Der Titel dieser Untersuchung Selbstreflexive Avantgarde mag auf einige Leser irritierend wirken. Nicht, dass der Begriff der Selbstreflexivität ein Problem darstellt, vielmehr könnte man – völlig zu Recht – fragen, ob denn einer Arbeit über die Avantgarde in der heutigen Zeit nicht etwas Antiquiertes anhaftet. Lohnt denn die Mühe angesichts eines Phänomens, das entweder der Nostalgie zugerechnet wird oder dem Mainstream anheimgefallen ist? Sie lohnt! Nämlich genau dann, wenn der Avantgardebegriff jenseits von nostalgischer Verklärung und gesamtgesellschaftlicher Neuheitssucht stark gemacht werden kann. Wenn gezeigt werden kann, dass der Avantgardebegriff ein Instrument an die Hand liefert, auch zeitgenössische Phänomene auf den Begriff zu bringen. Wenn er also als nach wie vor fruchtbare und erkenntnisbringende Kategorie Anwendung findet.
Ein solches Avantgardekonzept findet man in den Schriften Bazon Brocks. Seit mehr als vier Dekaden entwickelt und verteidigt Brock ein Avantgardeverständnis, das der landläufigen Meinung, aber auch der gängigen Forschung, eine Alternative an die Seite stellt. Landläufig wird unter Avantgarde meist eine Bewegung verstanden, die der Kunst ihrer Zeit voraus ist und gerade deshalb Maßstäbe setzt. Die Avantgarden sind die Ersten auf unbekanntem Terrain – der Rest folgt. Die wissenschaftliche Forschung zum Thema veranschlagt andere genuin avantgardistische Bemühungen. Hier geht es zwar auch darum, ‚vorn‘ zu sein, wesentlicher ist jedoch die Auffassung, den Avantgarden die Entgrenzung künstlerischer Praktiken zu attestieren. Sie hätten, so die beinahe kanonische Einschätzung der Forschung, den Versuch unternommen, Kunst in Lebenspraxis zu überführen und den Werkbegriff aufzulösen. Hier wie da stößt der Avantgardebegriff jedoch schnell an seine Grenzen. Denn vorn zu sein, voraus zu sein, innovativ zu sein, ist mittlerweile kein Proprium des künstlerischen Feldes mehr – wenn es das jemals war – sondern beschreibt eine gesamtgesellschaftliche Forderung. Der Innovationszwang ist nicht nur in der Ökonomie fest verankert, sondern greift bis in die persönlichen Beziehungen hinein und bestimmt unser Selbstbild. Ständig sollen wir uns selbst und unsere Beziehungen neu erfinden. Wenn alle (oder zumindest ein Großteil) permanent auf Neuheit verpflichtet sind, braucht es keine Avantgarde mehr. Und wenn es sie noch gäbe, wäre sie schlicht unsichtbar. Mit Blick auf die Forschung steht es für die Avantgarde ähnlich schlecht. Zwar gibt es durchaus Forschungsbeiträge, die für die Verteidigung des Avantgardebegriffs plädieren. Die Fixierung der Avantgarde auf Praktiken der künstlerischen Entgrenzung führt jedoch allzu oft zu einer Historisierung, die den heutigen und den Nachkriegsavantgarden einen Bärendienst erweist. Die Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts werden zwar in ihren Leistungen für die Entwicklung der Künste gewürdigt, mithin als innovativ, wegweisend und Ketten sprengend beschrieben. Doch schon die Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg gelten in der einschlägigen Forschung als epigonenhaft. Zwar gesteht man einzelnen Künstlern oder Künstlergruppen zu, in der Tradition der Avantgarde zu stehen, eine zeitgenössische Avantgarde kann jedoch, so scheint es, nicht als eigenständig angesprochen werden. Und so verwundert es kaum, dass mittlerweile die Rede von einer klassischen Avantgarde beinahe selbstverständlich geworden ist und der Begriff ‚Avantgarde‘ endgültig still gestellt und inhaltlich fixiert anmutet.
