Einleitung
Auch wenn wir den Topos Übermensch schon lange vor Nietzsche antreffen – in der griechischen Literatur, der Gnosis, der mittelalterlichen Mystik, in der Reformationszeit, der protestantischen Mystik, in der Anthropologie Lavaters, bei Hegel und David Friedrich Strauß, bei Goethe (als faustische Selbsterhebung ins Übermenschliche), bei Jean Paul, Ludwig Büchner, Eugen Dühring, Ralph Waldo Emerson u.a. so wird er von Nietzsche, insbesondere über Zarathustras Lehre vom Übermenschen, radikal anders gedacht. Der nietzscheanische Übermensch ist stets an die Überwindung des Menschen gebunden. Das steht in scharfem Gegensatz zu Herders Kritik an ihm – ihm geht es um den Menschen –, während Nietzsche die Zukunft der Menschheit als Einbruch einer radikalen Transformation, die keinerlei metaphysische oder im Sinne der nietzscheanischen Kritik, ‚hinterweltlerische‘ Konnotationen hat, noch dass sie Übersinnliches vertritt –, in die Immanenz der Weltbezüge fokussiert. Das kann er so konzipieren, weil er die Existenz grundsätzlich als eine offene sieht. Dann wird auch eine übermenschliche denkbar.
In der jüngeren Nietzscheforschung findet sich keine umfassende Studie, die sich explizit mit den Relationen zwischen dem Übermenschen und der ewigen Wiederkehr sowie mit deren Relevanz in seiner Philosophie auseinandersetzt. Es gibt zwar Publikationen, die sich entweder mit dem Übermenschen oder mit der Wiederkunft beschäftigen, die Relationen zwischen ihnen, wenn überhaupt, jedoch nur streifen.1 Das sieht bei der älteren Nietzscheforschung, etwa bei Heidegger, Löwith, Kaulbach, Montinari, Jaspers etc., anders aus. Wenn man freilich ästhetischen oder textologischen Interpretationen seiner Philosophie folgt, können diese Fragen – von großer Bedeutung für sein Werk und damit für dessen Interpretation, nicht mehr in den Blick geraten. Wird Nietzsche als Wissenschaftstheoretiker und radikaler Demokrat begriffen, wie dünn die Beweislage hierfür auch sein mag, als einer, dessen Thesen rein spielerischen Charakter haben, dann stört seine aristokratische Konzeption des Übermenschen und von daher muss er mit seiner besonderen Semantik vernachlässigt werden. Selbst wenn es bei Nietzsche Aussagen zum Chaoscharakter der Welt und zum Prinzip des Zufalls gibt, hat die These von der ewigen Wiederkunft auch einen deterministischen Charakter, weil sie Anspruch auf eine umfassende Gültigkeit stellt und Aussagen über den Gesamtcharakter aller Geschehensabläufe formuliert, die sich in ewiger Wiederkehr befänden, und sie zudem nur eine Haltung gegenüber dem Gedanken zulässt, die Bejahung. Auch das passt das nicht ins Bild eines verschlankten Nietzsche.
Nietzsches Verkündigung der Wiederkunft als einer Lehre, ist mit einem Aufforderungscharakter verbunden; sie ruft zur Handlung auf, fordert vielfältige Aktionen der Bejahung des Lebens als ein ewig wiederkehrendes, bei ihm aus einer Kritik an den Systemen und Ideologien der Verneinung gewonnen: Metaphysik, Religion und Moral. Sie fordert (Selbst-)Überwindung, Selbstunterwerfung, Selbstverleugnung und (Selbst-)Opferung und damit in gewissem Sinne selbst Züchtungen. Um es zu betonen: Die tragische Bejahung ist in seiner Semantik nicht nur eine Haltung, eine Einstellung; sie ist stets ein performativer Akt: Sie ist eine Performance.
Mit dem Übermenschen und der ewigen Wiederkehr sind nicht nur grundstürzende, sondern auch geradezu gewaltförmige Botschaften verbunden, auch wenn sie im Dienste neuer Schöpfungen stehen. Für die schwierigste, und wie Nietzsche betont, gefährlichste Weise der Bejahung, die der ewigen Wiederkehr, reicht die Potenz quasi übermenschlicher Vorformen – freier Geist, dionysisch-dithyrambischer Künstler – freilich nicht aus. Dazu bedarf es einer ganz anderen Kraft. Sie könnte nur einem Übermenschen gelingen, womit er als die Figur angesehen werden muss, die umfassend für eine zu schaffende und dann geschaffene Transformation – und damit gerade nicht für ein Jenseits – einsteht. Wir haben es, und das ist sehr wichtig, nicht mit einer ins Übersinnliche weisenden Transformation zu tun; ihre Voraussetzung ist das Diesseits, das sie dann verändern soll.
Vollendet ist der Übermensch jedoch nur dann, wenn er sich rückhaltlos in den endlosen Kreislauf der ewigen Wiederkehr eingefügt hat. Von daher ist die Wiederkunft, so meine These, für das Verständnis der nietzscheanischen Semantik des Übermenschen essentiell; nur er könnte deren Bejahung vollziehen und leben. Womit gesagt ist, dass die beiden Topoi in der Architektur seines Denkens miteinander verwoben sind; sie bedingen einander. Ihre Semantiken zeigen Verbindungen zu dem freien Geist, dem Dionysischen, dem tragisch- dionysischen Künstler, der tragischen Bejahung, dem Leib – und vor allem zum Willen zur Macht, dessen vollständige und vollumfängliche aktiv-bejahende Annahme als eine Voraussetzung für den Übermenschen angesehen werden muss. Dieser, so lässt sich folgern, wäre der zur Kreatur geronnene Willen zur Macht.
Für Nietzsche scheint es unerlässlich, den Kampf gegen die Diskurse und Dispositive der Verneinung von einer Figur übermenschlicher Kraft führen zu lassen, die befähigt ist, den schwersten Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen nicht nur zu ertragen, sondern sogar emphatisch bejahen zu können. Die Schlüssigkeit seiner positiv besetzten Topoi, Figuren, Selbsttechniken, Dispositive ist womöglich erst dann gesichert, wenn sie vom Übermenschen getragen sind. Entsprechend vergewissert sich die Studie von deren Ausleuchtungen in seiner Philosophie, um von hier aus das Warum des Übermenschen und der Wiederkunft zu erschließen. Eine Studie, die explizit die denktheoretischen, semantischen und genealogischen Verbindungen zwischen dem Übermenschen und der Wiederkunft – und damit deren Positionierung und Bedeutung bei Nietzsche reflektiert, ist aus meiner Sicht ein Desiderat.
