Eine Untersuchung über die Idee der Energie in der französischen Literatur und Ideengeschichte für die Jahre 1770–1820 ins Auge zu fassen, steht von vornherein vor einem doppelten Problem. Gibt es eine Idee der Energie, welche die verschiedenen Wertigkeiten abdeckt, die der Begriff annimmt? Und wenn der wissenschaftliche Status von Energie relativ problemlos a posteriori bestimmt werden kann, wie steht es damit in der Philosophie, der Moral oder der Literatur? Welche Gemeinsamkeiten gibt es ferner im Blick auf die Entwicklung der Idee im Bereich der Sprache, der Materie und der Seele? Zu diesen Fragen, die sich aus der thematischen Abgrenzung des Gegenstands ergeben, treten weitere, welche die gewählte Periodisierung betreffen. Was rechtfertigt den Übergang von einem Jahrhundert zum anderen und was die Annahme einer inneren Einheit des gewählten Zeitraums von 50 Jahren?* Die Antwort hierzu erfordert eine knappe Präzisierung der Voraussetzungen und Aufgaben von Ideengeschichte.
Zwei der zentralen Autoren zur Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts, Robert Mauzi und Jean Ehrard, wandten sich zehn Jahre nach Abfassung ihrer bedeutenden Arbeiten erneut der methodischen Problematik ihres dort verfolgten Ansatzes zu und staunten nicht schlecht über die den 1960er Jahren eigene naive Schlichtheit, mit der sie ihre Studien zur Idee des Glücks und zur Idee der Natur verfasst hatten.1 Was eine Idee denn sei und was die Ideengeschichte darstelle, so lauteten ihre nunmehrigen Fragen, auf die sie unter Bezugnahme auf die Kritik von Michel Foucault2 Antworten zu geben versuchten.
Aus ihren methodologischen Panoramen kann man ein gemeinsames Misstrauen gegenüber zwei in Opposition zueinander stehenden Tendenzen festhalten: auf der einen Seite gegenüber einer idealistischen Tendenz, welche die Ideen ohne Rücksicht auf die Formen und Systeme, in die sie integriert sind, wie auch ungeachtet der historischen Bedingungen, unter denen sie sich entwickeln, isoliert; auf der anderen Seite auch ein Misstrauen gegenüber einer reduktionistischen Tendenz, die den Ideen keinen eigenständigen Platz einräumt und sie entweder als puren Reflex auf eine ökonomische und soziale Situation oder auf einen Gefühlszustand versteht bzw. sie als reines Stilproblem begreift.
Im zeitlichen Abstand zu dem Vergnügen, das Foucaults Polemik gegen die Ideengeschichtete zuweilen bereiten konnte, gilt es gleichwohl diese Disziplin erneut zu befragen: auch und gerade im Blick auf ihren unsicheren Gegenstand, auf ihre schlecht definierten Grenzen, auf ihre beliebig entliehenen Methoden wie auf ihr Verfahren insgesamt, dem es an klarer Linie und an Stabilität fehlt. Zweifelsohne ist ihr Gegenstand uneindeutig, ihre Methode heterogen, ist die Ideengeschichte doch immer auch ein Ort des Austauschs und der Konfrontation. Die Literaturwissenschaftler haben den Historikern eine Sorge um den Text in seiner ganzen Dichte eingeimpft, während diese ihnen umgekehrt den Sinn für die Bedeutung eines Korpus vermittelten. Die Linguisten versuchten, diesen Austausch theoretisch zu fassen. Die Philosophen, nunmehr aufmerksam geworden auf das Spiel von Konzept und Metapher, mischten sich ebenfalls in die Debatte ein. Der Wille zu erkenntnistheoretischer Strenge darf indes die Forschung nicht unbeweglich machen, braucht diese doch notwendig Tastversuche, die Improvisation (Bricolage) und bisweilen auch das Ungefähre. Zwischen der Mentalitätsgeschichte und jener der ästhetischen Formen, zwischen der Theorie der Ideologien, der Archäologie des Wissens, der linguistischen Beschreibung der Texte und der Literaturgeschichte behält die Ideengeschichte das Verdienst gerade ihrer Ungenauigkeit. Sie folgt einer Idee in ihren formell unterschiedlichen Einschreibungen, in ihren unerwarteten Mutationen, sie analysiert ihre Einverleibung durch widersprüchliche Gedankensysteme. Sie erhebt nicht den Anspruch auf totalisierende abstrakte Systeme, so wie es Ideologien oder Episteme tun, sondern untersucht geteilte Gegenstände, die an verschiedenen Entitäten partizipieren. Eine derart verstandene Ideengeschichte kann so ohne jedes Schuldbewusstsein vom Gedankensystem eines Autors, einer sozialen Gruppe, einer Institution oder sogar einer Epoche sprechen, ohne diesen Gedankensystemen gleichsam zu unterstellen, dass sie sich zu statischen Einheiten abschließen. Sie begnügt sich damit, die intellektuellen Implikationen dieser oder jener literarischen Form, dieser oder jener fiktiven Figur, dieser oder jener Metapher zu beschreiben. Vom großen epistemologischen Kreuzzug, wie ihn Foucault verkörpert, behält die Ideengeschichte die Einsicht in die Notwendigkeit zurück, die räumlichen Konsistenzen und Zusammenhänge zu untersuchen, die nie rein logische oder ideologische Kohärenzen darstellen. Jede Idee in einem Text ist demnach auf eine Form, ein Gedankensystem und auf eine historische Situation zu beziehen.
Es ist in der Tat nicht mehr vorstellbar, eine Idee ohne die Form untersuchen zu wollen, in der sie sich artikuliert. Eine Idee hat nicht dieselbe Bedeutung, je nachdem ob sie in einem theoretischen Traktat, in Versform oder in einem Roman erscheint, ob sie der Autor verantwortet oder eine Person der Fiktion. Die Werke, und vor allem die ‚großen‘ Werke, die einem Jean Ehrard als privilegierter Ort für eine ideengeschichtliche Analyse erscheinen, lassen sich weder in Belegstellen zerstückeln, noch auf eine Folge von Aussagen beziehen. Indem man ihre Konstruktion, ihre Textualität berücksichtigt, lässt sich jede Idee auf eine Form beziehen, kann und muss man die ruinöse Opposition von Inhalt und Form endgültig hinter sich lassen.
