In einem 1991 veröffentlichten Gespräch über Adorno bemerkte Michael Gielen: „Ich glaube nicht, daß seine Schriften heute noch so stark interessieren würden, wenn sie abgehoben wären von der Existenz. […] Gerade wenn er über Musik schreibt, reflektiert er das sinnliche Erlebnis.“1 Was Gielen hier als zentrales Merkmal von Adornos Œuvre beschreibt, hat dieser in seinen Beiträgen zur Ästhetik als einen Grundtypus ästhetischer Erkenntnis bestimmt. So heißt es in dem Paul Valéry gewidmeten Essay „Der Artist als Statthalter“ aus dem Jahr 1953:
Große Einsichten in die Kunst geraten überhaupt entweder in absoluter Distanz, aus der Konsequenz des Begriffs […], wie bei Kant oder auch Hegel, oder in […] absolute[r] Nähe, der Haltung dessen, der hinter den Kulissen steht, der nicht Publikum ist, sondern das Kunstwerk mitvollzieht unter dem Aspekt des Machens […].2
In seinen Frankfurter Vorlesungen zur Ästhetik greift Adorno diese in ihrer apodiktischen Entgegensetzung und emphatischen Überhöhung zweifellos fragwürdige These einige Jahre später auf und entwickelt sie weiter. Die im Valéry-Essay ziemlich holzschnittartig gegeneinandergestellten Perspektiven einer von konkreten ästhetischen Objekten losgelösten philosophischen Grundlagenreflexion und einer „Befassung mit Kunst von innen her“ werden dort nicht nur als „Quellen“ und „Pole“ ästhetischer Einsicht beschrieben, sondern auch als „Verfahren“, die in einem komplexen Wechselverhältnis stehen.3 Dieses Spannungsfeld produktiv zu nutzen und die beiden unterschiedlichen Ansätze miteinander in Verbindung zu bringen, ist in den Augen Adornos ein erstrebenswertes Unterfangen: „Ich würde also denken, daß eine fruchtbare Beziehung zur theoretischen Ästhetik in der Kommunikation dieser beiden Verfahren […] eigentlich besteht.“4
Dass Adorno mit diesen allgemein gefassten Überlegungen, die in der Arbeit an der posthum veröffentlichten Ästhetischen Theorie weitergeführt und ausdifferenziert werden,5 implizit die eigene (musik-)philosophische Praxis beschreibt und reflektiert, ist offensichtlich. So ist das Wechselspiel von Distanz und Nähe ein konstitutives Merkmal seiner Arbeiten zur musikalischen Interpretation. Deutlich zutage tritt dies in den 2001 veröffentlichten Materialien Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Im sogenannten „Schwarzen Buch“, in das Adorno zwischen 1946 und 1959 fast alle seine Notate zur Reproduktionsthematik eintrug,6 alternieren Überlegungen zu grundlegenden Fragen einer Theorie der musikalischen Interpretation, die den Schwerpunkt der Aufzeichnungen bilden, mit der Beschreibung und Reflexion spezifischer Interpretationsprobleme und Interpretationserfahrungen. In vielen Einträgen ist überdies der jeweils andere Pol präsent. Grundsätzliches – wie z.B. der ‚historische Charakter‘ der Werke und der Interpretation – wird am konkreten Phänomen exemplifiziert bzw. mit diesem in Beziehung gesetzt.7 Phänomenbeschreibung zielt umgekehrt darauf, Erfahrungen am ästhetischen Gegenstand theoretisch fruchtbar zu machen und zum Ausgangspunkt von Grundlagenreflexion zu nehmen. Diese produktive Verbindung ist, wie u.a. Christoph Menke herausgearbeitet hat, nicht nur Programm der Adorno’schen Ästhetik, sondern zugleich auch ein wichtiger Garant ihrer Aktualität.8
Der Fragmentstatus des Reproduktionsprojekts bringt es mit sich, dass Adornos Überlegungen sowie das beschriebene Wechselspiel der Perspektiven und Verfahren oftmals im Skizzenhaften verbleiben.9 Diese Unabgeschlossenheit macht die Lektüre der Notate zu einem ebenso inspirierenden wie heiklen Unterfangen. Inspirierend, weil sich Adornos Denken oftmals noch im Fluss befindet, die Erfahrungen am ästhetischen Objekt häufig relativ ungefiltert protokolliert werden, die Begriffe und Kategorien eine gewisse Offenheit und Unschärfe aufweisen und die noch nicht bzw. nur teilweise erfolgte Einpassung der Überlegungen ins ‚System‘ die selektive Rezeption und das produktive Weiterdenken zu erleichtern scheinen. Problematisch, weil die fragmentarischen Aufzeichnungen nicht nur auf viele Fragen keine Antwort geben,10 sondern auch die konzeptuellen Begrenzungen der ins Spiel gebrachten Begriffe und Thesen, ihre Verhaftung in dialektischen Denkmustern und ihre theoretischen Implikationen weniger deutlich zutage treten lassen, als dies in einem abgeschlossenen Buch wohl der Fall gewesen wäre.
Die Faszinationskraft des Offenen und Unabgeschlossenen wohnt auch Adornos Überlegungen zur Notenschrift inne. Sie bilden nicht nur den „Nukleus“11 seiner Reproduktionstheorie, sondern lenken zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt den Blick auf Probleme und Fragen, die in der aktuellen Notationsdiskussion eine zentrale Rolle spielen. Dass viele Gedanken allerdings nur in Ansätzen entwickelt worden sind, zeigen Adornos Bemerkungen zu den ikonischen Qualitäten der musikalischen Notation. Durchkämmt man das Textkorpus nach Eintragungen zu dieser Thematik, wird man vor allem in den Kapiteln 2 bis 4 des bereits in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre entstandenen großen Entwurfs fündig.12 Die Lektüre dieser Kapitel sowie thematisch relevanter Notate aus den Aufzeichnungen zeigt, dass er die mediale Beschaffenheit der Notenschrift und ihr Potential zur Visualisierung musikalischer Vorgänge aus verschiedenen Richtungen in den Blick nimmt. Vier Hauptfelder bzw. Perspektiven lassen sich unterscheiden, die an dieser Stelle kurz umrissen werden sollen:
(1) Im Rahmen seiner Überlegungen zum ontologischen Status der musikalischen Notation lenkt Adorno den Blick auf die medialen Eigenschaften der Schrift und arbeitet die Eigenbedeutung des Schriftbildes heraus. Einen wichtigen gedanklichen Ausgangspunkt bildet die bereits 1929 in einem der „Anbruch-Motive“ formulierte These, dass „sich keine Musik wahrhaft ohne Kenntnis des Bildes beurteilen“13 ließe. In expliziter Bezugnahme auf diese Annahme heißt es in einer 1948 verfassten Notiz aus dem Reproduktionskonvolut: „Wahrscheinlich ist unser ganzes Bewußtsein eines musikalischen Zusammenhanges durch die Schrift vermittelt.“14 Während beide Aussagen in ihrer zugespitzten Formulierung selbst für den Bereich der notierten Kunstmusik kaum haltbar zu sein scheinen, führt die These von der ‚Doppelnatur‘ der Notenschrift, die insbesondere im zweiten und dritten Kapitel des Entwurfs entwickelt wird, ins Zentrum der neueren Notationsdiskussion. Sie besagt, dass der musikalische Text in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung nicht nur Zeichen, sondern auch bildhafte Komponenten enthalte – oder um die von Adorno benutzten Begrifflichkeiten zu verwenden –, nicht nur signifikative, sondern auch mimetische, nicht nur mensurale, sondern auch neumische Elemente. Die Zeichen- und die Bildebene erscheinen also in ein und demselben Text. Zugleich greifen beide auf mehr oder weniger komplexe, teils spannungsreiche Weise ineinander. Dass sich Adornos Überlegungen zum Verhältnis dieser „beiden Pole[] des Textes“15 noch im Fluss befanden, macht eine für unseren Zusammenhang relevante Passage aus dem Entwurf des zweiten Kapitels deutlich:
Die Geschichte der Notenschrift ist der Versuch einer Synthesis von Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit. […] Noch das genaueste Notenbild bewahrt, als Bild, etwas von der neumischen Vieldeutigkeit, und noch die genaueste Bezeichnung etwas von der signifikativen Starrheit, die dem den Tod androht, das sie zu erretten sich vornimmt. (Vielleicht umdrehen: noch bildliche Treue hat etwas von Buchstabenstarrheit, noch genaueste Bezeichnung etwas von Vieldeutigkeit).16
(2) In einer historischen Perspektive diskutiert Adorno – unter kritischer Bezugnahme auf die von ihm studierten Arbeiten Hugo Riemanns und Frederick Dorians – das dynamische „Verhältnis von Bild und Zeichen in der Schrift“17 im Wandel der Zeit.18 Als Leitfrage und Hypothese der skizzenhaften Ausführungen, die sowohl historiographisch als auch theoretisch diskussionsbedürftig sind, formuliert er im vierten Kapitel des Entwurfs:
Treten wirklich zunächst Zeichen zu Bildern zusammen, die wieder zu Zeichen werden, oder verwandeln sich nicht vielmehr ursprünglich Bilder in Zeichen und diese wiederum in Bilder? Das letztere scheint mir die Wahrheit zu sein, und in diesem Sinne muß die Veränderung der musikalischen Schrift behandelt werden.19
(3) In direktem Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Doppelnatur des musikalischen Textes skizziert Adorno eine phänomenologische Beschreibung des musikalischen Lesevorgangs. Postuliert wird dabei eine „Doppelheit der Auffassung von Schrift“, die sich sowohl auf die Ebene der einzelnen Zeichen als auch auf jene des Schriftbildes zu richten habe und darauf ziele, diese in ein fruchtbares Wechselspiel zu bringen:
Wer sich den musikalischen Gestus, den ‚Atem der Form‘ (Zitat aus Kurth oder Lorenz) vergegenwärtigen will, der muß dem Schriftbild als Totalität nachgehen und dessen Kurven und Zäsuren in Nachahmung umsetzen […]. Jeder, der vom Blatt spielt, kennt die Doppelheit der Auffassung musikalischer Schrift: er sieht sich dazu verhalten, zugleich jedes Einzelne genau, in einer Art Übersetzungsarbeit aufzufassen und durch Antizipation in den Zug des Ganzen, ins ‚Bild‘ des Satzes zu integrieren.20
(4) Unter Einbezug einer ästhetisch-wahrnehmungstheoretischen Perspektive entwickelt Adorno in Anknüpfung an eine Bemerkung Robert Schumanns die These vom Primat der Originalmanuskripte. Begründet wird die postulierte besondere Aussagekraft der autographen Aufzeichnung eines Werkes mit der spezifischen Bildlichkeit der Komponistenhandschrift, in der – wie es in einer später noch zu diskutierenden dunklen Passage am Ende des Entwurfs zum dritten Kapitel heißt – „die seismographischen Kurven, die der Körper der Musik selber in seinen gestischen Erschütterungen hinterlassen“21 habe, zur Erscheinung kommen könnten.
Im Folgenden geht es mir nicht darum, Adornos Thesen und Überlegungen zu diesen schlagwortartig umrissenen Themenfeldern im Detail zu rekonstruieren, ihre Einbettung in seine Theorie der musikalischen Schrift zu diskutieren, sie begriffsgeschichtlich zu durchleuchten oder kritisch auf ihr theoretisches Potential und ihre inhärente Problematik zu befragen. Im Rahmen des durch den sogenannten iconic turn beförderten theoretischen Interesses an der Notenschrift, ihrer medialen Beschaffenheit und ihren ikonischen Qualitäten sind dazu in den letzten Jahren bereits aufschlussreiche Arbeiten entstanden.22 Vielmehr möchte ich mich ausgehend von Adorno dem Bereich der Phänomenbeschreibung zuwenden und einige für die Notationstheorie relevante Problemfelder am ästhetischen Objekt diskutieren. Anhand von drei Fallbeispielen soll zum einen über Möglichkeiten und Grenzen der notationalen Fixierung und ikonischen Evokation musikalischer Vorgänge nachgedacht werden. Zum anderen werde ich am ästhetischen Gegenstand erörtern, wie notationale oder graphische Veränderungen den Prozess des Entzifferns und Interpretierens beeinflussen möchten und können. Lohnend erscheint dieses Vorgehen nicht zuletzt auch deswegen, weil die Perspektive der ‚nächsten Nähe‘ und das Denken vom spezifischen ästhetischen Objekt aus in Adornos skizzenhaften Bemerkungen zur Notenschrift und ihrer Medialität weitgehend fehlen. Bei den gewählten Fallbeispielen handelt es sich um (1) die Diskrepanz zwischen Notentext und auktorialer Interpretation, die sich bei Béla Bartóks pädagogischer Klaviersammlung Für Kinder beobachten lässt; (2) die Versuche György Kurtágs und Luciano Berios, für eine stark gestisch geprägte Musik eine möglichst eindeutige, präzise und anschaulich Notationsform zu finden; sowie (3) das Bemühen György Ligetis, im Zeitalter der ersten digitalen Notensatzprogramme überzeugende typographische Lösungen für die Darstellung der komplexen Polyrhythmik seiner Klavieretüden zu erarbeiten.
1 Das ‚idiomatische Element‘ als ‚Prinzip‘? – Zu Bartóks Klaviersammlung For Children
Adorno entwickelt seine Überlegungen zur musikalischen Interpretation und Notenschrift bekanntlich mit Hilfe der ‚dynamischen‘ Begriffstrias des ‚Mensuralen‘, des ‚Neumischen‘ und des ‚Idiomatischen‘.23 Die Kategorie des ‚Idiomatischen‘, für die in den frühen Aufzeichnungen sowie im großen Entwurf zunächst der Begriff des ‚Tonsprachlichen‘ bzw. ‚Musiksprachlichen‘ verwendet wird,24 bestimmt er als ein „prinzipiell der Notation enthobenes“ Element, das für eine „sinngemäße Darstellung“ des Textes dennoch von essentieller Bedeutung sei.25 Ins Spiel gebracht wird damit zum einen der „musiksprachliche Kontext“, in dem ein Werk steht, „der Inbegriff aller Konventionen, innerhalb derer ein Text erscheint“;26 zum anderen der Erfahrungshorizont und die Subjektivität der Interpret*innen, die sich den Notentext auf der Basis ihrer musikalischen Sozialisation sowie ihrer Kenntnisse der Musiksprache und des spezifischen Idiolekts eines/einer Komponist*in erschließen, ohne dabei die eigene Stimme zu verleugnen.27 Ähnlich wie das ‚Neumische‘ ist das ‚Idiomatische‘ also nicht nur eine in den Notizen und Entwürfen begrifflich fluktuierende, sondern zugleich auch eine inhaltlich mehrschichtige Kategorie. Zusammengedacht werden hier einerseits verschiedene Zeitebenen – die Zeit der Werkentstehung und jene der Interpretation –; andererseits Subjektives und Gesellschaftliches – das individuelle idiomatische ‚Profil‘ des/der Komponist*in bzw. Interpret*in sowie die Musiksprache(n) bzw. Musizierpraxen, in denen sie sich jeweils bewegen.
Im vierten Kapitel des großen Entwurfes diskutiert Adorno den ephemeren Status dieser jenseits des Notentexts angesiedelten Kategorie und die sich daraus ergebenden Konsequenzen:
Verändert sich Musikübung und Gesellschaft, so geht dies Moment [gemeint ist das ‚Tonsprachliche‘, Anm. T.B.] unwiederbringlich verloren, weil es der Kodifizierung sich entzieht: es ließe sich sagen, daß in einem strengsten Sinn das Medium der Tradition an Musik nicht tradierbar sei. Damit aber wird der Text, verlassen von dem Sinn, der von außen ihm zuwächst, problematisch, und das neumische Element, die Frage von dem Sinn von Musik als dem Inbegriff ihres Gestus stellt sich im Zusammenhang des reinen, seiner transzendenten Vermittlung weitgehend entäußerten Textes. […] Die Entfaltung des Werkes ist die Rekonstruktion des musiksprachlichen Elements aus der Immanenz des Textes, und diese Rekonstruktion ist gleichbedeutend mit der Realisierung des im neumischen Bilde begrabenen mimischen Impulses.28
Bartóks Für Kinder (Gyermekeknek, For Children) ist ein aufschlussreiches Studienobjekt für das von Adorno beschriebene Problem der Tradierung des Idiomatischen. Die zwischen 1908 und 1911 entstandene Sammlung enthält über 80 einfache Bearbeitungen ungarischer und slowakischer Volks- und Kinderlieder, die der Komponist im Rahmen seiner musikethnologischen Tätigkeit zum Teil selbst gesammelt hat.29 Konzipiert wurde dieses erste große ‚pädagogische‘ Werk aus Bartóks Feder mit dem Ziel, „Klavier spielende Kinder mit der schlichten, unromantischen Schönheit der Volksmusik vertraut zu machen“.30 Wie unterschiedliche Quellen belegen, war es Bartók ein großes Anliegen, dass sich die (jungen) Spielerinnen und Spieler bei der Erarbeitung und dem Vortrag der Miniaturen von dem jeweils zugrunde liegenden Lied leiten ließen. So sorgte er dafür, dass beim Erstdruck der vier Hefte die Volksliedtexte (von wenigen Ausnahmen abgesehen) jeweils im Anhang abgedruckt wurden – bei den slowakischen Liedern, die den Heften 3 und 4 zugrunde liegen, auch in ungarischer und deutscher Übersetzung. In einem Brief an eine junge Spielerin bemerkte er dazu erklärend: „[…] versuchen Sie, sich den Text zu den Melodien zu vergegenwärtigen, denn beides gehört ganz organisch zusammen.“31
Auch wenn es Bartók nicht explizit formuliert, ist offensichtlich, worauf es ihm mit diesen und anderen Hinweisen ankam: Die singende und spielende Beschäftigung mit den Volksmelodien soll(t)en zu einer Interpretation führen, die sich nicht an die notierten Zeitwerte klammert, sondern die freie Vortragsart der Volksmusik mit ihren Parlando-rubato Rhythmen zum Vorbild nimmt.32 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick in die Einleitung der 1951 posthum veröffentlichten Sammlung Serbo-Croatian Folk Songs – einer der Schlüsseltexte Bartóks zur Notationsthematik. Dort bemerkt er zur Frage, welcher Grad von Exaktheit bei der Transkription der Rhythmen von Volksmelodien angemessen und möglich sei: „[I]t must be borne in mind that an absolutely rigid rhythm never prevails even in so-called ‚rigid‘ dance rhythms. Whether it be the latter or the so-called parlando-rubato, free rhythm, with which we often have to deal in Eastern European folk music, limits must be set to the exactitude of rhythm transcriptions.“33 Und in einer ergänzenden Fußnote zur zitierten Passage heißt es: „The same can be said of art music performances.“
Im Herbst 1943 hat sich Bartók die Klaviersammlung Für Kinder nochmals vorgenommen und – nicht zuletzt aus urheberrechtlichen Gründen – eine revidierte Neuausgabe für den amerikanischen Markt erarbeitet.34 Dass sich in den dazwischen liegenden drei Jahrzehnten „Musikübung und Gesellschaft“35 radikal verändert hatten, war dem seit 1940 im amerikanischen Exil lebenden Komponisten zweifellos bewusst. So musste er davon ausgehen, dass aktuelle und zukünftige Spieler*innen in den meisten Fällen weder mit den zugrunde liegenden Volksmelodien und ihrer Sprache vertraut sein würden, noch mit der freien Vortragsart der Volksmusik und dem Interpretationsparadigma der Jahrhundertwende, die sowohl sein eigenes Spiel als auch seine Musik maßgeblich geprägt haben.36 Blickt man in die Neuausgabe, wird jedoch rasch deutlich, dass Bartóks Revisionen auf diese veränderte Rezeptionssituation seiner Musik kaum eingehen. Zwar hat der Komponist einen Teil der Stücke mit programmatischen Titeln versehen, die in assoziativer Weise auf Herkunft, Inhalt oder Charakter der zugrunde liegenden Volksmelodien verweisen (z.B. „Alte ungarische Weise“, „Spielende Kinder“, „Reigen“, „Trinklied“). Dafür fehlen im Neudruck aber sämtliche Volksliedtexte, obwohl Bartók deren Relevanz für die Interpretation der Stücke – wie wir gesehen haben – lange Zeit betont hatte. Auch der revidierte Notentext als solcher gibt keine zusätzlichen Hinweise auf die offensichtlich nach wie vor intendierte sprechende, von rhythmischer Elastizität geprägte Vortragsweise. Ins Auge springt vielmehr eine Präzisierung der Tempovorschriften: Zum einen werden die italienischen Tempo- bzw. Charakterbezeichnungen der Erstausgabe konsequent durch Metronomzahlen ergänzt. Zum anderen findet sich am Ende jedes Stücks eine präzise Angabe zur Aufführungsdauer in Minuten bzw. Sekunden – ein Verfahren, das Bartók sich in den frühen 1930er Jahren zur Gewohnheit machte.37 Beide Maßnahmen sind – zumindest auf den ersten Blick – irritierend. So scheint es wahrscheinlicher, dass sie die mit Bartóks Interpretationsästhetik nicht vertrauten Spielerinnen und Spieler dazu verleiten, sich – wie Adorno formulieren würde – dem Mensuralen zu ergeben, als dass sie diese ermutigen, sich vom Notentext zu lösen. Dass sich der Komponist dieser Gefahr durchaus bewusst war, zeigt eine erklärende Bemerkung an anderer Stelle. So schreibt er im Klavierauszug des 2. Violinkonzerts zum Status der auktorialen Zeitangaben: „Damit ist nicht gesagt, dass die Spieldauer bei jeder Aufführung die gleiche sein muss: die Dauern und die Metronomangaben sind nur als Richtlinien für die Ausführenden gedacht.“38
Was die „skelettartige“39 Notation der Volksliedtranskriptionen verschweigt, enthüllen Bartóks Aufnahmen. Im Januar 1945 hat er 15 Stücke aus der Sammlung für einen amerikanischen Rundfunksender eingespielt, darunter Nr. 21.40

