Auf die Frage, was einen Brief als Brief kennzeichnet, geben die populären Nachschlagewerke der letzten zweihundertfünfzig Jahre eine einhellige Antwort: Sei es Johann Heinrich Zedlers in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts publiziertes Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, das mit der Wahl des Lemmas „Brief, Schreiben“1 die Verbindung von Schreiben und Brief an den Anfang des Eintrags stellt; sei es der 1860 herausgegebene zweite Band des Deutschen Wörterbuchs, in dem zur Klärung des Stichworts ‚Brief‘ auf das lateinische ‚Schreiben‘ (‚scriptum‘)2 und zur Präzisierung des nominalisierten Infinitivs auf den ‚Brief‘ (‚epistola‘)3 verwiesen wird; oder sei es die 2006 erschienene, endgültig letzte Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie, bei der das Merkmal „schriftl[ich]“4 die Rangliste brieflicher Kennzeichen anführt – in allen drei Artikeln wird die schriftliche Verfassung des Briefes als dessen wesentliches Merkmal hervorgehoben. Nicht anders fällt die Antwort der Briefsteller aus, jener beliebten Ratgeber, die lehren, „wie ein Brief geschickt einzurichten [sey] / und wie dasjenige / [was] man in schreiben verlanget / durch eine angenehme Art könne vorgetragen werden“.5 Beispielsweise erklärt Gebhard Overheiden in seiner 1657 veröffentlichten Schreib= Kunst, ein Brief sei „ein Sende=Schreiben / worinnen schrifftlich verfasset / das jenige / was einer dem andern an abgelegenem Orth / gerne wil zu wissen machen / oder da sonst gegenwertig / umb mehrer versicherung willen / etwas schriftlich verfasset und übergeben werden muß“.6 Der Brief, so lassen sich die Auskünfte der Ratgeber auf einen Nenner bringen, ist eine schriftlich abgefasste Mitteilung, deren Wirkung teils auf den übermittelten Informationen beruht – „dem Vortrage der Gedanken“7 –, teils darauf, wie diese zu Papier gebracht worden sind, weswegen die Briefsteller nicht müde werden zu betonen, dass die Korrespondierenden sich „befleißigen“ sollen, „vollkommen leserlich zu schreiben“, da „ein angenehmes Aeußeres des Briefes […] Wohlgefallen und Aufmerksamkeit“8 errege.
Obwohl der Brief damit hinlänglich bestimmt ist, fügen die Gelehrten des 17. Jahrhunderts zur Illustration stilistischer Prinzipien dem Katalog brieflicher Merkmale ein weiteres hinzu, ohne dabei die Verwerfungen auf dem Gebiet der epistolographischen Episteme vorauszusehen, die dieser Schritt nach sich zieht: Der Brief, heißt es bei Overheiden, sei „gleichsam / des abwesenden Rede“, weshalb dieser „nicht anders geschrieben und gestellet werden“ dürfe, „als es die mündliche Rede […] erfodert“.9 Zum besseren Verständnis dieser Gleichung liefert Talanders allzeitfertiger Brieffsteller aus dem Jahre 1692 eine anschauliche Analogie: „Was die Fertigkeit der Zunge zur Unterredung mit denen Anwesenden beyträget“, so Talanders einprägsame Formel, „verrichtet die Feder an ihrer statt / wann wir denen Abwesenden und von uns entferneten etwas vorzutragen haben“.10 Als Resultat der Angleichung von Brief und Gespräch werden die kommunikativen Leistungen des Briefes fortan an denen der mündlichen Rede gemessen – mit der Folge, dass der Brief als (defizitärer) Gesprächsersatz erscheint: „Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt“, doziert Christian Fürchtegott Gellert im Jahre 1751, sei, dass der Brief „die Stelle eines Gesprächs vertritt“.11