Jede formale Konstruktion erzeugt eine innere Logik, was hier keinesfalls die Rückkehr zum alten Konzept einer in sich geschlossenen Werkeinheit bzw. einer Einheit von Werk und Autor bedeuten soll. Dem Diskurs, den sie analysiert, gibt die Ideengeschichte gewöhnlich einen Kredit auf seine Kohärenz, notiert Foucault ironisch.3 Die Kohärenz ist indes eine formale und intellektuelle Realität, die aus Widersprüchen oder divergierenden Tendenzen eine Einheit formt; das tut sie dank einer Reihe von Umgruppierungen, Transfers und Verschiebungen, die es aufzufinden gilt. Die Arbeit am Text, Resultat sowohl der Suche des Schriftstellers wie der Eigendynamik der écriture, erzeugt Bedeutungen, die seine Bestandteile wie auch seine Ausgangsbedingungen überschreiten. Im traditionellen Wortlaut ideengeschichtlicher Untersuchungen sind die Begriffe Literatur und Idee weder synonym noch radikal unterschieden. Auch ist das Studium der Gattungen Roman oder Drama, und allgemeiner der Fiktion, für die philosophische Forschung heute von wesentlicher Bedeutung. So bereichert etwa die Berücksichtigung des Romans oder der Konjunktur der deskriptiven Poesie im 18. Jahrhundert Arbeiten zum Sensualismus.
Wenn also jede Idee einerseits intrinsisch mit einer spezifischen Ausdrucksweise verknüpft ist, so bleibt sie zugleich immer auch an ein Ensemble anderer Ideen oder Prinzipien gebunden, die sie überhaupt erst ermöglichen. Die Ideen bilden ein System und sind auf die epistemologischen Bedingungen zu beziehen, welche ihnen zugrunde liegen. Genauso wie zwei verschiedene Ausdrucksformen dem, was beim ersten Hinsehen zunächst wie ein und dieselbe Idee erscheint, jeweils einen ganz und gar unterschiedlichen Status verleihen, können zwei Epochen oder zwei Gedankensysteme auf dieselbe Idee rekurrieren, ohne dass die ihr jeweils zugrundeliegenden Vorannahmen vergleichbar wären und ohne dass die genannte Idee hier und dort dieselbe Funktion erfüllte. Die Geschichte einer Idee ist aber nicht nur eine der Verkettungen, sondern auch eine der Umkehrungen und Brüche. Das Verdienst einer synchronischen und strukturalen Analyse besteht darin, dass sie, wenigstens für einen kurzen Moment der Untersuchung, gerade den für die Studien zum 18. Jahrhundert so prägenden Finalismus vermeidet, der retrospektiv von der Revolution oder der Romantik her argumentiert, ebenso wie eine solche Analyse im Übrigen auf jedes präetablierte Erklärungsschema verzichtet.
Die so ausgerichtete Forschung zielt auf Texte, deren Einheit nicht mehr durch einen Autor, sondern durch eine historische Situation gesichert ist. Hier stellt sich nach Robert Mauzi ein bisher nur ungenügend gelöstes Problem, nämlich zu verstehen, worin die soziale Verwurzelung einer Epoche besteht. Wenn die Analyse der Werke und der Gedankensysteme zunächst als vor allem textbezogene Arbeiten begriffen werden konnten, so bedarf eine Untersuchung zur sozialen Bedeutung von Ideen und Formen der historischen Information. Weder Ideen noch Systeme entstehen als spontane Erzeugung, vielmehr ist anzunehmen, dass sie den realen Lebensbedingungen einer Epoche erwachsen und auf diese reagieren. Diese ‚Produktion‘ und ‚Reaktion‘ vollzieht sich niemals direkt: sie durchläuft eine Reihe von Vermittlungsinstanzen, deren wichtigste der soziale Status des Homme de Lettres oder des Intellektuellen, die Funktion der Belles-Lettres bzw. der Literatur sowie die religiösen, akademischen und schulischen Institutionen, die Presse und das Verlagswesen sind.4 Viele psychologische Aspekte, die traditionell als persönliche und individuelle Eigenart betrachtet werden, gilt es hier mit zu berücksichtigen. So bildet etwa die Opposition zwischen den Privilegierten und einer nach Macht strebenden Bourgeoisie weniger einen fertigen Denkansatz, den man auf gleichwelches Buch der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts plakativ anwenden könnte, denn ein analytisches Raster, das es zu nuancieren und zu verfeinern gilt. In Ermangelung eines zweiten Lanson* zum Ende des 20. Jahrhunderts, den Jean Ehrard für die Literaturgeschichtsschreibung sehnlichst herbeiwünschte, oder wenigstens eines geeigneten theoretischen Rüstzeugs, gilt es Perspektiven zu öffnen und Hypothesen zu riskieren, ohne zugleich Gesetzmäßigkeiten zu postulieren oder Schlüsse zu ziehen, die keinen Widerspruch dulden.
Konsistenz der Werke, Konsistenz der Gedankensysteme, Konsistenz der historischen Momente – dies sind die Postulate, die es erlauben, jede Reduktion und jede missbräuchliche Vereinfachung zu vermeiden. Konsistenz meint hier eine Kohärenz, die als eine dynamische Gemengelage von Widersprüchen verstanden werden muss. Die Idee wird zur Basiseinheit all dieser mehr oder minder instabilen, mehr oder minder einheitlichen Gemengelagen. Die Spezialisten werden darin, je nach fachlichem Zuschnitt, ein Philosophem, ein Ideologem, ein Mythem usw. erblicken. Geht es dabei um die Idee der Energie, scheint die Aufgabe indes weniger klar, als es die Untersuchungen zu Glück oder Natur waren. La Mettries Discours sur le bonheur und allen Traktaten ähnlichen Titels, Noël-Antoine Pluches Spectacles de la nature, d’Holbachs Système de la nature und all den anderen so oder ähnlich lautenden „Études de la nature“ steht kein großes Werk gegenüber, das bereits im Titel eine Referenz auf die Energie anzeigte. Die nach Titeln geordneten Kataloge, an sich ein wertvolles Instrument, sind hier von keinem großen Nutzen. Weder fiktionale noch theoretische Werke sehen eine Notwendigkeit, die Idee der Energie auf ihrem Deckblatt zu verkünden. Wenn ein gewisser Jean-François-Marie Daon im Jahr 1801 De l’énergie de la matière et de son influence sur le système moral de l’univers publiziert, so ist dieses Buch in einem Maße vergessen, dass es in keiner Bibliographie erscheint und nicht einmal die Bibliothèque Nationale de France ein Exemplar besitzt. Genauso muss man Johann Georg Sulzers Text „De l’énergie dans les ouvrages des beaux-arts“ in der Masse der Bände der Berliner Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres erst mühsam suchen.*
Die Kargheit der Resultate könnte einige Fragezeichen aufwerfen hinsichtlich der Wohlbegründetheit des Projekts selbst. Wird man sich also mit einigen wenigen Artikeln aus Wörterbüchern oder Kapiteln aus spezialisierten Abhandlungen wie „De l’énergie ou de la force des langues“ bzw. „De l’énergie dans la composition de la musique“ begnügen müssen?5
In Wirklichkeit sind es die Texte, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Belegstellen für das Wort nur so wimmeln oder Themen entwickeln, die dem mehr oder minder nahekommen, was wir heute „Energie“ nennen. Dieser Eindruck hat sich bei den Zeitgenossen ebenso niedergeschlagen wie bei den neueren Kritikern. Madame du Deffand empfindet, wenn sie an die Herzogin de Choiseuil schreibt, noch einen gewissen Skrupel, das Wort zu verwenden. So habe der Abbé Barthélémy, berichtet sie ihrer Briefpartnerin, sie einmal lächerlich zu machen versucht, als ihr zufällig das Wort „énergie“ entglitt. Nun möge er wissen, dass es in Mode gekommen sei und nichts mehr geschrieben werde, ohne dass es an der einen oder anderen Stelle platziert würde.6 Der Moden gab es gewiss viele an diesem Ende des Jahrhunderts, doch verweisen die Vorlieben und Begeisterungswellen, die die Salons und die öffentliche Meinung erfassten – von der Querelle des Bouffons bis zu Gluck, vom Magnetismus bis zu den Heißluftballons –, gleichwohl auf eine tiefere Ebene, die vielmehr den allgemeinen Bewusstseinswandel der Neigungen, Überzeugungen und Ideen der Epoche betrifft.
