Die Musikgeschichte weiß um die Essener Aufenthalte von Johannes Brahms, dem damals wohl bekanntesten europäischen Komponisten neben Richard Wagner – dennoch blieben genaue Hintergründe der beiden Besuche 1884 und 1885 in den letzten 100 Jahren weitgehend unbeleuchtet.2 Georg Hendrik Witte, dem als Essener Musikdirektor seinerzeit das Meisterstück gelang, Brahms nach Essen zu holen, steuert in seinem Artikel »Erinnerungen an Johannes Brahms« wertvolle Informationen aus erster Hand bei, so beispielsweise Auszüge der an ihn gerichteten Brahms’schen Briefe.3 1922 berichtet Witte als beinahe 80-Jähriger zwar außerordentlich präzise von den Begegnungen mit Brahms, muss aber zugeben, dass einige der ihm erinnerlichen Brahms-Briefe bereits nicht mehr in seinem Besitz sind.4 Diese konnten in der Tat weder in Wittes Nachlass, der größtenteils von dessen Enkeln aufbewahrt wird, noch anderenorts ermittelt werden.5 Gleiches gilt für diejenigen Briefe, die Witte an Brahms sandte. Die erhaltenen Briefe von Brahms an Witte werden in dieser Publikation erstmalig vollständig dargestellt und kommentiert wiedergegeben.6 Als wichtige sekundäre Quelle diente die Arbeit von Gaston Dejmek7 über Georg Hendrik Witte, die 1938 in der Festschrift anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Essener Musikvereins veröffentlicht wurde.8
Die historischen Quellen werden, insofern für unser Thema von Bedeutung, im »Part II – Zeitzeugnisse« vollständig wiedergegeben und eingeordnet.9 Durch die ausführliche Kommentierung können die aufgeführten Quellen auch eigenständig zur Kenntnis genommen werden.
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Bei näherer Betrachtung wird klar, dass der bisweilen so bärbeißige wie schroffe Brahms den Essener Musikdirektor Witte außerordentlich geschätzt haben muss. Trotz hochachtungsvoller Verehrung für den zehn Jahre älteren, weltberühmten Komponisten bewies Witte viel Geschick darin, sanft, aber entschieden auf den eigensinnigen Brahms zuzugehen.
Neben Georg Hendrik Witte schätzte Brahms auch die Stadt Essen und ihre Musiker sowie den warmherzigen Empfang des Publikums. Anderenfalls hätte Brahms die Uraufführungstournee seiner 4. Sinfonie mit der Meininger Hofkapelle, die in Städten wie Frankfurt, Amsterdam, Den Haag und Köln gastierte, 1885 nicht nach Essen geführt, wo der »Stadtgartensaal« bereits damals kaum professionellen Standards genügen konnte.
Man mag zunächst versucht sein, Brahms’ Besuche in Essen als musikgeschichtliche Marginalie abzutun. Führt man sich jedoch vor Augen, dass eine industriell aufblühende Stadt ohne nennenswerte eigene Musikgeschichte hier musikalisch Hochkarätigem begegnete, das in Städten wie Wien, Leipzig, Hamburg und Frankfurt seinen Platz hatte, erlangen die Ereignisse der Jahre 1884/1885 Bedeutung über die Essener Kulturgeschichte hinaus. Es wurde (und man muss erwähnen: vor allem durch die Mithilfe der Familie Krupp) ein Fundament geschaffen, auf dem die Gründung eines Städtischen Orchesters, die Errichtung eines bedeutenden Konzertsaales sowie musikalische Großereignisse wie das Tonkünstlerfest 1906 aufbauen konnten und das die Musik von Johannes Brahms auch nach der Ära Witte zu einem bedeutenden Teil der Essener Konzertprogramme machte.10
Nach den Berichten der Zeitzeugen verblasste das Wissen um und Interesse an den Brahms’schen Besuchen (vgl. »Auf einen Blick – Quellen und Literatur«, S. 209 ff.).
Der Artikel wurde anlنsslich des 25. Todestages von Johannes Brahms in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung herausgegeben (2./4. April 1922). Einige Wochen spنter wurde ein Auszug des Beitrags im Programmbuch des Essener Brahms-Festes (15. bis 22. Mai 1922) abgedruckt.
Witte 1922 I, [o. S.]; vgl. S. 180.
Vgl. Sandberger, Wolfgang / Wiesenfeldt, Christiane: Brahms-Briefwechsel-Verzeichnis (BBV): chronologisch-systematisches Verzeichnis sämtlicher Briefe von und an Johannes Brahms,
Von acht heute bekannten Briefen waren sieben zu ermitteln (»Korrespondenz Nr. 1–9«, S. 121 ff.). Zeitzeugen übertrugen die Briefe in ihren Verِffentlichungen eher frei (vgl. Witte 1922 / Dejmek [o. J.]). Bei der vorliegenden Transkription, die anhand der Originalbriefe vorgenommen wurde, handelt es sich um die erste detailgetreue Verِffentlichung der Briefe.
Gaston Dejmek (1903–1951) war sowohl Schüler von Georg Hendrik Witte als auch von Max Fiedler, einem der Nachfolger Wittes im Essener Musikdirektoren-Amt.
Der Beitrag basiert auf einem biografischen Typoskript, das Dejmek wohl Anfang der 1930er-Jahre verfasste. Das Typoskript, das neben handschriftlichen Anmerkungen Wittes zweiter Ehefrau Gertrud auch eine persِnliche Widmung an diese trنgt (»Frau Professor G[eorg] H[endrik] Witte in Verehrung und Dankbarkeit für die gütige Mitarbeit – Gaston Dejmek«), befindet sich heute im Familienbesitz. Warum die Biografie nie publiziert wurde, ist nicht zu beantworten. 1940 brachte Dejmek mit Max Fiedler – Werden und Wirken eine Biografie zu Ehren von Wittes Nachfolger heraus.
»Part II – Zeitzeugnisse«, S. 119 ff. Zugunsten einer leichten Auffindbarkeit wird in den Fuكnoten verkürzt auf die Quellen verwiesen (vgl. auch Siglenverzeichnis, S. XIII f.). An zweiter Stelle folgt – so vorhanden – ein Verweis, wo die jeweilige Passage in diesem Buch umfassend wiedergegeben wird (Bsp.: Witte 1922 I, [o. S.]; vgl. S. 175 ff.). Veraltete Orthografie wird in allen Quellen und Zitaten kommentarlos übernommen.
Vgl. Feldens 1936, 20 f.