Um den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu „ertragen“, wie nicht nur die Wahl des Verbes, sondern auch dessen grafische Hervorhebung indiziert, zeigt sich die ganze ungeheure Belastung, die mit diesem Gedanken verbunden ist. Um ihn zu ertragen, brauche es Moralfreiheit und Genuss an der „Versuchshaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus Beseitigung des Noth wendigkeitsbegriffs […] Beseitigung der ‚Erkenntniß an sich‘“. Wichtiger ist womöglich noch die „größte Erhöhung des Kraft-Bewußtseins des Menschen, als dessen, der den Übermenschen schafft“.2 Nietzsche betont hier im Nachlass von 1884, dass die Menschen den Übermenschen schaffen müssen und verbindet das Ertragen des Wiederkunftsgedankens ausdrücklich mit ihm. Mit der geforderten Moralfreiheit könnten Zerstörung, Züchtung, Opfer, Selbstopfer für dessen Kreation erfolgen, ohne, dass man sich hierfür noch zu rechtfertigen hätte.
Unerlässlich ist an dieser Stelle der methodische Hinweis, und er gilt für die zahlreichen Stellen, in denen das im Folgenden thematisiert wird, dass wir bei Nietzsche immer auf eine Dialektik von notwendiger Zerstörung und Schöpfung/Schöpferischem treffen. Das betrifft selbstverständlich nicht die zerstörerischen Prozesse, die er dem Christentum, der Moral und dem Nihilismus attestiert. Bei allen anderen geht es ihm in keiner Weise um Zerstörung oder Gewalt pur. Er war davon überzeugt, dass Schöpferischem Zerstörendes notwendig voraus liegt. Das bedeutet auch, dass wir als mögliche Opfer zerstörerischer Prozesse, zu denen wir nicht selten aufgefordert werden, sie zu bejahen, dies im Sinne des großen Ganzen tun müssen, wir damit von Nietzsche in die Pflicht genommen werden, über unseren individuellen Horizont und die mit ihm verbundenen Perspektiven, hinauszusehen.
Er will die „Heerdenthiere“ und damit die Herrschaft der „Mißrathenen“, der Gläubigen, verantwortlich für Leibfeindschaft und Dekadenz, überwinden und über eine Umwertung aller Werte, Verneinung, Nihilismus und Dekadenz ausrotten. Er will eine bejahte Welt und ein umfassendes Ja zum Leben. Dazu müssen das Christentum, die Metaphysik, der Humanismus, die traditionelle Philosophie überwunden und die Herdentiere womöglich geopfert werden, so sie das nicht über eine Selbstopferung selbst erledigen. Man dürfe keinerlei Rücksicht auf die „Masse, die Elenden und Unglücklichen […]“ nehmen, sondern nur auf die „gelungensten Exemplare, und daß sie nicht aus Rücksicht für die Mißrathenen (d.h. die Masse) zu kurz kommen Vernichtung der Mißrathenen – dazu muß man sich von der bisherigen Moral emancipiren“.3
Es ist die christliche Mitleidsmoral, die demaskiert und angeklagt wird, weil sie Askese predige und die Menschen von ihren ureigensten Instinkten entfremde, sie dabei unterwerfe, schwäche und krankmache. Dagegen setzt er programmatisch: „Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert […] man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt … Dies sind alles Werthe der Erschöpften.“4 Diese „Entselbstung“ sieht er in Kants kategorischem Imperativ; das Mitleiden habe die Moralphilosophie vom Christentum übernommen und damit die hieraus folgenden Schwächungen und Verleugnungen der menschlichen Physiologie und damit ihrer Natur. Seine Aufgabe sei eine „[…] Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff ‚Natur‘ gewonnen hat“5. Wir wissen, dass es keinen reinen Begriff von Natur geben kann. Mit den beiden Prozeduren sind zweifelsfrei enorme Risiken für den Menschen verbunden: sein Überleben steht dann infrage. Eine reine Natur wäre eine vollkommen ungezähmte und damit eine unbeherrschte und nicht zu beherrschende. Selbst wenn wir wissen, dass wir sie nie tatsächlich beherrschen können, nimmt eine approximative Bändigung von Natur einen Teil ihrer Gewalt. Auf diesen relativen Schutz vor ihr zu verzichten, wäre töricht. Zudem können wir auch hinsichtlich unserer Subsistenz nicht auf eine, zugegeben anverwandelte, verzichten.
Zweifelsfrei vergewaltigen wir die Natur, wir richten sie zu ihrer Beherrschung nach unserer Notwendigkeit und Bedürftigkeit. Das ist ein Eingriff und kein Verstehenwollen. Wir müssen das tun, sonst könnten wir wohl kaum überleben, wir müssen uns gegen die Naturgewalten wappnen, uns vor ihnen schützen. Das kann jedoch nie vollkommen gelingen. Eine ebensolche Bedrohung wäre mit einer „Vernatürlichung des Menschen“ verbunden. Eine Vernatürlichung setzt freilich eine Entgöttlichung voraus; womit die Aufforderung zur Vernatürlichung eine zur Entgöttlichung ist. „Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“6 Nach einer Entgöttlichung, einer Entidealisierung nach Gottes Tod, sollen via einer Vernatürlichung die Ungezähmten und Unzivilisierten, deren uneingeschränktes Ausleben ihrer Natur, Triebe, Naturanlagen mit Gefahren verbunden ist, womöglich das Regiment übernehmen. Das sollen und dürfen sie, weil es im Sinne ihrer Naturanlagen stünde. Nietzsche versteht nicht, dass wir diese nicht als solche wahrnehmen, gar erkennen können. Somit ist es unwichtig, ob sie überhaupt zugänglich sind.