Im Rahmen des von Gellert kreierten, in der Geschichte der Epistolographie überaus wirkmächtigen Natürlichkeitsdispositivs erfüllt die Konzeption des Briefes als Aufzeichnung gesprochener Worte zwei Funktionen: Zum einen macht sie vergessen, dass Briefe nach allen Regeln rhetorischer Kunst gefertigte Artefakte sind, die umso authentischer wirken, je gewandter sie sich als unmittelbare sprachliche Konkretion des Schreiberherzens in Szene setzen; zum anderen trägt sie dafür Sorge, dass die Korrespondierenden den materialen Aspekten des Briefeschreibens keinerlei Beachtung schenken. Während Gellert für den einen Fall, den Blick auf die rhetorische Faktur, explizit Blindheit verordnet – „Man wisse von keiner Kunst“12 –, schweigt er sich im anderen beredt aus. Schließlich würde jede Anmerkung zur äußeren Form der Schriftstücke den empfindsamen Blick der Briefpartner davon abhalten, ‚durch‘ das konkrete Schreiben hindurchzugehen und sich auf die intelligiblen Gemüts- und Seelenregungen ‚dahinter‘ zu richten.13 Weil Gellert dies nicht zulassen möchte, verpflichtet er die Leser auf einen Lektüremodus, dem die handschriftlich zu Papier gebrachten Briefe und deren typographische (Re-)Präsentationen gleichviel gelten. Dreh- und Angelpunkt dieser Äquivalenzthese bildet der vermeintliche Wirklichkeitsbezug der Schreiben: Weil es sich bei den in der Abhandlung dargebotenen Briefen um Schreiben handle, die man „wirklich an gewisse Personen geschrieben hat; und zwar, ohne daß man daran gedacht, sie jemals in den Druck zu geben“,14 so Gellerts zirkulär argumentierende Volte, ließen sich die Schreiben „in Ansehung des Drucks“ für „nicht erdichtete“15 halten: Der Inhalt der Schreiben bleibe derselbe, gleichgültig, in welcher Präsentationsform er rezipiert werde.16
Die Folgen der Bestimmung des Briefes als ‚natürliches‘ phonographisches Medium wirken in verschiedenen Disziplinen bis heute nach.
So vertritt die Briefforschung, allen voran Reinhard M. G. Nickisch, die Auffassung, dass es sich bei „der schriftlichen Rede des Briefes […] um einen kommunikativen Vorgang [handelt]“, für den „aufgrund seiner intentionalen, funktionalen und strukturellen Affinitäten mit der mündlichen Kommunikation primär gleiches gilt wie für diese“: Aus dem „natürlichen(!) Ablauf des mündlichen Kommunikationsaktes“, so Nickisch, leite sich der Aufbau eines Briefes „mit den Grundbestandteilen Briefeingang, -inhalt und -schluß her“.17 Wo das mündliche Gespräch die Kriterien vorgibt, nach denen Briefe zu beurteilen sind, gerät die handschriftlich-materiale Faktur des Briefes freilich aus dem Blickfeld – und die Briefforschung geht ihres Gegenstandes verlustig: Die „Schriftlichkeit des Briefs“ sei „kontingent“, erklärt Ulrich Joost in seiner 1990 veröffentlichten Studie zu Lichtenbergs Briefkonvolut, und er zieht aus dieser Beobachtung den Schluss, dass es „gleichgültig“ sei, ob die Botschaft dem Empfänger „in Tontäfelchen gebrannt, als ‚sprechendes Leder‘ oder auf Rinde gemalt, auf Band gesprochen oder eben mit Schriftzeichen auf Papier fixiert“18 präsentiert werde: Um von einem Brief zu sprechen, meint Joost, sei allein entscheidend, ob die zu übermittelnde Nachricht auf irgendeine Weise festgehalten und transportfähig werde.19