Béla Bartók, For Children, Nr. 21, rev. Fassung 1943, Urtext Edition, Henle – Editio Musica Budapest, 20y17 (HN 1225). (Mit freundlicher Genehmigung)

Béla Bartók, For Children, Nr. 21, rev. Fassung 1943, Urtext Edition, Henle – Editio Musica Budapest, 20y17 (HN 1225). (Mit freundlicher Genehmigung)
Béla Bartók, For Children, Nr. 21, rev. Fassung 1943, Urtext Edition, Henle – Editio Musica Budapest, 20y17 (HN 1225). (Mit freundlicher Genehmigung)
Selbst wenn man diese letzte Tonaufnahme des Komponisten bereits kennt, ist die Freiheit, mit der er seine eigene Musik interpretiert, jedes Mal aufs Neue verblüffend.41 Ohrenfällig sind nicht nur die enormen Temposchwankungen und das differenzierte Rubatospiel42, sondern auch die Veränderungen des Notentexts, die der Autor im Fall von Nr. 21 vornimmt. Ein im Zeitalter des espressivo musikalisch sozialisierter Erwachsener spielt Kinderstücke in einer ‚Konzertsituation‘ und passt diese sowohl seinen Fähigkeiten als auch dem Anlass an. Anhand einer Transkription der Aufnahme, die László Vikárius für die Gesamtausgabe angefertigt hat, lässt sich Bartóks freier Umgang mit dem Notentext veranschaulichen.

Béla Bartók, For Children, Nr. 21, Auszug der Transkription von Bartóks Radioaufnahme des Stücks, erstellt von László Vikárius (Kritischen Gesamtausgabe, Bd. 37, S. 215−216. Mit freundlicher Genehmigung)