Jetzt verstehen wir das Dilemma für uns; mit einer vergöttlichten – und das heißt mit einer durch die Moral zugerichteten Natur, werden die Menschen ihrer Triebnatur beraubt. Tritt man da heraus, dann obwalten ungezügelte Naturkräfte. Wollte Nietzsche das? Das wäre erst dann erfolgreich, wenn der Mensch den Begriff einer „reinen Natur“ gewonnen hätte. Was soll das für ein Begriff sein? Das Ding an sich? Oder doch wiederum der vernatürlichte Mensch in einer entmenschlichten Natur? Das könnte er wohl damit gemeint haben. In beiden Modellen haben wir den Schaden; in der vergöttlichten werden wir degeneriert, in der entgöttlichten können wir kaum überleben.
Eine Verachtung der Natur attestiert er insbesondere den „Weisesten“, zu ihnen kann man die Philosophen rechnen; sie predigten – mutmaßlich, weil sie einen schwachen Leib besitzen – die Leibverachtung: „[…] voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben“.7 Der Leib ist in seinem Denken der Fixpunkt und die Basis jeder „höheren Moral“, die ihre Potenzen aus einer permanenten Selbstüberwindung – womit eine große Aufgabe verbunden ist – generiert, weil sie der Leibvernunft folgen muss. Deren Gesetze können mit denen der Natur – nicht mit Naturgesetzen zu verwechseln – verglichen werden. Damit eröffne sich eine Vielfalt von neuen Perspektiven – und gerade keine Wahrheit:
‚Erkenntniß‘ im Verhältniß zu den Bedingungen des Lebens. Das ‚Perspektivische‘. ‚Naturgesetze‘ als Feststellung von Machtverhältnissen. ‚Ursache‘ und ‚Folge‘ ein Ausdruck für die Nothwendigkeit und Unerbittlichkeit dieser Machtfestsetzung. […] Schmerz und Lust im Verhältniß zum Willen zur Macht. ‚Person‘ und ‚Subjekt‘ als Täuschung. Ein beherrschtes Gemeinwesen. Am Leitfaden des Leibes. Regieren und gehorchen als Ausdruck des Willens zur Macht im Organischen.8
Hier haben wir sein philosophisches Programm quasi in Protokollsätzen, das durchaus praktisch werden will, wie der Hinweis auf das Gemeinwesen zeigt. Kann man den Leitfaden des Leibes bei Nietzsche als den einzig authentischen betrachten, so steht er in einem negatorischen Bezug zu anderen: dem Leitfaden des Metaphysischen, des Moralischen, des Erkennens und der Wahrheit. Daraus ergibt sich, dass auch er einen Leitfaden benennt und ihn wohl auch braucht, um eine Grundlage für seine Analyse/Diagnose/Kritik und das, was daraus folgt und folgen soll, zu erhalten.
Auf der strukturellen Ebene seines Diskurses installiert er – wie die tradierten Systeme des Deutens und Erkennens – eine Hierarchie, über die der Leitfaden des Leibes als der eigentliche ausgewiesen wird. Dies ist nicht nur hinsichtlich der Ebenen und Hinsichten von Analyse und Diagnose relevant, sondern auch für die Vision eines Übermenschen, der als personifizierte Leibvernunft mehr als ihr Träger ist, weil er sie gleichsam verkörpert. Er braucht keinen Leitfaden mehr, weil er ein leibvernünftiges Dasein haben würde. Ein Typus, der über alle Beschränkungen des Menschlich-Allzumenschlichen hinaus sein soll und selbst noch die tragischen Künstler, die höheren Menschen und die freien Geister hinter sich gelassen hat.
Wenn seine Herrschaft anbrechen sollte, wäre der kraftvolle Leib verwirklicht und damit das Leben von allen Verneinungen erlöst. Im Aphorismus: „Von den Verächtern des Leibes“ aus Zarathustra wird das Selbst als Leib, als ein „[…] unbekannter Weiser – der heisst Selbst“, ausgestattet mit einer Leibvernunft, identifiziert: „In deinem Leib wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leib, als in deiner besten Weisheit.“9
Im Nachlass vom Sommer 1883 steht: „der Übermensch völlig über die bisherige Tugend hinaus, hart aus Mitleid, – der Schaffende, der ohne Schonung seinen Marmor schlägt.“10 Er stehe für eine höhere, ja für die höchste Kultur und Moral und knüpfe in seiner Ablehnung von Mitleid und Nächstenliebe, so in den „Streifzügen“, an frühere, hohe Kulturformationen an: „Die starken Zeiten, die vornehmen Culturen sehen im Mitleiden, in der ‚Nächstenliebe‘, im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. –“11 Der Übermensch ist ein Schaffender, er ist Schaffen pur und dabei auch ein Zerstörer, damit ein Schöpfer und sogar ein Erlöser.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob es im Zeitalter eines Übermenschen noch Zerstörung geben muss, die für seine Kreation geradezu notwendig gewesen ist. Wenn das so wäre, dann hätten Segmente, die für Verneinung stehen, überlebt. Das würde bedeuten, dass mit der Erschaffung des Übermenschen der Auftrag noch nicht erfüllt ist; dass er noch daran arbeiten muss, Verneintes zu erodieren.
Nietzsches Metaphorik des Übermenschen positioniert sich zentral gegen Christus als Verkünder einer jenseitigen Erlösung. „Christus soll die Welt erlöst haben? Es muss ihm wohl missrathen sein“12, so seine Polemik in einem Fragment vom Frühjahr/Sommer 1878. „Die Liebe zum Übermenschen ist das Heilmittel gegen das Mitleid mit den Menschen: an letzterem müßte die Menschheit sehr schnell zu Grunde gehen.“13 Ein Heilmittel ist womöglich auch ein Mittel der Erlösung.
Zudem werden über die Figur des Übermenschen und über das Dispositiv der ewigen Wiederkunft Aussagen mit imperativischen Stellenwert – ihr müsst euch opfern, ihr müsst die Wiederkehr von Allem und Jedem ewig bejahen –, vermittelt, die Nietzsche als Kritiker der Metaphysik, der Moral, der Vernunft, des Bewusstseins, des Begriffs etc. scheinbar in den Hintergrund treten lassen. Man kann also folgern, dass der Mensch nach Gottes Tod eine vollständige Immanenz ertragen muss, was auch bedeuten könnte, unterzugehen, damit der Übermensch kreiert werden kann. „Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges, – und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste –“.14 Das indiziert seinen Verdruss am Menschen, seine Verachtung des Menschen; zumeist für den Christen, aber auch für den Kranken, der seiner Vitalität beraubt wurde, für den er nur Verachtung, namentlich für seine so genannten Tugenden, wie die Nächstenliebe und Mitleid, übrig hat.
