). Vgl. zu der unzureichenden Unterscheidung zwischen kollektiver und individueller Schuld in dieser Debatte Michael Schefczyk (2015), der beschriebt, dass in der Bevölkerung die Tendenz vorherrschte, den Schuldbegriff kollektivistisch auszulegen, obwohl das „dem modernen Moral- und Rechtsverständnis fremd“ (ebd., S. 46) sei. Schefczyk zeigt, dass sich das mit dem „griechisch-vorchristlichen“ Konzept eines „míasma, einer Befleckung des gesamten Kollektivs durch das schuldhafte Handeln einzelner Mitglieder“ (ebd. [Hervorhebung im Original]) in Zusammenhang stellen lässt. Wie zu ergänzen ist, liegt zudem auch der Bezug zu dem kollektivistischen Moralempfinden im Nationalsozialismus, wie es Gross (2010) beschreibt, sehr nahe.

507

Den Zusammenhang zwischen Kollektivschuld und Nationalismus stellt u. a. auch Clare Flanagan (1999) her, vgl. ebd., S. 18.

508

Das begriffliche Problem, das sich hier ergibt, weil ‚deutsch‘ im Sinne des NS-Begriffs verwendet werden muss (da ja die Opfer der Deutschen in heutiger Begriffsverwendung selbstverständlich auch Deutsche sind), kann Moeller nicht auflösen, er reflektiert es aber mit. Moeller erklärt: „Diese sich wechselseitig ausschließenden Kategorien von Opfern hielten Grenzen aufrecht, die vormals Deutsche, die Teil der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gewesen waren, von denjenigen getrennt hatten, die aus dieser ausgesondert worden waren. Wenn ich hier diese Kategorien wiederaufnehme, so geschieht dies, um die Grenzziehungen der rhetorischen Konstruktionen in den fünfziger Jahren zu markieren, wobei ich mir dessen völlig bewußt bin, daß diese Konstruktionen ebenso der Erfahrung von Juden Gewalt antaten, die Deutsche waren, wie sie auch der Erfahrung derjenigen nichtjüdischen Deutschen nicht gerecht wurden, die nicht etwa Opfer des Bombenkriegs oder der Sowjetischen Aggression, sondern vielmehr Opfer des nationalsozialistischen Unrechtregimes waren.“ (Moeller 2001, S. 34.) In der vorliegenden Studie wird, um diesem Problem zu begegnen, möglichst konsequent von „Angehörigen der Tätergesellschaft“ gesprochen, es sei aber auf Moellers Erläuterungen verwiesen, da es manchmal, wie eben im vorliegenden Beispiel, dennoch unumgänglich ist, die Kategorien in ihrer ungenauen bzw. diskriminierenden Bedeutung zu verwenden.

509

Ebd., S. 34. Zugleich gibt es schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Gegenstimmen zu diesem ‚nationalen Eifer‘, etwa vonseiten der Exilautoren/-innen (vgl. weiter unten in diesem Kapitel) und nicht zuletzt auch bei späteren Gruppe-47-Autorinnen und Autoren wie Aichinger, Bachmann oder Celan, auf die im Verlauf der Arbeit noch eingegangen wird (vgl. insbesondere Kap. 3 in Teil III der vorliegenden Studie).

510

Der Nationalismusbegriff in der vorliegenden Studie ist im Sinne von Andersons imagined communities zu verstehen (vgl. auch Kap. 2.2 im vorliegenden Teil I der Studie); produktiv ausgewertet sind diese Reflexionen auch in Ferber 2014, insbesondere S. 31–53. Ferber fasst zusammen, wie das Konstrukt einer nationalen Identität im 19. Jahrhundert – übrigens zeitgleich mit und perpetuiert durch den literarischen Realismus, auf den sich die ‚junge Generation‘ nach 1945 beruft – herausgebildet wurde und sich insbesondere in „Legitimations- und Exklusionsbedürfnissen“ (ebd., S. 32) äußert. Die Aufwertung des „Eigenen“ gegenüber dem „Fremden“ ist ein konstitutives Element davon. Patriotismus und Nationalismus könnten dabei nicht trennscharf abgegrenzt werden, schon die frühesten Strömungen beinhalteten eine „aggressive nationale Abgrenzung“ (ebd., S. 41).

511

Tatsächlich existierte der Ruf auch noch lange nach Andersch und Richter weiter. Auch hatten sie zunächst selbst gekündigt, um sich gegen die Einmischungen durch die Zensurbehörde und Verleger Curt Vinz zu wehren. Als eine einzelne Ausgabe der Zeitschrift verboten wurde, entließ Vinz sie endgültig als Herausgeber, hätte zumindest Andersch aber weiterhin als Mitarbeiter angestellt. Vgl. Vaillant 1978, S. 133–138; Lorenz 2009, S. 53–57.