Béla Bartók, For Children, Nr. 21, Auszug der Transkription von Bartóks Radioaufnahme des Stücks, erstellt von László Vikárius (Kritischen Gesamtausgabe, Bd. 37, S. 215−216. Mit freundlicher Genehmigung)
Béla Bartók, For Children, Nr. 21, Auszug der Transkription von Bartóks Radioaufnahme des Stücks, erstellt von László Vikárius (Kritischen Gesamtausgabe, Bd. 37, S. 215−216. Mit freundlicher Genehmigung)
Während die angegebene Gesamtspieldauer nur geringfügig überschritten wird (47 statt der notierten 42 Sekunden), ist Bartóks Spiel ein eindrucksvoller Beweis für die begrenzte Aussagekraft der im Druck vermerkten Metronomzahlen. Zum einen wählt der Komponist ein etwas rascheres Grundtempo (nach Vikárius Viertel = ca. 148 statt 138). Zum anderen – und das ist der entscheidendere Punkt – kommt es zu massiven Tempoveränderungen (Temporücknahmen mit vorausgehenden kurzen ritardandi sowie längere Beschleunigungsprozesse) in einem erstaunlich breiten Spektrum (von Viertel = ca. 84 bis ca. 165). Bartók trägt die dem tempo giusto-Typ zuzuordnende Volksweise nicht nur mit einer gewissen rhythmischen Elastizität vor, sondern mit allen Freiheiten des parlando-rubato Stils.43 Nicht weniger einschneidend sind die Modifikationen des Tonsatzes, die er beim Spiel der Wiederholung vornimmt. Der Ambitus des Klangspektrums wird erweitert (die ersten acht Takte erklingen eine Oktave tiefer), der Rhythmus stellenweise modifiziert (T. 30f. der Transkription), der Bass zeitweilig durch arpeggierte Oktaven verstärkt (T. 33ff.) und die Klangfülle nach und nach durch zusätzliche Akkordtöne gesteigert. Ziel all dieser Eingriffe ist eine zunehmende Verdichtung, die die veränderte Wiederholung nicht als bloße Variante, sondern als dynamische Steigerung der ersten ‚Strophe‘ erscheinen lässt.
Die Diskrepanz zwischen Bartóks Notation und seinem Spiel wecken erhebliche Zweifel an Adornos These, dass sich das ‚musiksprachliche Element‘ (d.h. das ‚Idiomatische‘) allein aus der „Immanenz des Textes“44 rekonstruieren lasse. Dass Adorno an dieser Position allerdings nicht festhielt, sondern sie im Lauf der Zeit modifizierte, zeigt die „Vorrede“ zu Der getreue Korrepetitor. In der „Lehrschrift zur musikalischen Praxis“, die als ‚empirischer Teil‘ der Reproduktionstheorie verstanden werden kann, formuliert er – zweifelsohne auch als kritische Reaktion auf Webern-Interpretationen der 1950er Jahre (z.B. von Robert Craft oder Pierre Boulez):45
Gerade bei der bis vor kurzem als Zerstörerin der Tradition gescholtenen Musik des Schönbergkreises bedarf es der Tradition; um Webern richtig aufzuführen […] muß man nicht nur deutend in die Texte sich versenken, sondern auch, lax gesprochen, wissen, wie diese Musik geht.46
Die zitierte Passage und die angestellten Beobachtungen zu Bartóks Klaviersammlung laden dazu ein, die Perspektive zu weiten und das Problem der Tradierung des Idiomatischen auf einer grundsätzlicheren Ebene zu reflektieren: Was lässt sich auf der Basis der Phänomenbeschreibung über das komplexe Verhältnis von Notentext, auktorialer Interpretation und Werk(-Begriff) im Zeitalter der Klangreproduktion sagen? Welchen Status und welche Aussagekraft besitzt die Partitur? Und welche Bedeutung spricht man Tonaufnahmen (des Komponisten) zu? Hierzu einige Bemerkungen:
(1) Bartók selbst hat sich mit dem umrissenen Problemfeld aus unterschiedlichen Perspektiven auseinandergesetzt: als um die Erschließung und Überlieferung von oralen Kulturen bemühter Musikethnologe, als Pianist und Editor instruktiver ‚Klassiker‘-Ausgaben,47 als Pädagoge und nicht zuletzt natürlich auch als Komponist. Ein aufschlussreiches Dokument dieser intensiven Auseinandersetzung ist ein Vortrag, den Bartók im Januar 1937 an der Budapester Musikakademie gehalten und kurz darauf unter dem Titel „A gépzene“ veröffentlicht hat.48 In dem viel zitierten Text hat der Komponist seine Gedanken zu den Möglichkeiten und Grenzen von Notenschrift und Tonaufnahme gebündelt und explizit formuliert. Relevant sind für unseren Zusammenhang zwei Überlegungen. Auf der einen Seite postuliert Bartók, dass sich mithilfe des Grammophons die ‚Insuffizienz‘ der Notenschrift und das Problem der Überlieferung des Idiomatischen zumindest partiell überwinden ließen. Während die schriftliche Aufzeichnung von Musik prinzipiell lückenhaft sei und bestimmte Dimensionen nicht oder nur unzureichend erfassen könne, ließe sich mit den Mitteln der Klangreproduktion auch das Nicht-Notierbare tradieren: „those infinite, minute nuances which cannot be expressed notationally, yet can be immortalized in their totality on gramophone records.“49 Diese Eigenschaft mache das Grammophon nicht nur für die Bewahrung und das Studium der Volksmusik, sondern auch für den Komponisten von Kunstmusik zu einem Werkzeug von unschätzbarem Wert – als Medium zur Übermittlung einer auktorialen (bzw. auktorial verbürgten) Werkinterpretation, die auch jene Aspekte mit einschließt, über die die Partitur als solche keinen Aufschluss gibt. Dass Bartók selbst von dieser Möglichkeit explizit Gebrauch machte, zeigt die im Jahr des Vortrags bei der Universal Edition publizierte Neuauflage seiner Suite für Klavier op. 14. Auf der ersten Notenseite ergänzte der Verlag auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten den Hinweis: „Authentische Grammophon-Aufnahme (Vortrag des Komponisten): His Master’s Voice AN 468 […]“.50
Auf der anderen Seite macht Bartók in seinem Essay unmissverständlich klar – und hierin liegt die Anschlussfähigkeit seiner Überlegungen für die aktuelle Diskussion –, dass jeglicher Aufnahme grundsätzlich nur eine begrenzte Aussagekraft zukommt. Als Aufzeichnung einer spezifischen Aufführung bzw. Interpretation kann sie weder die der Musik innewohnende ‚Variabilität‘ zur Darstellung bringen, noch die kleinen oder größeren Veränderungen bezeugen, mit denen eine Interpretin oder ein Interpret die gleiche Musik zu unterschiedlichen Zeitpunkten auffasst und vorträgt. Eine vom Komponisten bzw. der Komponistin eingespielte oder für gut befundene Aufnahme besitzt nach dieser Lesart also keine allgemeingültige Verbindlichkeit, sondern kann lediglich eine Orientierungsfunktion beanspruchen:51 Die Idee einer auf Tonträger gebannten und vom Autor als ‚definitiv‘ erklärten Interpretation ist eine Chimäre. Geschmälert wird durch diese Einsicht jedoch in keiner Weise die bereits beschriebene Bedeutung des Mediums als Übermittler des Idiomatischen, d.h. einer spezifischen Musizierpraxis und Spielhaltung.
(2) In der bereits erwähnten Einleitung zur Sammlung Serbo-Croatian Folk Songs greift Bartók die Idee der Variabilität auf und gibt ihr durch einen Vergleich zwischen Kunst- und Volksmusik eine interessante Wendung:
Some believe that the essential difference between art music and folk music is the continuous variability of folk music as against the rigid stability of art music. I agree with this statement, but with a qualification: the difference is not one of contrast, but one of degree – that is, the performance of folk music shows an almost absolute variability, while art music varies in a far lesser, sometimes in only an infinitesimal degree.52
Dass es sinnvoll ist, im Bereich der Kunstmusik unterschiedliche Grade und Formen der ‚Werkhaftigkeit‘ zu unterscheiden, ist eine alte, aber nicht immer berücksichtigte Einsicht der Theorie und Geschichte musikalischer Interpretation.53 Die Konsequenzen, die sich daraus für die Fixierung und Überlieferung von komponierter Musik ergeben, diskutiert Adorno in einer Notiz aus dem Reproduktionskonvolut:
Noch in neuerer Zeit stehen Werke, die einer festen Tradition angehören, in denen das idiomatische Element überwiegt, ganz anderes zur Notation als eigentlich autonome. Beim Barbier von Sevilla wirkt der Notentext kaum als solcher, sondern fast wie eine unverbindliche Erinnerungsstütze. Wer nicht weiß, wie das musiziert wird, kann es kaum aus den Noten entnehmen […].54
Wie wir gesehen haben, zählen die Volksliedbearbeitungen aus For Children zweifellos zu jenen Werken, in denen das Idiomatische ‚überwiegt‘. Die Bedeutung des Nicht-Notierten und das damit einhergehende Maß an Freiheit, das den Interpretinnen und Interpreten eingeräumt, ja von ihnen eingefordert wird, ist hier offensichtlich größer als in Bartóks Streichquartetten oder seinen Klavierkonzerten. Um dies zu erkennen, müssen die Spielerinnen und Spieler jedoch den Blick über den Notentext hinaus wenden. Denn der Komponist scheint bei der Notation der Stücke – wie in der Diskussion der amerikanischen Neuauflage der Klaviersammlung deutlich wurde – die Devise befolgt zu haben: Was man nicht präzise oder in adäquater Weise schriftlich fixieren kann, sollte man auf der Ebene des Notentextes verschweigen.55
(3) In der neueren Bartók-Forschung hat sich insbesondere László Somfai intensiv mit Bartóks Interpretationen eigener Klavierwerke und den Diskrepanzen zwischen Notentext und Tonaufnahme beschäftigt. Auf der Grundlage vergleichender Untersuchungen und gestützt auf Äußerungen des Komponisten plädiert er seit Langem dafür, dessen Aufnahmen als wichtigen Bestandteil der Werküberlieferung anzusehen und sowohl für die Wissenschaft als auch für die Musikpraxis aufzuarbeiten.56 Zum einen, weil sie, wie er in seinen Studien zu Bartóks ikonischem Klavierstück Allegro barbaro und seiner darauf basierenden ‚Urtextedition‘ exemplarisch zeigt, in manchen Fällen ‚werkrelevante‘ Modifikationen und Präzisierungen des Notentexts enthalten.57 Zum anderen – und das ist der entscheidendere Punkt in unserem Zusammenhang –, weil sie Aufschluss darüber geben, wie der Komponist selbst auf seinen Notentext blickte.58 Die kürzlich begonnene Kritische Gesamtausgabe, als deren spiritus rector Somfai angesehen werden kann, folgt dieser Argumentation und behandelt die Aufnahmen des Komponisten als „Primärquellen“.59 Einige der methodischen Probleme und Darstellungsschwierigkeiten, die mit einem solchen Ansatz verbunden sind, lassen sich anhand der als Beispiel angeführten Transkription des Stücks Nr. 21 aus For Children von Vikárius verdeutlichen. Im Zusammenspiel mit Bartóks Tonaufnahme ist die Transkription ein probates Hilfsmittel, denn sie ermöglicht, rasch zu verstehen, wo und wie der Komponist vom Notentext des Stücks abweicht. Indem sie eine spezifische Interpretation ‚textualisiert‘, läuft sie allerdings zugleich Gefahr, den freien Umgang mit dem Notierten zu konterkarieren. Zudem illustriert sie eindrücklich, dass das, was Bartóks Spiel auszeichnet – also die Elastizität des Rhythmus, die Flexibilität der Zeitgestaltung und die sprechende Deklamation – im Medium der Schrift nicht sinnvoll dingfest gemacht werden kann. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis Adornos, dass das Mensurale prinzipiell als ungenau zu denken sei: Die Schrift „trägt nicht das Ganze, ist unvergleichlich viel zu undifferenziert, und dies ist ein Grundsätzliches, das auch bleibt, womöglich sich verstärkt, je feiner man notieren lernt (Beispiel der späte Webern!). Diese Ungenauigkeit ist aber genau das Maß der Differenz von Notation und Sinn.“60
Wenden wir uns vor dem Hintergrund des Gesagten erneut der Frage zu, was wir in der Auseinandersetzung mit For Children über den Status und die Tradierung des Idiomatischen sowie über das Verhältnis von Notentext, auktorialer Interpretation und Werk(-Begriff) im Zeitalter der Klangreproduktion lernen können, scheinen mir folgende Punkte von besonderer Bedeutung zu sein: Der Fall von Bartóks Klaviersammlung macht deutlich, dass es durchaus sinnvoll und legitim sein kann, Notentext und auktoriale Tonaufnahme als komplementäre Dokumente der Werküberlieferung anzusehen. So lässt sich die Einspielung in diesem Zusammenhang als eine Art idiomatischer Schlüssel zur Dechiffrierung des lückenhaften Notentexts verstehen und benutzen. Als Gegenpart zur Partitur kann sie die Spielerinnen und Spieler vor einer „Flucht ins Mensurale“61 bewahren, ihren Blick bzw. ihr Ohr auf das richten, was zwar nicht notiert, aber dennoch für die Musik wesentlich ist und sie – last but not least – zu einem freien Umgang mit der Partitur ermutigen.62 Überzeugend erfüllen wird sie diese Funktion allerdings nur dann, wenn man sich ihrer begrenzten Aussagekraft bewusst ist und sie nicht normativ überfrachtet. So kodifiziert die Tonaufnahme weder eine auktorial verbürgte ‚wahre Interpretation‘ des Werkes, die es zu imitieren gelte, noch fordert sie dazu auf, das vergangene Idiomatische, von dem sie Zeugnis ablegt, in der Interpretation so genau wie möglich zu rekonstruieren.63 Dass ein solches Ansinnen weder ästhetisch erstrebenswert wäre noch mit der ‚Historizität‘ der Werke vereinbar ist, macht Adorno, trotz seines Festhaltens am Konzept der ‚wahren Interpretation‘ unmissverständlich klar.64 Fraglich ist allerdings, ob seine emphatische Herausstellung der Subjektivität des Interpreten, die „jedem Werk gegenüber das idiomatische Element“65 repräsentiere, heute noch zu überzeugen vermag. So betonen neuere nicht-normative Erklärungsmodelle, wie beispielsweise das Konzept der ‚Interperformativität‘, den dialogischen Charakter jeglicher Aufführung bzw. Interpretation und arbeiten heraus, wie stark der subjektive Zugriff von anderen Interpretationen und kontextuellen Faktoren geprägt wird.66 Schließlich – und das ist ein weiterer zentraler Punkt – warnt uns das Beispiel For Children davor, Werk und Notation vorschnell in eins zu setzen und einen einheitlichen, starken Textbegriff zu favorisieren, der den von Bartók beschriebenen Variabilitätsgraden der Musik nicht gerecht wird.
2 ‚Signifikative Starrheit‘ versus ‚neumische Vieldeutigkeit‘ – Erst- und Zweitschriften bei Kurtág und Berio
Die an Bartók aufgezeigte Problematik stellt sich in ähnlicher Weise auch in der Musik seines Landsmanns und ‚geistigen‘ Schülers György Kurtág. So berichtet Péter Eötvös über die Vorbereitung der Uraufführung von … quasi una fantasia …, die unter seiner Leitung im September 1988 in Berlin stattfand:
Kurtág took part in those rehearsals, and the excellent musicians of the Ensemble Modern, thoroughly experienced in every field of West European contemporary music, had to face the realization that with Kurtág interpretation of the written notes and performing instructions doesn’t work in the customary way, and that in order to give an authentic performance of his works it is necessary to be familiar with every gesture of his music and also, to a certain degree, its cultural roots.67
Voraussetzung für eine adäquate Dechiffrierung der Kurtág’schen Partituren ist nach dieser Lesart also die Vertrautheit mit dem spezifischen Idiolekt und der gestischen Dimension seiner Musik. Das „Idomatische überwiegt“, wie Adorno in der bereits zitierten Passage aus dem Reproduktionsmaterial prägnant formuliert: „Wer nicht weiß, wie das musiziert wird, kann es kaum aus den Noten entnehmen“.68
Trotz dieser offensichtlichen Parallele gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Komponisten. Während Bartók – sicherlich auch historisch bedingt – die Problematik in seiner Notationspraxis gewissermaßen ignorierte, setzte sich Kurtág mit ihr in den letzten sechs Jahrzehnten offensiv auseinander. Die zentrale Frage lautete hierbei, wie es gelingen könne, eine stark gestisch geprägte Musik im Medium der Notenschrift möglichst angemessen zu fixieren und darzustellen.69 Denn qua seiner performativen Natur ist das Gestische, das Adorno in seinen späteren Aufzeichnungen unter dem Begriff des „Neumischen“ diskutiert, ein „Element der Unmittelbarkeit“: „Der immanente Gestus der Musik ist immer Gegenwart, gerade nicht ewig, d.h. auch die alten Zeichen der Musik gelten dem Jetzt, das damit in sie hineinfällt.“70 Auch in diesem Fall scheint es ratsam, die beschriebene grundsätzliche Problematik am Phänomen zu konkretisieren und an einem Beispiel zu diskutieren, in welchem Ausmaß eine „Synthesis von Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit“71 von exakter Bezeichnung und neumischer Anschaulichkeit überhaupt gelingen kann.
Den Grundstein des Kurtág’schen Œuvres und zugleich das erste vollgültige Zeugnis für das Primat des Gestischen in seiner Musik bildet das Streichquartett op. 1 aus dem Jahr 1959. Programmatisch formuliert wird der gestische Duktus des Werks bereits in der viel diskutierten Anfangspassage des Kopfsatzes.72 Im engen Raum von nur sieben Takten notiert Kurtág mit den Mitteln der Standardnotation eine Folge kontrastierender Gesten, die sich nicht nur in ihrer intervallischen Struktur unterscheiden, sondern jeweils auch eine spezifische Dynamik, Klangfarbe und Artikulation aufweisen.
Musikalische Gesten sind synthetische Phänomene, deren Umrisse zwar in der diskreten Notenschrift indiziert werden können, die sich aber erst im Moment der Aufführung konstituieren. Der Eindruck gestischer Lebendigkeit beruht dabei in wesentlichem Maße auf (minimalen oder auch größeren) Abweichungen und Varianzen im Bereich des zeitlichen Verlaufs, der Dynamik sowie der Phrasierung und Artikulation. Im Kopfsatz von op. 1 sind diese Abweichungen und Varianzen das Produkt eines skrupulösen Kompositionsprozesses, in dem nicht nur der Entwicklungsverlauf einer musikalischen Geste möglichst genau bestimmt wird, sondern auch die rhythmische Unschärfe das Resultat präziser notationaler Festlegung ist. Verdeutlichen lässt sich dies anhand des dreitönigen Miniaturkanons, der den letzten Formabschnitt des komprimierten Satzes eröffnet.

