Einleitung

In: Das Werk im Werk
Author:
Karin Wetzel
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„Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“1

(Michel Foucault)

Ist ein musikalisches Werk „A“, das simultan zu einem anderen Werk „B“ erklingt, noch das gleiche Werk oder schon ein anderes? In welchem Verhältnis stehen diese beiden Werke zueinander, wenn sie gleichzeitig erklingen? Auf welchen Ebenen sind sie synchronisiert? Durchdringen sie einander, verschmelzen sie miteinander, oder sind sie weiterhin voneinander abgrenzbar? Ist das Resultat die Summe der einzelnen Teile, oder entsteht eine neue Ganzheit? Handelt es sich dabei um ein Zufallsprodukt oder um das Ergebnis ausgetüftelter Planung?

Bereits im 19. Jahrhundert komponierte der italienische Komponist Pietro Raimondi Fugen, Messen, Oratorien und Opern, die sowohl einzeln als auch simultan aufgeführt werden konnten. Für das 20. Jahrhundert bilden die 1948/49 von Darius Milhaud komponierten Streichquartette Nr. 14 & 15 den Auftakt für die Entwicklung simultaner Werkkopplungen in der Kompositions- und Interpretationspraxis. Beide Quartette können einzeln gespielt, aber auch zum Oktett kombiniert werden und wurden als Simultanpartitur herausgegeben.2 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die simultane Aufführungsform sowohl von Komponisten als auch von Interpreten mehr und mehr als Möglichkeit in Betracht gezogen. Zunehmend entstehen Werke und Zyklen, bei denen einzelne in sich abgeschlossene Werke in einer simultanen Form, das heißt zeitgleich mit anderen Werken, dargeboten werden können und die damit die sukzessive Aufeinanderfolge in der Programmgestaltung aufbrechen. Der Komponist und Musikwissenschaftler Claus-Steffen Mahnkopf prägte dafür den Begriff des Poly-Werks.3

Der Philosoph Umberto Eco schrieb in seinem Aufsatz „Form als Engagement“, erschienen in dem Buch Das offene Kunstwerk:

„[…] die erste Behauptung, die die Kunst über die Welt und den Menschen aufstellt, diejenige, die sie Rechtens aufstellt, und die einzige, die einen wirklichen Sinn hat, stellt sie auf durch eine bestimmte Disposition ihrer Formen […].“4

Dieser Gedanke evoziert einen kritischen Formbegriff in Bezug auf den gesellschaftlichen Rahmen, aus dem heraus Kunst gedacht und praktiziert wird. Simultanen Werkkonstellationen könnte als Ursprung eine heterogene und plurale Welterfahrung zugrunde liegen, die in zeitlich parallelisierten Werkverläufen ihren Ausdruck findet. Bereits seit dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert spielen simultan-zeitliche Praktiken in den Künsten eine zunehmende Rolle und spiegeln einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Zeitkategorien und ihrer Darstellbarkeit wider: Der Simultanvortrag von Gedichten im Dadaismus, die Collagetechniken, Verlaufssplittungen und disparaten Schichtungen bei Strawinsky, Ives oder Varèse,5 die Überlagerungstechniken bei Bernd Alois Zimmermann, die simultane Darstellung verschiedener Teilansichten im Kubismus, Mehrfachprojektionen und Split-Screen-Techniken in der Videokunst, Mashups im Pop, simultane Raumerfahrungen in der Architektur oder die Erfahrung von Simultaneität im postdramatischen Theater sind nur einige Beispiele, die Simultaneität auch als Gegenmodell zur reinen Linearität und Sequenzialität denken.6 Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit ist dabei innerhalb einer Sinnesebene angesiedelt, als Gleichzeitigkeit von Bildern im Bild, von Texten im Text, von Räumen im Raum, von Werken im Werk.

Diese vielfältigen Spuren und Parallelen in den Künsten bestätigen auf ihre Art die künstlerische Relevanz dieses bisher kaum erforschten Themas. Das Poly-Werk ist keine Randerscheinung, die als wunderliches Mischwesen ein unbewusstes Dasein in der Ecke eines musikalischen Kuriositätenkabinetts fristet, sondern vielmehr Ausdruck einer sich wandelnden Wahrnehmungsform und Welterfahrung. Es verkörpert den Anspruch, neue Formen zu finden, die die zeitgleiche Vereinbarung verschiedener Stränge ermöglichen, ohne zwingend auf eine Synthese, eine Einheit zu zielen.

