„Auf der Lauer liegen heißt ja nicht, etwas Böses wollen.“
Thomas Bernhard, Frost, 1963
„Etre objectif, c’est traiter l’autre comme un macchabée, c’est se comporter à son égard en croque-mort.“
(„Objektiv sein heißt, den andern behandeln wie ein Objekt, wie einen Kadaver, sich ihm gegenüber wie der Leichenbestatter betragen.“)
Emil Cioran, De l’inconvénient d’être né (Vom Nachteil geboren zu sein), 1973
5.1 Empirie
In den folgenden wissenschaftstheoretischen Zeilen wird Beobachtung in der Wissenschaft und Beobachtung wissenschaftlicher Beobachtung (eine Beobachtung zweiter Ordnung) thematisiert. Wissenschaft scheint schon längere Zeit ein heruntergekommenes Wort, da Michel Foucault bereits Ende der 1960er entsprechend despektierliches über die hochgeschätzte und hochverehrte Wissenschaft bemerkt.1 Es ist allgemein beliebt, die Begriffe Wissenschaft wie Kultur qualitativ wertend, statt quantitativ und beschreibend zu denken. Dabei erfolgt eine Reduzierung auf elitäre Bereiche, solche mit vermeintlich besonderer Qualität. Beliebt ist, auf diese Weise die Abwesenheit einer solchen Qualität festzustellen. Es heißt dann, dass eine Sache oder Person „unwissenschaftlich“ oder „kulturlos“ oder gar beides sei. Den Begriff kann sich jeder mit eigener Bedeutung – Idee – füllen, womit die Sache ideologisch wird. Wissenschaft, was ist das? Was ist wissenschaftlich? Es geht dabei um so etwas wie Wissen zu schaffen – davon spricht zumindest das Wort selbst. Es ist wohl auch eine systematische Beschreibung2 der Welt, oder besser Welten – pluralistische Welt im Plural.
Solche Beschreibungen setzen voraus, dass etwas zuvor in den Sinn, in das Denken gelangt. Beschreibungen setzen Beobachtungen voraus. Beobachtung ist ‚Wahrnehmung‘, die auch falsch sein kann,3 sie kann eine Falschnehmung sein. ‚Sinnliche Erfahrung‘ ist eine neutralere Bezeichnung dafür. Walter Seitter drückt es einfacher aus: „Was ist beschreiben? Sagen, was man sieht.“4 Er reduziert es damit lediglich auf das Sehen.
Diese Methode namens Empirie bedeutet, Beobachtung als wissenschaftliches Erkenntnismittel zu nutzen. Empirie heißt: Aus Sinneserfahrungen folgt Erkenntnis. Ein Beweis setzt einen „sorgfältigen Gebrauch der Sinne“ voraus.5 Aus Beobachtung eines speziellen Falles – etwa im Experiment – folgen Schlüsse auf eine allgemeine Theorie. Aus der Praxis folgt die Theorie. Induktion, wie dieser Weg genannt wird, schließt vom Speziellen auf das Allgemeine. Bei der Deduktion wird der umgekehrte Weg gewählt. Eine zuvor entwickelte Theorie wird im Experiment überprüft, vom Allgemeinen auf das Spezielle geschlossen. Aus der Theorie folgt die Praxis. Deduktion bedeutet auch „Aufdeckung von Prozessen jenseits des Beobachtbaren“.6 Deduktion wird vielleicht für die Suche nach einem Versteck – diesem unbeobachtbaren Ort – nützlich sein. Wissenschafts- oder erkenntnistheoretische Fragen drehen sich aufgrund von Empirie als grundlegende Methode häufig um Fragen nach Beobachtbarkeit und Unbeobachtbarkeit von etwas.7 Beobachtung von was eigentlich?
5.2 Natur- und Kulturbeobachtungen
Beobachtungen können sich auf Natur und Kultur, auf Dinge (Objekte), Lebewesen (Subjekte) und Daten (Injekte) – allgemein: Welt – beziehen.