György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 1-5 (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)

György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 1-5 (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)
György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 1-5 (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)
Ein wesentliches Merkmal ist seine kontrapunktische und rhythmische Unschärfe. Während Bratsche und Violine 2 intervallisch einen exakten Spiegelkanon bilden, stehen Cello und Violine 1 in einem intervallisch nicht exakten Umkehrungsverhältnis. Zugleich variiert nicht nur der Einsatzabstand zwischen den Stimmen (es kommt zu einer zunehmenden Verkürzung), sondern auch ihre rhythmische Gestalt. Zielpunkt dieser Überführung symmetrischer Dispositionen in asymmetrische musikalische Verläufe ist die gestische Belebung des Tonsatzes. Die strenge kontrapunktische Form wird von Kurtág partiell aufgelöst, um auf diese Weise eine melodische Individualisierung der verschiedenen Figuren zu erreichen. Die minutiös ausnotierten Abweichungen auf der Zeitebene verleihen ihnen ein individuelles rhythmisches Profil. Doch wie angemessen und zweckdienlich ist diese Form der präzisen Ausgestaltung jedes Details im Notentext für das, um was es Kurtág eigentlich zu gehen scheint? Oder, um erneut an eine bereits zitierte Formulierung Adornos anzuknüpfen: Verstärkt das hohe Maß an Festlegung im Bereich des Mensuralen nicht gerade die „Differenz von Notation und Sinn“?73 Denn wie Adorno an anderer Stelle – zum Teil in Abgrenzung zu einem „positivistischen“ Musizierideal74 – formuliert: „Die Starrheit des Zeichens verfehlt den Gestus der Musik“ und birgt zugleich die Gefahr eines „Textfetischismus“ und eine damit einhergehende „Liquidation des Neumischen“ in sich:75
Keine wie immer vollkommene Notation könnte die Zone der Unbestimmtheit tilgen, und indem die Wiedergabe diese stehen ließe, anstatt an ihr die interpretative Arbeit zu leisten, würde die paradoxe Sprache der Musik zu jenem Kauderwelsch, das von so vielen treulos-treuen Aufführungen radikal moderner Werke her vertraut ist.76

György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 13-16 (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)

György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 13-16 (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)
György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 13-16 (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)

György Kurtág, „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Ausschnitt (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)

György Kurtág, „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Ausschnitt (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)
György Kurtág, „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Ausschnitt (© Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung)
Als ‚Antwort‘ auf diese Problematik hat Kurtág um 1960 begonnen, mit einer relativen Dauernotation zu experimentieren. Ihr Ziel ist es, der performativen Natur der musikalischen Geste Rechnung zu tragen, deren konkrete Ausgestaltung interpreten- und aufführungsabhängig ist. Die unscharfe rhythmische Notation schafft auf der Ebene der zeitlichen Gestaltung eine Zone des Unbestimmten, die den Interpretinnen und Interpreten den notwendigen Freiraum eröffnet, sie zugleich aber auch in die Verantwortung nimmt. Umgekehrt bedeutet dieser Schritt für den Komponisten einen Verlust an Kontrolle und einen Verzicht auf Differenzierung im Bereich des Zeitgeschehens. Veranschaulichen lässt sich dieses Spannungsfeld an einem Stück aus den Játékok. Die Klaviersammlung, die in den frühen 1970er Jahren als pädagogisches Projekt begann und seitdem als ‚work in progress‘ fortgeführt wird, kann als Labor der Kurtág’schen Notationspraxis verstanden werden. So versucht der Komponist insbesondere in den ersten Bänden mithilfe eines erweiterten Zeichenbestands und unterschiedlicher Strategien der Visualisierung mimetische und gestische Elemente der Musik im Medium der Schrift aufscheinen zu lassen.77 Im fünften Band hat er unter dem Titel „Hommage tardif à Karskaya“ eine 1990 entstandene Klavierbearbeitung des ersten Satzes des Streichquartetts op. 1 veröffentlicht.
„Hommage tardif à Karskaya“ ist in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse, da der Komponist den Streichquartettsatz nicht nur für ein anderes Klangmedium bearbeitet, sondern zugleich auch das Schriftbild transformiert. So überträgt er das rhythmisch bis ins kleinste Detail ausdifferenzierte Original in die relative Dauernotation. Die Differenz zwischen beiden Notationsformen zeigt sich besonders deutlich in dem bereits besprochenen Miniaturkanon, der den dritten Formabschnitt des Kopfsatzes eröffnet.
In der Streichquartettfassung ist die rhythmische Unschärfe das Resultat präziser kompositorischer und notationaler Festlegung. In der Klavierfassung hingegen wird die genaue zeitliche Ausgestaltung der einzelnen Kanonstimmen den Interpretinnen und Interpreten überlassen. Doch diese Freiheit auf der Ebene der Zeitgestaltung ist nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. So heißt es im vielzitierten Vorwort der Játékok – einer der wenigen veröffentlichten Äußerungen Kurtágs zum Status der Notation in seiner Musik:
Spiel ist Spiel. Es verlangt viel Freiheit und Initiative vom Spieler. Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden – das Geschriebene muß todernst genommen werden: was den musikalischen Vorgang, die Qualität der Tongebung und der Stille anlangt. Wir sollten dem Notenbild glauben, es auf uns einwirken lassen. Das graphische Bild kann über die zeitliche Anordnung des noch so ungebundenen Stückes Aufschluß geben.78
Und doch scheint der Komponist der in diesen paradoxen Formulierungen beschworenen Aussagekraft des Schriftbilds nicht vollständig zu trauen. So hat er im Manuskript der Karskaya-Hommage unter der Klavierübertragung in relativer Dauernotation in einem zusätzlichen Notensystem feinsäuberlich die präzise Dauer der einzelnen Werte der Originalfassung notiert (vgl. Abb. 9.5).
Im privaten Gespräch bekannte Kurtág, dass sowohl die eine als auch die andere Notationsform nicht in der Lage seien, das adäquat auszudrücken, um was es ihm eigentlich gehe.79 Der ausdifferenzierte Zeichenbestand des Streichquartetts birgt die Gefahr in sich, dass die Interpret*innen sich stärker auf die präzise Wiedergabe des Notentexts als auf die Umsetzung der daraus zu interpolierenden Gesten kümmern. Die relative Dauernotation der Klavierfassung hingegen verleitet den Spieler bzw. die Spielerin möglicherweise zu einer rhythmisch zu undifferenzierten Umsetzung, die zu einem Verlust an gestischer Lebendigkeit und Prägnanz führen kann.80 Aufschlussreich ist jedoch der Vergleich beider Fassungen. Und so versucht Kurtág in diesem konkreten Fall das Problem der „Insuffizienz der Notenschrift“81 pragmatisch zu lösen, indem er Streichquartetten, die an Opus 1 arbeiten, empfiehlt, die Klavierfassung zu konsultieren und Pianisten und Pianistinnen, die die Karskaya-Hommage einstudieren, nahelegt, sich mit der Notation des Streichquartettsatzes zu beschäftigen.82

György Kurtág, Reinschrift zu „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Sammlung György Kurtág der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)

György Kurtág, Reinschrift zu „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Sammlung György Kurtág der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
György Kurtág, Reinschrift zu „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Sammlung György Kurtág der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
Ein vergleichbarer Fall im Bereich der ‚Neuschriften‘, der bereits häufiger diskutiert worden ist, findet sich im Œuvre Luciano Berios.83 Aufschlussreich ist dieses Beispiel für unseren Zusammenhang, weil ein Komponist hier gewissermaßen den umgekehrten Weg eingeschlagen hat. So verwendete Berio bei der 1958 publizierten Originalfassung der Sequenza I für Flöte eine „proportionale“ graphische Dauernotation,84 die den Spieler*innen auf der Ebene der musikalischen Zeitgestaltung eine gewisse Flexibilität einräumt und zugleich auf die Aussagekraft des Schriftbildes setzt (vgl. hier und im Folgenden Abb. 9.6).

Luciano Berio, Sequenza I, Gegenüberstellung der Erst- und Zweitschrift

Luciano Berio, Sequenza I, Gegenüberstellung der Erst- und Zweitschrift
Luciano Berio, Sequenza I, Gegenüberstellung der Erst- und Zweitschrift
Doch die gewählte Aufzeichnungsform vermochte offensichtlich nicht jene Wirkung zu entfalten, die der Autor intendiert hatte.85 Zunehmend verstimmt durch die Art und Weise, wie viele Interpret*innen mit dem Notenbild und den gewährten Spielräumen umgingen – in einem Text aus dem Jahr 1981 spricht Berio von vorgenommenen Veränderungen des Stücks, die „gelinde gesagt missbräuchlich sind“ – nahm er sich vor, eine Neufassung der Sequenza I zu schreiben, in der die Tondauern und Rhythmen mithilfe der traditionellen Standardnotation eindeutig definiert werden: „Sie wird dann weniger ‚offen‘ sein und autoritärer, vielleicht, sicherlich aber zuverlässiger.“86 Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten liegt es auf der Hand, dass mit diesem ‚mensuralen‘ Klarstellungsversuch nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste verbunden waren.87 So führt die 1992 erstellte Neuschrift laut Angela Ida de Benedictis zu Interpretationen, die im Vergleich zu Lektüren der Originalfassung „meist wie ‚eingegipst‘“ wirken.88 Und Benedict Weisser resümiert: „Berio may have finally achieved the original precision he sought from the very beginning, but I believe certain things were ‚lost in translation.‘“89
Folgt man Adornos Überlegungen zu den ikonischen und gestischen Qualitäten der Notenschrift, so lassen sich die diskutierten Beispiele von Kurtág und Berio als praktische Studien zur ‚Doppelnatur‘ des musikalischen Texts deuten. Der Vergleich zwischen ursprünglicher Notation und Neuschrift macht dabei einerseits klar, dass das „Verhältnis von Bild und Zeichen in der Schrift“90 nicht nur grundsätzlich als dynamisch zu denken ist, sondern vom Komponisten auch zum Gegenstand des ästhetischen Spiels gemacht werden kann. Andererseits bestätigt sich am Phänomen Adornos These, dass „der Versuch einer Synthesis von Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit“, die dieser als entscheidende Triebkraft der Geschichte der Notenschrift postuliert, prinzipiell nicht gelingen kann.91 Eine mögliche Antwort auf dieses Dilemma scheint es zu sein, die Vorstellung des einen verbindlichen Texts hinter sich zu lassen und stattdessen auf die Koexistenz und das Zusammenspiel mehrerer Aufzeichnungsformen zu setzen – seien es unterschiedliche Notationsformen des gleichen Werkes oder die Kombination von Notation(en) und „Modellaufnahme(n)“.92
3 ‚Typographische Regelwidrigkeiten und Kompromisse‘ – Zum Notenbild von Ligetis Klavieretüden
Auch György Ligeti hat sich in unterschiedlichen Zusammenhängen mit den Eigenschaften, Möglichkeiten und Grenzen musikalischer Notationssysteme befasst. Das bedeutendste theoretische Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist der anlässlich des Darmstädter Notationskongresses 1964 entstandene Beitrag „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“.93 Im Verlauf des Essays, der rasch zu einem Schlüsseltext der neueren Notationsdiskussion avancierte,94 arbeitet Ligeti die prinzipiellen Unterschiede zwischen ‚Musikalischer Graphik‘ und Notationssystemen mit Zeichencharakter heraus. Zugleich definiert er Kriterien, die in seinen Augen ausschlaggebend für die Güte einer Notationsform sind, nämlich „Angemessenheit, Deutlichkeit und Ökonomie […] in Bezug auf die resultierende Musik“.95 Hinzu kommt der Aspekt der „Praktikabilität“.96 Bemerkenswert ist dieses Kriterium, weil damit explizit die Interpretinnen und Interpreten ins Spiel gebracht werden: ihre ‚notationale‘ Sozialisation und die daraus resultierenden Lesegewohnheiten sowie ihre Bereitschaft, sich auf neue Notationsformen einzulassen und diese auch zu erlernen.97 Im Wissen um die praktische Relevanz dieser kontingenten Faktoren, plädiert Ligeti am Ende des Essays für einen behutsamen Umgang mit neu entwickelten Zeichensystemen und bekundet seine Vorliebe für „neue Notationssysteme, die aus dem traditionellen – mit Veränderungen und neuen Zeichen, wo es nötig ist – organisch herauswachsen“.98
Dass Ligeti in seinem Essay auf die ikonischen Aspekte von Notationssystemen mit Zeichencharakter nur am Rande eingeht, ist wohl der dichotomischen Anlage des Textes geschuldet, der darauf abzielt, musikalische Graphik und zeichenbasierte Notationen möglichst klar voneinander abzugrenzen.99 Wendet man sich allerdings Ligetis Kompositionen zu, so wird rasch deutlich, dass für seine Notationspraxis nicht nur die genannten Kriterien der Angemessenheit, Ökonomie und Praktikabilität relevant sind, sondern auch die Aussagekraft und Prägnanz des Schriftbildes sowie die Frage, wie anschaulich oder unanschaulich das verwendete Notationssystem ist. Naheliegende Studienobjekte für diese Thematik, die in der Forschung bereits diskutiert wurden, sind die Kompositionen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre (z.B. Apparitions, Atmosphères oder Volumina) sowie die graphischen Skizzen, die Ligeti zu diesen und anderen Werken angefertigt hat.100 Die Kompositionen der 1980er und 1990er Jahre hingegen scheinen aufgrund ihres traditionellen Schriftbilds und ihrer kompositorischen Faktur für Notationsfragen wenig ergiebig zu sein. Dass dieser Eindruck trügt, zeigen drei heftig annotierte Probedrucke zur gesetzten Druckausgabe des ersten Bandes der Études pour piano (vgl. hier und im Folgenden Abb. 9.7).

György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49–57, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)

György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49–57, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49–57, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
Aufschlussreich sind diese Dokumente in zweifacher Hinsicht: Zum einen zeigen sie, in welchem Maße Ligeti seine Aufmerksamkeit auch auf die visuelle Darstellungsform und die ‚neumischen‘ und analytischen Qualitäten des Schriftbilds richtete. Zum anderen werfen sie ein interessantes Licht auf einige der skizzenhaften Überlegungen Adornos zum Verhältnis von Zeichen und Bild im Notentext.
Seine ersten sechs Klavieretüden veröffentlichte Ligeti unmittelbar nach ihrer Vollendung in einer Faksimileausgabe bei Schott, versehen mit dem Copyright 1986 und dem Vermerk „vorläufige Fassung“.101 Zehn Jahre später begann der Verlag mithilfe von SCORE eine definitive Druckausgabe zu erstellen.102 Die ab 1967 von dem amerikanischen Musiker und Informatiker Leland Smith entwickelte Software war das erste digitale Notensatzprogramm, das von großen Musikverlagen eingesetzt wurde, da es als äußerst flexibel galt und zugleich ein hohes Maß an Kontrollierbarkeit und Exaktheit versprach.103 Doch das mit SCORE erstellte Druckbild der Etüden brachte den Komponisten, wie die unzähligen Korrekturen und Bemerkungen im ersten Probedruck sowie drei begleitende Briefe zeigen, offensichtlich zur Verzweiflung. So schreibt Ligeti in seinem zweiten Brief an die zuständigen Mitarbeiter des Verlags vom 22. November 1995:
Ich habe schon 10 Tage Arbeitszeit verloren mit diesen haarsträubenden Korrekturen, und möchte dem Verlag keine überflüssige Mehrarbeit machen. […] Noch so genau und fein abgestuft sie den Rechner instruieren, bleiben RIGIDITÄTEN. […]
Ein LEBENDER GUTER STECHER kann […] ad hoc entscheiden, wo er, wann er Schreibregel[n] UMSTOSSEN muß, um das ADÄQUATE Resultat zu erzielen. Es ist leicht, Score einzugeben, an welche Regeln es sich halten muß, doch kann Score sich nicht frei entscheiden, wenn regelwidrige Konstellationen vorgezogen werden müssen. […]
Für die Komplexitäten meiner Etüden braucht man TYPOGRAPHISCHE REGELWIDRIGEKEITEN und KOMPROMISSE. Fahnen werden Hälse durchqueren müssen, etc.104
Im dritten Brief, der auf denselben Tag datiert ist, heißt es daran anknüpfend:
[…] der Stecher muß auf die Grundregel des Gestaltens verzichten und jeweils DEN DUKTUS UND DIE KONSTELLATIONEN des Manuskripts folgen. Mit der Verbesserung der Fehler im Ms. Ziel ist nicht die GESETZMÄSSIGE Herstellung, sondern eine Druckform, die fließend zu lesen ist.105
Die außergewöhnliche Intensität und Akribie, mit denen sich der Komponist über den Zeitraum von mehr als einem Jahr den Korrekturarbeiten widmete und das bedingungslose Streben nach einer „PERFEKTEN Publikation“106, erklären sich nicht nur aus der Bedeutung, die er seinen Klavieretüden beimaß,107 sondern auch aus dem Ehrgeiz, für eine neuartige Form pianistischer Komplexität möglichst sachgerechte notationale Lösungen zu finden. Ob es möglich sei, das gewünschte „‚STATE OF THE ART‘ Druckbild“108 auf der Basis des computergestützten Notensatzes zu erzielen, war für den Komponisten dabei lange Zeit eine offene Frage.109 Sichtet man die Korrekturen und Anmerkungen im ersten sowie den folgenden zwei Probedrucken, wird rasch deutlich, dass sich Ligeti offensichtlich an jener Problematik abarbeitete, die Adorno in seiner These zur Insuffizienz des Mensuralen pointiert auf den Begriff gebracht hat: „(a) die Starrheit des Zeichens verfehlt den Gestus der Musik / (b) das ‚Notenbild‘ verfehlt die Konstruktion“.110 Hierzu einige Beispiele.
Die Etüde, die in notationaler Hinsicht die größten Anforderungen an Mensch und Maschine stellt(e) und in den drei Probedrucken die meisten Autorkorrekturen aufweist, ist „Automne à Varsovie“. Das Schlussstück des ersten Bandes ist die bis dahin komplexeste polyrhythmische Klavieretüde Ligetis. Bis zu vier verschiedene Geschwindigkeitsschichten werden im Verlauf des Stücks zeitweise übereinandergeschichtet. Konstruktiver und affektiver Grundbaustein der ‚hyperemotionalen‘ Musik ist eine Lamento-Figur, die insbesondere das Spätwerk des Komponisten in unterschiedlichen Erscheinungsformen wie ein roter Faden durchzieht.111 Während des Kompositionsprozesses dieser und anderer polyrhythmischer Studien hat Ligeti die verwickelte Konstruktion häufig mit unterschiedlichen Farben oder anderen graphischen Mitteln für sich selbst markiert und veranschaulicht