Einer ähnlichen Auffassung folgt das Gros der Editionsphilologen. Ohne Problembewusstsein für die Heuristik eines Textbegriffes, die von der autographen Natur der überlieferten Dokumente absieht und ‚Texte‘ einfach als gegeben, als transparent voraussetzt,20 so Hans-Walter Gabler kritisch gegenüber der eigenen Zunft, handelten Editoren nach der Gellertschen Maxime, dass Briefe ‚Überlieferungsträger‘ sind, die Texte enthielten, und ‚Briefe zu edieren‘ nichts anderes bedeute, als brieflich hinterlegte ‚Texte‘ herauszugeben.21 Dabei spiele, so die Überzeugung der Editionsphilologen, die Briefgestalt keine Rolle: Derart „äußere Kennzeichen“ seien lediglich „der bedeutungslose Niederschlag der Entstehungsbedingungen“,22 die in der editorischen Praxis ignoriert werden könnten.23
Ignoriert wird das „individuelle äußere Erscheinungsbild“24 eines Briefes auch von einer traditionellen, auf den Geist des Geschriebenen fixierten Literaturwissenschaft, und dies in gleich doppelter Weise: Zum einen nehmen die von Berufs wegen vornehmlich mit Printerzeugnissen befassten Philologen Briefe in der Gestalt von Lese-, Werk- oder Historisch-Kritischen Ausgaben zur Kenntnis, ohne dabei zu bedenken, dass die Rezeptionsbedingungen eines ‚Briefe‘ betitelten Buches vollkommen andere sind als diejenigen handschriftlicher Originale.25 In „der Textdarbietung des Druckes“ ist „das Dokumentarische eines Schreibens“26 verloren, was im Hinblick auf den edierten Brieftext die berechtigte Frage aufwirft, wer, „wenn der Brief ein Spiegel der Seele sein soll, wie der Topos sagt“, den Leser eigentlich „aus einem Druckbild an[schaut]?“.27 Zum anderen klammern Literaturwissenschaftler bei ihren ‚Brief‘-Lektüren konsequent all diejenigen Äußerungen aus, in denen Briefschreibende explizit auf die ‚irreduzible Dingseite‘28 des Briefes und die situativen Umstände der Niederschrift zu sprechen kommen. Zwei Beispiele: Als Bettine Brentano ihre Korrespondenz mit Achim von Arnim beginnt, ist das Erscheinungsbild ihrer Briefe sogleich ein Thema der schriftlichen Unterhaltung: „Sie verzeihen daß ich so gekrizelt habe die warme Sonne die alles bewegt die Schnee und Herzen Schmilzt die machte auch die Hand unsicher welche sich mit wahrer Innigkeit unterschreibt Ihre Freundin Bettine“.29 Offenkundig dienen diese Hinweise nicht bloß als Erklärung für Bettines ‚Gekritzel‘; indem sie die Aufmerksamkeit des Empfängers auf das ‚Äußere‘ des Briefes lenken, kennzeichnen sie das schriftbildliche Gepräge des Schreibens als einen wesentlichen Bestandteil im Briefverkehr der Romantiker. Beim Wort genommen, bringt Bettines Bemerkung den Sachverhalt auf den Punkt, dass es die Skripturen von der Hand der Absenderin sind, die Achim mittelbar Rückschlüsse auf das Innere der Schreibenden erlauben. Das ‚Äußere‘ seiner Schriftstücke thematisiert auch Theodor Fontane in seinen Schreiben: „Jetzt“, heißt es in einem frühen Brief an Bernhard von Lepel, „ergreif‘ ich eine andre Feder“ – was Fontane sodann tatsächlich tut30 – „um Dir mit dickeren Buchstaben wichtigere Mittheilungen zu machen“.31 Die ‚dickeren Buchstaben‘ sollen dem besten Freund auf dem Weg einer skripturalen Deixis signalisieren, was Fontane im Nachgang verrät: dass nämlich Emilie, Fontanes Ehefrau, „[a]m 14ten (Donnerstag) 11½ Uhr Abends […] von einem – Jungen glücklich entbunden“32 worden ist.
