Seit ihren Anfängen lässt sich die Moderne mit Zygmunt Bauman durch stetige Spannung zwischen Ordnung und Ambivalenz beschreiben. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist eine Kulmination des Ordnungsproblems festzustellen. Zum einen zeigt sich dies in den vielgestaltigen sozialen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen. Zum anderen bilden sich in diesem Kontext spezifisch prekäre Erzählformen heraus, die einerseits Teil dieses Ordnungsproblems sind, zum anderen dieses Ordnungsproblem erzählend modellieren.
Mit vier Referenzpositionen der Moderne lässt sich das Ordnungsproblem auffächern: Georg Simmel betont die Dynamisierung der Ordnungsprozesse, die Ablösung einfacher Kausalitäten durch ständige Wechselwirkungen sowie die Komplexität insbesondere der Großstadt. Fritz Mauthner hebt die solipsistische Konstruktion der Ordnung hervor, die mit Unsicherheiten einhergeht. Sprache wird bei ihm zur kontingenten Basis von Wissen und Orientierung. Mit Henri Bergson wird die Ordnung als Akt herausgestellt. Zygmunt Bauman liefert mit seiner These der engen Verwandtschaft von Ambivalenz und Ordnung, die sich gegenseitig hervorrufen, ein Grundverständnis der Moderne als Ordnungsproblem. In dieser Verunsicherung und dem Betonen der Kontingenz bilden sie den historischen Kontext für das Ordnungsverständnis dieser Studie.
Theodor Fontane, Robert Walser und Franz Kafka zeichnen sich als Autoren der Moderne als genuine Ordnungstheoretiker und Ordnungspraktiker aus. Ihre narrativen Ordnungen sind auf je unterschiedliche Weise prekär in Inhalt und Verfahren. Was hier prekäres Erzählen genannt wird, lässt sich in den Analysen der Texte als Forschungsperspektive anwenden und als Konzept präzisieren: Das prekäre Erzählen zeichnet sich durch eine für die Narration konstitutive Thematisierung der eigenen Ordnung, von Ordnungsverfahren und der Subversion derselben aus. Im Herausstellen des unsicheren Grundes, auf dem die Erzählungen stehen, wird ihre Prekarität zum produktiven Moment. Methodisch versucht das Konzept des prekären Erzählens einen Weg zwischen Dekonstruktion und Kulturwissenschaft, zwischen der Betonung von Ambivalenzen und Ordnung mit einem klaren Fokus auf das Erzählen zu finden.
Das Konzept des prekären Erzählens lässt sich gut an die zeitgenössische Narratologie, insbesondere die unnatural narratives wie die antinarratives, anbinden. Der Begriff des prekären Erzählens hat gegenüber diesen jedoch den Vorteil, dass er mit seinem Fokus auf Ordnungsdarstellung und Ordnungsherstellung einen Blickwinkel einnimmt, der inhaltliche und formale Aspekte zusammenzuführen vermag. In dieser Hinsicht ist er auch positiv auf die Erzeugung von Ordnung ausgerichtet und nicht auf die Gegenbewegung zu einem bestimmten Modell reduziert.
In Fontanes Stechlin äußert sich das prekäre Erzählen in der zwischen Verstecken und Herausstellen changierenden Künstlichkeit der Kontrolle über die Ambivalenz. Im Ordnungsversuch des Romans, die Ambivalenz durch gezieltes Einsetzen kontingenter Entscheidungen zu kontrollieren, besteht eine große Spannung. Gerade die scheinbar souveräne Erzählweise der vielfältig ambivalent dargestellten Inhalte exponiert ihre Prekarität in der widersprüchlichen Beziehung von story und discourse.