György Ligeti, Entwurf zu Étude 12, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)

György Ligeti, Entwurf zu Étude 12, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
György Ligeti, Entwurf zu Étude 12, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
Bei der Erstellung der finalen Reinschrift und später dann beim Druck wollte und musste er auf diese Hilfsmittel verzichten. Stattdessen galt es, eine überzeugende Darstellungsform im herkömmlichen Klaviersystem zu finden, die die Struktur des Stücks mit gängigen typographischen Mitteln möglichst klar erkennbar werden lässt und zugleich auf die Lesegewohnheiten des Spielers Rücksicht nimmt. Was dies konkret bedeutet, lässt sich anhand der Schlusspassage des ersten Formteils der Etüde veranschaulichen (vgl. hier und im Folgenden erneut Abb. 9.7, erster Probedruck, T. 49ff.).
In einem eindrucksvollen Steigerungs- und Verdichtungsprozess wird die Lamento-Figur ab Takt 45 nach Art einer Fuge in vier unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchgeführt. Die drei ‚oberen‘ Stimmen bewegen sich dabei konstant in 5, 7 und 3 Sechzehnteln (in Abb. 9.9 rot, gelb und grün markiert). Die Länge der vierten Stimme hingegen ist dynamisch (in Abb. 9.9 blau markiert). Gebildet wird diese durch den jeweils mit einem tenuto hervorgehobenen Anfangston der ‚Hintergrundfigur‘, die als eine Art Klangvorhang fast das gesamte Stück durchzieht und ihm seinen regelmäßigen Puls verleiht. Zwischen Takt 45 und 55 wird diese Figur immer ausufernder, gewinnt an Präsenz und Raum und wächst in einem steilen zeitlichen ‚Crescendo‘ von 3 auf 11 Sechzehntel an. Kompliziert wird die kontrapunktische Situation zusätzlich durch die Tatsache, dass sich die vier Stimmen mehrfach im Register überkreuzen. Dass Ligeti bei der Anfertigung des Manuskripts darum rang, wie diese Passagen extremer polyrhythmischer Dichte im Klaviersystem adäquat notiert werden können, belegen einige Eintragungen in den Probedrucken.112 Bemüht um größtmögliche Eindeutigkeit, etablierte er als Grundprinzip eine strikte Trennung der Hände, die von ihm durchgängig in verschiedenen Systemen notiert werden.113

György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f.

György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f.
György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f.
Im ersten Probedruck gehört die Schlusspassage des ersten Formteils begreiflicherweise zu jenen Abschnitten, die vom Komponisten besonders gründlich annotiert worden sind. Zielpunkt der verschiedenen Korrekturen ist es offensichtlich, im Notenbild ein Maximum an visueller Klarheit zu erzielen. Zum einen geht es Ligeti darum, den Spieler*innen einen möglichst störungsfreien Lesefluss zu garantieren. Beispielsweise beanstandet er zu Beginn von Takt 49 die Ausrichtung des Tonhaltebogens im Bass (h auf der ersten Zählzeit) mit dem Argument, dass der/die Pianist*in „deutlicher auf die Bindung“ reagiere, „wenn der kurze Bogen über der Linie ankommt“ (vgl. hier und im Folgenden Abb. 9.10a, b & c).

György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f., Schriftbildvergleich: (a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428); (b) 1. Probedruck der „final edition“; (c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989)

György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f., Schriftbildvergleich: (a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428); (b) 1. Probedruck der „final edition“; (c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989)
György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f., Schriftbildvergleich: (a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428); (b) 1. Probedruck der „final edition“; (c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989)
Zum anderen fordert er vehement eine möglichst präzise optische Darstellung der Zeitordnung ein, damit der/die Interpret*in die komplexe polyrhythmische Struktur rasch erfassen und adäquat darstellen kann. Ein Beispiel hierfür findet sich im selben Takt. So moniert Ligeti die fehlende vertikale Korrelation der Töne a und es’, die zwei verschiedenen polyrhythmischen Schichten angehören und auf dem vierten Sechzehntel gleichzeitig gespielt werden müssen (vgl. erneut Abb. 9.7). In einer Randnotiz heißt es dazu:
[L]eider ist das unklar, der Pianist muss a/es’ als simultan lesen[.] Die typographische Lösung ist inadäquat. Der Notenkopf es’ muß vor dem Hals zum a gesetzt werden. Es muß in Kauf genommen werden, daß die Fahne es’ den Hals a ‚verletzt‘.114
Verlangt wird hier also nach einer jener typographischen ‚Regelwidrigkeiten‘, die Ligeti in dem bereits zitierten Briefausschnitt grundsätzlich einfordert und für die der digitale Notensatz bis heute der „Geschicklichkeit und Raffinesse des menschlichen Verstandes“115 bedarf. Als historische Belege für ihre Notwendigkeit und Orientierungspunkte „für gute Lösungen von KNIFFLIGEN polyphonen Stellen“116 führt er eine Reihe von handgesetzten Ausgaben an – an dieser Stelle einige Seiten aus der Peters-Ausgabe der Bachschen Orgelchoralvorspiele.117
Aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist schließlich eine Bemerkung am oberen linken Rand der abgebildeten Probedruckseite. Dort formuliert der Komponist seinen grundsätzlichen Anspruch an das Notenbild der Druckausgabe nochmals in aller Deutlichkeit: „Ich weiß, daß die rhythmische Komplexität typographisch enorm schwer darzustellen ist. Doch es muß lösbar sein. Die Druckausgabe muß leserlicher sein als die Facsimile-Ausgabe.“118
Im Rahmen seiner fragmentarischen Überlegungen zum Schriftbild hat Adorno die Frage nach dem Verhältnis von autographer Reinschrift und Notendruck auf einer grundsätzlichen Ebene diskutiert. Wie eingangs erwähnt, geht er dabei von einer prinzipiellen Überlegenheit der Originalhandschrift aus, die er folgendermaßen begründet:
Der Rechtsgrund dessen [gemeint ist die Autorität/das Primat des Originalmanuskripts für die Interpretation, Anm. T.B.] liegt aber weder in der Fehlerfreiheit noch in der Nähe des Manuskripts zur Intention des Autors, dem sentimentalen Persönlichkeitswert, sondern darin daß das Originalmanuskript die Bildmomente der musikalischen Schrift, die Nachahmung der Musik selber, unvergleichlich viel genauer festhält als der Druck, in dem auch die eigentlich mimetischen Charaktere der Schrift, nicht nur die Zeichen, einem Prozeß der Objektivierung und Verdinglichung unterliegen, der selbst die bildmäßige Auffassung des musikalischen Gestus in weitem Maße zur Sache des Lesens eher als des Wahrnehmens macht.119
Adornos Begründung ist zugleich problematisch und erhellend. Problematisch, weil damit nicht nur – im Geiste des 19. Jahrhunderts – eine ‚Sakralisierung‘ der Originalhandschrift vorgenommen wird, sondern weil die These als solche einer Realitätsprüfung nicht standzuhalten vermag. Zu viele Fälle gibt es beispielsweise, bei denen das autographe Schriftbild mehr über den Zeitdruck des Schreibenden verrät als über den Gestus der Musik. Verzichtet man jedoch darauf, der Originalhandschrift eine grundsätzliche Überlegenheit zuzuschreiben und macht sich zugleich bewusst, wo die konzeptionellen Grenzen von Adornos Überlegungen liegen, zeigt sich ihr Potential. Denn tatsächlich können autographe Notationen bewusst und unbewusst erzeugte Bildmomente enthalten, die für das Verständnis und Spiel der notierten Musik durchaus von Bedeutung sind.120 Dass sich Ligeti der Relevanz dieser neumischen Dimension des Schriftbilds bewusst war und danach strebte, den Gestus der Musik nicht nur in der Handschrift, sondern auch im Druck visuell zu evozieren, zeigen seine Korrekturen des ersten Probedrucks der zweiten Etüde „Cordes à vide“ (vgl. hier und im Folgenden Abb. 9.11).
Wie bereits der Titel verrät, ist das Stück eine Studie über die Quinte, die im assoziativen Rekurs auf die Tradition das melodische, harmonische und expressive Potential des Intervalls auslotet.121 Ausgangspunkt der Etüde sind zwei verschiedene Quintfiguren: (1) eine primär absteigende, siebentönige Quintkette in der linken Hand sowie (2) eine kreisende Pendelfigur in der rechten. Letztere verändert nicht nur kontinuierlich ihre Gestalt und Länge (4 bis max. 9 Achtel), sondern weist zudem auch ein anderes melodisches und expressives Profil auf, da die Quinten hier nicht wie in der linken Hand sukzessive aneinandergereiht, sondern chromatisch verschränkt werden. In ihrem Zusammenspiel ergeben beide Elemente einen langsam schwingenden, den musikalischen Raum wellenförmig aufspannenden Polyrhythmus.
Vergleicht man vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen das Schriftbild der Faksimileausgabe mit dem ersten Probedruck der computergesetzten Edition, leuchtet unmittelbar ein, dass der Komponist sich damit nicht zufriedengeben wollte (vgl. Abb. 9.11 & 9.12).

György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–12, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)

György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–12, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)
György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–12, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. (Mit freundlicher Genehmigung)

György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–4, Schriftbildvergleich : (a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428), (b) Erster Probedruck der „final edition“, (c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989)