Hätten Philologen solche und vergleichbare Hinweise, die sich zuhauf in Briefwechseln bekannter Literaten finden lassen, ernst(er) genommen, sie hätten sich beizeiten eingestehen müssen, dass der Sinngehalt eines Briefes immer auch sinnliche Aspekte miteinschließt, die sich nur am Originalschriftstück verifizieren lassen33 – und dass eben darum ihre auf der Grundlage gedruckter ‚Briefe‘ gewonnenen Interpretationen in wissenschaftlicher Hinsicht unredlich sind.34 Das trifft selbst auf luzide argumentierende Studien wie etwa Albrecht Koschorkes Ausführungen zur Mediologie des empfindsamen Schriftverkehrs zu. Denn so plausibel die Einlassungen des Literaturwissenschaftlers zum Verhältnis von Körperströmen und Schriftverkehr sind, so wenig vermögen diese die Briefkultur der Sattelzeit sachangemessen zu beschreiben. Und dem ist so, weil Koschorke die Schriftstücke der Empfindsamen nicht im Original in Augenschein nimmt, sondern zu den Distributions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur liest. In ‚Ansehung des Drucks‘35 aber sind Briefe keine Briefe (mehr): Aus den mit allen Insignien des Singulären versehenen individuellen Schriftstücken, deren sinnliche Aspekte den brieflichen Mitteilungen nicht selten Anlass und Thema vorgeben,36 sind typographisch einheitliche Drucke geworden37 – weshalb sich, je nach Argumentationsbedarf, die Tätigkeit des Briefeschreibens leicht als eine der „Entkörperung“38 (miss)verstehen lässt: als ein „organlose[r] Akt“,39 dessen Produkte den Verfasser lediglich „metonymisch[]“40 – das heißt als Effekt eines seinem „Wesen nach zeichenhafte[n]“41 Sprachspiels – in „rein imaginativer“42 Weise vergegenwärtigen.
In Wirklichkeit – so viel sei als Ertrag der minutiösen analytischen Arbeit dieser Studie am konkreten Briefmaterial vorangestellt – ist die Sachlage eine gänzlich andere. Zwar bedienen die Korrespondierenden das zeitgemäße Phantasma von der „Oralisierung des Schreibens“;43 für sie steht jedoch außer Zweifel, dass sich „die Aktionen und Materialien des Briefverkehrs“44 nicht einseitig zugunsten einer empfindsamen Epistolographie auflösen lassen, „in der die Seelen jenseits aller Widerstände der Artikulation ineinander fließen“.45 In den Augen der Korrespondierenden stellt der Brief weniger die von Gellert und Koschorke konstruierte „Figur einer medialen Immediation“46 dar, die darauf angelegt ist, im Erscheinen zu verschwinden,47 als vielmehr die „Doppelfigur eines Erscheinens im Verschwinden und eines Verschwindens im Erscheinen“, also eine „Verbindung zwischen einem ebenso Stofflichen wie Konstituierenden“,48 die, durch einen Widerstreit von Präsenz und Nicht-Präsenz charakterisiert, gerade kein Medium der ‚Ent-‘, sondern eines der Verkörperung kennzeichnet: „[W]ir schreiben […], um den Körpern die Stätten ihrer Kontakte zu überlassen“.49
* * *
Die tour d’horizon durch die Rezeptionsgeschichte des Briefes ergibt ein widersprüchliches Bild: Einerseits gilt der Brief als ein Medium, dessen kommunikative Möglichkeiten auf der Skripturalität des Schriftstücks beruhen, andererseits wird er als Abbild und Supplement der gesprochenen Rede funktionalisiert. Letzteres führt dazu, dass er auf das reduziert wird, was sich von einer buchstabenschriftlich hinterlegten Nachricht (laut) sagen lässt. Damit avanciert der Brief zu einem beziehungslosen Gegenstand innerhalb eines abstrakten Zeichensystems.50 Wo nämlich allein der Wort-Laut bedeutsam ist, nicht aber dessen material-mediale Beschaffenheit,51 bleibt der ‚Inhalt‘ eines Briefes derselbe, auch wenn statt des Originalschriftstücks der zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlichte ‚Brief‘ zur Hand genommen wird.52
Unter diesen Prämissen bedienen sich Philologen zur Beschreibung literarischer Texte und Briefe desselben Begriffsinventars. Dass damit kategoriale Inkonsistenzen einhergehen, wird entweder ignoriert oder billigend in Kauf genommen. Das ist freilich kein befriedigender Zustand. Um diesen und das mit ihm verbundene Reflexionsdefizit zu beheben, geht die vorliegende Arbeit von der geltenden, von keinem Briefsteller je in Zweifel gezogenen Tatsache aus, dass der handschriftlich verfasste Brief ein genuin skripturales Artefakt ist, das neben seinen diskursiven über nicht zu unterschätzende sinnliche – aisthetische – Dimensionen verfügt: Dimensionen, wie sie eine avancierte Medienphilosophie in gründlicher methodischer Auseinandersetzung mit graphischen Objekten wahrzunehmen gelernt und unter dem Schlagwort der ‚Schriftbildlichkeit‘ zu einer fundierten Theorie des Skripturalen verbunden hat.53 Im Rekurs auf deren grundsätzliche Einsichten in die Natur der handschriftlichen Schrift setzt die Studie zu einer gegenstandsbewussten (Neu-)Bestimmung des Briefes an.