Beobachtung durch den Gebrauch der Sinne und der sie ggf. unterstützenden Instrumente sind notwendig für eine Erfahrung einer Welt. Das spielt sich meistens auf der Erde ab, kann sich aber darüber hinaus ausdehnen, auf außerirdische Welten. Man denke an solche Spionagesatelliten, die auf die Erde blicken oder sich als ‚gemeine‘ oder wissenschaftliche Satelliten dem All oder Wetter widmen. Das klingt schon etwas nach Science-Fiction-Geschichten, aber allein da es in dieser Untersuchung um sogenannte ‚Wissenschaft‘ und um Geschichten geht, ist die Verbindung von Fiktion und Wissenschaft gar nicht mehr abwegig. Trotz eines – vorsichtig formuliert – nicht unerheblichen Einflusses dieser Methode namens Beobachtung – oder Kultur – auf die Erkenntnisgewinnung, ist Beobachtung bisher nicht Gegenstand einer historischen Untersuchung oder historischen Beobachtung geworden.8 Eine wissenschaftliche oder historische Beobachtung der Beobachtung findet nicht statt. Sollte es um eine entsprechende Beobachtung der wissenschaftlichen Beobachtung gehen, dann stehen die Dinge nicht wirklich besser, wenngleich Lorraine Daston und Elizabeth Lunbeck nach Ermittlung dieser Forschungslücke 2011 einen Sammelband zu Geschichten wissenschaftlicher Beobachtung (Histories of scientific observation) veröffentlichen.9 Schlecht steht es damit um Geschichten heimlicher Beobachtung. In diesem Band wird diese Form der Beobachtung jedoch nicht thematisiert oder genannt.
5.3 (K)Eine romantische Idee: Objektivität
Fehler und persönliche Einflüsse des Beobachters (der ein Subjekt ist) sollen bei der wissenschaftlichen Beobachtung vermieden werden. Letzteres, die Vermeidung von Subjektivität, führt zum Begriff der Objektivität; eine Idee, welche spätestens 2007 mit Lorraine Dastons und Peter Galisons Geschichte von Objektivität in den Wissenschaften sogar bereits selbst historisch ist. Es ist ein wenig vertrackt, als Subjekt nicht subjektiv, sondern objektiv zu sein. In ihrer Historisierung von Objektivität bringen Daston und Galison das Grundproblem zur Sprache: „Objektiv sein heißt, auf ein Wissen aus zu sein, das keine Spuren des Wissenden trägt – ein von Vorurteil, Wünschen oder Ambitionen unberührtes Wissen. Objektivität ist Blindsehen.“10 Objektivität ist keine romantische Idee, welche das Gefühl, die Persönlichkeit fordert. Objektivität ist ein Ideal, kein erreichbares Ziel. Die Unterscheidung von Objektivität und Subjektivität scheint keine sinnvolle Einteilung, wie es auch Heinz von Foerster feststellt.11 Ein Abschied von Objektivität scheint angeraten, Wahrheit ist nicht absolut möglich.12 Nach der durch von Foerster wesentlich beeinflussten Philosophie des radikalen Konstruktivismus konstruiert sich jeder seine eigene Wirklichkeit. Objektive Wissenschaft bedeutet gerade, dass ein Beobachter seine Beobachtung nicht beeinflussen darf.13 Nun sollen hier nicht skeptizistische Erkenntnistheorien thematisiert werden, die eine Möglichkeit, Wahrheit oder wahre Erkenntnis zu erlangen, skeptisch sehen, sie hinterfragen, insbesondere solche Theorien, die dabei das Problem im Beobachter selbst sehen.