Jenseits der Dichotomie des Verschwindens oder Versteinerns entwickelte Bazon Brock eine Avantgardetheorie, die einen homogenen Avantgardebegriff verteidigt und so historische wie zeitgenössische Phänomene zu fassen vermag. Brocks Kerngedanke ist folgender: Als Avantgarde kann nur bezeichnet werden, was die Neukonstruktion von Traditionen initiiert. Im Zentrum seiner Avantgardetheorie steht also die Dynamik von Innovation und Tradition. Damit setzt er sich von der gängigen Forschung ab. Denn weder historisiert er die verschiedenen Avantgarden, noch fixiert er die Avantgarde auf bestimmte Entgrenzungsphänomene. Ihm ist vielmehr eine funktionale Beschreibung der Avantgarden gelungen, die den Zusammenhang zwischen heutigen Hervorbringungen und historischen Beständen in ihr Zentrum aufnimmt. Bemerkenswert ist seine Avantgardetheorie aber vor allem aus folgendem Grund: Bei Brock wird die Avantgarde zu einem Rezeptionsphänomen. Erst in der Rezeption zeigt sich, ob von Avantgarde gesprochen werden kann. Nur wenn die (künstlerischen) Hervorbringungen dazu veranlassen, neue Traditionen aufzubauen, ist die Avantgarde am Werk. Diese rezeptionsästhetische Fundierung ist es, die Brocks Avantgardetheorie auszeichnet und aus dem Angebot möglicher Alternativen hervorhebt.
Diese rezeptionsästhetische Wendung ist es auch, die Brocks Avantgardetheorie zu einer selbstreflexiven werden lässt. Denn Brock war und ist als Künstler tätig, der die Gleichwertigkeit von Produktion und Rezeption als Grundlage seines Schaffens begreift. Er weist also die Teilung zwischen aktiv produzierendem Künstler und passiv rezipierendem Publikum zurück, zugunsten der Idee einer das Werk mitschaffenden Rezeption. So wird das Publikum zum Co-Produzenten. Brock entwickelt seine Avantgardetheorie aus dem Zentrum seines künstlerischen Selbstverständnisses heraus und verankert in ihr die Produktions- und die Rezeptionsebene gleichermaßen. Der Künstler muss zwar etwas Neues produzieren, aber der Rezipient muss dieses Neue als Neuerschließung von Traditionen aneignen und somit zur Bestimmung bringen. Nur wenn Produktion und Rezeption zusammenspielen, kann aus Brocks Perspektive von Avantgarde gesprochen werden. Weil Brock die Grundlage seines künstlerischen Schaffens in einer Avantgardetheorie installiert, muss sie als selbstreflexiv bezeichnet werden.
Eigenartigerweise ist Brocks rezeptionsästhetische Wende in Bezug auf die Avantgarde bisher von der einschlägigen Forschung übersehen worden. Seine künstlerischen Praktiken werden zwar – unter dem Begriff ‚Neo-Avantgarde‘ subsumiert – gelegentlich thematisiert, als Denker und Theoretiker der Avantgarde wurde er jedoch nicht wahrgenommen. Eigenartig ist dieser Umstand vor allem deshalb, weil die Wende hin zur Rezeption die ästhetische Theoriebildung längst durchdrungen hat. Künstlerische Phänomene von der ästhetischen Erfahrung her zu denken, ist längst zur Standardprozedur geworden. Nur im Bereich der Avantgardetheorie ist von dieser rezeptionsästhetischen Fundierung nichts zu finden. Insofern scheint es doch den Versuch wert, diese Wende hin zur Rezeption auch auf dem Gebiet der Avantgardeforschung zu vollziehen.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Brocks selbstreflexive Avantgardetheorie zu explizieren und in die Avantgardeforschung einzubetten. Es soll gezeigt werden, dass mit Brock ein Avantgardebegriff verteidigt werden kann, der die Avantgarde funktional beschreibt und so auf eine Historisierung verzichtet. Dadurch wird es erstens möglich, jenseits der Rede vom Scheitern oder Verschwinden der Avantgarde, diese auch auf zeitgenössische Phänomene anzuwenden. Zweitens gelingt es Brock, offenzulegen, was die Rede vom avantgardistischen Bruch mit der Kunst der Vergangenheit verdeckt hatte. Nämlich, dass es zuallererst die Avantgarde ist, die sich für die Bildung von Traditionen verantwortlich zu zeichnen hat. Und drittens liegt mit Brocks Theorie erstmals eine rezeptionsästhetisch fundierte Avantgardetheorie vor, die aus der künstlerischen Praxis des Avantgardisten Brock heraus entwickelt wurde und die Wende hin zur Rezeption konsequent ausführt.