Jean Fabre hat als erster aus der Energie eine fundamentale Kategorie für das Studium des 18. Jahrhunderts und seiner Verbindung zum darauffolgenden Jahrhundert gemacht. Im Vorwort zu seinem Band Lumières et romantisme,7 dessen Titel mitnichten ein bloßes Nebeneinander indiziert, vielmehr auf den Zusammenhang beider Epochen zielt, formuliert Fabre einen Appell an die Forschung, die Energie als Wort und Begriff in ihrer Diversität und Entwicklung zu verfolgen und nachzuvollziehen. Diesem Appell soll hier gefolgt werden. Zeitlich näher als bei Fabre findet sich dieses Begriffspaar auch bei Jean Starobinski wieder. In seiner Untersuchung bildet die Spannung von Energie und Nostalgie den Fluchtpunkt einer langwierigen Entwicklung hin zur Freiheit, die er von 1700 bis 1789 ausfindig macht. Energie und Nostalgie bilden hier das Markenzeichen des genialen Künstlers ebenso wie des Revolutionärs, der künstlerischen Schöpfung ebenso wie der politischen Aktion.8 Fabre stützt sich auf eine bestimmte Anzahl von Texten, die er anführt, bleibt in seinen Analysen dabei insgesamt nahe jener Idee der Energie, die auch die unsere ist: Aktivität und Wille. Jedenfalls wird so deutlich, wie sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts Kategorien herausbilden, die während des ganzen 19. Jahrhunderts wirksam bleiben. Auf dieselbe Weise muss auch die Geschichte, besser noch Vorgeschichte des wissenschaftlichen Konzepts der Energie geschrieben werden, eines Konzepts, das in der älteren Physik noch fehlt und spätestens mit dem Streit um die „lebendigen Kräfte“ (vis viva) auftaucht. Diese Arbeit wurde um 1950 durch das Centre de synthèse vorgezeichnet.9 Man sollte sich jedoch davor hüten, die Epoche, die man untersucht, nach der modernen Wertigkeit des Begriffs zu gewichten. Vielmehr gilt es, die Vielfalt seiner Bedeutungen, die er nacheinander annehmen kann, seine Ambiguitäten wie seine Archaismen zu erforschen. Die doppelte Bewegung, welche Vergangenheit und Gegenwart verbindet – Anerkennung der Differenz und Suche nach Kontinuität – sind zweifelsohne besonders spürbar in der Erforschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das sich in vielerlei Hinsicht am Ursprung unserer ‚Moderne‘ befindet. Soziale Strukturen, Institutionen, Mentalitäten, die heute die unseren sind, datieren oft mit der Revolution. Doch so verführerisch Vergleiche zwischen unserer Denkweise und jener von vor zwei Jahrhunderten auch sind, darf eine solche Tendenz zur Analogisierung die Irreduzibilität der Vergangenheit nicht vergessen lassen.10 Wir sind weder Zeitgenossen der Menschen, die wir zu lesen haben, noch ihnen gänzlich fremd.
Die Romanfiguren der Lumières nehmen bereits die Helden Stendhals und Balzacs vorweg; Physiker und Philosophen versuchen sich an einer Unterscheidung zwischen Bewegung und Kraft, und bei alldem bleibt auch die Scholastik eine kontinuierliche Bezugsgröße für den Energiebegriff, was nicht wenige Textstellen aus dieser Zeit belegen. Die Untersuchung muss also mit minutiösen Erhebungen beginnen, um die semantische Situation des Wortes in Gänze detailgetreu zu beschreiben. Eine Arbeit über die Idee der Energie kann sich diesem lexikalischen Unterbau nicht entziehen und direkt in das Reich der Ideen eintreten, wie dies noch mit Blick auf die Idee des Glücks oder der Natur möglich schien. Einen solchen Ansatz haben erstmals Jacques Chouillet, Michel Gilot und Jean Sgard verfolgt.11 Jean Deprun hat die Funktion der Idee der Energie bei ausgewählten Theologen sowie bei den Idéologues herausgearbeitet und Michel Crouzet ein internationales Kollquium zur Energie bei Stendhal und in der Romantik organisiert.12 Einige dieser Arbeiten sind strikt lexikalisch aufgebaut, andere wiederum sind verhaltener gegenüber einfachen Erhebungen. Ist eine Idee immer auf ein Wort reduzierbar? Die lexikalische Ausbreitung eines Wortes macht die Beharrlichkeit und Durchschlagskraft einer Idee evident, die dann auch andere Ausdrucksformen annehmen kann. Deprun hat in seiner exemplarischen Studie über die Philosophie der Unruhe im 18. Jahrhundert13 für eine rigoros lexikalische Sichtweise optiert und nur solche Texte akzeptiert, die das Wort tatsächlich führen. Wir haben in den folgenden Kapiteln einen geschmeidigeren Gesichtspunkt eingenommen, der die Idee der Energie jenseits der puren Erwähnung des Wortes in ein Netz von Ausdrücken, Bildern und Metaphern einzuordnen versucht – dies immer auch im Bewusstsein der Gefahr einer Verschiebung, die eine solche methodologische Entscheidung einkalkulieren muss.