György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–4, Schriftbildvergleich : (a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428), (b) Erster Probedruck der „final edition“, (c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989)
György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–4, Schriftbildvergleich : (a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428), (b) Erster Probedruck der „final edition“, (c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989)
In seinen über die gesamte Seite verteilten Annotationen monierte er in erster Linie, dass das mit SCORE erzeugte Notenbild den Bewegungsduktus und Charakter der verschiedenen Quint-Figuren nicht adäquat wiedergebe, ja sogar konterkariere.
Bin mit der graphischen Lösung nicht einverstanden. Bitte die ganze Etüde betr. Balken so zu gestalten, wie im Manuskript. Durch die horizontalen Balken geht die optische Information der Bewegung (Anmut, Schwung, Eleganz) verloren. Zwar korrekt so, doch interpretatorisch nicht suggestiv. Das betrifft nicht nur die l.H., sondern die leicht schrägen Balken in der r.H. Das Stück ‚atmet‘ durch die Schräge, in der jetzigen Form wirkt sie statisch.122
Und auf einer der letzten Seiten des ersten Probedrucks notiert er zusammenfassend:
Das Problem der Bögen ist nicht einfach ästhetisch. Der Pianist wird – z.T. unbewußt – beeinflußt vom Duktus der Notenschrift. Die klobigen Klammern stören das fließende Lesen und verführen zum schwerfälligen Stil. […] Wenn keine andere Möglichkeit (innerhalb von Score), dann müssen die Klammern (in dem Fall alle, wegen der Einheitlichkeit) mit der Hand gezeichnet werden. (Mit den kurvigen Linealen.)123
Balken und Bögen, die Adorno in einer Aufzeichnung nach dem Darmstädter Interpretationsseminar 1954 als Elemente bzw. Relikte des „Neumischen“ im „Mensuralen“ deutet,124 sollen hier also so gestaltet werden, dass sie das musikalische Sinngefüge und den Ausdrucksgehalt der Musik auf visueller Ebene transportieren. Denn – wie Adorno am Ende seiner Notiz pointiert formuliert: „Die Interpolation des Sinnes im Text hat stets zum Hilfsmittel dessen neumische Elemente.“125
Wie der Schriftbildvergleich der Anfangspassage von „Cordes à vide“ zeigt, sind Ligetis Korrekturwünsche zur Balkenführung und Bogensetzung in der finalen Edition minutiös umgesetzt worden. Doch vermögen die typographischen Möglichkeiten des digitalen Notensatzes die „Bildmomente der musikalischen Schrift“ tatsächlich ähnlich genau festzuhalten, wie die faksimilierte autographe Reinschrift? In den Augen Ligetis war es dank der „Sysiphus-Korrekturen“126, der vereinten Kraftanstrengung und der zahlreichen Revisionen des rechnergestützten Notensatzes gelungen, mit der Druckausgabe des ersten Bandes der Etüden ein „typographisches Referenzwerk“127 vorzulegen, das seinen hohen Ansprüchen genügte. Zugleich zeigen seine Annotationen der Probedrucke, dass er zwar häufig darauf bestand, der Disposition der Faksimileausgabe beim Notensatz möglichst genau zu folgen, an einigen Stellen jedoch freimütig einräumte, dass abweichende typographische Lösungen der Druckausgabe ökonomischer, eindeutiger oder der komplexen polyrhythmischen Konstruktion angemessener seien als die autographe Reinschrift.128 Von einem prinzipiellen Primat der Originalhandschrift, wie es Adorno postulierte, kann also nicht die Rede sein. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass das Schriftbild der Faksimileausgabe zumindest stellenweise über eine gestische Suggestivkraft verfügt, an die das Notenbild des Druckes trotz aller Bemühungen nicht heranzureichen scheint. Zumindest für mein Empfinden vermag die Handschrift des Komponisten die „seismographischen Kurven“129 des Anfangs von „Cordes à vide“, die ‚Anmut‘ der Bewegung und den ‚Atem‘ der Musik eindringlicher zu evozieren als die ‚finale Edition‘. Und so liegt es auch in diesem Fall nahe, unterschiedliche Aufzeichnungsformen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern auf den Mehrwert zu setzen, der sich aus ihrem intermedialen Zusammenspiel ergibt.
Literatur
Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, 20 Bde., Frankfurt am Main 1997. - Ästhetische Theorie, GS VII. - „Der Artist als Statthalter“, GS XI/ 114–126. - Der getreue Korrepetitor, GS XV/ 157–402. - „Musikalische Aphorismen [14]“, GS XVIII/ 19. - „September 1922 [Bartók-Aufführungen in Frankfurt]“, GS XIX/ 16–21.
Adorno, Theodor W.: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, hg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 2001 (Nachgelassene Schriften I/2).
Adorno, Theodor W.: Ästhetik (1958/59), hg. von Eberhard Ortland, Frankfurt am Main 2009 (Nachgelassene Schriften IV/3).
Bartók, Béla: Das ungarische Volkslied. Versuch einer Systematisierung der ungarischen Bauernlieder, Berlin – Leipzig 1925, Faksimile-Neudruck: Mainz 1965.
Bartók, Béla: „Die maschinelle Musik“, in: ders., Musiksprachen. Aufsätze und Vorträge, hg. von Bence Szabolcsi, Leipzig 1972, S. 172–189.
Bartók, Béla: „Mechanical Music“, in: Bartók, Béla, Essays, hg. von Benjamin Suchoff, London 1976.
Bartók, Béla / Lord, Albert Bates: Serbo-Croatian Folk Songs. Texts and Transcriptions of Seventy-Five Folk Songs from the Milman Parry Collection and a Morphology of Serbo-Croatian Folk Melodies, mit einem Vorwort von George Herzog, New York 1951.
Bauer, Amy Maria: Ligeti’s Laments. Nostalgia, Exoticism, and the Absolute, Farnham 2012.
Bernard, Jonathan W.: „Rules and Regulation: Lessons from Ligeti’s Compositional Sketches“, in: Louise Duchesneau und Wolfgang Marx (Hg.), György Ligeti. Of Foreign Lands and Strange Sounds, Woodbridge 2011, S. 149–167.
Bleek, Tobias: Musikalische Intertextualität als Schaffensprinzip. Eine Studie zu György Kurtágs Streichquartett Officium breve op. 28, Saarbrücken 2010.
Bleek, Tobias: „‚Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden – das Geschriebene muß todernst genommen werden‘. Zur Notation und Interpretation musikalischer Gesten im Schaffen György Kurtágs“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 14/1 (2017), S. 67–92, online: https://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/890.aspx (28.3.2022).
Dahlhaus, Carl: „Über die Bedeutung des nicht Notierten in der Musik“, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Bd. 1, Laaber 2000, S. 343–347.
Danuser, Hermann: „Einleitung“, in: Danuser, Hermann (Hg.), Musikalische Interpretation, Laaber 1992 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 11), S. 1–72.
Danuser, Hermann: „‚Zur Haut ‚zurückkehren“. Zu Theodor W. Adornos Theorie der musikalischen Reproduktion“, in: Musik & Ästhetik 25 (2003), S. 5–22.
De Benedictis, Angela Ida: „Auktoriale versus freie Aufführungstradition. Zur Interpretationsgeschichte bei Nono und Berio (… und Stockhausen ist auch dabei)“, in: Hermann Danuser und Matthias Kassel (Hg.), Wessen Klänge? Über Autorschaft in neuer Musik, Mainz u.a. 2017, S. 47–67.
Dorian, Frederik: The History of Music in Performance. The Art of Musical Interpretation from the Renaissance to Our Day, New York 1942.
Eggers, Katrin / Grüny, Christian (Hg.): Musik und Geste. Theorien, Ansätze, Perspektiven, Paderborn 2018.
Endres, Martin: „Von der Produktionsseite. Zur Revision der ‚Ästhetischen Theorie‘“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XIII/1 (Frühjahr 2019), S. 97–106.
Eötvös, Péter / Tünde, Szitha: „A Conversation with Péter Eötvös about György Kurtág”, in: On the Page. Universal Music Publishing Classical Yearbook, Paris 2012, S. 5–7.
Foldes, Andor: „Béla Bartók – Mensch und Lehrer“, in: Heinrich Lindlar (Hg.), Béla Bartók. Dokumente – Interpretationen – Programme, Duisburg 1989, S. 70–74.
Folio, Cynthia / Brinkman, Alexander R.: „Rhythm and Timing in Two Versions of Berio’s Sequenza I for Flute Solo: Psychological and Musical Differences in Performance”, in: Janet K. Halfyard (Hg.), Berio’s Sequenzas. Essays on Performance, Composition and Analysis, Aldershot 2007, S. 11–38.
Gielen, Michael: „Avancierte Musik ist von den Menschen weit entfernt“, in: Josef Früchtl und Maria Calloni (Hg.), Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, Frankfurt am Main 1991, S. 136–149.
Gould, Elaine: Hals über Kopf. Das Handbuch des Notensatzes, dt. Fassung von Arne Muus und Jens Berger, London 2014 (engl. Orig.: Behind Bars. The Definite Guide to Musical Notation, London 2011).
Grüny, Christian: „Musik als Schrift. Die Elemente des Erklingenden und die Notation“, in: Matteo Nanni (Hg.), Die Schrift des Ephemeren. Konzepte musikalischer Notation, Basel 2015 (Resonanzen 2), S. 91–110.
Hinrichsen, Hans-Joachim: „‚Die Musik selbst und nicht ihr Bedeuten‘. Adornos Theorie der musikalischen Interpretation“, in: Wolfram Ette, Günter Figal, Richard Klein und Günter Peters (Hg.), Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg – München, S. 199–221.
Janz, Tobias: „Wahrheit und Schönheit“, in: Thomas Ertelt und Heinz von Loesch (Hg.), Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Ästhetik – Ideen, Kassel – Berlin 2019, S. 157–195.
Karkoschka, Erhard: Das Schriftbild der Neuen Musik, Celle 1966.
Klein, Richard: „Adorno als negativer Hermeneutiker. Zu seiner Theorie der musikalischen Interpretation”, in: Gabriele Geml und Han-Gyeol Lie (Hg.), „Durchaus rhapsodisch“. Theodor Wiesengrund Adorno: Das kompositorische Werk, Stuttgart 2017, S. 31–47.
Lampert, Vera: „Bartók at the Piano: Lessons from the Composer’s Sound Recordings“, in: Amanda Bayley (Hg.), The Cambridge Companion to Bartók, Cambridge u.a. 2001, S. 231–242.
Ligeti, György: „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Monika Lichtenfeld, Bd. 1, Mainz 2007, S. 170–184.
Ligeti, György: „Über Volumina“, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Monika Lichtenfeld, Bd. 2, Mainz 2007, S. 189f.
Loesch, Heinz von: „Autor – Werk – Interpret“, in: Thomas Ertelt und Heinz von Loesch (Hg.), Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Ästhetik – Ideen, Kassel – Berlin 2019, S. 63–127.
Menke, Christoph: „Die Möglichkeit der Ästhetik“, in: Juliane Rebentisch (Hg.), Denken und Disziplin. Workshop der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (2017), online: www.dgae.de/kongresse/das-ist-aesthetik/#denken-und-disziplin (28.3.2022).
Meyer-Kalkus, Reinhart: „Die Vortragsstimme in literarischer Vortagskunst – am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Lesungen”, in: Kati Hannken-Illjes et al. (Hg.), Stimme – Medien – Sprechkunst, Baltmannsweiler 2017, S. 1–27.
Meyer-Kalkus, Reinhart: Geschichte der literarischen Vortragskunst, Stuttgart 2020.
Nanni, Matteo: „Das Bildliche der Musik: Gedanken zum iconic turn“, in: Michele Calella und Nikolaus Urbanek (Hg.), Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart 2013, S. 402–428.
Ratzinger, Carolin / Urbanek, Nikolaus / Zehetmayer, Sophie (Hg.): Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen, Paderborn 2020 (Theorie der musikalischen Schrift 1).
Riemann, Hugo: Handbuch der Musikgeschichte, Bd. 1: Altertum und Mittelalter (bis 1300), Erster Teil: Die Musik des Altertums, 3. von Alfred Einstein durchgesehene Auflage, Leipzig 1923.
Rothman, Philip: „Leland Smith, creator of the SCORE music typography system, dies at 88“, 28.12.2013, online: https://www.scoringnotes.com/news/leland-smith-dies-at-88/ (28.3.2022).
Schiff, András: Vorwort zu Ludwig van Beethoven, Streichquartett a-Moll op. 132. Vollständige Faksimileausgabe der Handschrift Mus.ms.autogr. Beethoven Mend.-Stift. 11 der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, München 2011, S. V.
Schiff, András: „Béla Bartók am Klavier“, in: Schiff, András, Musik kommt aus der Stille. Gespräche mit Martin Meyer. Essays, Kassel – Leipzig 2017, S. 196–198.
Schiff, András: „Warum brauchen wir Musikerhandschriften“, in: Schiff, András, Musik kommt aus der Stille. Gespräche mit Martin Meyer. Essays, Kassel – Leipzig 2017, S. 224–230.
Seedorf, Thomas (Hg.): Angewandtes musikalisches Denken. Jürgen Uhde zum 100. Geburtstag, Sinzig 2017.
Somfai, László: „Die ‚Allegro barbaro‘-Aufnahme von Bartók textkritisch bewertet“, in: Documenta Bartókiana 6 (1981), S. 259–275.
Somfai, László: Béla Bartók. Composition, Concepts and Autograph Sources, Berkeley u.a. 1996.
Somfai, László: „How to Handle ‚Oral Tradition‘-Like Phenomena in a Critical Edition? Methods in Transcribing the Composer’s Recordings for the Bartók Edition”, in: Christoph-Hellmut Mahling und Stephan Münch (Hg.), Ethnomusikologie und historische Musikwissenschaft – gemeinsame Ziele, gleiche Methoden?, Tutzing 1997 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 36), S. 325–334.
Somfai, László / Oppermann, Annette: „Blick durchs Schlüsselloch – Bartóks ‚Allegro barbaro‘ als Vorbote der Gesamtausgabe“, online: https://www.henle.de/blog/de/2016/04/18/blick-durchs-schlusselloch-bartoks-„allegro-barbaro“-als-vorbote-der-gesamtausgabe (25.3.2022).
Steinitz, Richard: György Ligeti. Music of the Imagination, Boston 2003.
Urbanek, Nikolaus: „‚Bilder von Gesten‘. Über die Aktualität von Adornos Theorie der musikalischen Schrift“, in: Richard Klein (Hg.), Gesellschaft im Werk. Musikphilosophie nach Adorno, Freiburg – München 2015, S. 150–172.
Weisser, Benedict: Notational Practice in Contemporary Music: A Critique of Three Compositional Models (Luciano Berio, John Cage, and Brian Ferneyhough), PhD dissertation, City University of New York 1998.
Wörner, Felix: „Notenbild und Metatext. Textgenetische Perspektiven auf den zweiten Satz („Kleiner Flügel Ahornsamen“) von Weberns Kantate op. 29“, in: Thomas Arendt und Matthias Schmidt (Hg.), Webern-Philologien, Wien 2016 (Webern-Studien 3), S. 99–122.
Zilkens, Udo: Bartók spielt Bartók, Köln 1999.
Archiv-Quellen
Ligeti, György: Études pour piano. Premier livre: annotierter Faksimiledruck sowie mehrere Probedrucke zur gesetzten Ausgabe, Korrespondenz mit dem Schott-Verlag sowie Korrekturlisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel.
Online-Quellen
EXPLORE THE SCORE, digitale Vermittlungsplattform des Klavier-Festivals Ruhr, darauf: - Béla Bartók: Klavierwerke: www.explorethescore.org/bartok (28.3.2022). - György Ligeti: Klavierwerke: www.explorethescore.org/ligeti (28.3.2022).
Musikalien
Béla Bartók: Mikrokosmos, neue rev. Ausgabe, hg. von Peter Bartók, London: Boosey & Hawkes 1987.
Béla Bartók: Allegro barbaro, Urtextausgabe, hg. von László Somfai, München – Budapest: Henle – Editio Musica Budapest 2016.
Béla Bartók: For Children. Early Version and Revised Version, hg. von László Vikárius in Zusammenarbeit mit Vera Lampert, München – Budapest: Henle – Editio Musica Budapest 2016 (Kritische Gesamtausgabe 37).
György Kurtág: Játékok zongorára: Spiele für Klavier, Budapest: Editio Musica Budapest 1979ff.
György Ligeti: Études pour piano. Premier livre, Faksimileausgabe der vorläufigen Fassung, Mainz u.a. [1986] (ED 7428).