Die heimliche Beobachtung – wie im Falle von Ermittlern oder Spionen – geschieht aus anderen Beweggründen, die in der Macht des Beobachters liegen, nicht metaphysisch, aber physisch und psychisch sind, außerdem nicht unvermeidbar. Es geht gar nicht um die Physik des Beobachters im Sinne der Heisenbergschen Unschärferelation, die sich auf den ersten Blick anbietet.14 Diese Theorie der Unschärfe bezieht sich auf das Quant, ein Objekt, das sowohl die physikalischen Eigenschaften von Teilchen wie auch von Wellen besitzt. Nach Heisenberg sei es nicht möglich, zugleich Ort und Impuls (Geschwindigkeit) eines solchen Quants genau zu bestimmen, da Messgeräte entweder Ort oder Impuls bei der Messung durch Übertragung von Energie beeinflussen würden. Die Folge davon sei, dass diese Größen prinzipiell nur mit einer Wahrscheinlichkeit, nicht mit einer Gewissheit bestimmt werden könnten, sich zwangsläufig Unschärfen ergeben würden. Insofern wirkt sich die Beobachtung und der Beobachter (in Form des Messgerätes) auf das Beobachtete aus, egal ob sie heimlich geschieht oder nicht. Geheimdienstarbeit ist allerdings eine „Beobachtung des Feindes“ und Beobachtung wird durch Anwesenheit eines Beobachters verändert, was Eva Horn mit Werner Heisenbergs (1901–1978) Unschärferelation begründet.15 Nun sind bei der heimlichen Beobachtung, und der vermeintlichen Gefahr einer Rückkopplung der Beobachtung auf das Beobachtete, wohl weniger die Prinzipien die Physiken der Teilchen, Wellen oder Objekte16 im Spiel, sondern die Psychologien von sozialen Systemen mit ihren Akteuren und Subjekten.
Solche Systeme sind ein wenig anfällig und durchaus geprägt von einer Art Paranoia und Unsicherheit: Hoffentlich werde ich nicht beobachtet. Oder: Ich werde beobachtet! Wie soll und darf ich mich verhalten?
Ein Subjekt oder Lebewesen17 lässt sich zwar als eine Form von Teilchen oder soziales Partikel (auf) der Welt betrachten, aber seine Beobachtung hat vom Grundsatz her nicht die von Heisenberg eben gemeinte Auswirkung auf das Beobachtete, wie es beim Quant der Fall ist. Es ist zudem keine Beobachtung, die auf physikalische Phänomene zielt, sondern auf soziale. Diese Beobachtung muss dann ohne Wissen des Beobachteten erfolgen, was Heimlichkeit bedeutet. Heimlichkeit ist ein soziales Phänomen. Heimlichkeit gibt es da, wo es andere Individuen gibt.
Versteckte Beobachtung als Erkenntnismittel wird besonders in der Verhaltensforschung (Ethologie) von Biologie, Psychologie, Psychiatrie und Soziologie angewendet. Heimliche Beobachtung ist eine der Maßnahmen, die zur geplanten Objektivität beitragen soll und eine Reaktion des Beobachteten durch den Beobachter/die Beobachtung verhindern soll. Forschung ist besonders in den Fällen, wo soziale Wesen ihr Gegenstand sind, von sozialen Einflüssen bedroht. Wissenschaftstheorie hat aber grundsätzlich nach den sozialen Umständen zu fragen, die Forschung umgeben. Erkenntnisse in der Forschung sind nicht nur von Theorien, Experimenten und Beobachtungen abhängig, worauf spätestens Bruno Latour und Steve Woolgar in ihren Laborstudien hingewiesen haben. 1979 veröffentlichen beide eine Studie über die sozialen Umstände, welche sich im Labor als Laboralltag („laboratory life“) beobachten lassen und sich auf die Wissensproduktion dort auswirken.18 Theorien und die eigentlichen Experimentalanordnungen sowie die sozialen Umstände, unter denen experimentiert wird, bilden zusammen komplexe Systeme: Experimentalsysteme. Genau wie ein Möbelstück, Haus oder andere gestaltete Dinge sind auch Experimente zuvor detailliert zu planen, weswegen von ‚Forschungsdesign‘ in diesem Zusammenhang gesprochen wird. Die kleinste ‚Einheit‘ der Forschung ist eines dieser Experimentalsysteme, nicht – wie es naheliegt – das Einzelexperiment. Ein solches Experimentalsystem besteht nach Hans-Jörg Rheinberger aus einem Forschungsobjekt, der Experimentalanordnung oder einem Instrument, dem ganzen Experimentalprozess und den beeinflussenden Theorien, kurz die Umstände unter denen Forschungserkenntnisse entstehen und ggf. konstruiert werden.19