Der Übermensch ist der je nur denkbare radikale Gegenentwurf zu dieser Kreatur, er verkörpert hierzu den maximalen Gegentypus. Selbst der Nächste, der Freund, der Verwandte findet keine Gnade. Ihnen allen wirft er ihre Unterwerfung unter die christliche Moral und damit ihr Sklaventum vor. Was ihm am Herzen liegt, umschreibt er auch metaphorisch als seine Aufgabe, den Übermenschen real werden zu lassen; das ist seine Herzensangelegenheit. Mit der Konzeption eines Übermenschen, eines höchsten Typus von überbordender Kraft und Stärke, ausgestattet mit einem maximalen Willen zur Macht, ist dokumentiert, dass Nietzsche sich von den Menschen verabschiedet hat; dieser Abschied ist hierfür die Voraussetzung. Er erwartet nichts mehr von ihnen, billigt ihnen keine vitale Zukunft zu; sie sind kraftlos und krank. Deshalb müssen sie geopfert werden, weil sie dem Leben und der Erde gegenüber untreu geworden sind und weil sie die bejahenden Energien negieren und verneinenden ein Ausleben ermöglichen.
Die Diagnose von Gottes Tod zählt zu den essentiellen Voraussetzungen für Nietzsches Konzeptionen des Übermenschen. Erst danach kann er sie als Ziel formulieren. Mit diesem Ereignis, wie er es klassifiziert – und es ist das Ereignis –, ist also weitaus mehr verbunden als eine Kritik am Christentum. Es ist der Scheitelpunkt eines neuen Horizonts, neuer Horizonte, für alle Umwertungen und jede Utopie. Ob es die von Nietzsche gewünschten sind, ist damit jedoch nicht belegt. Zustimmung gebührt Montinari, wenn er betont, dass der Übermensch, ob seiner engen Bindung an die Wiederkehr, kein „ästhetisierender Athlet“ sein könne –, das allen rein ästhetisierenden Deutungen entgegengehalten. Er und die Wiederkehr seien „Grenzbegriffe am Horizont einer antimetaphysischen, antipessimistischen Vision der Welt, nach dem ‚Tod Gottes‘“15. Ein schönes und gutes Bild, das aber die Frage nach der Legitimation all der Maßnahmen für diese Grenzbegriffe nicht beantwortet.
Selbst wenn wir verstehen, dass der mit Visionen beladene Übermensch ein Ergebnis seiner Kritiken, die man unter Abkehr vom Humanismus bündeln könnte, ist, kann das bestenfalls Hinlängliches für den Imperativ des Opferns und Selbstopferns bedeuten, und es macht ihn in meinen Augen nicht zwingend. Nietzsches antihumanistisches Denken fordert eine Umwertung aller Werte – es sind die christlich-abendländischen. Er fordert Aktionen des Krieges, der Grausamkeit, für die Kreation dieser neuen Werte. Hinzuweisen ist auf seine kreative Verwendung von Grausamkeit, insbesondere sein Fluchtpunkt Übermensch ist grausam, wenn auch mit ihm Schöpferisches, ja Schönheit verbunden ist. Nicht zu vergessen, er wurde und musste wohl durch und mit Grausamkeit und Brutalität kreiert werden.
Nietzsche geht es stets um den schaffenden Menschen, um das Schaffen. Dafür ist ihm Zerstörung als Voraussetzung des Schöpferischen legitim, sie ist in seiner Evaluation zwingend. Über seinen ausgewiesenen Modus des Transformierens im Schaffen kommt es im ultimativen des Übermenschen zu sich und macht ihn damit zur nietzscheanischen Chiffre einer gewollten und geschaffenen Transformation. Er hätte sein Schicksal vollständig in die Hand genommen. Was für ein Schicksal und welche Bezüge hat er aber noch? Wir wissen es nicht.
Für den Schaffenden gilt: „Kein Gott, kein Mensch mehr über mir!“16 Als ein bejahende Werte Setzender, als ein Schätzender, kann er unbedenklich die ewige Wiederkehr bejahen, denn was dann wiederkehren könnte, wären Segmente der Bejahung: Bejahtes. Hier zeigt sich womöglich eine Gläubigkeit, gleichsam ein romantischer Gestus: Jetzt betritt der Nietzsche der starken Botschaften und Forderungen die Bühne, der trotz seiner umfassenden Kritik eine belichtete Zukunft, ein So-soll-es-Sein, ja zuweilen geradezu einen Glauben an sie offenbart. Insbesondere mit dem Übermenschen wird nicht nur Zarathustra, sondern auch er zum Verkünder, zum Botschafter, womöglich zum Propheten von Überwindung und Selbstüberwindung, Höherentwicklung, von Heilung, Erlösung und Befreiung: es müsse uneingeschränkt bejaht werden, whatever it takes.
Für die Zukunft eines Übermenschen gibt es kaum Vorbilder; es habe noch nie einen gegeben, behauptet Zarathustra: „Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: –.“17 An anderer Stelle wird der Übermensch mit dionysischer Semantik wie „Überfülle des Lebens“, „Opiumraucher“, „Wahnsinn“ und „dionysischer Tanz“ verbunden. „Alle Zeichen des Übermenschen erscheinen als Krankheit oder Wahnsinn am Menschen.“18 Wenn das so ist, dann bezieht es sich wohl auf die Abwertungen durch Metaphysik und Moral gegenüber bejahenden Existenzweisen.