Im Vergleich mit den vielfältigen simultanen Praktiken in den verschiedenen Künsten unterscheiden sich die simultanen Werkkopplungen in der Musik jedoch in einem wesentlichen Punkt: Die einzelnen Werke bleiben auch weiterhin als einzeln aufführbare, autonome und in sich geschlossene Werkeinheiten bestehen. Ihr simultaner Zusammenschluss auf einer höheren Werkebene existiert nur als optionale Möglichkeit, die der Existenz des einzelnen Werks gleichwertig zur Seite gestellt wird. Folglich handelt es sich bei einer simultanen Werkkopplung nicht um eine einfache Entweder-oder-Situation, die ein lineares und zielorientiertes Formdenken hinter sich lässt und ausschließlich simultane Konstellationen bevorzugt. Vielmehr sind simultane Werkkopplungen – teils komplexe – Mehrebenengefüge, die sowohl in ihrer horizontalen Richtung als auch in ihrer vertikalen Beziehung durchdacht worden sind und eine wechselseitige Erfahrung beider Formrichtungen ermöglichen.

Durch diese formale Heterogenese wird ein in erster Linie monochrones, das heißt zeitlich in sich konsistentes und schlüssiges Werkmodell, zu einem poly- oder heterochronen Werkmodell erweitert. Die Grundthese der vorliegenden Arbeit ist, dass die simultane Werkkopplung dabei einerseits die Möglichkeit bietet, die offene Form neu zu denken, ohne den Werkgedanken per se negieren zu müssen, sondern im Gegenteil ihn konstruktiv zu erweitern. Im Unterschied zum offenen Werk ist diese Öffnung andererseits nicht der eigentliche Zweck. Sie ist die Voraussetzung, um Relationen und Verknüpfungen zwischen autonomen Werkeinheiten zu etablieren und in den Vordergrund zu stellen. Diese Beziehungen zwischen den Werken sollen im Folgenden untersucht werden.

Vorgehen und Zielsetzung

Im Zentrum meiner Forschungsarbeit stehen Werke und Werkzyklen, die ein simultanes Aufführungsmoment enthalten. Um das Thema von anderen simultanen Praktiken in der Musik klar zu unterscheiden, grenzen zwei Kriterien den Gegenstand dieser Arbeit eindeutig ein:

  1. Verschiedene schriftlich fixierte Einzelwerke können sich in einer simultanen Konstellation ergänzen.

  2. Der Notentext der Werke bleibt in den allein stehenden Fassungen wie auch den simultan verknüpften Fassungen identisch oder wird allenfalls geringfügig verändert.

Die Arbeit verfolgt drei Ziele auf verschiedenen Ebenen: Erstens die Diskussion der ästhetischen Voraussetzungen und Vorentwicklungen, die zur steten Entwicklung simultaner Werkkopplungen geführt haben könnten. Zweitens die Schaffung einer Typologie und eines Begriffsfeldes auf der Basis von Werkanalysen. Drittens die Reflexion der künstlerischen Praktiken und eine Neubefragung des Konzepts anhand eines künstlerisch-experimentellen Ansatzes.

Entsprechend soll das Poly-Werk im ersten Teil zu Konzepten des offenen und geschlossenen Werkgedankens in Beziehung gesetzt werden. Da es die eine „offene Form“ nicht gibt, hingegen verschiedene Formen der Offenheit, wird einerseits auf die Entstehung und den Bedeutungshorizont des einst kunstgeschichtlichen Begriffspaars „offen – geschlossen“ eingegangen. Andererseits wird auch die weitere Entwicklung des Offenheitsbegriffs durch Umberto Eco in seiner Schrift Das offene Kunstwerk einbezogen. Im Verlauf der Forschungsarbeit zeigte sich die interpretative Praxis der Simultanaufführung als eine weitere, dem Poly-Werk verwandte Forschungslücke. Diese ist zwar durch die vorliegende Arbeit nicht zu schließen und wird daher nur in Form eines Überblicks behandelt. Jedoch ergeben sich verschiedene sinnfällige Bezugspunkte zwischen den Poly-Werken und den Arbeiten von John Cage, die die Möglichkeit einer Simultanaufführung vielfach einbeziehen. Seine künstlerischen Ansätze in diese Richtung werden mit den philosophischen und ästhetischen Überlegungen von Umberto Eco verglichen und in Hinblick auf simultane Werkkopplungen interpretiert. Beide fungieren hier als komplementäre Impulsgeber für mögliche Auslegungen eines „offenen“ Kunstkonzepts.