5.4 Experiment und Reaktivität
Erforschung der Forschung, die eine Beobachtung der Beobachtung und den Einfluss von Experimentator auf Experiment untersucht, gibt es spätestens zu Beginn der 1960er Jahre.20 Wissenschaft wird damit in ihrer praktischen Form des Experiments zum Gegenstand einer Wissenschaft – der Soziologie. Erstmals thematisieren wohl ausführlich eine Wirkung von Beobachter auf das beobachtete Individuum – somit auf das Experiment – bereits 1966 Eugene J. Webb, Donald T. Campbell, Richard D. Schwartz und Lee Sechrest. In ihrer nicht nur wissenschaftstheoretischen, auch wissenschaftspraktischen Monographie über „Nichtreaktive Messverfahren“ machen die Autoren in der zweiten Auflage auf das mangelnde Bewusstsein für solche Reaktivität aufmerksam, was sich nach ihren Angaben gut zehn Jahre nach dem ersten Erscheinen nicht geändert habe.21 Die Anwesenheit eines Fremden wird für ein Lebewesen als Störfaktor empfunden, was zu „reaktive[m] Verhalten“ führen kann.22 Ist der Gegenstand der Forschung ein lebender, so ergeben sich verschiedene Methoden, die alle unter einer besonderen Form von Reaktivität, der Rückkopplung der Beobachtung auf den beobachteten Gegenstand, leiden können. In der Sozialforschung ist dieser Gegenstand ein lebender, sozial handelnder. Beobachtung, neben Befragung und Experiment, ist hier nur einer der Erkenntniswege.23 Im Falle von Tieren entfällt die Befragung als mögliches Mittel, es sei denn, es spricht jemand wie Hugh Loftings Figur Dr. John Dolittle eine Sprache der Tiere. Es gibt unterschiedliche Verhältnisse zwischen Beobachter und Beobachtetem. In der offenen, teilnehmenden Beobachtung ist der Beobachter aktiver Teilnehmer der Gruppe und seine Beobachterrolle ist bekannt. Im Falle der verdeckten, teilnehmenden Beobachtung sind die Gruppenteilnehmer darüber im Unklaren. Eine dritte Form ist die offene, nicht teilnehmende Beobachtung, wo der Beobachter nicht aktiver Teil der Gruppe ist, die Gruppe über die Tatsache der Beobachtung aber im Bilde ist. Die vierte Form unterscheidet sich von letzterer dadurch, dass die Gruppe nicht weiß, dass sie beobachtet wird.24 Verdeckte, nicht teilnehmende Beobachtung bedeutet heimliche Beobachtung. Es werden zwei Vorgehensweisen zum Schutz vor diesen „reaktiven Verhaltensbedrohungen“ vorgeschlagen: Verborgenheit oder Entfernung.25 Die Ferne oder das Versteck führen in der Geheimdienstarbeit zum Verschwinden, zur Heimlichkeit. Spionage ist heimliche Sozialwissenschaft. Beobachtung hängt räumlich und sozial von ihrem Milieu ab. Beobachtung ist ein „Störfaktor“ oder eine „Drittvariable“. Beide sind vom Forscher unerwünscht. Die Anwesenheit eines Beobachters führt zu einem „Kontrolleffekt“ durch das Beobachtete. Offene Beobachtung durch Fremde bedeutet stets einen gewissen Einbruch in das private, intime oder gar heimliche Leben. Der Ort für dieses Leben ist meist das Heim, wo sich jemand unbeobachtet – für sich – wähnt. Nur öffentliches, beeinflusstes Verhalten wird somit beobachtet, für gewöhnlich aber nicht unbeeinflusstes, privates, intimes,26 geheimes oder heimliches. Diese unbeeinflussten Lebensäußerungen sind die interessanten.