Wiewohl Nietzsche die Überwindung der nutzlosen und Unheil stiftenden Herdentiere fordert, sieht er selbst bei ihnen subkutan einen Trieb nach einer „höheren, übermenschlichen Zukunft“, weil auch für sie gelte, dass alle „metaphysischen und religiösen Denkweisen als Folge einer Unzufriedenheit am Menschen“ anzusehen seien.19 Das Höherwollen, gleichsam ein Ausbrechen aus ihrer beschränkten Konstitution, scheint ihnen also innezuwohnen. Bisher spiegele es sich im Bedürfnis nach Metaphysik, sprich nach jenseitigen Tröstungen. Dieses Bedürfnis, als ein vorhandenes angenommen, müsste aber nicht zwangsläufig auf etwas Übermenschliches gerichtet sein. So ist es eine Unterstellung – denn einen Beleg gibt es hierfür selbstverständlich nicht –, die jedoch eine übermenschliche Zukunft wahrscheinlicher sein lässt. Sie müsse verwirklicht werden, sonst falle der Mensch in Animalität zurück: „Zarathustras Consequenz ist, daß der Mensch, um den Gedanken nicht zu fühlen, zum Thier zurück sich bilden muß. Oder zum Übermenschen“.20 Vor diese Alternative gestellt, scheint die Wahl eindeutig ausfallen zu müssen. Jetzt wird deutlich, warum der Mensch an ein:
Seil geknüpft [ist, J.G.] zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.21
Wenn der Mensch eine Brücke ist, dann unterstreicht das einmal mehr seinen Übergangsstatus; allein das soll geliebt werden, dass er eine Brücke für den Übermenschen ist. Damit wird sein Untergang auch geliebt werden müssen. Wenn er keinen Zweck vertritt, keinen Zweck darstellt, dann depotenziert ihn das und gibt Raum für andere Kreaturen, die einen Zweck in sich tragen. Bei Nietzsche ist es der Übermensch. Eine prinzipielle Offenheit der menschlichen Existenz, zu der die Transformation gehört, muss er unterstellen; im poetischen Bild ist es ein Seil über einem Abgrund, was jedoch eine Setzung ist. Die Offenheit könnte auch anders gezeichnet werden. Über sie jedenfalls kann es zu einem Untergang kommen. Zwingend ist das nicht, es ist eine Setzung, aber der Untergang muss nicht notwendig ein Übergang sein. Die Dynamik des Existierens erlaubt es ihm, diesen Übergang als einen zu etwas Höherem zu klassifizieren. Hinzu kommt die Behauptung, allein dieser Untergang/Übergang sei „groß“, und nur das könne geliebt werden am Menschen, das somit zu seiner Bestimmung firmiert. Allerdings ist es ein Prozess, der Angst auslöst, nicht überraschend, denn wer will schon untergehen? Die Behauptung, es sei etwa ein Untergang als Übergang, macht es nicht besser.
Der Mensch als das „noch nicht festgestellte Thier“ habe eine offene Zukunft und damit die Möglichkeit, sie zu gestalten. Jedoch mit prekären Konsequenzen: Rückfall in die Animalität oder Opfern für den Übermenschen. „Der Mensch ist das Unthier und Überthier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare“.22 Nietzsche macht den Zusammenhang zwischen einem Wachstum des Menschen in die Höhe und dem Furchtbaren, sprich der Zerstörung, transparent. Es ist zwingend, denn: „Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, – das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch klüger“.23 Also dürfen und müssen wohl auch Selektionsmaßnahmen ergriffen werden; das scheint ihm alternativlos.
Mit seiner Metaphorik eines dionysischen Jasagens zur Überwindung des Menschen und der Gattung ruft er zu ihrer Opferung für die Kreation eines Übermenschen auf, und es ist wahrscheinlich, dass auch die Prototypen geopfert werden müssen. Prinzipiell könne er geschaffen werden; dem scheint nichts entgegenzustehen. „Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könnt Ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen! – “24 Wir können ihn noch nicht schaffen, aber unsere Nachkommen könnten es womöglich; freilich nur dann, wenn wir mit dem Umschaffen beginnen. War Nietzsche davon überzeugt, oder ist das gleichsam ein Menetekel: so könnte es kommen und dann wären eure Nachkommen womöglich die Opfer? Das beste Schaffen würde Leiden und Schmerz bedeuten, weil es entsprechenden Verwandlungen, Abschiede, Umwertungen, Umkehrungen, Überwindungen, Opfer, Verwerfungen etc. mit sich bringt.
Zarathustras Kreationsort ist die Einsamkeit, weil er sich unter Menschen fürchtet. „Da ging ich in die Einsamkeit und schuf den Übermenschen. Und als ich ihn geschaffen hatte, ordnete ich ihm den großen Schleier des Werdens und ließ den Mittag um ihn leuchten.“25 Der Mittag wird als Metapher dem Übermenschen zugeordnet; er werde einst am „grossen Mittag“ kommen, wie er an anderer Stelle verkündet. Somit ist er das Zeitfenster der höchsten Kreatur, das sich einem einsamen Schaffen verdankt, wenn die Sonne am höchsten steht. Mit ihrer Wärme kann alles wachsen und werden. Mir ihr wird ein Planet bemüht, den wir lieben, der alles Werden und Entstehen verkörpert, der alles zum Aufblühen bringt.
Wenn wir uns die Prototypen des Übermenschen ansehen, so zeigt sich, dass Nietzsche sie braucht; die „stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und eben darum hundertfach gefährdetere[n] Art Mensch“.26 Mit ihnen wird gleichsam ein Probehandeln ermöglicht und damit erkannt, dass sie letztlich nicht kraftvoll genug sind, um mit der wirkmächtigen und fatalen Tradition der Verneinung, schlussendlich zu brechen. Beim dionysischen Künstler bezieht er sich auf die Antike, die anderen, etwa der freie Geist, der höhere Mensch, der Krieger, der Aristokrat etc., sind mit ihrer besonderen Semantik seine Kreationen.
Die Herdentiere und Mittelmäßigen müssen überwunden und zerstört werden, um Neues zu schaffen; das duldet keinen Zweifel. Er liebe die „grossen Verachtenden“, behauptet Zarathustra.27 Das Christentum habe sie so herangezogen, dass sie nun endgültig überwunden werden müssten. Dekadente Tiere seien sie, die versprechen dürfen zu gehorchen, der Moral zu folgen und ihrer Instinkte beraubt wurden, die gelernt haben, ihre Triebe und damit ihre ureigensten Energien zu unterdrücken. Der Mensch sei zu einem furchtsamen Tier geworden, ein „Cultur-Zärtling […] eine „Mißgeburt“28: Ein Ergebnis der gewaltsamen Abtrennung von seiner tierischen Vergangenheit, was bedeutet: von seinen physischen Kräften. Damit verbunden sei eine „Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Fruchtbarkeit beruhte“; das habe ihn – durch die „Sittlichkeit der Sitte“ – in seiner „socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht“.29 Man kann dem im Prinzip durchaus zustimmen, gleichwohl darf daraus nicht eine Opferung/Selbstopferung für eine ungewisse Zukunft abgeleitet und schon gar nicht legitimiert werden.