Auf die Beobachtung gestützt, dass Geschriebenes „eine Hybridbildung […] diskursive[r] und ikonische[r] Aspekte“54 darstellt, die eigene Valenzen entfaltet, untersucht die Schriftbildlichkeitsforschung die Möglichkeiten, „im Medium des Graphischen mit Sachverhalten mannigfaltiger Art kreativ und explorativ zu ‚hantieren‘“.55 Im Hinblick auf den Brief erweisen sich im Wesentlichen zwei Aspekte als besonders erhellend: zum einen der Umstand, dass Schriftzüge „indexikalische Spur[en]“56 sind, zum anderen das Faktum, dass „Schriften das Räumliche als ein Medium der Artikulation“57 nutzen. Denn Briefe – so die These – funktionieren als Kommunikationsmedium nur aufgrund der einen wie der anderen Eigenschaft der Schrift: aufgrund ihrer konstellativen Anordnung auf den Papieren sowie kraft ihres Charakters als Körperspur. Eine sachangemessene Beschreibung des Briefes bedarf daher keiner Rekurse auf die Parameter des Gesprächs, sondern einer Skriptural-Aisthetik, die der „Spannung zwischen zeichentranszendierendem Verstehen und perzeptorischer Resistenz“58 Rechnung trägt, indem sie diese nicht zugunsten des Symbolischen auflöst, sondern einen Wahrnehmungsmodus einnimmt, der für die „Doppeldynamik“ des Graphischen „aus Sichtbarkeit und Lesbarkeit“59 offen bleibt.
Um das Begriffsregister einer solchen Skriptural-Aisthetik zu entwickeln, ohne dabei auf Gellertsche Kategorien zu rekurrieren, bietet sich eine (Re-)Lektüre der unter dem Namen eines gewissen Demetrios überlieferten, in ihren systematischen Implikationen bislang nicht erschlossenen Abhandlung Peri hermeneias an. Anders als seine Nachfolger auf dem Gebiet der Brieftheorie erörtert Demetrios die kommunikativen Fähigkeiten des Briefes nämlich nicht mit Bezug auf das gesprochene Wort, sondern konzeptualisiert den Brief fundierter als einen auf Berührungen hin angelegten skripturalen Körper, der den Körper seines Urhebers in Form einer Präsenz in absentia verdinglicht und solcherart im Rahmen einer ritualisierten Pragmatik Sinnüberschüsse „jenseits des sprachlich transportierten Sinnes“60 produziert. (Kapitel 1: Epistolo/Graphie).