Die so definierte Untersuchung sieht sich freilich rasch mit einem weiteren Problem konfrontiert – dem der Periodisierung. Wenn die Polysemie der Energie auch jede Kontinuität vereitelt, lässt sich dann zumindest die Epoche ihres semantischen Erfolgs näher einkreisen? Als Sulzer das Wort 1767 verwendet, sieht er sich noch zu einer erläuternden Fußnote genötigt: In Ermangelung eines anderen Terminus müsse er auf dieses Wort zurückgreifen, um allgemein eine höhere Kraft zu bezeichnen, und zwar nicht nur in der Rede, sondern in jeder anderen Angelegenheit des Geschmacks bzw. in dem, was Horaz acer spiritus und vis in verbis et rebus nennt.14 Es ist also nicht so sehr das Wort selbst, das ihm neu erscheint, sondern seine Anwendung auf nicht-sprachliche Zusammenhänge, der Übergang also von den Wörtern zu den Dingen. Zwölf Jahre später, als die Herzogin von Choiseul ihrer Briefpartnerin Madame du Deffand auf deren oben zitierten Brief antwortet, macht sie sich anheischig, die Entstehung des Wortes in seiner modernen Bedeutung auf den Zeitpunkt zu datieren, ab welchem die Menschen beim Hören von Musik von Konvulsionen ergriffen würden. Gilot und Sgard deuten an, gleichwohl ohne sich darauf festzulegen, dass es sich dabei um eine Einlassung im Kontext der Querelle des Bouffons (1752) handeln könnte. Acht Jahre nach Madame Du Deffand notiert Abbé Ferraud in seinem Dictionnaire critique, dass sowohl das Substantiv Énergie als auch das Adjektiv énergique stark in Mode seien („fort à la mode“).15 Wir sind im Jahre 1787. Die psychologische Bedeutungsebene wird hier noch zurückgewiesen; diese findet erst 1798 Eingang ins Wörterbuch, während wir, was die wissenschaftliche Dimension angeht, das erste Drittel des 19. Jahrhunderts abwarten müssen, bis der Begriff in seinem modernen Gehalt erscheint. Zwar macht Pierre Brunet schon bei Descartes eine bestimmte Idee von Arbeit aus, kann in einem Brief von Jakob II. Bernoulli von 1771 ein erstes lexikalisches Vorkommen von énergie verzeichnen. Indes handelt es sich dabei eher um Einzelfälle. Erst mit Thomas Young (1807) findet das Wort wirklich Eingang in die wissenschaftliche Terminologie und wird im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in seiner Bedeutung geschärft.
Unsere Studie hätte gut und gerne ein ganzes Jahrhundert, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des folgenden Jahrhunderts, umfassen können. Der Untersuchungszeitraum wurde indes auf die fünfzig zentralen Jahre beiderseits der Jahrhundertwende reduziert, die als ein entscheidendes Moment und periodisierender Knotenpunkt identifiziert werden konnten. Dieses halbe Jahrhundert ist auch jener Zeitraum, in dem sich die zentralen Polemiken und Diskussionen um den Übergang von der Aufklärung zur Romantik ansiedeln. Es geht mitnichten darum, diesen a priori als einen fertigen Gegenstand zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um ein noch zu erforschendes Suchfeld. 1770 repräsentiert keinen tiefen Einschnitt, sondern den ungefähren Moment, in dem die großen Themen der Lumières, die seit rund zwanzig Jahren immer aufs Neue lanciert werden, die öffentliche Meinung weitgehend erfasst haben und in dem die Infragestellung der Institutionen allmählich systematisch wird. 1820 entspricht hier dann, nach mehreren Jahren der Restauration, dem Ende des revolutionären und imperialen Experiments und es markiert zugleich jenen Zeitpunkt, in dem eine bestimmte Idee der Romantik Einzug in die Köpfe der Menschen gehalten hat. Dass der Fokus auf dem Übergang vom 18. in das 19. Jahrhundert liegt, hindert einen freilich nicht daran, hier und dort weiter ins 18. oder gar bis ins 17. Jahrhundert zurückzugehen, um zu sehen, wie sich jene Denkweisen etablieren, welche die Idee der Energie in naher Zukunft stellen wird. Die Jahre 1770–1820 repräsentieren jenen Zeitraum, in dem diese Idee philosophisch und literarisch am wirksamsten scheint, ohne dass jedoch die besondere Dynamik der einzelnen Diskurse, in dem die Idee der Energie jeweils verortet ist, dieser strikten zeitlichen Zuschneidung zwingend unterworfen sein muss.
Wir verzichten hier darauf, ein weiteres Mal eine Periodisierung nach Jahrhunderten zu kritisieren, die das 17. Jahrhundert unter dem Namen des „Siècle de Louis XIV“ auf seine zweite Hälfte reduziert und parallel dazu das 18. Jahrhundert und das Siècle des Lumières miteinander verschmelzen lässt. Der Tod Ludwigs XIV. und die Revolution sind und bleiben praktische Anhaltspunkte, die als chronologische Markierungen dienen können und zugleich die direkte Rückbindung der Ideengeschichte an den allgemeinen Gang der Ereignisse zu rechtfertigen scheinen. Die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung hat versucht, die Nachteile dieses Schematismus wettzumachen, indem sie bei ihren Einteilungen Epochen des Übergangs mitbedachte.
Die Idee des Übergangs erlaubt es, Kontinuität und Diskontinuität, den Fortschritt, den die positivistische Ideologie – ihrerseits Geburtshelferin der Ideengeschichte – allgemein postuliert, und die notwendige Unterteilung der Vergangenheit in einzelne Perioden zwecks pädagogischer Klarheit in der Präsentation miteinander zu versöhnen. Paul Hazard hat derart die „Krise des europäischen Geistes“ beschrieben,* die Europa in den Jahren 1680–1715 erschütterte und den Übergang von der Ordnung Ludwigs XIV. zu den philosophischen Kühnheiten einleitete. Die Historiker der Literatur und der Ideen setzen, wenn sie nicht direkt auf diese Krise rekurrieren, Bayle und Fontenelle als zwei Vorläufer an den Beginn des Jahrhunderts, ebenso wie Madame de Staël und Chateaubriand in dieser Sichtweise für die Eröffnung des romantischen 19. Jahrhunderts stehen. Auf die Bewusstseinskrise von 1680 antwortet die Vorromantik, eine Begrifflichkeit, die im Umfeld der politischen und ideologischen Debatten um die Französische Revolution, um deren Ursachen und Folgen geschmiedet wurde. Je nach Maßstab der Kritik bleibt diese Vorromantik auf die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts beschränkt, setzt bereits in der Mitte des Jahrhunderts ein oder durchzieht dieses ganz, parallel zum Rationalismus – ganz zu schweigen von jenen, die aus der Romantik gar eine ahistorische Kategorie machen wollen.16 Man bekommt fast Lust, eine zweite Crise de la conscience européenne zu schreiben, symmetrisch und komplementär zur ersten. Aber das der Studie von Hazard zugrundeliegende Modell einer Evolution, die den Momenten der Krise Perioden der Vollkommenheit folgen lässt, kann hier nicht befriedigen. Jede Epoche birgt etwas Krisenhaftes: Manche Diskurse fallen in sich zusammen, geben einzelne Komponenten für so manche Flickschusterei und krummbeinige Synthese her, andere wiederum scheinen ihr Gleichgewicht zu finden. Wir tun also gut daran, unser halbes Jahrhundert in sich zu betrachten.