Um dieses Ziel zu realisieren, ist die vorliegende Untersuchung folgendermaßen aufgebaut: Zunächst wird im ersten Kapitel die aktuelle Forschung zu Brock beleuchtet. Im Anschluss an die Darlegung des Forschungsstandes unternimmt es die vorliegende Arbeit, von Kleinem zum Großen vorzugehen. Das zweite Kapitel widmet sich der Explikation der brockschen Avantgardetheorie und deren Einbettung in die Avantgardeforschung. Im dritten und vierten Kapitel werden die Rahmenbedingungen seiner Theorie im Vordergrund stehen. Und im abschließenden fünften Kapitel soll seine Avantgardetheorie auf den Begriff des Klassischen angewendet werden. Auch wenn Brock selbst diesen Schritt nicht geht, zeigt die Anwendung seiner Theorie jedoch, dass es Brock nicht nur gelungen ist, einen leistungsfähigen Avantgardebegriff zu entwickeln, sondern er darüber hinaus Instrumente an die Hand gibt, andere Phänomene des kulturellen Feldes auf der Folie seiner Avantgardetheorie in den Blick zu nehmen.
Das erste Kapitel zum Forschungsstand wird zeigen, dass Brock als Philosoph und Denker sowie auch als Künstler durchaus thematisiert wird – auch wenn es kaum Beiträge gibt, die seine Avantgardetheorie fokussieren. Es ist vor allem ein Fluchtpunkt seines Schaffens, der immer wieder im Vordergrund steht. Aus der Perspektive der Philosophie wird Brocks Werk häufig als „Renaissance“1 im wörtlichen Sinne beschrieben, d. h. seine Art des Philosophierens wird als eine an die antike Philosophie mit ihren performativen Praktiken anschließende diskutiert. Und auch aus der Perspektive der Kunstwissenschaft steht der Aspekt des Performativen im Zentrum. Brock wird als Neo-Avantgardist angesprochen, der zusammen mit anderen Künstlern (vor allem Joseph Beuys und Wolf Vostell) eine der grundlegendsten Umbrüche der neueren Kunstgeschichte vorbereitet und vorangetrieben hat, nämlich die performative Wende. Insofern konvergieren philosophischer wie kunstwissenschaftlicher Blick in Brocks performativen Praktiken.
Das zweite Kapitel zu Brocks selbstreflexiver Avantgardetheorie unternimmt es, dem Leser zunächst die Entwicklung seines Avantgardekonzeptes offenzulegen. Da Brock seine Avantgardetheorie bereits seit mehr als vier Dekaden verteidigt, mag es auf den ersten Blick scheinen, dass diese Theorie gleichsam aus dem Nichts emporstieg und fortan als unveränderlicher Pfeiler seines Denkens präsentiert wurde. Dieser Eindruck erweist sich jedoch nur als eingeschränkt richtig. Zwar ist sein Avantgardeverständnis ab 1977 ausformuliert, allerdings kann eine Beschäftigung mit dem Begriff ‚Avantgarde‘ bereits viel früher nachgewiesen werden. Insofern ist es durchaus sinnvoll, von einer Theorieentwicklung zu sprechen. Neben der Findung seiner Avantgardetheorie sollen selbstverständlich auch deren Eckpfeiler und Implikationen zum thematischen Schwerpunkt gemacht werden. Es wird sich zeigen, dass Brock zwei Bedingungen ansetzt, die die Avantgarde bestimmen. Gemäß der Prämisse von der Gleichwertigkeit von Produktion und Rezeption, muss die Avantgarde als notwendige Bedingung etwas Neues hervorbringen. Dieses Neue wird dann – hierin sieht er die hinreichende Bedingung – durch den Rezipienten angeeignet, indem vom Neuen her die historischen Bestände befragt werden. Diese Befragung kulminiert in der Neuerschließung bzw. Neukonstruktion von Traditionen. Erst wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann von Avantgarde gesprochen werden. Entsprechend dieser Bedingungen unternimmt es das Kapitel – nach der Offenlegung der Theorieentwicklung – beide Facetten einzeln zu beleuchten und in die Forschung zu integrieren. Insofern wird als zweiter Schritt nach dem Neuen der Avantgarde gefragt. Was unterscheidet das avantgardistisch Neue vom bloß modischen Neuen? Es wird sich herausstellen, dass in der Avantgardeforschung verschiedene Vorschläge zur Unterscheidung beider Arten des Neuen identifiziert werden können. Wesentlich zur Bestimmung des Neuen in Brocks Theorie ist jedoch – so paradox es klingen mag – ein spezifischer Traditionsbezug. Nur