György Ligeti: Études pour piano. Premier livre, final edition, Mainz u.a.: Schott [1997] (ED 7989).
Aufnahmen
Béla Bartók: Bartók at the Piano. 1920–1945. Gramophone Records, Piano Rolls, Live Recordings, Béla Bartók (Klavier) sowie weitere Interpret*innen, 6 Compact Discs, Budapest 1991 (Hungaroton, HCD 12326-28 und 12329-31).
Abbildungsverzeichnis
Abb. 9.1: Béla Bartók, For Children, Nr. 21, rev. Fassung 1943, Urtext Edition, Henle – Editio Musica Budapest, 2017 (HN 1225). Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.2: Béla Bartók, For Children, Nr. 21, Auszug der Transkription von Bartóks Radioaufnahme des Stücks, erstellt von László Vikárius, abgedruckt in der Kritischen Gesamtausgabe, Bd. 37, S. 215−216 sowie in der Einzelausgabe der rev. Fassung von 1943, S. 45f. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.3: György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 1−5, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.4a: György Kurtág, Streichquartett op. 1, 1. Satz, T. 13−16, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.4b: György Kurtág, „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Ausschnitt, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.5: György Kurtág, Reinschrift zu „Hommage tardif à Karskaya“, Játékok V, Seite 2, Sammlung György Kurtág der Paul Sacher Stiftung, Basel. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.6: Luciano Berio, Sequenza I, Gegenüberstellung der Erst- und Zweitschrift
-
a) Fassung 1958: Mailand: Edizioni Suvini Zerboni (S. 5531 Z.)
-
b) Fassung 1992: Wien: Universal Edition (UE 19 957) Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.7: György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49–57, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.8: György Ligeti, Entwurf zu Étude 12, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.9: György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f., Schott [1997] (ED 7428).
Abb. 9.10 : György Ligeti, Étude 6: „Automne à Varsovie“, T. 49f., Schriftbildvergleich.
-
a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428).
-
b) 1. Probedruck der „final edition“.
-
c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989).
Abb. 9.11 : György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–12, 1. Probedruck zur „final edition“ mit Annotationen des Komponisten, Sammlung György Ligeti der Paul Sacher Stiftung, Basel. Mit freundlicher Genehmigung.
Abb. 9.12: György Ligeti, Étude 2: „Cordes à vide“, T. 1–4, Schriftbildvergleich.
-
a) Faksimiledruck, Schott 1986 (ED 7428).
-
b) Erster Probedruck der „final edition“.
-
c) Final edition, Schott [1997] (ED 7989).
Gielen, „Avancierte Musik“, S. 138f.
Adorno, „Der Artist als Statthalter“, GS XI/ 117.
Adorno, Ästhetik (1958/59), NaS IV.3/ 31f.
Ebd., S. 32.
So heißt es beispielsweise zu Beginn einer Passage, die in der von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno und anderen erstellen Edition in den „Paralipomena“ abgedruckt ist: „Der Forderung, Ästhetik sei Reflexion künstlerischer Erfahrung, ohne daß diese ihren dezidierten theoretischen Charakter aufweichen dürfe, ist methodisch am besten zu genügen, indem modellartig in die traditionellen Kategorien eine Bewegung des Begriffs hineingetragen wird, die sie der künstlerischen Erfahrung konfrontiert.“ (Adorno, Ästhetische Theorie, GS VII/ 392) Mit der komplexen Entstehungs- und nicht unproblematischen Überlieferungsgeschichte der Ästhetischen Theorie hat sich in den letzten Jahren Martin Endres befasst. In seinem Essay „Von der Produktionsseite. Zur Revision der ‚Ästhetischen Theorie‘“ zeigt er an einer Formulierungsvariante des häufig zitierten Satzes, wie sich durch scheinbar kleine Veränderungen (in diesem Fall der Zusatz eines Wortes auf der Typoskriptseite 18085: „Die Forderung, Ästhetik sei nur Reflexion künstlerischer Erfahrung […]“) sowohl Sinnverschiebungen als auch damit einhergehende andere Verständnisperspektiven ergeben können. (Vgl. Endres, „Von der Produktionsseite“, S. 106.)
Separat aufgezeichnet ist der Entwurf der ersten fünf Kapitel des geplanten Buches. Vgl. hierzu die Editorische Nachbemerkung von Henri Lonitz in Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 381–385.
Vgl. z.B. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 14f.
„Die Ästhetik ist selbst Grundlagenreflexion und Phänomenbeschreibung. Dass sie das eine und das andere nicht irgendwo und -wie aufklaubt und zusammensetzt, sondern selbst betreibt, meint auch, dass sie beides jeweils als ein Moment in der Einheit mit dem anderen betreibt: Grundlagenreflexion als Phänomenbeschreibung, Phänomenbeschreibung als Grundlagenreflexion.“ (Menke, „Die Möglichkeit der Ästhetik“, S. 3.) Vgl. auch Richard Klein, „Adorno als negativer Hermeneutiker“, S. 35.
Vgl. zum Fragment-Status Danuser, „‚Zur Haut ‚zurückkehren‘‘“, S. 5–8.
Obwohl das vorhandene Material erstaunlich umfangreich ist und Adorno in den mittleren 1950er Jahren in einigen Briefen suggerierte, dass das Projekt schon sehr weit gediehen sei (vgl. z.B. seinen Brief an Jürgen Uhde vom 12. September 1956), wissen wir nicht, wie seine „Theorie der musikalischen Reproduktion“ – sofern er sie überhaupt hätte vollenden können – tatsächlich ausgesehen hätte. Vgl. Hinrichsen, „‚Die Musik selbst‘“, S. 204.
Urbanek, „‚Bilder von Gesten‘“, S. 150.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 221–281.
Adorno, „Musikalische Aphorismen [14]“, GS XVIII/ 19. Zu Beginn des in den Musikblättern des Anbruch erstveröffentlichten Aphorismus heißt es: „Man würdigt die Notenschrift, weil sie Musik als Text der Zeit entreiße und für die Dauer aufhebe. Aber ihre Gewalt reicht tief bis in die Musik selber.“ Und an dessen Ende: „Gleichwohl läßt sich keine Musik wahrhaft ohne Kenntnis des Bildes beurteilen: nicht bloß weil man ihm erst die genaue Kenntnis des Werkes verdankt, sondern weil man am Bilde einzig den Plan des Kampfes ablesen kann, den die freigesetzten Produktivkräfte und die Macht des Gewesenen miteinander auszufechten haben, ohne daß es je gelänge, sie voneinander zu lösen.“ (Ebd.)
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 207.
Ebd., S. 243.
Ebd., S. 236.
Ebd., S. 253.
Es handelt sich um Teile des ersten Bandes von Riemanns Handbuch der Musikwissenschaft (Leipzig 31923) sowie um Dorians The History of Music in Performance. The Art of Musical Interpretation from the Renaissance to Our Days (New York 1942). Vgl. zu Adornos Marginalspalten-Notizen sowie den Textpassagen aus den genannten Büchern, auf die sich diese beziehen, Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 76–84 sowie 20–37.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 253.
Ebd., S. 243f.
Ebd., S. 247.
Zu nennen sind hier insbesondere Nikolaus Urbaneks Aufsatz „‚Bilder von Gesten‘“ und Matteo Nannis Beitrag „Das Bildliche der Musik: Gedanken zum iconic turn“ sowie der von Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek und Sophie Zehetmayer herausgegebene Sammelband Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen.
Das komplexe Verhältnis dieser drei Begriffe, ihre vielschichtige Bedeutung und der klärungsbedürftige ontologische Status dessen, worauf sie sich beziehen, kann an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden. Aufschlussreiche Überlegungen dazu hat kürzlich Tobias Janz veröffentlicht („Wahrheit und Schönheit“, insbesondere S. 188–191).
Vgl. insbesondere die Einträge in Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 87f. sowie den Brief Adornos an Ingolf Dahl vom 10. Januar 1949 (abgedruckt in Anm. 78, S. 345–347).
Ebd., S. 74 sowie 265.
Ebd., S. 88.
Vgl. hierzu beispielsweise die Einträge auf den Seiten 74f., 90f.
Ebd., S. 265f.
Vgl. hier und im Folgenden den umfangreichen Kommentar von László Vikárius zur Edition der Klaviersammlung in der Kritischen Gesamtausgabe. Dort werden die Entstehungs-, Publikations-, Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte, notationale Besonderheiten sowie die zugrunde liegenden Volksliedquellen minutiös diskutiert (Bartók, For Children).
Äußerung im Rahmen eines Lecture-Recitals am 3. Dezember 1940 am Oberlin College. Deutsche Übersetzung zit. nach ebd., S. 94.
Brief an Klára Gombossy, 6. Januar 1916, zit. nach ebd., S. 119. Vgl. zur Bedeutung des Texts in der osteuropäischen Volksmusik allgemein Bartóks Einleitung zu seiner 1925 erstveröffentlichten Sammlung Das ungarische Volkslied (S. 1–97). Dass Bartók bzw. der Herausgeber im Falle von Gyermekeknek bei einigen Stücken auf den Abdruck des Textes verzichteten, ist wohl in erster Linie dem pädagogischen Charakter und dem jungen Zielpublikum der Klaviersammlung geschuldet. András Schiff, der in den späten 1950er Jahren mit Bartóks Kinderstücken in die Musik und das Klavierspiel eingeführt wurde, berichtet dazu: „Welche Freude und welchen Spaß machte es, diese kleinen Stücke spielen und singen zu dürfen! (Anmerkungen des Herausgebers wie ‚der Text ist undruckbar‘ machten uns natürlich erst recht neugierig. Tatsächlich sind sie nicht ganz jugendfrei und teilweise – zu unserem Vergnügen – fast anstößig.)“ (Schiff, „Béla Bartók am Klavier“, S. 197.)
Wie wichtig Bartók das Singen in der Instrumentalausbildung war, bezeugt das Vorwort des Komponisten zu seiner zweiten großen pädagogischen Klaviersammlung Mikrokosmos. Dort heißt es, man solle „den Instrumentalunterricht Hand in Hand mit geeigneten vokalen Übungen“ entwickeln. Bartóks jüngerer Sohn Péter, für den viele der einfacheren Stücke des Mikrokosmos komponiert worden sind, bestätigt, dass sein Vater diesen Vorsatz im Klavierunterricht auch umsetzte: „Zu Beginn mußte ich nur singen.“ (Mikrokosmos. New Definitive Edition 1987, S. 8 u. 5.)
Bartók/Lord, Serbo-Croatian Folk Songs, S. 5.
Vgl. zur urheberrechtlichen Problematik, zu Bartóks Revisionen und zur Publikationsgeschichte der bei Boosey & Hawkes 1946 erschienenen revidierten Edition die Ausführungen von László Vikárius in der Gesamtausgabe (Bartók, For Children, S. 106–109).
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 265.
András Schiff bemerkt dazu in dem bereits zitierten Essay „Bartók am Klavier“: „Ganz eigenartig und besonders hervorzuheben sind sein Rubato- und sein Parlando-Spiel. Er lässt die Musik sprechen. In diesem Sinne ist der Pianist Bartók ein Kind des 19. Jahrhunderts.“ (S. 198.) Vgl. außerdem Lampert, „Bartók at the piano“.
Über die dahinter stehenden Beweggründe schreibt Bartók am 30. Mai 1930 an die Universal Edition: „Ich glaube dies trägt bei um Missverständnissen vorzubeugen (wie z.B. dies bei der Militär-Orch. Aufnahme des ‚Allegro barbaro‘ der Fall ist, aus welchem Stücke – wahrscheinlich in Folge eines fatalen Druckfehlers der 1. Ausgabe bei der M.M.-Bezeichnung – ein ‚Adagio barbaro‘ geworden ist!).“ (Zit. nach Bartók, For Children, S. 123.) Vgl. zu einer umfassenden Diskussion von Bartóks Tempobezeichnungen, Metronomzahlen und Dauerangaben Somfai, Béla Bartók, S. 252–262.
Zit. nach Bartók, For Children, S. 123.
Somfai, Béla Bartók, S. 289.
Wiederveröffentlicht in der Gesamtausgabe der Klavieraufnahmen des Komponisten Bartók at the Piano.
Wie sehr dieser freiheitliche Umgang mit dem Notentext bereits die Zeitgenoss*innen faszinierte, belegen zahlreiche Quellen. So schreibt der Bartók-Schüler und einflussreiche Interpret des Bartók’schen Klavierwerks György Sándor: „Seine Interpretationen waren schon deshalb so unverwechselbar, weil er sich alle nur denkbaren darstellerischen Freiheiten nahm, um die Struktur und den Charakter der Musik herauszuarbeiten. Er hat seine eigenen Kompositionen, aber auch die des Barock und der Klassik stets frei und gänzlich unmechanisch gespielt.“ (Zit. nach Zilkens, Bartók spielt Bartók, S. 12.) Vgl. auch Lampert, „Bartók at the piano“.
Auch Bartóks Rubatospiel wurde von vielen Zeitgenoss*innen als ebenso fesselndes wie charakteristisches Merkmal seines Interpretationsstils gepriesen. „Sein Rhythmus war stets von äußerster Folgerichtigkeit – doch wurde er niemals starr“, bemerkte der Bartók-Schüler Andor Foldes („Béla Bartók – Mensch und Lehrer“, S. 71). Und der junge Theodor Adorno berichtet in einer seiner ersten Konzertkritiken über Bartóks Klavierspiel bei einer Aufführung der 2. Violinsonate in Frankfurt: „Der improvisatorische Einschlag bleibt erhalten in unwägbar feinen Schwankungen von Tempo und Dynamik: nie zersprengt ein grobes Rubato die Linie“ (Adorno, „September 1922 [Bartók-Aufführungen in Frankfurt]“, GS XIX/ 18, zuerst in: Neue Blätter für Kunst und Literatur 5 [1922/23]).
Vgl. zur Bestimmung der Grundtypen tempo giusto und parlando rubato sowie den Wechselwirkungen und Überschneidungen, die sowohl auf der Ebene der Melodien als auch im Bereich der Vortragsweise zwischen beiden bestehen, die Einleitung zu Bartóks Das ungarische Volkslied (S. 27*).
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 266.
So notierte Adorno unter dem Stichwort „Beobachtung an Crafts Webernplatten“ im November 1958: „Die Platten enthalten subtilste Beispiele für Sinnlosigkeit durchs Verfehlen der Anschlüsse usw. und sind im empirischen Teil, zur neuen Musik, eingehend zu zitieren.“ (Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 194.) Im Lauf des folgenden Jahres erarbeitete er in Frankfurt Weberns Lieder op. 3 und op. 12 sowie die Bagatellen op. 9 mit Studierenden, konzipierte davon ausgehend für den NDR die zweiteilige Rundfunksendung „Der getreue Korrepetitor“ und legte damit den Grundstein für die Interpretationsanalysen, die im Zentrum des gleichnamigen Buches stehen.
Adorno, Der getreue Korrepetitor, GS XV/ 161f.
Vgl. hierzu Somfai, „Nineteenth-Century Ideas Developed in Bartók’s Piano Notation“.
Deutsche Übersetzung unter dem Titel „Die maschinelle Musik“ in Bartók, Musiksprachen, S. 172–189; englische Übersetzung unter dem Titel „Mechanical Music“ in Bartók, Essays, S. 289–298.
Bartók, „Mechanical Music“, S. 292.
Zit. nach Somfai, Béla Bartók, S. 279.
Die zentrale Passage in diesem Zusammenhang lautet: „[T]he composer himself, when he is the performer of his own composition, does not always perform his work in exactly the same way. Why? Because he lives; because perpetual variability is a trait of a living creature’s character. Therefore, even if one succeeded in perfectly preserving with a perfect process a composer’s works according to his own idea at a given moment, it would not be advisable to listen to these compositions perpetually like that. Because it would cover the composition with boredom. Because it is conceivable that the composer himself would have performed his compositions better or less well at some other time – but in any case, otherwise. The same applies to a performing artist of such standards that he is equivalent to the composer in question. The best imaginable phonography, therefore, will never be able to act as a substitute for completely live music.“ (Bartók, „Mechanical Music“, S. 298.)