Die besondere Herausforderung einer solchen Periodisierung besteht darin, jene Deutungen der Aufklärung beiseite zu lassen, die diese auf einen bloßen Rationalismus reduzieren oder sie als einen Kampf zwischen Vernunft und Empfindsamkeit präsentieren. Ob nun in dieser Lesart die rationalistische Strömung der empfindsamen vorausgeht oder ob beide miteinander konkurrieren – in beiden Fällen verkennt eine solche Einteilung die Logik des Sensualismus, die aus unseren Sinnen die Grundlage aller Erkenntnis macht und unsere Empfindungsvermögen an den Ursprung unserer Rationalität wie auch unserer Emotionalität setzt. Eine solche Einteilung verkennt zudem die Logik des Individualismus, die aus jedem gesunden Menschenverstand den Richter der Wahrheit und aus jeder Gewissensregung den Garanten der eigenen Moral macht. Es mutet heute nicht mehr paradoxal an, vom Rationalismus Rousseaus zu sprechen oder von der Empfindsamkeit Voltaires. Auch die Wiederentdeckung Diderots ist mit dieser neuen Perspektive verbunden, die es gerade vermeidet, den Philosophen zwischen widersprüchlichen Postulaten zu vierteilen. Es ist nicht zufällig ein Kenner Diderots, Roland Mortier, der mit allergrößtem Nachdruck die Spaltung des Jahrhunderts in zwei gegensätzliche Strömungen bemängelte.17
Als Arbeitsrahmen kann man das Jahrhundert der Lumières durchaus beibehalten, unter der Bedingung aber, es darin zu fassen, was seine Einheit und Komplexität ausmacht, und es chronologisch nach genaueren Kriterien zu markieren. Es scheint ganz so, als ob das Unternehmen der Enzyklopädie diese neue Skalierung rechtfertigt. Die Jahre 1750–1770 markieren einen Zeitraum, in dem sich eine gewisse Anzahl von Denkern und Literaten um gemeinsame Schlagworte und um den bildhaften Slogan der „Lumières“ versammelt.18 Diese Jahre markieren auch den Eintritt des philosophe in die akademischen Institutionen, ein relatives Einverständnis mit der Zentralmacht – gleichviel Sachverhalte, die sich durch die ökonomische Euphorie des Moments erklären lassen. In den 1770er Jahren beginnt dann die große ökonomische Krise, die bis 1789 andauert. Sie bricht die philosophische Front auf und verschärft die Trennung zwischen Atheisten und Deisten. Nun treten deutlicher jene Widersprüche zu Tage, die bis dahin durch das enzyklopädische Projekt in den Hintergrund gedrängt wurden. Wenn der ‚Mittag‘ der Aufklärung, den Jean Fabre feiert,* charakterisiert ist durch das Erscheinen der großen Überblicksdarstellungen, als da sind Montesquieus L’esprit des lois, die Encylopédie, Buffons Histoire naturelle, so sind die 1770er Jahre markiert durch radikalere Werke wie das Système de la nature von d’Holbach, durch Raynals und Diderots Histoire des deux Indes, durch kühne Synthesen wie jene von Dom Deschamps, durch die Palingenèse philosophique von Bonnet oder La philosophie de la nature von Delisle de Sales. Der von seinen editorischen Aufgaben befreite Diderot kennt nun eine kreative Phase, deren Fruchtbarkeit die Forschung bisher nicht hinreichend ausgeschöpft hat. Die Entwicklung der Idee der Energie ist in Beziehung zu setzen mit eben diesem Aufschwung materialistischer Ideen und den neuen kosmogonischen Hypothesen. Mit ihr datiert zugleich eine neue Generation in der Literatur. Das alles sind Elemente, die den terminus a quo unserer Untersuchung rechtfertigen können.
Wenn auch die Forschung heute zu Recht der retrospektiven Illusion misstraut, das Jahrhundert der Aufklärung vom alleinigen Standpunkt der Revolution aus präsentieren zu können, so wird man indes nicht leugnen, dass ab 1770 gehäuft Reformprojekte und kritische Stimmen gegenüber der politischen und sozialen Ordnung auftreten. Die Jahre der Revolution selbst wurden, literarisch gesehen, gleichermaßen Opfer der Einteilung nach Jahrhunderten: Die Lumières würden hiernach 1789 enden und die Romantik aber erst 1800 mit Madame de Staëls De la littérature oder 1802 mit Chateaubriands Génie du christianisme einsetzen, wenn man sie nicht erst mit Lamartines Méditations poétiques 1820 beginnen lässt. Die zwischen 1789 und 1800 liegende Zeit aber ignoriert man geflissentlich unter dem Vorwand, dass es die historische Aktualität war, die hier die Geister mobilisierte. Selbst wenn die Formulierungen sich nicht immer so kategorisch ausnehmen, hat man noch keineswegs vollständig von den Vorbehalten des späten 19. Jahrhunderts gegen die Literatur des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts abgelassen. Die Revolution, so ein Kritiker, habe überhaupt nur einen großen Dichter gekannt, den sie jedoch zugleich umbrachte, nämlich André Chénier, und es gebe unter dem Empire nur zwei große Prosaautoren, die beide im Abseits lebten, darunter eine von Napoleon auf schändliche Weise verfolgte Frau – gemeint sind Chateaubriand und Madame de Staël. Für diesen Kritiker steht zugleich fest, dass man, wenn man mitten im Sturm steht, diesen schlechterdings beschreiben könne.19
Um die Literatur dieser Zeit richtig einschätzen zu können, hat André Monglond mit La France révolutionnaire et impériale20 ein bewundernswertes Arbeitsinstrument bereitgestellt. Aber erst in jüngster Zeit sind Rétif de la Bretonne oder Sade so wirklich in die erste Reihe der Autoren vorgerückt, hat man begonnen, die Idéologues zu studieren, Saint-Martin, Roucher oder Delille wieder zu lesen, findet im Zusammenhang mit dem Revolutionsfest ein bestimmtes Theater, eine Gelegenheitsdichtung erstmals Beachtung. Man hat hier ein ganzes Ensemble von durch traditionelle Perspektiven entwerteten Autoren und Gattungen vor sich, das es aufzuarbeiten gilt. Die Idéologues sind nicht nur eine bloße Nachbildung von Condillac, Mercier und Delille nicht nur einfache Wegbereiter von Hugo oder Lamartine. Mit anderen Worten, diese Scharnierepoche ist nicht zur Wiederholung bestimmt und dies im doppelten Sinne des Wortes: Wiederholung als Wiederbeginn der Vergangenheit oder als Vorbereitung der Zukunft. Es gilt im Gegenteil ihre spezifische Besonderheit zu finden und als Hypothese die bereits von der Forschung vorgeschlagenen Kategorien ins Auge zu fassen wie „französischer Sturm und Drang“, „secondes Lumières“, „crise des Lumières“ oder auch „tournant des Lumières“, gleichviel Begrifflichkeiten,21 die das Verdienst haben, die in Frage stehende Periode nicht nur mit der ihr vorangehenden in Beziehung zu setzen, sondern ihr eine eigene Identität zuzuerkennen.22 Die Literaturgeschichten aus dem Ausland, vor allem die deutschen und englischen, können in dieser Hinsicht nützlich sein, in dem Maße nämlich, wie sie sich schon lange von der Ineinssetzung von 18. Jahrhundert und Enlightenment bzw. Aufklärung gelöst haben.