Der zweite Teil der Arbeit nähert sich dem Poly-Werk aus den ihm begrifflich eingeschriebenen Richtungen Polyphonie und Werk an. Die Polyphonie bildet eine wichtige kompositionstechnische Wurzel. Schließlich wird ihr zentraler Gedanke, einzelne selbstständige Linien in einem kontrapunktischen Satz zu vereinen, im Poly-Werk auf ganze Werke und Werkteile übertragen und damit sowohl der Polyphonie- als auch der Werkgedanke konzeptuell weiterentwickelt. Die Wandlung des kontrapunktischen Prinzips von einer satztechnischen zu einer Formkategorie erweitert sowohl die Bedingungen, unter denen Polyphonie entsteht, als auch jene, die sie hervorbringt. Die Erweiterung der Polyphonie von einem ineinandergreifenden Geflecht einzelner Stimmen zu einer „Figuration“ verschiedener Werke weist Parallelen zu einem in der Soziologie verwurzelten Identitätskonzept auf, das die Entwicklung der Identität an die Entwicklung der Alterität koppelt und auch vor dem Hintergrund dieser Beziehung wahrgenommen wird. Diese Konstellation bedeutet eine Herausforderung im kompositorischen Prozess und macht auf der Formebene die Einführung einer neuen qualitativen Ebene nötig, die die Beziehungsstruktur der Werke als ein interformales Verhältnis in den Blick nimmt.

Da die Werke mehrheitlich unabhängig von der Kategorie „Poly-Werk“ entstanden sind, existieren auch verschiedene Begriffsmöglichkeiten und Umschreibungen, die abschließend noch einmal zusammengefasst und miteinander verglichen werden.

Die Theoriebildung der Arbeit gründet sich hauptsächlich auf Analysen ausgewählter Beispiele, die eine große stilistische Breite abbilden und denen sich der dritte Teil als Hauptteil der Arbeit widmet. Die getroffene Auswahl gibt das Spektrum bereits realisierter Möglichkeiten wieder, die sich in groben Zügen systematisieren und zu einer Gattung zusammenschließen lassen. Die formale Gliederung in Werkzyklen, die auf einem homogenen Material beruhen, und Werkgruppen, die heterogene Werke zusammenführen, bildet eine maßgebliche Achse für eine typologische Einteilung. Aufgrund der großen Vielfalt an Konzepten und Lösungen ist bis zu einem gewissen Grad eine Modellbildung möglich, über die sich an bestimmte formale Traditionsstränge wie die Variation oder die Sonatenform anknüpfen lässt.

Für mich als Komponistin wäre es unvollständig gewesen, das Thema nur von seiner abgeschlossenen „Werkseite“ her zu untersuchen. Daher liegt meiner Arbeit ein künstlerisch-wissenschaftlicher Forschungsansatz zugrunde, der eine wechselseitige Vertiefung von Theoriebildung und künstlerischer Praxis integriert. Forschen über die Kunst wird gestützt durch ein Forschen mit Mitteln der Kunst. Dieser praxisbasierte Zugang eröffnet die Möglichkeit, sich von innen in das Konzept einzuarbeiten und neben einer systematischen Darstellung auch denjenigen Fragen und Prozessen Raum zu geben, die für die künstlerische Praxis der Hervorbringung und damit für die Weiterentwicklung des Konzepts direkt relevant sind. Folglich ging es mir dabei nicht einfach um eine affirmative Fortsetzung oder Illustration bereits vollzogener Entwicklungen, sondern um eine freie künstlerisch-experimentelle Suche, die die bestehende Distanz zwischen Theorie und Praxis auf zwei Ebenen überwindet: erstens indem die Erfahrung der künstlerischen Praxis in das Gesamtbild miteinfließen kann und zweitens indem sie das Konzept des Poly-Werks in Hinblick auf seine bereits vollzogene Entwicklung neu befragt. Mein eigenes kompositorisches Interesse hat sich im Verlauf des Forschungsprojekts zunehmend von einem kompositionstechnischen zu einem konzeptuellen Interesse verschoben und wurde von folgender Frage geleitet: Inwieweit reflektiert eine Simultankonzeption eine formale Ausdifferenzierung im Spannungsfeld von Offenheit und Geschlossenheit und fordert dadurch die Frage der Identität im Verschiedenen heraus? In dem Moment, in dem ein Werk in neue formale Zusammenhänge gestellt wird, wird es bereits in der Kompositionsphase unterschiedlich interpretiert und funktionalisiert. Der vor diesem Hintergrund entstandene Zyklus X-Pieces entspringt sowohl einer systematischen wie auch einer intuitiven Suche nach neuen Möglichkeiten und Anwendungen der Werkkopplung und Werkautonomisierung.