512

Beide Artikel sind abgedruckt in: Vaillant 1978, S. 202–205; vgl. zu diesen Konflikten ebd., S. 114–122. Die Ruf-Replik auf Hermann Ebbinghaus’ Vorwürfe im Ruf vom 17.02.1947 zeigen den bereits deutlichen Ton der Gegner und das fehlende Verständnis vonseiten der ‚jungen Generation‘ für die Vorwürfe: „Es ist ein kritischer Brief, den uns Ebbinghaus schreibt. Er will ‚die Stimmen all derjenigen jungen Deutschen stellvertreten, die aus der anfänglichen ungeteilten Freude über das Erscheinen des ersten Blattes ihrer Generation mittlerweile nun in eine Art Zwiespalt und besorgten Zweifel geraten sind.‘ Die gemischten Gefühle, mit denen Ebbinghaus dem ‚RUF‘ gegenübersteht, haben ihre Ursache. Wir erweckten den Eindruck, teilt er uns mit, als ob wir ‚den Namen des jungen Deutschland dazu benützten, eine orthodox- nationalistische Propaganda zugunsten von Gesichtspunkten zu betreiben, die Deutschland eigentlich mit der Niederlage Hitlers aus den Augen verloren haben sollte.‘ Man sieht; ein recht massiver Vorwurf. Ganz wohl scheint ihm selbst dabei nicht zu sein, denn er fügt hinzu: ‚Nun, ich glaube das nicht.‘ Aber er warnt uns vor dem ‚Beifall von der falschen Seite.‘ Und er fragt, ob wir erkennen, was unsere Appelle an die nationalen Kräfte von den Umtrieben neu-nationalistischer Elemente noch eben trennt. […] Soweit Ebbinghaus einen Nachweis seiner Behauptungen· mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten unseres Leitartikels ‚Zwischen Freiheit und Quarantäne‘ (‚Ruf‘ Nr. 10) versucht, haben wir nicht die Absicht, darauf einzugehen. Entweder befaßt er sich mit diesem Aufsatz im ganzen oder er läßt es ganz bleiben.“ (Ebd., S. 3.)

513

Andersch 1946.

514

Ebd., S. 1.

515

Andersch 1955, S. 93.

516

Ebd., S. 20; vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

517

Ebd., S. 20.

518

Ebd., insbesondere S. 20 f.

519

Vgl. Wehler 2002; vgl. auch Fahlbusch/Haar 2010; Thieler 2014; Behrenbeck 1996.

520

Zu den diskurspolitischen Verdiensten Anderschs vgl. u. a. Sarkowicz 2016 sowie Ächtler 2016.

521

Vgl. dazu auch Kap. 4.3.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

522

Vgl. Echternkamp 2002.

523

Schon in der Herleitung erscheint der Kampf um die ‚Freiheit des Geists‘ in Deutschland abgesehen vom Nationalismus gleichbedeutend damit, die Besatzung zu ‚bekämpfen‘: „Dieser Kampf wird nicht einfach nur dadurch geführt, daß man die kolonialen Erscheinungsformen angreift, also etwa die Wegnahme der staatlichen Souveränität, die Eingriffe in Fragen der inneren Ordnung, die Ausbeutung der deutschen Wirtschaft für fremde Zwecke, und die Sanktionierung all dieser Maßnahmen durch die aufgedrungene Anerkennung einer Kollektivschuld, ihre Verhüllung durch ein schein-humanitäres und geistig völlig flaches System der sogenannten ‚Rück-Erziehung‘ – dieser Kampf muß sich ebensosehr gegen die latente Bedrohung der Freiheit aus dem Denken heraus richten, das für diese Zustände verantwortlich ist, also mithin gegen den deutschen Nationalismus und das Ressentiment, das er heute produziert […].“ (AD 27.)

524

Dabei war die Kritik an der Besatzungsmacht in der Ruf-Redaktion offenbar ein Streitpunkt und Andersch war diesbezüglich moderater als Richter, wie dieser rückblickend in einem Porträt Anderschs berichtet (vgl. Richter 1986, S. 30).