Wie sich diese sinnlich induzierten Sinn(es)überschüsse konkret darstellen, lässt sich anhand zweier Korrespondenzen des 19. Jahrhunderts besonders gut studieren, weil deren Verfasser die Rahmenbedingungen brieflicher Kommunikation aufgrund politisch-gesellschaftlicher Umwälzungen (dem Zusammenbruch aller postalischen Kommunikationswege im Zeitalter der Napoleonischen Kriege) sowie medienhistorischer Umbrüche (der Erfindung und Verbreitung der Telegraphie) mit einer für die aisthetischen Produktivkräfte und Dynamiken schriftbildlicher Skripturen geschärften Aufmerksamkeit durchdenken.61
In dem einen Fall ist dies ein Konvolut von mehr als 800 im Freien Deutschen Hochstift Frankfurt archivierten Autographen aus den Federn Achims von Arnim und Bettine Brentanos (nachherige von Arnim), das von der Forschung bislang lediglich als werkbiographisches Supplement oder kulturhistorische Fundgrube für die Zeit von 1806 bis 1831 beachtet worden ist. Für sich wahr- und ernstgenommen, das heißt als Forschungsobjekt eigenen Rechts begriffen, vermag der Briefwechsel der beiden Romantiker, die auch nach ihrer Hochzeit bis zu Achims plötzlichem Tod im Jahre 1831 räumlich getrennt gelebt und daher viele Briefe zu Papier gebracht haben,62 vor allem durch eines zu bestechen: Die passionierten Briefschreiber zeichnen ihren Schriftstücken eine Reihe pikturaler Applikationen ein, die Motive aus Religion, Mythologie und Literatur aufgreifen, und verweben diese innerhalb der Korrespondenz zu einem Netzwerk ikonischer Rekurrenzen, das der indexikalischen Natur des Briefes – der durch die autographen Spuren ins Werk gesetzten Produktion und Rezeption absenter Präsenzen – eine Anschauung verleiht. Bezugspunkt dieser Verquickungen ist die aus der Antike überlieferte Vorstellung vom Brief als einer ‚Schatten-Schrift‘,63 die gleichsam wie der Schattenriss eines Menschen imstande ist, die einstige Präsenz ihres Urhebers „dem Grad der Intensität entsprechend, mit der es [diesem] über eine Serie komplexer Handlungen und Vermittlungsprozesse gelungen ist, Eingang in die von ihm ausgewählten, von ihm bearbeiteten, gestalteten und am Ende der Post überlassenen brieflichen Materialien zu finden“,64 zu bewahren und über die Ferne hinweg zu vermitteln (Kapitel 2: Skia/Graphie).
Nicht minder reflektiert ist die Anschauung, die im anderen Fall, dem knapp 6000 Originale umfassenden, in Potsdam archivierten Briefkonvolut Theodor Fontanes zugrunde liegt. Fontane, der sich selbst als ‚Kartenmensch‘ charakterisiert,65 begreift den Brief(bogen) als ein Kommunikationsmittel, das im literalen Sinn des Wortes ‚kartographisch‘ funktioniert: Als Blätter, in die Markierungen gekerbt sind – eben: als ‚Karto-Graphien‘ –, teilen Fontanes Briefe nicht-räumliche Sachverhalte räumlich mit. Hierzu entwickelt Fontane eine eigentümliche Form der Randbeschriftung,66 für die gilt, dass dort, an den Rändern der beschrifteten Papiere, die „Hauptsache“67 zu finden ist – was im Umkehrschluss bedeutet, dass der ‚Kartenmensch‘ die Ausdehnungen des Briefbogens noch vor dem ersten Federstrich topographisch durchmessen hat. Doch nicht bloß das. Ebenso wie geographische Karten choreographieren auch Fontanes Schreiben die Bewegungen der Korrespondierenden in einem von den Schriftzügen ‚vor-geschriebenen‘ Handlungsspielraum: Dem Verlauf der Schriftzüge folgend, muss der Briefpartner die Schriftstücke mehrfach drehen und wenden und kommt daher nicht umhin, seine Bewegungen an den graphischen Markierungen, die selbst das Produkt einer Bewegung sind, auszurichten – mit der Folge freilich, dass es über alle räumlichen und zeitlichen Distanzen hinweg im Zuge dieser von den Schriftkörpern choreographierten Akte zu mittelbaren Kontaktnahmen der Bewegungen von Schreib- und Lesekörper kommt, die man als ‚kartierte Präsenzen‘ bezeichnen könnte (Kapitel 3: Karto/Graphie).
Zedler 1733, IV: 1359.
Grimm 1984, II: 380, ebd.: „eigentlich litera brevis, dann überhaupt scriptum“.
Grimm 1984, XV: 1697, ebd.: „der infinitiv, als thätigkeit genommen“, bezeichnet das „ergebnis der thätigkeit“, eine „ausführlichere mittheilung in briefform“: „ein schreiben, epistola“.
Brockhaus 212006, IV: 757.
Bohse 1692: 3.