Forschungsstand – Literatur

Im musiktheoretischen und musikwissenschaftlichen Diskurs fanden simultane Werkkonstellationen bisher kaum Resonanz und wurden daher nur vereinzelt behandelt. Eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema bietet der Artikel „On the Methodology and Aesthetics of Form-Polyphony“ von Wieland Hoban,7 der die Werke Hyperion von Maderna, Berios Chemins, Estradas Yuunohui Cycle, Richard Barretts Opening of the Mouth, Claus-Steffen Mahnkopfs Werkzyklen und Mark Osborns The Fluid Pronoun hinsichtlich ihrer kompositionstechnischen Strategien knapp vorstellt. Hoban unterscheidet resümeeartig zwischen den Kategorien des Palimpsests, welches durch die bloße Überlagerung koexistierender Schichten entsteht, und des mosaikartigen Aufbaus, der einen enormen Aufwand an Planung bedingt. Während ein Palimpsest für einen Überschreibungsvorgang steht, ist ein Mosaik eine Zusammenfügung vieler kleiner Teilchen. Die eigentliche Besonderheit der Ver(un)gleichzeitigung wird durch diese Kategorien also gar nicht treffend erfasst, weshalb ich sie als solche auch nicht übernehme. Grundsätzlich macht Hobans Artikel die Notwendigkeit einer präzisen und bündigen Klarlegung eines Prinzips deutlich, das formale Kriterien für ein Poly-Werk bestimmt und festlegt, was der Begriff Poly-Werk bezeichnen soll. In diesem Zusammenhang wirkt auch die Kategorisierung der Werkzyklen Medeia, Angelus Novus und Kurtág-Zyklus von Claus-Steffen Mahnkopf als Poly-Werke – auch von Mahnkopf selbst8 – sehr unkritisch, da nicht alle Werkzyklen dieses Versprechen auch tatsächlich einlösen.

In einem weiteren kurzen Abriss rekurriert Andreas Holzer in seinem Handbuch Zur Kategorie der Form in neuer Musik auf die Thematik9 und führt in dem Kapitel „Werkschichten“ verschiedene Beispiele von Robert HP Platz, Claus-Steffen Mahnkopf, Adriana Hölszky, Luciano Berio, Georg Friedrich Haas und Vinko Globokar an. Holzer beschränkt sich auf eine lose aneinanderreihte Vorstellung verschiedener Beispiele. In seiner Werkauswahl stellt sich mit dem Werk Masse, Macht und Individuum von Vinko Globokar die Frage, ob die Kontextualisierung der Solostücke, die bei Globokar mit einer Revidierung des musikalischen Textes einhergeht, wirklich für ein Poly-Werk spricht. Holzer thematisiert diese aus kompositorischer Sicht zentrale und spannende Frage nicht. Gerade weil Globokar – wie viele andere Komponisten auch – dieses Werk nicht als ausdrückliches „Poly-Werk“ intendiert hat, scheint eine Abgrenzung zu verwandten und ähnlichen Werkkonzepten wichtig zu sein, um nicht missverständliche Kategorisierungen vorzunehmen und Werke in falsche Schubladen einzuordnen.

Im Lexikon Neue Musik wird im Artikel „Form“ der Begriff Poly-Werk kurz erwähnt. Es ist hier als Weiterentwicklung hybrider Doppelformen dargestellt, die verschiedene Formtypen miteinander kombinieren, beispielsweise die Kombination von krebsgängigem Doppelkanon und Variationsform im Mondfleck aus dem Pierrot Lunaire von Arnold Schönberg.10 Diese Schlussfolgerung ist nur teilweise richtig. Zwar bietet sich so eine Herangehensweise für ein Poly-Werk an und wurde beispielsweise von Claus-Steffen Mahnkopf im Medusa-Zyklus auch umgesetzt. Viele Poly-Werke überbrücken ihre Differenzen aber gerade durch ein gemeinsames Formmodell und tragen ihre Differenzen auf anderen Ebenen aus. Prinzipiell ist es unpräzise und irreführend, Form- und Werkpolyphonie gleichzusetzen, da es sich um zwei verschiedene kompositorische Kategorien handelt.