525

Briegleb hat sehr eindrücklich beschrieben, wie sich diese Abneigung auch im Umgang mit Emigrierten in der Gruppe 47 geäußert hat; auch wenn sie wieder in Deutschland lebten. Die wenigen Zurückgekommenen, die regelmäßig an Gruppentagungen teilnahmen, waren immer wieder scharfer Kritik – und nicht selten rassistischen oder antisemitischen Anfeindungen – ausgesetzt, weil sie nicht ‚dabei gewesen‘ seien. Vgl. Briegleb 2003, insbesondere S. 82–95.

526

Erwähnt werden Franz Werfel, Arnold Zweig, Alfred Polgar und Walter Mehring, niemand von ihnen hat aber einen eigenen Zwischentitel wie Mann und Brecht (oder zuvor Jünger), und die beiden letzteren dienen als Beispiel für die „Tragik“ und das „Verstummen“ der deutschen Satire im Nationalsozialismus, das Andersch wie folgt erklärt: „Was sollte ein deutscher Satiriker noch ohne das deutsche Volk und ohne den deutschen Staat?“ (AD 21) Die wenigen jüdischen Namen passen zu Anderschs an derselben Stelle ausgeführten existentialistischen Definition des Exils, die Juden letztlich erneut als scheinbares Nebenergebnis ausschließt: „Die Produktion dieser Werke wiederum war möglich, weil die Entscheidung zur Emigration eine Entscheidung zur Freiheit – nicht etwa zur Flucht – bedeutete.“ (AL 16.)

527

Damit steht Andersch nahe an dem, was gemäß Joch die Ideale eines Thiess von einem modernen Weltbild wie demjenigen Manns unterscheidet. Während sich für Mann „die Grenzen des literarischen Feldes nicht mit denen des Nationalstaats decken“, verurteile Thiess die Abwendung von Deutschland: „Symbolisches und ökonomisches Kapital, das man ursprünglich im Inland erworben hat, darf nicht im Ausland genossen oder gar gemehrt werden, es sei denn zu Lasten des Prestiges daheim.“ (Joch 2002, S. 73) Anderschs Argumentationsstruktur impliziert dieselbe Einstellung. In Bezug auf Andersch deutet Joch zwar die nationalistischen Elemente an, konstatiert aber gleich eingangs diplomatisch, dass eine solche Einstellung angesichts seiner frühen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus überraschend wäre. (Ebd., S. 68.)

528

Andersch 1946, S. 1.

529

Ebd., S. 1.

530

Klemperer 1947.

531

Andersch 1946, S. 1; vgl. dazu bereits Widmer 1966, S. 32, S. 43, S. 53.

532

Andersch 1946, S. 1.

533

Ebd.

534

Ebd., S. 2.

535

Zu den „höchste[n] Ansprüche[n]“ (Sarkowicz 2016, S. 231), von denen die politische Agenda von Anderschs essayistischen Beiträgen dabei zweifelsohne zeugt, vgl. ebd.

536

Vgl. Gross 2010, S. 201–236 (i. e. Kap. 9.: „Unvergängliche Schande“. Martin Walser und das Fortwirken der NS-Moral); vgl. Kap. 2.1 im vorliegenden Teil I der Studie. Er zitiert zur Verdeutlichung eine pointierte Aussage Hannah Arendts: „Diese zur Schau getragenen und reichlich publizierten Schuldgefühle [können] gar nicht echt sein […]. Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück […] und wird gern gesehen. […] Die normale Reaktion einer Jugend, der es mit der Schuld der Vergangenheit ernst ist, wäre Empörung. […] Wenn diese Jugend von Zeit zu Zeit […] in eine Hysterie von Schuldgefühlen ausbricht, so nicht, weil sie unter der Last der Vergangenheit, der Schuld der Väter, zusammenbricht […].“ (Arendt 1964, S. 298 f.; vgl. Gross 2010, S. 212.)

537

Eine Abwesenheit von Mitgefühl, also Empathie und damit auch Mitleid für ‚Andere‘ wird im Anschluss an Gross in der vorliegenden Studie insofern als Ausdruck einer partikularen Moral verstanden, als sie zeigt, dass das moralische Gefühl der Empörung über unmoralisches Verhalten auf die „Wir-Gruppe“ beschränkt ist (vgl. ebd., S. 168–170). Das korrespondiert auch damit, dass es im Nationalsozialismus als dezidiert moralische Pflicht propagiert worden war, Mitleid nur für die ‚arische Rasse‘ zu empfinden; vgl. die Einleitung zu Kap. 2 in Teil II der vorliegenden Studie m. w. H.

538

Richter 1946, S. 2; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

539

Lettau 1967, S. 452.

540

Ebd., S. 452.

541

Weiss 1981b, S. 734. Vgl. dazu Böttiger 2012, S. 384; Müssener 1991, S. 139 f.; Kramer 1999, S. 159 f. und weiter unten in diesem Kapitel.