Nietzsches philosophisches Programm lässt sich auch unter der Formel tragische Bejahung summieren als eine Performance; sie setzt er den Verneinungen durch Metaphysik/Christentum und Moral entgegen. Eine schlichtweg umfassende bleibt jedoch allein dem Übermenschen vorbehalten; er ist die bejahende Kreatur, hat er doch die Systeme der Verneinung definitiv hinter sich gelassen. Das ist seine übermenschliche Tat.
Nietzsches Kritik am degenerierenden Nein ist eine Denkbewegung, die stets die Perspektiven eines dem entgegengestellten Jasagens aufscheinen lässt und das er über die Kritik sofort einfordert, indem er die Mechanismen des Neinsagens so analysiert, dass Bejahung sichtbar wird: Ein Ja zu Leben und Leib, im besten Fall ein emphatisches. Zu den vielfältigen Weisen der Bejahung zählen pragmatische Umorientierungen, in Folge von existentiellen Selbstüberwindungen, insbesondere über den Amor fati: „[…] das Nothwendige an den Dingen als das Schöne zu sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! […] ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!“30 Im Amor fati sind Sein und Werden im Schicksal des Einzelnen eigentümlich verschränkt, als eine Verschränkung von Wollen und Erdulden. Mit einer uneingeschränkten, bejahenden Liebe zum Fatum ist eine Vorbereitung zur Akzeptanz der ewigen Wiederkehr des Gleichen gewonnen. Wenn alles notwendig ist und notwendig wiederkehrt, dann ist der Einzelne ein Teil dieses Prozesses von Notwendigkeiten. Zu diesen gehören Chaos und Zufall, somit die Abwesenheit von Vernunft. Der Mensch kann sie verdammen, er kann sie bejahen.
Die Dionysos Dithyramben singen: „Schild der Nothwendigkeit! Höchstes Gestirn des Seins! – das kein Wunsch erreicht, das kein Nein befleckt, ewiges Ja des Sein’s, ewig bin ich dein Ja: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! – –“31 Da zeigt sich Nietzsches poetisch-stilistische Meisterschaft, die uns bebildert, gleichsam fühlen lässt, was diese Notwendigkeit eines Ja zur Ewigkeit für eine Bedeutung hat.
So sieht auch Kaulbach: „Amor fati in der Interpretation der ewigen Wiederkehr ist leidenschaftliche Zustimmung zum notwendigen Kreislauf vom Stande der Freiheit des Schaffens aus.“32 Zum Amor fati gehört die „grosse Gesundheit“, weil sie die physiologische Basis für die schwierige Zustimmung ist:
die Jasagenden Affecte Der Stolz // die Freude // die Gesundheit // die Liebe der Geschlechter // die Feindschaft und der Krieg // die Ehrfurcht // die schönen Gebärden, Manieren, Gegenstände // der starke Wille // die Zucht der hohen Geistigkeit // der Wille zur Macht // die Dankbarkeit gegen Erde und Leben // alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt verklärender Tugenden … alles Gutheißende, Jasagende, Jathuende –33
Das ist zwar ein verklärendes Szenario, aber das ist Nietzsches Wunschvorstellung; all das soll aus diesen Affekten entstehen. Eine andere Selbsttechnik ist der „hohe Punct der Perspektive“: „Es giebt einen gewissen hohen Punct des Lebens: haben wir den erreicht, so sind wir mit all unserer Freiheit, und so sehr wir dem schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten haben, noch einmal in der grössten Gefahr der geistigen Unfreiheit“.34 Diese Technik der Überwindung ist mit dem Amor fati verbunden. Beide sind eine bejahende Performance; sie möglichst umfassend zu erreichen, ist das gewünschte Ziel aller Selbsttechniken.
Zu ihnen zählt auch das „Pathos der Distanz“, gleichfalls mit den anderen verbunden. Es benennt eine hohe Position in einer physiologischen Rangordnung; einen „Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen“. Weiterhin steht es für eine „Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst […] kurz eben die Erhöhung des Typus ‚Mensch‘, die fortgesetzte ‚Selbst-Überwindung des Menschen‘“35 Hinzu kommt das aktive Vergessen mit seiner reinigenden Wirkung. Es sei keine „blosse vis inertiae […] vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen“.36
Nietzsches Semantik eines aktiven Vergessens ist mit der Freud’schen inkompatibel und untergräbt dessen therapeutisches Ethos. Namentlich kollidiert sie mit Freuds Verdrängungstheorie, wo die Verdrängung eine Form der Abwehr von Unlust ist. 1915 in Die Verdrängung unterscheidet er zwischen einer „Urverdrängung“, über die bestimmte Triebrepräsentanzen nicht ins Bewusstsein gelangen, und den darauf folgenden Verdrängungen, dem „Nachdrängen“.37 Freud erklärt die Entstehung von Psychoneurosen auch mit dem Eigenleben des Verdrängten; somit ist die therapeutisch generierte Erinnerung für eine Heilung essentiell. Dann kann und hat Nietzsches aktives Vergessen in Freuds Theorie keinen Platz.
Für Nietzsche ist aber die Anwendung aller Selbsttechniken schlichtweg erforderlich, weil sie als Prozeduren der Überwindung Schritte aus dem humanen Menschsein und damit vorbereitende Handlungen für die Kreation Übermensch sind.
In der Forschung besteht zurecht Einhelligkeit darüber, dass Nietzsches Übermensch nicht in einem christlichen Kontext situiert werden kann. Das entbindet jedoch nicht von der Frage, ob er in seiner Philosophie diskurstheoretisch an die Stelle des toten Gottes tritt und ob mit ihm, entgegen seiner Intention und Proklamation, eine Teleologie verbunden ist. Nicht zuletzt muss gefragt werden, welchen Stellenwert dieser Topos in seinem Denken hat; das umfasst Fragen nach dessen diskurstheoretischem Nutzen und Status, will sagen: Wie bedeutend ist dieser Topos und der der ewigen Wiederkehr im Gesamtgefüge seines Denkens und umgekehrt, würde es ohne sie ein anderes sein? Diese Fragen sind bisher nicht angemessen diskutiert worden, hier will die Untersuchung neue Erkenntnisse vorlegen, die unser Verständnis und Selbstverständnis als abendländische Menschen tangieren, allzumal Nietzsche dazu aufruft, sie zu überwinden.