Die deutsche Übersetzung der Studie bezeichnet die Heimlichkeit des Beobachters als „verstohlene Art des Beobachters“ und bringt mit der „Verstohlenheit“ einen weiteren Begriff ins Spiel, der davon spricht, dass etwas heimlich, still und leise geschieht. Verstohlenheit wird dem Beobachter durch die Lage in einer Menschenmenge oder vor einem weit entfernten Fernsehschirm ermöglicht.
Verstohlenheit „schützt die Untersuchung gegen einige der reaktiven Verhaltensbedrohungen“, solche Bedrohungen, die mit der Präsenz des Beobachters vor Ort zusammenhängen.27 Was ist das überhaupt für ein Ort, auf den sich die Beobachtung richtet? Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist es das Labor, dessen Begriff eine Konjunktur in den Kulturwissenschaften der letzten Jahre erfährt.28 Das Labor ist ein greifbarer Wissensraum,29 ein „epistemischer Raum“30 oder eine der konkreten „Architekturen des Wissens“.31 Nun ist damit in erster Linie nicht das gleichnamige kulturwissenschaftliche Konzept gemeint, das durch Kapern eines Begriffs entsteht, wie es beim Archiv der Fall ist. Es ist die konkrete Architektur gemeint. ‚Labor‘ ist die Kurzform von Laboratorium, das in seinem lateinischen Ursprung von der Anstrengung, Mühe, Arbeit spricht.32 Das Laboratorium ist allgemein ein Werkraum, eine Werkstatt und berichtet damit von der Praxis.
Das Labor ist ein Ort der Praxis, welcher geheim, versteckt sein kann und dann als Geheimlabor bezeichnet wird. Ein Labor ermöglicht ideale oder idealisierte Bedingungen für eine Versuchsanordnung, besondere Instrumente und Apparate sind unter Umständen nur dort verfügbar. Ein Labor ist eine Welt für sich. Im Unterschied zur Physik, wo unbelebte Gegenstände beobachtet werden, sind die Gegenstände der Verhaltensforschung belebt: Sie reagieren. Der Versuchsaufbau („experimental setting“) beeinflusst in der Psychologie generell das Subjekt. Das Experiment, vielmehr seine Experimentalumgebung, muss darauf Rücksicht nehmen. Die relativ jungen Sozialwissenschaften orientieren sich am naturwissenschaftlichen Experiment, was sich allerdings wegen dieser Beeinflussung nicht einfach übertragen lässt.33 Die Beobachtung von Lebewesen sieht noch ein wenig anders aus als solche von physikalischen Erscheinungen. Hier ist einerseits eine für die Verhaltensbeobachtung ideale Umgebung gefordert und zum anderen eine für das Lebewesen gewohnte Umgebung oder zumindest eine, wo es sich so verhält, als wäre es in dieser Umgebung. Die Experimentalumgebung soll sich nicht auf das zu beobachtende Verhalten auswirken. Dieser Ort ist für gewöhnlich nicht das Labor. Das Feld, wie eine im Gegensatz dazu gewohnte – heimische – Umgebung genannt wird, weist aber andererseits mögliche Störfaktoren auf, die sich nicht derart ausschalten lassen, wie es im Laboratorium der Fall ist. In der Verhaltensbeobachtung gleichen sich allerdings die Methoden für Experimente im wissenschaftlichen Labor34 und in Feldstudien,35 weswegen die Beobachtungsmethoden die gleichen sind.