542

Gross 2010, S. 214; vgl. dazu auch Kap. 2.1.3 im vorliegenden Teil I dieser Studie.

543

Vgl. Hofmann 2007, S. 150; Briegleb 2003, S. 264.

544

Weiss 1981, S. 491 f. Sven Kramer erwähnt in diesem Zusammenhang den Aufsatz zur „Gruppe 47 und die Exilliteratur“ von Helmut Peitsch (1991), in dem dieser „‚abgrenzbare Phasen‘ des Umgangs mit dem Exil identifiziert hat und postuliert, auf die Ablehnung sei schließlich eine Identifikation gefolgt (vgl. Peitsch 1991, S. 108, zit n. Kramer 1999, S. 159); tatsächlich habe Richter betont, in Princeton solle die Versöhnung mit der Exilliteratur gefeiert werden.“ (Ebd.) Demgegenüber stellt Kramer aber fest: „Bei aller von Peitsch gezeigten Wandlung im Verhältnis zu den Exilierten legt die von Weiss aufgezeichnete Ausgrenzung eine Kontinuität dieser Ansichten in Teilen der Gruppe nahe. Im Anschluß an die Hotelszene findet sich, durch einen Absatz getrennt, die Eintragung: ‚20 Jahre waren an ihnen abgelaufen wie Regenwasser‘. […] Sehr präzise wählt Weiss die Jahreszahl, denn die beschriebene Frontstellung stammt noch aus der Zeit des Ruf, der Urzelle der Gruppe 47.“ (Ebd., S. 159 f.)

545

Weiss 1981b, S. 734.

546

Vgl. Kramer 1999, S. 158; vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

547

Richter 1997, S. 336 f. [Brief an Ferber vom 25.01.1961].

548

Ebd., S. 336.

549

Richter 1997, S. 336 [Brief an Ferber vom 25.01.1961].

550

Cofalla 1997b, S. 337–338.

551

Ebd., S. 337.

552

Kesten 1960, S. 16; vgl. Cofalla 1997b, S. 337. Auszüge aus dieser Hitler-Ode Seidels, vgl. weiter unten in diesem Kapitel.

553

Vgl. Cofalla 1997b: „Ferber hatte sich über die ‚Perfidie‘ des Desch-Verlags aufgeregt, die ‚Kultur‘ mit besagtem Artikel Kestens Ina Seidel zur Kenntnis ins Krankenhaus zu schicken; er bat Richter, bei Desch zu intervenieren, um dergleichen in Zukunft auszuschließen.“ (Ebd., S. 338.)

554

Ebd., S. 338.

555

Ebd.; er sprach von einer Lüge, weil sie sich nach dem Kriegsbeginn 1939 von Hitler abgewandt habe (vgl. ebd.); vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel.

556

Briegleb 2003, S. 201.

557

Ebd., S. 203. Vgl. zum schwierigen Verhältnis Kestens zur Gruppe 47 auch Braese 1999b (insbesondere ebd., S. 196–198 zum Konflikt um Ina Seidel).

558

Klee (2009) fasst die Handlung wie folgt zusammen: „Ein Mann muß in den Krieg. Seine Frau weiß, daß er sterben wird. Sie ist ‚leer von allen Wünschen … bis auf den einen Willen zur Fruchtbarkeit‘. Der Mann erfüllt seine Pflicht als Samenspender, nun kann er im Kriege fallen ‚nicht anders als Früchte fallen‘.“ (Ebd., S. 507 f.).

559

Seidel 1939, zit n. Klee 2009, S. 508.

560

Meyer 1942, zit. n. Klee 2009, S. 508.

561

Vgl. Klee 2009, S. 507.

562

Kesten 1960, S. 16; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

563

Richter 1986, S. 243 f.

564

Vgl. Kap. 2.2 in Teil II der vorliegenden Studie.

565

Vgl. Kap. 2.3.3 in Teil II der vorliegenden Studie.

566

Lorenz 2017, S. 12.

567

Vgl. ebd., S. 12 f.: „Bestes Beispiel hierfür ist Martin Walser, der nach seiner skandalösen Friedenspreis-Rede […] und dem Hantieren mit antisemitisch aufgeladenen Bildern in seinem Schlüsselroman ‚Tod eines Kritikers‘ nicht nur von vielen Feuilletons, sondern auch zahlreichen Germanisten kurzerhand zum ‚Rechten‘ erklärt wurde, wodurch sein Schatten nicht länger auf die ‚linke‘ Gruppe 47 fallen konnte.“

568

Vgl. Kap. 1.3 in Teil III der vorliegenden Studie.