wenn das Neue zur Veränderung und Neufindung der Traditionen führt, erweist es sich als genuin avantgardistisch. Um die verschiedenen Positionen zum Neuen mit ihren Implikationen für den Avantgardebegriff besser vergleichen zu können, schließt dieses Unterkapitel mit der Gegenüberstellung von drei recht unterschiedlichen Beispielen: Eine Aktion des Künstlers Christoph Schlingensief, das Werk des Popgiganten Prince und die Monografie Schulden. Die ersten 5000 Jahre von David Graeber werden auf der Folie des jeweiligen Neuheitsbegriffs untersucht und auf ihren Avantgardestatus hin befragt. In einem dritten Schritt soll die rezeptionsästhetische Bedingung, nämlich die Neuerschließung der Tradition durch den Rezipienten, im Fokus stehen. Die Avantgarde als Rezeptionsphänomen zu denken, zeichnet Brocks Theorie ja gerade vor anderen Avantgardetheorien aus. Die Thematisierung der Rezeptionsebene, so wird sich zeigen, ermöglicht es, Brocks Theorie als selbstreflexiv zu erkennen. Selbstreflexiv nicht nur, weil er programmatische Forderungen der Neo-Avantgarde als Neo-Avantgardist in einer Theorie über die Avantgarde installiert, sondern auch, weil er selbst in seinem Schaffen immer wieder vorführt und umsetzt, was er auf der Theorieebene postuliert. Er selbst ist als beispielhafter Rezipient der primus inter pares. Weiterhin kann die Fokussierung der Rezeptionsebene eine eigenwillige Verschiebung deutlich machen, die vor allem sichtbar wird, kontrastiert man den brockschen Vorschlag mit Theorien ästhetischer Erfahrung. Denn während die Hinwendung zu Theorien ästhetischer Erfahrung als Antwort auf die künstlerischen Entwicklungen vor allem der Neo-Avantgarde gelesen werden kann, scheint Brocks Theorie gerade umgekehrt motiviert zu sein. Seine Avantgardetheorie muss als Reaktion auf das Primat der Rezeption betrachtet werden. Insofern denkt er die Wende hin zur Rezeption konsequent zu Ende.
Nachdem Brocks Avantgardetheorie ausgebreitet und in die Forschung eingebettet wurde, beschäftigen sich die beiden folgenden Kapitel mit den Rahmenbedingungen der brockschen Überlegungen. Im dritten Kapitel wird nach dem Verhältnis von Avantgarde und Moderne gefragt. Muss die Avantgarde als modernekritische Bewegung oder als Speerspitze der Modernisierung verstanden werden? Keine Avantgardetheorie kann sich einer impliziten oder expliziten Stellungnahme zu dieser Frage entziehen. Und auch Brocks Avantgardeverständnis erhellt sich vor dem Hintergrund des Moderne-Theorems. Brock diskutiert das Verhältnis von Avantgarde und Moderne in zweifacher Weise. Einerseits thematisiert er die Moderne nicht als Epoche, sondern fasst ‚Moderne‘ als Strukturbegriff. Hier kann eine Äquivalenz zum Avantgardebegriff nachgewiesen werden. Insofern ist es möglich, die Avantgarde als radikalmodernes Unterfangen zu beschreiben. Andererseits lässt er sich – gleichsam experimentell – auf die Beschreibung der Moderne als eine Epoche ein. Diese Beschreibung dominiert in der Forschung und subsumiert die verschiedenen Avantgardebewegungen als zweifachen Abgesang auf künstlerische Errungenschaften der Moderne, mithin als modernekritisches Unterfangen. Die Avantgarden seien – so kann die Forschungsmeinung paraphrasiert werden – angetreten, um die Trennung von Kunst und Lebenspraxis aufzuheben und die Vorstellung des geschlossenen Werks zu sprengen. Wenn Brock nun die Moderne als Epoche in den Blick nimmt, zeigt er, dass beide Bestrebungen bereits Teil der modernen Kunstpraxis waren, ja diese sogar ausmachten. Er nutzt also die Begründungen, die in der Forschung für eine Absetzung der Avantgarde von der Moderne herangezogen werden, um für eine Kontinuität zu argumentieren. Für diesen Zusammenhang ist es jedoch wichtig, den Als-ob-Modus, den Brock einnimmt, zu beachten. Verstünde man die Moderne in einem epochalen Sinne, müsste man mit Brock in dieser Weise argumentieren. Da Brock jedoch ‚Moderne‘ als Strukturbegriff verstanden wissen will, stellen seine Überlegungen zum Epochenbegriff gleichsam einen Seitenpfad dar.