Die Studie wird die gesamte Bandbreite der nietzscheanischen Menschentypen, vom „Heerdenthier“ – und seine Kritik an ihm – bis zum Übermenschen so diskutieren, dass die mit ihnen verbundenen Dispositive (Religion, Moral, Philosophie) in seiner Evaluation transparent werden. Zudem werden Nietzsches favorisierte strebensethische Selbsttechniken38, der Amor fati, das aktive Vergessen etc. dahingehend geprüft, inwieweit sie als Vorbereitungen für eine übermenschliche Zukunft dienlich sein können.
Ob die Wiederkehr kosmologisch abgesichert werden kann, halte ich für nachrangig, wichtig demgegenüber, ob unsere Handlungen an ihren Geboten ausgerichtet werden können und müssen. Diese Frage ist außerordentlich relevant, weil dieser schwerste Gedanke ja keine Beweise mit sich trägt. Womöglich ist er ihm so wichtig, weil nur mit ihm die Forderung nach umfassender Bejahung beglaubigt werden kann.
Wie also lebt es sich unter dem Imperativ des nietzscheanischen Noch ein Mal? Hierzu Kaulbach: „Das Schwergewicht des Denkens und Sprechens über die ewige Wiederkehr liegt bei Nietzsche nicht im Bereich physikalischer Kosmologie, sondern beim Charakter der Stellung der Autarkie, die der Lebende, Denkende der Welt gegenüber einnimmt.“39 Von hier aus kann die Frage nach dem Warum des Übermenschen und dem der Bejahung der ewigen Wiederkehr angemessen beantwortet werden. Allerdings nur dann, wenn man ihre strukturell netzartigen Relationen in seiner Philosophie nachzeichnet, reflektiert und hinterfragt.
Marie-Luise Haase erkennt „wie die beiden Begriffe ‚ewige Wiederkehr‘ und ‚Übermensch‘ immer enger aneinander rücken, und daß für die Lehre die Vision vom Übermenschen nicht nur unentbehrlich, sondern Voraussetzung geworden ist“. Haase 1984, S. 232.
Ich danke Christina Kast und Vivetta Vivarelli für unsere Gespräche.
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe. Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Berlin 1980ff, im Folgenden KSA genannt. NL 1884, 26[283]; KSA 11, S. 224f.
NL 1884, 25[243]; KSA 11, S. 75.
NL 1888, 15[13]; KSA 13, S. 412. „Denn Angesichts von Natur und Geschichte, Angesichts der gründlichen Unmoralität von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird.“ M Vorrede, KSA 3, S. 14f. Adorno erkennt, dass Kant mit dem kategorischen Imperativ den Verzicht „fetischisiere“. Kants kategorischer Imperativ sei das „[…] ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip der Naturbeherrschung selber. […] die Kantische Ethik bleibt eben doch, dadurch, daß sie als die absolute Naturbeherrschung sich selber deklariert, daß ihr eigentliches Kernprinzip ist, Natur zu unterdrücken und im Sinne ihrer Identität ihre Einheit zu kontrollieren, selber naturhörig. Das heißt, das blind Zwanghafte der Gesetzmäßigkeit, der die außermenschliche Natur untersteht, das setzt auf diese Weise auch in der Kantischen Ethik sich fort“. Adorno 1963, S. 155 und S. 200.
NL 1881, 11[211]; KSA 9, S. 525. „Alles was der Mensch aus sich heraus gelegt hat, in die Außenwelt, hat er dadurch sich fremd gemacht und immer mehr: so daß es nun wie ein Nicht-Ich wirkt, und alle moralischen Prädikate trägt und erträgt, die der Mensch sich selber nicht beizulegen wagt. ‚Natur‘. So hat er sich erniedrigt und verarmt […]“. NL 1881, 12[26]; KSA 9, S. 580.
FW 109, KSA 3, S. 469.
GD, KSA 6, S. 67. „Der Mensch und gerade der Weiseste als die höchste Verirrung der Natur und Selbstwiderspruch (das leidendste Wesen): bis hierher sinkt die Natur. Das Organische als Entartung.“ NL 1882/83, 4[177]; KSA 10, S. 163. „Kritik der Philosophie. In wiefern Philosophie ein décadence-Phänomen ist […] Die Idiosynkrasie der Philosophen gegen die Sinne: ihre ‚wahre Welt‘ […] Die Philosophen als Moralisten: sie untergraben den Naturalismus der Moral.“ NL 1888, 15[5]; KSA 13, S. 403.
NL 1885, 39[13]; KSA 11, S. 623. „Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit. –“ NL 1888, 14[121]; KSA 13, S. 300. „Das Subjekt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe wie Nähe und Ferne, und leben uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Quantitätsgraden ist.“ NL 1880, 6[70]; KSA 9, S. 212.
Za I, KSA 4, S. 40. „Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes! Ihr seid keine Brücken zum Übermenschen! –“ Ebd., S. 41. „Indem sich der Mensch als die Leib-Organisation [annimmt, J.G.] gewinnt er sich als Moment derjenigen Wirklichkeit, die er selbst ist und die nicht mehr auf eine der beiden Seiten der Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität, von Geist und Natur, von Mentalem und Materialem verbucht werden kann“. Abel 1984, S. 302.
NL 1883, 10[25]; KSA 10, S. 372. „Jeder allgemeine Begriff des Menschen und sei er noch so ‚human‘ gemeint, wirkt normierend, wird zum Maß der einzelnen Menschen gemacht und zur Rechtfertigung dafür gebraucht, sie nach ihnen zu richten und auf ihn hin abzurichten. Der Gedanke des Übermenschen dagegen wäre der Gedanke von Menschen über alle Normierungen hinaus.“ Werner Stegmaier 2000, S. 211.
GD, KSA 6, S. 138. Freud notiert: „Das Gebot ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs.“ Gesammelte Werke XIV, S. 503. Im Folgenden GW genannt.
NL 1878, 28[35]; KSA 8, S. 508. „Christus trug nicht nur Gott, sondern auch den Satan in seinem Busen: das ist die Gegenrechnung bei diesem moralischen Hyperidealismus: die absolute Verdammung des Menschen, das odium generis humani. Um die Menschheit eines solchen Opfers eines Gottes werth zu fühlen, mußte man sie in’s Tiefste verachten und vor sich herabwürdigen.“ N 1880, 4[143]; KSA 9, S. 233.