Bartók/Lord, Serbo-Croatian Folk Songs, S. 19f.
Schon Hegel stellt in seinen Vorlesungen zur Ästhetik – relativ schematisch – zwei verschiedene Werktypen gegenüber (solche „von gleichsam objektiver Gediegenheit“ und solche, „in welchen die subjektive Freiheit und Willkür schon von seiten des Komponisten her überwiegt“) und ordnet diesen unterschiedliche Interpretationsmodi zu. Vgl. hierzu Loesch, „Autor – Werk – Interpret“, insbesondere S. 72f., 79f. sowie 118.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 96.
Eine interessante Hypothese zu möglichen ästhetischen Motiven, die Bartók zu diesem ‚Verzicht‘ bewogen haben könnten, formuliert Carl Dahlhaus in seinem Essay „Über die Bedeutung des nicht Notierten in der Musik“: „[D]aß sich die Versuche, ‚nicht Notierbares‘ dennoch zu notieren, im 19. Jahrhundert auf bloße Ansätze beschränkten […], muß durch eine in ästhetischen Konventionen begründete Scheu, Irrationales durch Rationalisierung anzutasten, erklärt werden“ (S. 345).
Vgl. hierzu insbesondere Somfais frühe Studie „Die ‚Allegro barbaro‘-Aufnahme von Bartók textkritisch bewertet“ sowie den Abschnitt „The Significance of Bartók’s own recordings“ in der 1996 veröffentlichten Monographie Béla Bartók, S. 279–295.
Die Urtextausgabe erschien 2016 bei Henle in Kooperation mit der Editio Musica Budapest. Neben umfangreichen „Aufführungspraktischen Hinweisen“ sind im Notentext selbst die für werkrelevant befundenen Varianten der Aufnahmen als Graudruck wiedergegeben. Vgl. Bartók, Allegro barbaro sowie im Henle-Blog das Interview „Blick durchs Schlüsselloch – Bartóks Allegro barbaro als Vorbote der Gesamtausgabe“, das Annette Oppermann mit Somfai führte.
Vgl. Somfai, Béla Bartók, insbesondere S. 294f.
Bartók, For Children, S. 92. Vgl. auch Somfai „How to Handle ‚Oral Tradition‘-Like Phenomena …“.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 122.
Ebd., S. 145.
Vgl. hierzu die Ausführungen von András Schiff in interaktiven Partituren zu ausgewählten Klavierwerken Bartóks auf der Internetplattform Explore The Score (
Vgl. zum Verhältnis von Autorintention und auktorialer Aufführungstradition und den aporetischen Dimensionen dieser Kategorien Danuser „Einleitung“ in: Musikalische Interpretation, S. 27–34.
Vgl. hierzu die Adorno-Interpretation von Tobias Janz in „Wahrheit und Schönheit“, S. 188. Aus der Einsicht, dass es eine Illusion sei zu glauben, „das vergangene Idiomatische ließe sich künstlich, etwa durch musikwissenschaftliche Quellenarbeit, wiederherstellen“, folgt allerdings nicht, dass die Vertrautheit mit den idiomatischen Besonderheiten der Bartók’schen Interpretationsästhetik und der volksmusikalischen Quellen, auf die seine Musik Bezug nimmt, für die Entwicklung einer überzeugenden Interpretation belanglos wäre.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 92.
Für den Hinweis auf das Konzept der Interperformativität, das im Bereich der Oral Poetry-Forschung entwickelt wurde, danke ich Reinhart Meyer-Kalkus. Vgl. ders., „Die Vortragsstimme“, S. 4–9 sowie Geschichte der literarischen Vortragskunst, insbesondere S. 34–39.
Eötvös/Tünde, „A Conversation with Péter Eötvös“, S. 6.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 96.
Als ‚Geste‘ verstehe ich ein geformtes musikalisches Ereignis, das eine spezifische Gestalt bzw. Bewegungsform, klangliche Beschaffenheit und Energie aufweist und zudem eine bestimmte Ausdrucksqualität besitzt, die mit Bedeutung aufgeladen werden kann. Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion des Gestischen in Kurtágs Musik hier und im Folgenden Bleek, „‚Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden …‘“; zur aktuellen Diskussion der Kategorie vgl. Eggers/Grüny (Hg.), Musik und Geste.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 85.
Ebd., S. 236.
Vgl. Bleek, Musikalische Intertextualität, S. 99–115.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 122.
Vgl. hierzu die zentrale Notiz zur „Strategie der Arbeit“, die sich gemäß Adorno „gegen 2 Fronten“ richte: Auf der einen Seite gegen den „falschen Subjektivismus“ und das ‚Kulinarische‘ des offiziellen Musiklebens; auf der anderen Seite gegen „die Ausrottung des Subjekts“ und die „Flucht ins Mensurale“, die er „alle[n] Formen des Objektivismus, von Stockhausen bis Walcha“ unterstellt. (Ebd., S. 145.)
Ebd., S. 84 und 124.
Ebd., S. 240.
Vgl. Bleek, „‚Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden …‘“, S. 15–17.
Kurtág, Játékok, Beilage zu Band I,5.
Gespräch mit dem Verfasser, 13. Juni 2006.
Erhard Karkoschka beschreibt in seiner Diskussion ungefährer Zeitnotationen diese Gefahr einer Diskrepanz zwischen Intention und praktischer Umsetzung wie folgt: „Als Pousseur seine Dauernzeichen für unregelmäßige oder schneller oder langsamer werdende Gruppen beim Notationskongreß in Darmstadt 1964 erläuterte und die Rhythmen vorklatschte, ergab sich allerdings immer eine klare, unseren alten Punktierungen entsprechende Quantelung anstatt unregelmäßiger ‚qualitativer‘ Zeiteinteilung. Die Gefahr, daß Interpreten auch bei Aufführungen so verfahren, ist zweifellos groß und eher durch präzise Notation zu bannen, wobei dem Spieler leicht genug Spielraum gelassen werden kann, zeitliche Grundqualitäten aus den eigenen Möglichkeiten heraus aufzustellen“ (Karkoschka, Das Schriftbild der Neuen Musik, S. 3).
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 96.
Gespräch mit dem Verfasser, 13. Juni 2006.
Vgl. insbesondere die Studie „Rhythm and Timing“ von Folio/Brinkman, die Dissertation Notational Practice von Weisser (S. 37–76) sowie de Benedictis, „Auktoriale versus freie Aufführungsform“, S. 51–55. Ich danke Carolin Ratzinger und Angela Ida de Benedictis für ihre Hinweise.
Berio selbst verwendet dafür die Begriffe „notation ‚proportionelle‘“ (Brief an Aurèle Nicolet 1966) und „spatial notation“ (Interview mit Theo Muller 1997), zit. nach Folio/Brinkman, „Rhythm and Timing“, S. 14f.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Berio bei der Komposition des Stücks zunächst die Standardnotation verwendete. Das resultierende Schriftbild war jedoch offensichtlich so komplex und ‚seltsam‘, dass er sich dazu entschied, es in die besagt‚proportionale‘ Notation zu übertragen. Vgl. hierzu Folio/Brinkman, „Rhythm and Timing“, insbesondere S. 15f.
Zit. nach de Benedictis, „Auktoriale versus freie Aufführungsform“, S. 51f.
Aufschlussreich sind die Interpretenäußerungen zu den beiden Fassungen, die Folio und Brinkman im Anhang ihrer Studie zusammengestellt haben („Rhythm and Timing“, S. 35–37). Die Mehrzahl der zitierten Spieler*innen scheint dabei die Erstschrift zu präferieren.
Ebd., S. 53.
Weisser, Notational Practice, S. 51, zit. nach Folio/Brinkman, „Rhythm and Timing“, S. 35.
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 253.
„Diese Synthesis aber ist nie gelungen und könnte so wenig gelingen wie Unmittelbarkeit in einer entfremdeten Gesellschaft“ (Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 236).
Das Potential dieses Zusammenspieles von Partitur und Aufnahme diskutiert Angela Ida de Benedictis anhand von Stockhausens Kreuzspiel und Berios Sequenza III („Auktoriale versus freie Aufführungsform“, S. 54–59).
Die schriftliche Fassung des im Juli 1964 bei den Darmstädter Ferienkursen gehaltenen Vortrags, die Ligeti in Zusammenarbeit mit Carl Dahlhaus erstellte, erschien 1965 in den Darmstädter Beiträgen zur neuen Musik (Bd. 9, S. 35–50). Wiederabgedruckt und hier und im Folgenden zitiert nach den Gesammelten Schriften: Ligeti, „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“.
Vgl. u.a. Grüny, „Musik als Schrift“, S. 104f.
Ligeti, „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“, S. 177.
Vgl. ebd., S. 182–184.
Berücksichtigt werden muss nach Ligeti außerdem die Frage, ob notierte Musik für Interpret*innen geschrieben worden ist, die hochgradig individuell (z.B. als Solist*innen) oder als Teil eines Kollektivs (z.B. im Orchester) agieren: „Je größer aber das Ensemble ist, um so mehr würde ich auf die Gewohnheiten der Musiker Rücksicht nehmen, um die Effektivität der Probenarbeit und dadurch die Realisation der Musik zu sichern. Dieselbe Notation kann für einen Solisten oder für ein kleines Ensemble förderlich, für ein großes Ensemble hemmend sein“ (Ebd., S. 183).
Ebd., S. 184.
Dass es in der notationalen Wirklichkeit zahlreiche Mischformen „zwischen ‚musikalischer Graphik‘ und Notation“ gibt, war Ligeti natürlich bewusst: „Das Beispiel einer Mischform zeigt die Komplexität der Frage und läßt erkennen, daß es zwar notwendig ist, die Kategorie ‚Zeichensystem‘ und ‚Zeichnung‘ sauber zu trennen, daß aber diese Trennung nicht einfach ist und die beiden gesonderten Bereiche sich oft ineinanderentwickeln.“ (Ebd., S. 177.) Und an anderer Stelle heißt es: „Notationssysteme können einen Anteil an visuellen Konfigurationen, die selbst keinen Zeichen sind, enthalten“ (S. 172).
Vgl. Steinitz, György Ligeti, S. 96–126; Bernard, „Lessons from Ligeti’s Compositional Sketches“, S. 153f.; Ligeti, „Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck?“, S.183f. sowie ders., „Über Volumina“, S. 190.
Ligeti: Études pour piano. Premier livre, Faksimileausgabe der vorläufigen Fassung (ED 7428).
1997 publiziert als „final edition“ (ED 7989).
„Leland Smith’s genius was that he had considered all aspects of notation and broken them into categories, and then considered every possible way that a music glyph might need to be altered. As such, his program allows a user to manipulate each aspect of a musical object independently of all its other aspects, and without interference from a ‚global editor‘ that attempts to correct ‚improper‘ notation.“ (Thomas Brodhead, zit. in: Rothman, „Leland Smith“,
Brief von György Ligeti an Rüdiger Schlesinger sowie weitere Mitarbeiter*innen des Schott Verlags vom 22. November 1995, Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung György Ligeti.
(Zweiter) Brief von György Ligeti an Rüdiger Schlesinger sowie weitere Mitarbeiter des Schott Verlags vom 22. November 1995, Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung György Ligeti.
So schreibt Ligeti Anfang 1997 an Bernhard Pfau vom Schott Verlag: „Ich brauche noch eine 3. Korrektur, um eine PERFEKTE Publikation zu sichern. Bitte dazu korr. 1.,2. + Ms“ (Briefentwurf auf der Rückseite der letzten Seite des korrigierten 2. Probedrucks, Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel).
Im zweiten Brief vom 22. November 1995 an die Mitarbeiter des Schott Verlags heißt es zur Begründung des Wunsches, die Etüden „von einem LEBENDIGEN Fachmann“ setzen zu lassen: „Meine Etuden (das sage ich objektiv und ohne falsche Arroganz) werden grundlegende und SEHR OFT gespielte Stücke, wie Debussy, Ravel, Bartók. Die höheren Kosten des Stechens lohnen sich bei entsprechend großer Auflage“ (Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel).
Brief von Ligeti an die Mitarbeiter des Schott Verlags vom 19.11. 1995, Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel.
So forderte er nach Abschluss der zeitaufwendigen Korrekturen des 1. Probedrucks: „Ein Stecher soll alle 6 Etüden (und dann die weiteren) manuell stechen“ (Erster Brief vom 22.11. 1995 an die Mitarbeiter des Schott Verlags).
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 84.
Vgl. Steinitz, György Ligeti, S. 294–299 sowie Bauer, Ligeti’s Laments.
So notiert er bei der Durchsicht des zweiten Probedrucks von „Automne à Varsovie“: „Ich sehe, daß ich im Ms. Inkonsequenzen belassen habe – wohl ist der musikalische Sachverhalt eindeutig, doch schwer für den Komponisten war die Notation [–] zu komplex (wegen bisher in der Solo-Klaviermusik so nicht vorkommender Polyrhythmik)“ (Anmerkung auf S. 39). Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel.
Im ersten Probedruck findet sich dazu der Eintrag: „Betrifft alle Etüden. Ich habe die zwei Hände streng getrennt, in verschiedene Systeme (deshalb oft 3 Zeilen), da die Hände oft voneinander unabhängige Figuren spielen (Polyrhythmic). Deshalb ist an der Dreizeiligkeit festzuhalten, reduzieren auf 2 verwischt die Konstruktion“ (Anmerkung auf S. 37). Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel.
Handschriftliche Eintragung Ligetis im 1. Probedruck, S. 43 (Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel.).
Vgl. Gould, Hals über Kopf, S. XI.
Erster Brief von Ligeti an die Mitarbeiter des Schott Verlags, 19.11. 1995.
Johann Sebastian Bach, Kompositionen für die Orgel, Bd. 5, Kürzere Choralvorspiele, neu durchgesehen von Hermann Keller, Edition Peters [1952] (EP 244). Auf Seite 43 des 1. Probedrucks zu den Études führt Ligeti die Seiten 67, 101 und 106 der Peters-Ausgabe als besonders gelungene Beispiele an.
Handschriftliche Eintragung Ligetis im 1. Probedruck, S. 43 (Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung, Basel).
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 246.
Vgl. hierzu aus Musikersicht u.a. András Schiffs Vorwort zu Beethoven, Streichquartett a-Moll op. 132. Vollständige Faksimileausgabe der Handschrift, sowie seinen Essay „Warum brauchen wir Musikerhandschriften“, S. 177f. bzw. 224–230. Eine neuere musikwissenschaftliche Studie, die die spezifischen ikonischen Qualitäten, die autographen Quellen innewohnen, am Beispiel des zweiten Satzes aus Weberns Kantate op. 29 untersucht, ohne dabei allerdings auf den Bereich der musikalischen Interpretation näher einzugehen, ist Felix Wörners Aufsatz „Notenbild und Metatext“. Wörner stützt sich dabei auf Überlegungen und Ansätze aus der philologischen Diskussion der letzten Jahrzehnte – insbesondere der critique génétique –, die an dieser Stelle aus Platzgründen nicht diskutiert werden können, auch wenn sich mit ihnen das theoretische Potential des vorliegenden Fallbeispiels noch klarer und differenzierter herausarbeiten ließe.
Vgl. hierzu die multimediale Partitur mit Einführungen von Pierre-Laurent Aimard auf der Ligeti-Website des Klavier-Festivals Ruhr:
1. Probedruck, S. 11.
Ebd., S. 38.
Vgl. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 123.
Ebd.
Zweiter Brief an die Mitarbeiter des Schott Verlags vom 22.11.1995.
So notiert Ligeti in der finalen Phase der Korrekturen in der Marginalspalte eines Fragenkatalogs der Schott-Mitarbeiter zu „Automne à Varsovie“: „Sie haben die (vorerst) rhythmisch schwierigste Konstellation in der gesamten Klavierliteratur glänzend gelöst. Mit der Ausführung meiner Vorschläge und Berichtigungen wird das ganze ‚Buch I‘ zu einem typographischen Referenzwerk.“
Dies betrifft insbesondere „Automne à Varsovie“ (Eintragungen z.B. auf S. 41 des 1. Probedrucks und auf S. 51 des 3. Probedrucks).
Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, NaS I.2/ 247.