Das Verhältnis von Avantgarde und Postmoderne wird Gegenstand des vierten Kapitels sein. Auch dieses Kapitel fokussiert die Rahmenbedingungen der brockschen Theorie. Das Aufkommen des Postmoderne-Theorems stellte die Avantgardeforschung vor einen Richtungsentscheid. Während man das Verhältnis von Avantgarde und Moderne noch als eines beschreiben konnte, das aufeinander bezogen war – entweder als radikale Fortführung oder als Absetzbewegung – stellt sich nun die Frage, ob Avantgarde und Postmoderne überhaupt vereinbare Konzepte darstellen. Kann überhaupt noch von einer gemeinsamen Basis aus diskutiert werden oder haben Avantgardetheorie und postmoderne Theoriebildung völlig andere, unvereinbare Nährböden? Muss in postmodernen Zeiten von einer gescheiterten Avantgarde gesprochen werden? Um diesen Fragen näher zu kommen, nimmt dieses Kapitel zunächst Argumente des avantgardistischen Scheiterns in den Blick. Dominierend in der Forschung sind vor allem zwei Gedankengänge: Zum einen wird die Avantgarde mit der Postmoderne verabschiedet, weil die Avantgarde auf Innovation und Fortschritt gerichtet sei. Dieses lineare Zeitverständnis wird in der Postmoderne vom Primat der Gleichzeitigkeit abgelöst; künstlerische Innovation wird zum Auslaufmodell. Insofern würden die auf Innovation gerichteten Avantgarden obsolet. Zum anderen sei der den Avantgarden eigentümliche Antrieb, die Vergangenheit zu überflügeln und endgültig zu verabschieden, dem postmodernen Habitus schlicht abhanden gekommen. In Zeiten der Bewahrung, Erinnerung und Retrospektive scheint das Interesse am Bruch mit der Vergangenheit verloren gegangen. Die postmoderne Forderung nach Pluralität schließt historische Bestände ein und karikiert damit den avantgardistischen Impuls des Vergangenheitsbruchs. Insofern scheinen Postmoderne und Avantgarde nicht vereinbar. Da Brock jedoch die Avantgarde nicht ausschließlich über den Begriff des ‚Neuen‘ bestimmt, sondern eine zweite rezeptionsbasierte Bedingung veranschlagt, ändert sich bei ihm auch die Einschätzung des Verhältnisses der Avantgarde zur Postmoderne. Es wird sich zeigen, dass vor dem Hintergrund der brockschen Avantgardetheorie von einer avantgardistisch verfassten Postmoderne gesprochen werden kann. In der Postmoderne werden aus Brocks Perspektive genuin avantgardistische Anliegen – nämlich Gleichzeitigkeit und Pluralität – zur programmatischen Forderung erhoben. In diesem Sinne verabschiedet die Postmoderne die Avantgarde nicht, sondern realisiert sie. Der in der Forschung verbreiteten postmodernen Verabschiedung der Avantgarde wird noch eine zweite Denkfigur zur Seite gestellt werden. Man könnte diese Denkfigur Scheitern durch Erfolg nennen. Es geht um den Gedanken, dass die Avantgarde langsam unsichtbar wird und verschwindet. Der Innovationsdrang und -zwang der Avantgarde sei, so der Gedanke in Kürze, in alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens eingedrungen. In einer auf Neuheit verpflichteten Gesellschaft verschwindet eine auf Neuheit gerichtete Avantgarde. Es wird sich also zeigen, dass ein Avantgardebegriff, der auf Formen der Innovation beruht, spätestens mit dem Aufkommen des Postmodernediskurses an seine Grenzen stößt. Brocks Avantgardebegriff hingegen kann sich jenseits der Rede vom Scheitern oder Verschwinden behaupten – er wird gleichsam durch die Überlegungen zur Postmoderne gestärkt.