Es ist frappierend festzustellen, dass die Jahre 1770–1820 mit der Schaffenszeit einer bestimmten Anzahl von Generationen zusammenfallen. Man kennt die Debatten zu gut, die den Einsatz des Generationenkonzepts in der Ideengeschichte begleitet haben.23 Ohne dessen Verwendung systematisch ausweiten oder es auf jedes beliebige Zeitalter anwenden zu wollen, muss man doch Parallelen in den Biographien und die Konvergenz nicht weniger Lebensdaten anerkennen. Bernardin de Saint-Pierre kommt 1737 auf die Welt, Delille und Naigeon 1738, Laharpe 1739, Mercier, Chamfort und Sade 1740, Laclos und Deslisle de Sales 1741, Sabatier de Castres 1742, Saint-Martin 1743, Condorcet 1744. Diese Generation kommt zwischen zwanzig und dreißig Jahren nach den großen Philosophen der Lumières, als deren geistige Söhne sie sich verstehen, auf die Welt. Naigeon assistiert Diderot, Bernardin de Saint-Pierre und Laclos wollen jeder auf seine Weise das Werk Rousseaus fortsetzen. La Harpe ist der Protégé Voltaires und Sabatier de Castres der Schützling von Helvétius, bevor beide ins antiphilosophische Lager abwandern. Es ist, wie Henri Peyre bemerkt, auch die erste Generation, die in den tumultreichen Jahren von 1790 und danach Revolutionäre ebenso hervorbringt wie Emigranten. All diese Kinder der Lumières werden, unter dem Druck der Situation, ihre Ideen mit der Wirklichkeit zu konfrontieren haben. So verschieden ihre Haltungen sind, ihre Problematik ist eine gemeinsame. Sie mögen die Lumières verleugnen, sie alle sind von ihr geprägt. Diese Generation wird in den 1770er Jahren produktiv, erlebt die Revolution, in der sie mehrere der ihren verliert, stellt das Personal der neuen Institutionen (oder bevölkert ihre Gefängnisse), um mit dem Ende des Empire wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Im Jahr 1813 sterben Delille und Grétry, 1814 Bernardin de Saint-Pierre, Mercier und, zum Jahresende, Sade. 1820 ist Volney an der Reihe, 1821 Joseph de Maistre, beide um 1755 geboren.
Auf dieselbe Art und Weise könnte man „die große Generation von 1770“ beschreiben, jene, die Madame de Staël (1766), Benjamin Constant (1767), Chateaubriand (1768), Napoleon (1769), Senancour (1770) und Charles Fourier (1772) versammelt, um nur die ‚größten‘24 von ihnen zu nennen. Sie prägen, jeder auf eigene Weise, die ersten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts. Liefert die Generation von 1740 der Revolution die ersten Kader, so verschafft ihr die nächste, mit Saint-Just (1767) oder Lazare Hoche (1768), ihre allerjüngsten Volksvertreter. Genau in dieser Zeitspanne also kommen, im Übergang von einer Generation zur anderen, die Zeitgenossen der Revolution zusammen, wobei dem Wort zeitgenössisch neben dem chronologischen auch ein explikativer Sinn zukommt. Der Tod Napoleons, Prototyp dieser Generation nach dem Diktum von Bernard Plongeron, schließt unwiederbringlich eine Epoche.
Man kann vertreten, dass es jenseits aller Differenzen immer auch eine Geistesverwandtschaft unter von ein und derselben Philosophie genährten Geistern und unter Zeugen oder Akteuren außerordentlicher Ereignisse gibt. Sie sind es, die mit ihrer Polemik und in direkter Beziehung mit der Aktualität die Bilder des 18. Jahrhunderts ins Werk setzen, die unsere Wahrnehmung bis heute prägen. Es ist die Zeit, in der man die posthumen Texte von Rousseau und Diderot publiziert, ein Erinnerungstext nach dem anderen über das Jahrhundert erscheint und sich die Leidenschaften an einer von der Académie Française auf Jahre hin gestellten Aufgabe, ein literarisches Tableau des französischen 18. Jahrhunderts zu entwerfen, entzünden.25 Ferner gibt es keinen Zweifel daran, dass sich mit den Angehörigen dieser Generationen auch der ehemalige Homme de Lettres endgültig in den Schriftsteller verwandelt und die Belles-Lettres ihren Platz an die Literatur abtreten. Mit Claude Cristin kann man als symbolisches Datum das Jahr 1769 ansetzen, in dem eine Neuübersetzung des alten Traktats Dell’huomo di lettere von Barteli zur selben Zeit erscheint wie Diderots Mémoire sur la liberté de la presse.26 Die Entwicklung des Journalismus, die Gesetzgebung über die Autorenrechte und die Organisation des modernen Verlagswesens verdrängen das alte Ideal der République des Lettres und rufen den neuen Typus des Schriftstellers ins Leben, der von seiner Feder lebt. Dieser neue ökonomische Status ist eng verknüpft mit dem neuen moralischen Status des Schriftstellers, mit dem, was Paul Bénichou „le sacre de l’écrivain“ nennt. Bénichou spannt den chronologischen Bogen seiner Untersuchung weiter als wir, aber auch er insistiert auf der Einheit des Zeitraums, der die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts und die ersten des darauffolgenden abdeckt.27
Damit sind die Argumente versammelt, mit denen für eine eigene Periodisierung einer Zeitspanne von 50 Jahren, mit 1800 als ihrer ungefähren Mitte, plädiert werden kann. Diese Rechtfertigung weist die Bequemlichkeit der traditionellen Opposition zwischen Lumières und Romantik ebenso zurück wie die Unschärfe, die bei Foucault in der Beschreibung des Übergangs vom klassischen zum nachfolgenden Zeitalter vorherrscht: Die Figur des Sade’schen Helden zu Beginn von Les mots et les choses bildet das Gegenstück zu jener des Don Quichotte, mit der das Mittelalter zu seinem Abschluss kommt, aber sie ist mehr metaphorisch und emblematisch denn von wirklich explikativem Wert. Vergebens sucht man in unserer Periodisierung einen offenen Bruch, ein präzises Datum, aber es ist durchaus denkbar, dass sich im Verlauf der fünfzig Jahre, um die es hier geht, fragmentarisch und Unterschiede freisetzend Revolutionen vollziehen, von denen ‘89 oder ‘83 nur den sichtbarsten Ausdruck darstellen. Wenn, in einer sehr allgemeinen Perspektive, die Energie mit der Bewegung teilhat an einer neuen Weltsicht, welche die Essenz durch die Modi des Werdens und Existierens ersetzt, so findet sich der Begriff der Energie notwendig in den verschiedensten Domänen, in der wissenschaftlichen Produktion ebenso wie in der literarischen, in der physiologischen Annäherung an den Menschen ebenso wie in der psychologischen. Die Ambivalenz der Empfindsamkeit (sensibilité) ist direkt mit jener der Energie verknüpft. Energie und Nostalgie müssen nicht zwingend als Gegensätze gedacht werden, denn es gibt eine Energie des nostalgischen Herzens, ebenso wie es eine Energie der willensstarken Seele gibt. Die Energie siedelt sich genau in der Achse der von Roland Mortier so nachdrücklich unterstrichenen Einheit des 18. Jahrhunderts und der Überlappung von Lumières und Romantik an. Den Texten, die Mortier zur Stützung seiner These zitiert, kann man die Schlusspassage des von Mistelet im Jahr 1777 publizierten Essays De la sensibilité hinzufügen. Es ist die ‚wohl gelenkte‘ Empfindsamkeit, versichert Mistelet, die der Seele Energie zuführe und der Empfindung Tiefe verleihe. Die wahre Tugend und das wahre Genie, fügt er hinzu, entstünden aus dem Zusammenschluss von Empfindsamkeit und Vernunft, d.h. aus der Energie – vom Feuer der einen, gemildert durch die Klugheit und den Erörterungsgeist der anderen.28 Aktivität des Herzens ebenso wie Effizienz, Realitätsprinzip ebenso wie Begierde: die Energie schickt sich an, die Lumières an sich zu reißen und neu zu ordnen.