NL 1882, 3[1]; KSA 10, S. 100.
Za IV, KSA 4, S. 357.
Montinari 1991, S. 92. „Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? […] Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? […] Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘ –“ FW 125, KSA 3, S. 481. Günter Abel führt aus, dass nunmehr eine metaphysische oder moralische Rechtfertigung der Welt und des Lebens unmöglich geworden ist; sie habe: „[…] einzig und alleine eine physische und ästhetische Bedeutung […] Die Welt ist ihr eigener Vollzug und darin die ganze Realität.“ Abel, 1984, S. 369.
NL 1884, 26[47]; KSA 11, S. 160.
Za II, KSA 4. S. 119.
NL 1882/83, 5[1]; KSA 10, S. 217.
„[…] nur daß die Menschen sich in’s Jenseits flüchten wollten: statt an der Zukunft zu bauen. Ein Mißverständniß der höheren Naturen, die am häßlichen Bilde des Menschen leiden.“ NL 1884, 27[74]; KSA 11, S. 293.
NL 1883, 15[4]; KSA 10, S. 479f.
Za Vorreden, KSA 4, S. 16f. Erwin Schlimgen akzentuiert das Nichtmenschliche am Übermenschen wie folgt. „Das kosmische Bewußtsein verweist eindeutig auf den Übermenschen, der nicht mehr aus der egoistischen Perspektive urteilt und verurteilt, dessen Handlungsmaxime keiner gesellschaftlichen Konvention entspringen. Seine Stellung zur Natur ist nicht durch ein Gegenüber charakterisiert; er weiß sich mit ihr im Einklang. Der Übermensch transformiert das kosmische Bewußtsein in eine universelle Bejahung all dessen, was ist: er akzeptiert so auch den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der in gewisser Weise Konkretion des kosmischen Bewußtseins ist.“ Schlimgen 1999, S. 202.
„[…] man soll das Eine nicht wollen, ohne das andere – oder vielmehr: je gründlicher man das Eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das Andere“. NL 1887, 9[154]; KSA 12, S. 426.
GD, KSA 6, S. 120. „Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urtheil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen.“ NL 1885/86, 2[168]; KSA 12, S. 152.
Za II, KSA 4, S. 109.
NL 1882/83, 5[1]; KSA 10, S. 210.
NL 1887/88, 11[55]; KSA 13, S. 27.
Za Vorrede, KSA 4, S. 17. „[…] dass der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist, und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Antheil hat; endlich dass Jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muss, und dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss fällt‘.“ FW 99, KSA 3, S. 457.
NL 1888, 15[8]; KSA 13, S. 409.
GM II, KSA 5, S. 323 und S. 293.
FW 276, KSA 3, S. 521.
DD, KSA 6, S. 405. Nietzsche „[…] benutzt alle Mittel eines glänzenden Stiles mit bewußter Absicht. Er ist reich an packenden Antithesen, an prächtigen Bildern, an treffenden Wortprägungen sowie an überraschenden Wortspielen, Er versteht die Kunst der lauten Steigerung bis zum gewaltigen Blitzen und Donnern ebenso wie die Kunst des leisen Andeutens, des plötzlichen Verstummens und Verschweigens. […] Die einzelnen Gedanken treten eben in ihrer abrupten Vereinzelung viel schärfer und viel anpruchsvoller hervor, als wenn die betreffenden Gedanken in Reih und Glied miteinander stehen. Ohne Begründung durch das Vorhergehende, ohne Milderung durch das Folgende tritt jeder einzelne Gedanke mit schroffer Einseitigkeit, wie aus dem Nichts entsprungen, hervor, und macht dadurch eben einen um so größeren Eindruck.“ Hans Vaihinger 1930, S. 24.
Kaulbach 1980, S. 124.
NL 1888, 14[11]; KSA 13, S. 222f. Der Amor fati kann als ein Existieren in maximaler Souveränität begriffen werden, damit steht er dem Fatalismus als „[…] unsere jetzige Form der philosophischen Sensibilität […] jenes längsten Glaubens an göttliche Fügung, […] nämlich als ob es eben nicht auf uns ankomme “, entgegen, so im Nachlass aus dem Jahr 1887. NL 1887, 10[7]; KSA 12, S. 457.
FW 277, KSA 3, S. 521f. „Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.“ FW 109, KSA 3, S. 468.
JGB 257, KSA 5, S. 205. „Das Wesentliche ist, daß nur eine extreme Rigorosität in dieser Hinsicht das Fundament aller Ordnung, die sie geschaffen haben, aufrecht erhält, den Begriff der Kaste, die Distanz der Kasten, die Reinheit der Kasten …“ NL 1888, 15[21]; KSA 13, S. 418. Wie rigoros hier vorgegangen werden soll, lässt sich trefflich an dem Wort „Reinheit“ ablesen, keinerlei Vermischung in keiner Hinsicht.
GM II, KSA 5, S. 291. „Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen; von dem Lärm und Kampf […] unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Voraus bestimmen […] – das ist der Nutzen der aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin […] inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit“, Ebd., S. 291f.
„Wir haben also Grund eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, daß der psychischen (Vorstellungs-) Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte versagt wird. Mit dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende Repräsentanz bleibt von da an unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden […] die eigentliche Verdrängung, betrifft psychische Abkömmlinge der verdrängten Repräsentanz, oder solche Gedankenzüge, die, anderswoher stammend, in assoziative Beziehung zu ihr geraten sind. Wegen dieser Beziehung erfahren diese Vorstellungen dasselbe Schicksal wie das Urverdrängte. Die eigentliche Verdrängung ist also ein Nachdrängen.“ GW X, S. 250.
Krämer führt aus: „Der Standort der Strebensethik ist gegenüber dem der Moralphilosophie durch […] eine Perspektivenumkehrung geprägt: von der Selbstlosigkeit zur Selbstsorge, […] vom Interesse der Sozietät zur Interessenlage des Individuums“, Hans Krämer 1992, S. 84.
Kaulbach 1985, S. 47. „Das, was wir jetzt die Welt nennen ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der Vergangenheit vererbt werden“, MA I, KSA 2, S. 37.