Im abschließenden fünften Kapitel unternimmt es die Arbeit, Brocks Avantgardetheorie auf ein anderes Konzept des kulturellen Feldes anzuwenden – nämlich auf das Klassische. Es soll gezeigt werden, dass Brocks Überlegungen zur Avantgarde auch auf andere Bereiche ausstrahlen. Vor dem Hintergrund der brockschen Theorie kann nämlich ein Verhältnis der Avantgarde zur Klassik beschrieben werden, das in der bisherigen Forschung schlicht unbedacht blieb. Mit Brock soll dafür argumentiert werden, dass es zuallererst die Avantgarde ist, die das Klassische schafft. Kurz: Ohne Avantgarde gibt es keine Klassik. Zwar kann in der Avantgarde- wie der Klassikforschung vereinzelt ein Bemühen ausgemacht werden, beide Konzepte in ihrem Verhältnis zueinander zu beschreiben, diese Beschreibungen kulminieren jedoch in einer von drei Denkfiguren, die es nicht vermögen, die Avantgarde als Bedingung des Klassischen herauszustellen. In einem ersten Schritt soll zunächst ein Blick in die Forschung unternommen werden, um die drei Wege vorzustellen, die zum Verhältnis von Avantgarde und Klassik gefunden werden können. Weit verbreitet sind vor allem zwei Ideen. Zum einen wird der Avantgarde ein Rebellieren gegen das Klassische attestiert. In diesem Sinne wird die Avantgarde als anti-klassisch beschrieben. Zum anderen hat sich der Gedanke gefestigt, die Avantgarde wäre mittlerweile selbst Teil des Klassischen – schließlich ist die Rede von einer klassischen Avantgarde beinahe zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Neben diesen beiden Denkfiguren kann in der Forschung noch eine dritte identifiziert werden, die jedoch bei weitem weniger Popularität besitzt als die Erstgenannten. Die dritte Denkfigur arbeitet mit der Idee einer sich am Bestand des Klassischen bedienenden Avantgarde. Die Avantgarde aktualisiert in diesem Fall das Klassische und verankert es in der Gegenwart. Nachdem diese drei Denkfiguren aus der Forschung Gegenstand waren, wird an- und abschließend Brocks vierter Weg – Avantgarde schafft Klassik fokussiert werden. Es soll gezeigt werden, dass die in der Forschung zu findenden Vorschläge zum Verhältnis von Avantgarde und Klassik an einen Avantgardebegriff gebunden sind, der die Avantgarde primär über die Hervorbringung des Neuen charakterisiert. Da Brocks Avantgardetheorie eine weitere Bedingung – nämlich die rezeptionsseitige Neuerschließung von Traditionen – veranschlagt, verschiebt sich das Verhältnis von Avantgarde und Klassik auf ungewöhnliche Weise. Denn landläufig wird das Klassische eher mit Vorzüglichkeit und Beständigkeit assoziiert, während die Avantgarden auf Radikalität und flüchtigen Neuheitsdrang aus seien. Die Hinzunahme der rezeptionsästhetischen Dimension der brockschen Avantgardetheorie kann jedoch dieser landläufigen Meinung entgegen ein Avantgardekonzept verteidigen, das die Avantgarde als Krise und Ursprung des Klassischen zugleich kennzeichnet. Entgegen einer ersten Intuition wird gezeigt werden, dass gerade das vermeintlich Beständige vom vermeintlich Flirrenden hervorgebracht wird. Brocks Avantgardetheorie eröffnet also nicht nur einen ungewöhnlichen Blick auf den Begriff der Avantgarde jenseits der Dichotomie des Verschwindens oder Versteinerns, sondern ermöglicht es auch, eine Neubeschreibung anderer kultureller Phänomene anzugehen.
Lambert Wiesing: „Nachwort“, in: Wolfgang Ullrich und Ders. (Hg.): Große Sätze machen: Über Bazon Brock, Paderborn: Fink 2016, S. 209.