Im weiteren Rahmen der Formenlehre ist das Poly-Werk nicht verankert. Die meisten Formenlehren der letzten dreißig Jahre stellen ebenso wie der MGG-Artikel zur Form die Formenbildung älterer Musik in ihr Zentrum.11

Dagegen konnte zur Geschichte der offenen Form in der Musik und der Kunst auf eine große Fülle an Literatur zurückgegriffen werden.12 Auch Andreas Holzer stellt in seinem oben genannten Handbuch ausführlich und differenziert den Forschungsstand zur Negation des Werkbegriffs und zur offenen Formbildung in der Musik dar.

Um den Begriff des Offenen auch für das Poly-Werk fruchtbar machen zu können, war es sinnvoll, seine philosophische und ästhetische Entwicklung und Dimension unabhängig von seiner Entwicklung in der Neuen Musik zu rekonstruieren. Im Zentrum der Untersuchung stand hier Umberto Ecos einschlägige Schrift Das offene Kunstwerk, die im italienischen Original 1962 erschien.13 Auch die frühe Entwicklung des Begriffspaares „offen – geschlossen“ durch den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin14 wird einbezogen. Im Kontext der offenen Form gehe ich außerdem auf den Offenheitsbegriff und die Möglichkeit der Simultanaufführung bei John Cage ein. Zu Cage existiert zwar eine Fülle an Sekundärliteratur, dennoch ist der Aspekt der Simultanaufführung bei Cage eine weitere Forschungslücke. Die vorliegenden Ergebnisse stützen sich daher vor allem auf seine eigene Aussagen und Texte sowie sein künstlerisches Schaffen.

Als Komponist und Musikwissenschaftler hat Claus-Steffen Mahnkopf von seinem eigenen Werk ausgehende theoriebildende Ideen zu simultanen Werkkopplungen entwickelt. Er erwähnt den Begriff des Poly-Werks erstmals in seinem Artikel „Kundgabe. Komplexismus und der Paradigmenwechsel in der Musik“15. Auf Mahnkopfs spezifischen Ansatz, der vor allem auf seine eigenen Werkkonzeptionen gerichtet ist, soll extra eingegangen werden, da seine ästhetischen und soziologischen Interpretationen und Überlegungen einen wichtigen Anknüpfungspunkt bilden. Auch die Dissertation von Klaas Coulembier über Multitemporalität geht auf das Konzept des Poly-Werks bei Mahnkopf differenziert ein.16

Weitere Literatur betrifft Programmtexte, Analysen, Interviews und Schriften zu einzelnen Kompositionen, die im Rahmen des Projektes individuell untersucht werden und die verschiedenste relevante „Spuren“ und Hinweise enthalten. Eine wichtige und aufschlussreiche Quelle bilden von mir geführte Interviews und Gespräche mit Komponisten und Komponistinnen werkpolyphoner Werke, die die Möglichkeit boten, werkspezifische, kompositionstechnische und ideelle Aspekte des Themas eingehender zu thematisieren.

In Hinblick auf für das Poly-Werk relevante Aspekte wie Simultaneität, Zeitlichkeit, Ambiguität, Identitätsbildung oder Vergesellschaftung ergaben sich aufschlussreiche Schnittmengen zu anderen Gebieten der Kunst, Kulturwissenschaft und vor allem der Soziologie. Diese wurden im Verlauf der Arbeit immer wieder eruiert und haben zur inhaltlichen und gedanklichen Schärfung und Präzisierung des Themas direkt und indirekt beigetragen. Insbesondere das von Philipp Hubmann und Till Julian Huss herausgegebene Buch Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten17, das verschiedenste Beiträge unterschiedlicher Autoren und Gebiete zum Thema Simultaneität versammelt, ragt hier hervor.