Overheiden 1657: 90. – Ähnlich bestimmen auch Johann Christoph Stockhausen in seinen 1751 publizierten Grundsätzen wohleingerichteter Briefe (vgl. Stockhausen 21766: 9) und der im 19. Jahrhundert mehrfach aufgelegte Ratgeber von Georg Carl Claudius (vgl. Claudius 81822: 1) den Brief.
Adelung 81834: 2.
Adelung 81834: 2f.
Overheiden 1657: 90f.
Bohse 1692: 1, vgl. ebd.: „Gewißlich es ist hierin̅en das Nachsinnen der klugen Vor=Welt recht glückseelig gewesen / daß es so ein bequemes Mittel erfunden / den Mangel des Gesprächs zwischen Personen / die nicht beysammen sind / durch die gewechselten Briefe zu ersetzen“.
Gellert 1751: 2f. – Vgl. hierzu: Wegmann 1988; Vellusig 1991.
Gellert 1751: 79.
Vgl. Siegert 1993: 35–44.
Gellert 1751: o.S. [Vorrede].
Gellert 1751: 7, 11. – Vgl. hierzu: Witte 1989.
Vgl. Gellert 1751: o.S. [Vorrede]. – Zu Gellerts Brieftheorie: Brüggemann 1971; Barner 1988; Arto-Haumacher 1995; Jung 1995; Kaiser 1996; Johnson 1999; Hentschel 2006; Vellusig 2006.
Nickisch 1991: 5, 9f. Vgl. ebd.: 11f: Zwischen „einem mündlichen und einem im Brief schriftlich fixierten Redeakt“ bestünden „kommunikationsstrukturelle[] Affinitäten“, die dazu führten, dass „der Brief als Redesubstitut zum Zwecke eines dialogischen Austausches fungiert“.
Joost 1990: 45.
Vgl. Joost 1990: 45. – Joosts Feststellung erscheint umso unzutreffender, als Lichtenberg den skripturalen Aspekten und situativen Umständen der Briefproduktion ein Höchstmaß an aphoristisch reflektierter Aufmerksamkeit widmet, vgl. hierzu Stingelin 1999.
Vgl. Gabler 2006: 57.
Vgl. Gregolin 1995: 756. Vgl. ebenso: Plachta 22006: 22: Die „Handschrift [ist] eigentlich nur Träger eines Textes“. – Hierzu kritisch: Reuß 2002.
Gregolin 1995: 756, ebenso: Richter 2008.
Die gegenteilige Auffassung, dass „Äußerlichkeiten wie Briefmaterial und Art der Niederschrift wesentlich zur Gattung Brief hinzu[gehören]“ (Woesler 1977: 42), wird bis auf den heutigen Tag innerhalb der Editionswissenschaft als „Extremposition[]“ (Plachta 22006: 42) verworfen.
Nickisch 1991: 234.
So beispielsweise Clauss 1993; Anton 1995; Reinlein 2003; Kording 2014.
Woesler 1977: 45.
Stockmar 2005: 21f passim.
Vgl. Mersch 2003: 10.
Bettine Brentano an Achim von Arnim: [Marburg, vermutlich 16. März 1806] (ABB I: 31).
Vgl. den unter der Sigle TFA U 92 I, 56 im Fontane-Archiv Potsdam archivierten Brief Theodor Fontanes an Bernhard von Lepel: Berlin, 21. August 1851 (FL: 272).
Theodor Fontane an Bernhard von Lepel: Berlin, 21. August 1851 (FL: 272).
Theodor Fontane an Bernhard von Lepel: Berlin, 21. August 1851 (FL: 272).
Vgl. exemplarisch hierzu Wiethölters Analyse des Briefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und Ottonie Gräfin Degenfeld-Schonburg in: Wiethölter 2013.
Vgl. Reuß 2005: 5f: „Eine Literaturwissenschaft, die […] drauflos interpretiert, von werkimmanent bis […] dekonstruktivistisch, ist in dem Maße, in dem sie es verschmäht, sich einer eingehenden Analyse ihrer materialen Grundlagen zu unterziehen, unwissenschaftlich“.
Gellert 1751: 7.