Sie markiert eine dreifache Liquidierung der mindestens noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts dominierenden klassischen Lektion. In den Bereichen Ästhetik, Philosophie und Moral weist sie das ehemalige Ideal des Gleichgewichts zurück zugunsten der Dynamik. An die Stelle der clarté tritt als oberster Wert die sprachliche und rhetorische Wirksamkeit, an die Stelle des Dualismus, der Bewegung und Materie trennt, eine von Kräften bewegte Welt, an die Stelle des Vernunftmenschen ein von Leidenschaften und Begierden durchwirktes Wesen. Der Klassizismus hatte das Universum auseinandergenommen, zerstückelt und einer strikt hierarchischen Ordnung gemäß wieder zusammengesetzt. Das Zeitalter der Energie stürzt diese Kategorien um. Es will das Universum als ein Ganzes erfassen, als einen Prozess. Die Worte, die Dinge und die Lebewesen existieren nur noch als in Beziehung stehend, in Spannung und Veränderung. Die Sprache und die Literatur, die Natur und die menschliche Existenz werden als gleichviel Prozesse der Transformation verstanden. Hier sind Kräfte am Werk, die sich vom einen Individuum zum anderen kommunizieren, von einem Element der Natur zum anderen, und die alle wechselseitig reagieren. Alles ist permanent in Arbeit. Die Energie, traditionelles Attribut Gottes und Ausdruck des Seins, wird zum Prinzip von Geschichte.
Diese fundamentale Veränderung entspricht dem aufblühenden Begriff des Individuums. Dieser bestimmt, was Jean Fabre in der Nachfolge von Littré die Katachrese nennt. Die für lange Zeit Gott oder der Natur, der Sprache oder der Materie reservierte Energie bezieht sich nun auf den Menschen – sei es um ihn in die Zyklen der Natur zu integrieren, sei es um aus ihm den Träger einer neuen Spiritualität zu machen. Man kann also zwei grundlegende Momente dieser Untersuchung ins Auge fassen, deren einer auf die Worte und die Welt zielt und hierbei in einer neuen Problematik die älteren Bedeutungen des Terminus wiederaufnimmt, deren anderer sich der Energie des Ich annimmt und auf die Erfindung eines neuen Menschen zielt. Ob es sich um die Welt oder das Ich handelt, in beiden Fällen ist die Energie charakterisiert durch einen globalen und historischen Zugang zu den Erscheinungen. Dem alten Dualismus zieht sie entweder den monistischen Materialismus vor oder aber einen Spiritualismus, welcher das Universum belebt. Ihre Idee erlaubt es uns, die Beziehungen zwischen Materie und Bewegung, Physis und Moral, Textur und Wille auszuloten. Und diese Relationen, diese Austauschbeziehungen vollziehen sich in der Zeit – die Energie ist ein Prozess, ein Abenteuer. Man ist zudem geneigt, sie als eine bürgerliche Kategorie zu definieren, in Anlehnung an den Begriff der Arbeit, der in dieser Zeit zu einem wissenschaftlichen Konzept avanciert und in einer Vielzahl anderer Diskurse zentral wird, aber die Energie kann genauso in Verschwendung und Exzess münden, jedwedes Prinzip von Ordnung, kluger Lebensführung, geregelter Produktion subvertieren.
Das Verdienst dieser Idee liegt vielleicht genau darin, sich jenseits des Widerspruchs von Materialismus und Spiritualismus, Libertinage und Empfindsamkeit, aristokratischer und bürgerlicher Denkweise zu verorten, vom Inneren jedes dieser Gedankensysteme aus zu arbeiten. Wenn man nicht etwas hastig behaupten will, dass die Herausforderung der Idee der Energie darin besteht, von einer aristokratischen zu einer bürgerlichen Weltanschauung zu führen, so sichert sie doch wenigstens den Übergang von den Lumières zur Romantik, von der Welt der Natur zu jener der Geschichte. Als Denkfigur des Übergangs stellt sie die Verbindung zwischen zwei Epochen her; als Denkfigur der Anstrengung (effort) charakterisiert sie, so eine mögliche Hypothese, ein spezifisches Zeitalter.
Die Seiten, die folgen, resümieren eine Thèse d’état, deren Projekt in den Vorlesungen von Jean Deprun am Lycée Louis-le-Grand und in jenen von Jean Fabre und René Pomeau an der Sorbonne reifte. Zu danken habe ich Robert Mauzi, der diese Arbeit wohlwollend betreut hat, ferner Jean Deprun, Jean Gillet, Roland Mortier und René Pomeau, welche die Begutachtung akzeptierten und meine Arbeit mit ihren Bemerkungen bereicherten.
Dieses Buch würde nicht existieren ohne die vier Generationen von Lehrenden, als deren Erbe ich mich fühle – ihnen sei es gewidmet.
Anmerkung des Übersetzers (A.d.Ü.): Diese Art der Fragestellung und die in ihr mitschwingende Notwendigkeit der Legitimation des zeitlichen Rahmens der Studie haben ihren Grund in der französischen Tradition einer strikten Einteilung der Literaturgeschichtsschreibung nach Jahrhunderten und der dazugehörigen Berufungspraxis.
Vgl. Robert Mauzi, L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle, Paris, 1960 und ders., „Thèmes et antinomies du bonheur dans la pensée du XVIIIe siècle“, Bulletin de la Société française de philosophie 1970, S. 122–133, hier S. 122; Jean Ehrard, L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle, Paris, 1963 und ders., „Histoire des idées et histoire littéraire“, Problèmes et méthodes de l’histoire littéraire, Paris, 1974, S. 73.
Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris, 1969, S. 179.
Ebd., S. 195.
Vgl. Eric Walter, „Sur l’intelligentsia des Lumières“, Dix-huitième siècle, 5, 1973, S. 173–201.
A.d.Ü.: Der Positivist Gustave Lanson (1857–1934) gilt in Frankreich als Stammvater der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung am Ende des 19. Jahrhunderts.