Robert Walser, dessen prekäres Erzählen besonders akzentuiert ist und auf dem deshalb der Hauptfokus dieser Studie liegt, findet gerade im Herausstellen der Prekarität des Erzählens zu einer neuen Souveränität. Auf inhaltlicher Ebene unterlaufen die Figuren und Handlungselemente, die intertextuellen Bezüge und Rollenspiele, die keinen festen Grund mehr erlauben, sondern stets auf weitere Zitate und Masken verweisen, Erzählordnungen. Das Verhältnis von Bild und Erzählen dient als Möglichkeit der Ausreizung von Grenzen des Erzählbaren jenseits von Handlung und Individualität der Figuren. Insbesondere in der Performanz des Erzählens, in der metanarrativen Inszenierung und Sprengung von Erzählordnungen liegt der Kern von Walsers prekärem Erzählen. Von dieser aus erschließt sich auch die Digression als radikales Verfahren der Verknüpfung von in anderen Ordnungen disparaten Elementen. Schließlich findet sich bei Walser auch die prekäre Figuration bzw. die Figuration des prekären Erzählens im Essen.
Kafkas Bau wiederum lässt sich als Thematisierung von Ordnung in der Raummetapher lesen. Prekär ist diese Ordnung, weil inhaltlich eine extreme Unbestimmtheit am Werk ist und ihre Funktion, Konnotation und Bewertung polysemantisch bleiben. Herauszustreichen ist insbesondere die prekäre Erzählweise, die im eigentlich unmöglichen Erzähler und Erzählen besteht, in der paradoxen Zeitordnung, die sich auch im performativen Erzählen nicht aufhebt.
Die von Walser und Kafka geteilte Bedeutung der Performanz mag erstaunen. Scheint sie bei Kafka eher eine Randerscheinung in seiner fast systematischen Behandlung, Erzeugung und Subversion von Ordnung zu sein, so ist sie bei Walser Zweck des Erzählens selbst, der in einer Schreibszene der Improvisation mündet. Wird Ambivalenz in den narrativen Ordnungen bei Walser und Kafka zugespitzt und zum eigentlichen literarischen Antrieb, so scheint sie Fontane im Modus der Kontrolle gleichsam zaghaft aufzunehmen.
Diese Studie versucht also dreierlei zu leisten: Einen Beitrag zur Narratologie, indem sie eine spezifische Form des Erzählens zu fassen versucht; sie rückt Ordnung als wichtige Thematik in den literaturwissenschaftlichen Blick und hofft schließlich, mit ihren Lektüren von Fontane, Kafka und insbesondere Walser, den jeweiligen Forschungsgebieten Impulse zu liefern. Inwiefern sich Formen prekären Erzählens auch in anderen Epochen als der Moderne finden lassen, wäre weiter zu prüfen. Dabei wäre es insbesondere interessant, Zeiten auszumachen, in denen das Erzählen die in der Moderne akzentuierte Prekarität aufgibt, eine These, die insbesondere im Übergang zur Neuen Sachlichkeit zu verfolgen wäre. Mit Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte wäre es interessant zu untersuchen, ob und inwiefern prekäres Erzählen nach Walser und Kafka gerade nicht mehr begrüßt, gesteigert, ins Unendliche oder in die Aporie gelenkt wird, sondern in eine Form von souveränem Erzählen überführt wird.626 Ambivalenz, so könnte eine These lauten, wird wieder von zwar geprüften, aber nicht prekären Figuren in einer story erlebt, so dass daraus eine Art souveräne Geschichte entstehen kann. Nicht unbedeutend ist dabei, dass die behandelten Autoren, insbesondere Kafka und Walser, Elemente der Neuen Sachlichkeit vorwegnehmen. In diesem Sinn soll mit einem metaleptischen Ratschlag des Erzählers aus dem „Räuber“-Roman an seine Figur, seinen Freund und sein Spiegelbild, den Räuber, geendet werden, der direkt an die Neue Sachlichkeit heranführt: „Bleibe kalt und womöglich künstlerisch.“ (AdB 3, 99)
Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Moritz Baßler, Roland Hubert und Jörg Schuster, Hrsg., Poetologien deutschsprachiger Literatur 1930–1960. Kontinuitäten jenseits des Politischen, Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Band 146 (Berlin, Boston: De Gruyter, 2016).