Man denke nur an das legendär gewordene, einzigartige Blau von Metas Mitteilungen an Klopstock, das der Dichter immer wieder zum Anlass nimmt, auf das ‚Äußere‘ der Schriftstücke einzugehen: „Wie war mir, ach, wie war mir, da ich den blauen Brief von fern sah“ (Klopstock 1980: 178).
Vgl. Bohnenkamp/Wiethölter 2008: IX: „Briefe sind keine Texte, sie sind darauf nicht zu reduzieren, auch wenn die zwischen zwei Buchdeckeln offerierten Briefsammlungen unserer gängigen Klassikerausgaben so tun, als sei dies möglich. Und das heißt im Umkehrschluß: Sobald Briefe Texte sind, sind Briefe keine Briefe mehr“.
Koschorke 22003: 196, vgl. ebd.: 194: „Schriftlichkeit“ ist „Abschneidung des Körpers“; sowie ebd.: 231: „Das Phantasma des Seelenverkehrs […] [annihiliert] das Körperliche als Quelle der Kontingenz“.
Koschorke 22003: 223.
Koschorke 22003: 206.
Koschorke 22003: 147.
Koschorke 22003: 146. – Koschorkes These gründet in der Annahme, briefliche Schriftstücke seien als „Medien […] semiotische Systeme“, die wie „alle rekursiv organisierten Systeme […] die Spur ihrer Entstehung […] unsichtbar [machen]“ (Koschorke 22003: 346). Auf der Basis dieses materialvergessenen Medienbegriffs erscheint die brieflich induzierte Präsenz als eine „imaginäre“, ganz und gar „intellektuale“ (Koschorke 22003: 252, 342), die sich als Folge rhetorischer Effekte einstellt: Die Techniken des Vor-Augen-Stellens lassen „das real Entzogene“ – den abwesenden Briefschreiber – als „halluzinogene Präsenztäuschung“ (Koschorke 22003: 207) entstehen.
Koschorke 22003: 193. – Das berühmteste Beispiel für dieses ‚Phantasma des Schriftgesprächs‘ ist der Brief des jungen Goethe vom 6. Dezember 1765, in dem es, an die Schwester gerichtet, heißt: „Mercke diß; schreibe nur wie du reden würdest, und so wirst du einen guten Brief schreiben“ (Goethe 41988: 19).
Koschorke 22003: 194.
Koschorke 22003: 218.
Koschorke 22003: 231.
Vgl. hierzu grundlegend Mersch 2002b.
Mersch 2006: 20.
Nancy 22007: 48.
So in den ‚Brief‘-Definitionen folgender Handbuchartikel: Schmid 1988; Müller 1994; Nickisch 1996; Schmid 1996; Golz 1997; Uka 1998; Maurer 2002.
Vgl. Saussure 21967: 143: „Das Material, mit dem die Zeichen hervorgebracht werden, ist gänzlich gleichgültig […]; ob ich die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig“.
Vgl. Nickisch 1991: 19, der betont, dass der Brief beim Übergang von der Handschrift ins Druckbild seinen medialen ‚Ort‘ wechselt, nicht aber seine Implikationen als ‚Textsorte‘.
Hierzu grundlegend: Krämer 2005.
Vgl. Krämer 2012: 81.
Krämer/Totzke 2012: 23.
Krämer/Totzke 2012: 18.
Krämer/Totzke 2012: 16.
Strätling/Witte 2006: 7.
Strätling/Witte 2006: 7.
Greber 2002: 9.
Zur Übergangsstellung des 19. Jahrhundert in der Geschichte des Briefes: Baasner 1999.
Achim auf dem Familiengut Wiepersdorf, Bettine mit den Kindern in Berlin. – Das Leben der beiden Romantiker wird von Hildegard Baumgart in zwei Bänden überaus lesenswert nacherzählt, vgl. Baumgart 21999 und 2016.
Vgl. Thraede 1970: 4.
Wiethölter 2010b: 117.
Theodor Fontane an James Morris: Berlin, 4. November 1896 (B IV/4: 605).
Vgl. Erler 1968: 319.
Theodor Fontane an Eduard Engel: Berlin, 2. November 1882 (B IV/3: 215).