A.d.Ü.: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres, Année 1765, Berlin, 1767, S. 475–492; Vgl. auch die deutsche Version, „Von der Kraft in den Werken der Schönen Künste“, J. G. Sulzers vermischte philosophische Schriften. Aus den Werken der Akademie der Wissenschaften gesammelt, Leipzig, 1773, Bd. 2, S. 122–145.
Frain du Tremblay, Traité des langues, Paris, 1703 und André-Ernest-Modeste Grétry, Mémoires, ou essai sur la musique, Paris, Pluviose an V.
Correspondance complète de Mme Du Deffand, Paris, 1866, Bd. 3, S. 361.
Lumières et romantisme: énergie et nostalgie, de Rousseau à Mickiewiecz, Paris, 1963.
Jean Starobinski, L’invention de la liberté 1700–1789, Genf, 1969 und ders., 1789, les emblèmes de la raison, Paris, 1973.
L’énergie dans la nature et dans la vie, hg. Centre international de synthèse, Paris, 1949.
Vgl. Jean-Pierre Guicciardi, „La recherche sur le XVIIIe siècle“, La Pensée, 175, 1974 und die Arbeiten von Jean-Marie Goulemot.
Jacques Chouillet, La formation des idées esthétiques de Diderot, Paris, 1973 und ders., Diderot, poète de l’énergie, Paris, 1984; Michel Gilot und Jean Sgard, „La vie intérieure et les mots“, Le préromantisme: hypothèque ou hypothèse, hg. P. Viallaneix, Paris, 1975, S. 509–528; Jean Sgard, „J.-J. Rousseau et l’énergie“, Dalhous French Studies, 2, 1980, S. 14–20.
Jean Deprun, „Un théologien de l’infini: Adrien Lamourette (1742–1794)“, Le préromantisme, hg. Viallaneix, op. cit., S. 196–208 und ders., „Les idéologues face au fait de l’inquiétude“, Études philosophiques 1, 1982, S. 5–15; Romantisme, 46, 1984, Themenheft „L’énergie“. Vgl. auch Vf., „La théorie de l’énergie à Coppet“, Benjamin Constant Mme de Staël et le groupe de Coppet, Oxford und Lausanne, 1982, S. 441–451.
Jean Deprun, Sur la philosophie de l’inquiétude au XVIIIe siècle, Paris, 1979 und ders., „Problématique de l’inquiétude: séance du 25 novembre 1978“, Bulletin de la Société française de philosophie, 73 (1), 1979, S. 1–26.
„Je suis obligé, faute d’autre terme de me servir de ce mot pour exprimer en général certaine force supérieure, non seulement dans la parole mais dans tout autre objet du goȗt, ou ce que Horace appelle acer spiritus et vis in verbis et rebus“ (Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres, Année 1765, Berlin, 1767, S. 475).
Dictionnaire critique de la langue française, Marseille, 1787.
A.d.Ü.: Paul Hazard, La crise de la conscience européenne 1680–1715, Paris, 1935 (dt. Die Krise des europäischen Geistes 1680–1715, übers. H. Wegener, Hamburg, 1939).
Vgl. u.a. Robert S. Aubi, „Saint-Amant as ‚preromantic‘“, Modern Language Notes, 50, 1935, S. 456–457 oder Jean-Antoine Bour, „Quelques thèmes ‚préromantiques‘ du Rivage des Syrtes“, French Review, 43 (1), 1970, S. 107–115.
Roland Mortier, „Unité ou scission du siècle des Lumières“, Studies on Voltaire, 26, 1963, S. 1207–1221, wiederabgedruckt in ders., Clarté et ombres du siècle des Lumières, Genf, 1969.
Ein Bild, dessen Polyvalenz seinen Erfolg sichert. Vgl. Jacques Roger, „La lumière et les lumières“, Cahiers de l’Association internationale des études françaises, 20, 1968, S. 167–177; Roland Mortier, „Lumière et Lumières, histoire d’une image et d’une idée au XVIIe et XVIIIe siècles“, Clartés et ombres, op. cit.; Vf., „Les Lumières, travail d’une métaphore“, Studies on Voltaire, 152, 1976, S. 527–541.
A.d.Ü.: Jean Fabre, „Midi des Lumières“, Manuel d’histoire littéraire de la France, tome III: 1715–1789, hg. P. Abraham und R. Desné, Paris, 1975.
Maurice Albert, La littérature française sous la révolution, l’empire et la restauration, Paris, 1891.
Erschienen: Grenoble u.a., 1930–1963.
Vgl. Kurt Wais, Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang 1760–1789, Berlin, 1934; ders., Utopies et institutions au XVIIIe siècle, Paris, 1963; Bernard Plongeron, Théologie et politique au siècle des Lumières, 1770–1780, Genf, 1973; Bernard Plongeron und Jean Godel, „1945–1970: un quart de siècle d’histoire religieuse. À propos de la génération des secondes Lumières (1770–1820)“, Annales historiques de la Révolution française, 208–209, 1972, S. 181–203 u. 352–389; Revue germanique internationale, 3, 1995, Themenheft: „La crise des Lumières“; Dix-huitième siècle, 14, 1982, Themenheft: „Au tournant des Lumières“.
Vgl. schon die Sammlungen in Claude Pichois und Béatrice Didier, Le XVIIIe siècle, tome III: 1778–1820, Paris, 1976 und in Vf., Robert Mauzi und Sylvain Menant, De l’Encyclopédie aux Méditations, Paris, 1984.
Henri Peyre, Les générations littéraires, Paris, 1948. Vgl. auch Yves Renouard, „La notion de génération en histoire“, Revue historique, 209 (1), 1953, S. 1–23 und Raoul Girardet, „Du concept de génération à la notion de contemporanéité“, Revue d’histoire moderne et contemporaine, 30, 1983, S. 257–270.
„Flot incroyable de puissance et de génie“, „génération plus qu’humaine“, nach Michelet, Histoire de la Révolution, IV, 1.
Vgl. Jean Roussel, Jean-Jacques Rousseau en France après la Révolution, 1795–1830, Paris, 1972; Jacques Proust, Lectures de Diderot, Paris, 1974; André Billaz, Les écrivains romantiques et Voltaire, Thèse de doctorat, Sorbonne, 1974. Die Preisfrage der Académie Française steht im Zentrum einer Monographie von Roland Mortier (Le „Tableau littéraire de la France au XVIIIe siècle“, Brüssel, 1972) sowie eines Artikels von Roger Fayolle in einer Festschrift für Jean Fabre (Approches des Lumières, Paris, 1974).
Aux origines de l’histoire littéraire, Grenoble, 1973.
Paul Bénichou, Le sacre de l’écrivain (1750–1830). Essai sur l’avènement d’un pouvoir spirituel laïque dans la France moderne, Paris, 1973.
De la sensibilité, par rapport aux drames, aux romans et à l’éducation, Amsterdam-Paris 1777, S. 51.