Danksagung

Meinen Betreuern und Gutachtern Prof. Isabel Mundry, Prof. Dr. Jörn Peter Hiekel, Prof. Jörg Mainka und Prof. Dr. Hartmut Möller danke ich für ihr Interesse und ihre Unterstützung meiner Dissertation. Ganz besonders herzlich danke ich Chaya Czernowin, Ulrich Kreppein, Bernd Franke, Valerio Sannicandro, Adriana Hölszky, Claus-Steffen Mahnkopf, Simon Steen-Andersen und Julio Estrada für ihre Bereitschaft, mir in Interviews tiefer gehende Einblicke in ihre Werke und den spannenden Prozess der Werkgenese zu ermöglichen. Lydia Dietrich und Laura Kalchofner danke ich für ihr großes Engagement in der Erarbeitung meines Zyklus X-Pieces. Dr. Sylvia Zirden danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Ich danke der Eidgenössischen Stipendienkommission (ESKAS) und dem Schweizer Nationalfonds, die Teile des Forschungsprojekts finanziell unterstützt haben. Ein großer Dank geht an meine Familie, besonders an meinen Partner Silvan, meine Mutter und meine Schwiegermutter für ihre vielfältige Unterstützung. Meinen Söhnen Jakob und Silas danke ich für ihren offenen Blick in die Welt.

1

Michel Foucault: „Andere Räume“ (1967), in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, hg. von Karlheinz Barck, 7. Aufl., Leipzig: Reclam, 2002, S. 34–46, hier: S. 34.

2

Darius Milhaud: Octuor à cordes (14e et 15e Quatuors), Paris: Heugel, 1949.

3

Claus-Steffen Mahnkopf: „Kundgabe. Komplexismus und der Paradigmenwechsel in der Musik“, in: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik 35 (1990), S. 20–28, hier: S. 22.

4

Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977 (1973), S. 268 (Originalausgabe: Opera aperta, Mailand: Bompiani, 1962).

5

Vgl. hier auch György Ligeti: „Wandlungen der musikalischen Form“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Monika Lichtenfeld (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10/1), Basel/Mainz: Schott, 2007, S. 85–104 (Erstveröffentlichung in: Die Reihe 7, Wien: Universal Edition, 1960, S. 5–17). In dem aus dem Jahre 1958 stammenden Text diskutiert Ligeti den Einfluss von Prozessen und Modellen der Verräumlichung auf zeitliche Bewegungen und Verläufe.

6

Siehe hierzu auch das Buch Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, hg. von Philipp Hubmann und Till Julian Huss (Bielefeld: Transcript, 2013). Dieser Band bietet wesentliche weiterführende Anknüpfungspunkte zum Thema der Simultaneität in Kunst und Kultur.

7

Wieland Hoban: „On the Methodology and Aesthetics of Form-Polyphony“, in: The Foundations of Contemporary Composition/Composing (= New Music and Aesthetics in the 21st Century, Bd. 3), hg. von Claus-Steffen Mahnkopf, Hofheim: Wolke, 2004, S. 85–117.

8

Claus-Steffen Mahnkopf, Die Humanität der Musik. Essays aus dem 21. Jahrhundert, Hofheim: Wolke, 2007, S. 37.

9

Andreas Holzer: Zur Kategorie der Form in neuer Musik (= Musikkontext, Bd. 5), Wien: Mille-Tre, 2011, S. 506–510.

10

Vgl. Rainer Nonnenmann: „Form“, in: Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hg.): Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel: Metzler/Bärenreiter, 2016, S. 233–238, hier: S. 236.

11

Vgl. etwa Herwig Knaus/Gottfried Scholz: Formen in der Musik, Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1988/89; Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, Kassel: Bärenreiter, 2007 (1987); Reinhard Amon/Gerold Gruber: Lexikon der Musikalischen Form, Wien/München: Doblinger/Metzler, 2011; Barbara Dobretsberger: Formenlehre. Formen der Instrumentalmusik, Salzburg: Kulturverlag Polzer, 2014.

12

Vgl. zum Beispiel Ernst Thomas (Hg.): Form in der Neuen Musik (= Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, 10), Mainz: Schott, 1966; die Dissertation von Konrad Boehmer: Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, Diss. Köln, 1966, und sein Aufsatz „Werk – Form – Prozeß“, in: Musik auf der Flucht vor sich selbst, hg. v. U. Dibelius, München: Hanser, 1969, S. 55–77; Walter Gieseler: Komposition im 20. Jahrhundert, Celle: Moeck, 1975.

13

Eco: Das offene Kunstwerk.

14

Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München: Bruckmann, 1915.

15

Mahnkopf: „Kundgabe“.

16

Klaas Coulembier: Multi-temporality – Analyzing simultaneous time layers in selected compositions by Elliott Carter and Claus-Steffen Mahnkopf, Diss. Universität Leuven, 2013.

17

Hubmann/Huss (Hg.), Simultaneität.

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