569

Lorenz 2017, S. 13.

570

Im Freundeskreis kursierte die „Vermutung, daß Rolf Schroers […] während des Zweiten Weltkriegs bei der deutschen Abwehr in Italien gewesen sei und dort möglicherweise einen Partisanen im Verhör ermordet habe. Schroers habe sich dieser Tat bei einem alkoholreichen Abend mit Franz Josef Schneider selbst bezichtigt.“ (Cofalla 1997b, S. 290.)

571

Vgl. Peitsch 1999, S. 262 f.

572

Hans Werner Richter an Walter Menzel am 17.12.1959, AdK, Hans Werner Richter-Archiv, 72/ 86/506171–72, zit. n. Peitsch 1999, S. 260. [Dieser Brief konnte wie die gesamte Debatte um Schroers wegen einer zu spät erfolgten Genehmigung zum Abdruck nicht in Cofallas Edition aufgenommen werden; vgl. Cofalla 1997b, S. 290.]

573

Hans Werner Richter an Reinhold Kreile am 5.4.1960, AdK, Hans Werner Richter-Archiv, 72/86/506/339, zit. n. Peitsch 1999, S. 260.

574

Vgl. Arnold 2004b, S. 164.

575

Friedrich 1947, S. 8. Eine Stellungnahme im Ruf im Zusammenhang mit den Vorwürfen nationalistischer Argumentation behauptet zwar, es handle sich bei solchen Stellen um rhetorische Kniffe von Leuten, die eigentlich ganz andere Haltungen hätten, um mehr Leser/-innen anzusprechen (vgl. weiter oben in diesem Kapitel zu der Debatte mit Ebbinghaus). Ein Brief von Friedrich an Richter zeigt aber deutlich, dass es sich zumindest bei ihnen beiden zweifellos um die tatsächliche Haltung handelte. Friedrich berichtet hier zutiefst empört von einem Zusammenstoss mit Stephan Hermlin, nachdem er ihm erzählt hat, der Ruf sei aufgrund von Nationalismus-Vorwürfen abgesetzt worden: „Da packte er aus. Ich war sprachlos […]. Er habe den Ruf eigentlich nie recht gemocht, obwohl er eine der lebendigsten Zeitschriften gewesen sei. Die Tendenz sei anti-östlich und pro-deutsch gewesen usw. […] Ich schaute auf das Bändchen Eluard. […] Hier lodert derselbe Hass gegen das Deutsche, nicht gegen Deutschland. Und da fühle ich mich betroffen – ebenso, wie sich der Jude betroffen fühlte, wenn man gegen das Jüdische anginge.“ (Richter 1997, S. 19 [Brief von Heinz Friedrich vom 04.08.1947]); Briegleb weist bereits 1996 knapp auf diesen Brief hin und auch auf das irritierende Konjunktiv der Überlegung, ‚der Jude‘ würde sich betroffen fühlen, wenn man gegen ihn vorginge (vgl. Briegleb 1996, S. 40 f.).

576

Ein gutes Beispiel dafür ist die weiter oben angesprochene Debatte mit Hermann Ebbinghaus, auf die im Ruf vom 17.02.1947 reagiert wurde; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

577

Vgl. Vaillant 1978, S. 114–122; s. auch Böttiger 2012, S. 48. Auch beispielweise Hans Habe, der Chefredakteur der Neuen Zeitung, des „Organs der amerikanischen Militärregierung für die deutsche Bevölkerung“ im besetzten Deutschland (Böttiger 2012, S. 46), würde die Gruppe 47 aus Gründen des Nationalismus und Antisemitismus während ihrer ganzen Bestehenszeit kritisch sehen; vgl. weiter oben in diesem Kapitel.

578

Vgl. Vaillant 1978, S. 123.

579

Vgl. ebd.

580

Andersch 1947, S. 8; vgl. Vaillant 1978, S. 124 f.

581

O. A. 1947, S. 3.

582

Ebd.

583

Ebd.

584

Cofalla 1999, S. 79.

585

Ebd.

586

Richter 1962, S. 10 f.; als ‚ideelle Ausgangspunkte‘ nennt er ‚demokratische Elitenbildung‘ und ‚praktische Demokratie‘ und das Ansinnen, „beide Ziele zu erreichen ohne Programm, ohne Verein, ohne Organisation und ohne irgendeinem kollektiven Denken Vorschub zu leisten.“ (Ebd., S. 11.)

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Kinder des Krieges, Gewissen der Nation

Moraldiskurse in der Literatur der Gruppe 47

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