Vereinfacht lässt sich sagen, dass Apparate zur heimlichen Beobachtung einen Raum ohnehin in ein Labor verwandeln, zu einem Ort, wo Forschung mittels Beobachtungsapparaten/-medien betrieben wird. Durch solche Eingriffe wird aus dem Klassenzimmer, Kaufhaus, der Stadt, dem Wald oder Heim ein Labor. Verstecke können auf diese Weise Teil einer Experimentalanordnung in einem Labor(versuch) oder Feld(versuch) werden. Es werden vermutlich weniger solche Techniken wie die mythische Tarnkappe36 eingesetzt, die in der Fiktion die Fantasie beflügelt. Wer sie trägt, ist unsichtbar. Es ist nicht ein architektonisches Mittel der heimlichen Beobachtung wie der Erker; schon eher die Kamera.37 Kamera und Mikrofon sind technische Hilfsmittel, welche die nötige Trennung von Beobachter und Beobachteten gestatten und die Aufzeichnung mittels Aufzeichnungsgeräten. Diese „verdeckte Hardware“ ersetzt den menschlichen Beobachter. Sie funktioniert als „Instrument“ und reduziert nebenbei Fehler und „Artefakte“, wie die Reaktivität, die ein menschlicher Beobachter macht oder provozieren würde, denn „Menschen sind Beobachtungsinstrumente von geringer Verlässlichkeit.“38 Daten lassen sich im Experiment auf zwei Wegen gewinnen: Zum einen über die menschliche Perzeption, Beobachtung, die dann auf sprachlichem Wege festgehalten wird. Es ist eine analoge und linguistische Methode. Zum anderen über die Messung, die mit einem Instrument – Hardware – durchgeführt wird und dann zu Zahlenwerten führt. Dies ist eine digitale und numerische Methode.39 Der Beobachter wandelt sich somit vom Subjekt zum Objekt.40 Nun liegen die Ursprünge der ethischen Bedenken von Kritikern der Forschungsmethode mittels heimlicher Beobachtung nicht in einer solchen Objektivierung des Beobachters, an seiner Entmenschlichung. Die Kritik bezieht sich auf die Heimlichkeit. Das Problem wird in der Täuschung der Versuchsteilnehmer ermittelt.41 Täuschung ist Simulation und Dissimulation zugleich. Hier bedeutet sie Simulation der Normalität, der gewohnten Umgebung für den Beobachteten und Dissimulation des Beobachters. Allerdings lasse sich nach dem Soziologen Julius Alfred Roth Verheimlichung gar nicht vermeiden und somit sei sie in Abstufungen immer bei solchen Versuchen der Fall.42 Der heimliche Wissenschaftler hat eine ähnliche Position wie der Wächter im Panoptikon: Der heimliche Wissenschaftler sieht alles, ohne Wissen der anderen. Heimliche Forschung führt zu einer Überwachung, die ein intimes oder heimliches Verhalten des Versuchsteilnehmers zutage fördert. Wer aber um seine Beobachtung weiß, hat die Wahl, was er zeigt. Wissenschaft hat etwas Pornographisches, weil sie alles zeigen will. Ist der Forscher nun ein Wärter mit panoptischem Blick43 oder kommt nun etwas zu viel Michel Foucault ins Spiel?
5.5 Dunkle und helle Spiegel
Spiel … Spiegel? Lehrbücher nennen neben der hochtechnologischen TV-Kamera noch den Spiegel für die indirekte, mediale Beobachtung, sowie den Einwegspiegel (Spionspiegel). Damit ist ein archaisches, fast alchemistisches Instrument besonders hilfreich für die heimliche Beobachtung.44 Der Spiegel ist, nach Michel Foucault, ein merkwürdiger Ort zwischen Utopie und Heterotopie, auch wenn somit noch mehr von Foucaults Gedankenwelt ins Spiel gelangt.45 Eine Utopie wird hier als ein Nichtort, ein Unort verstanden, der keinen Ort und keine Zeit besitzt, ein Ort, der weder vergangen noch gegenwärtig noch zukünftig existiert. Das Medium der Utopien ist das Bild oder die Sprache, jene künstlicher Welten der Kunst, der Literatur. Die Heterotopie ist hingegen ein gegenwärtiger, vergangener oder zukünftiger Ort, der sich zudem von anderen Orten unterscheidet. Er unterscheidet sich dadurch, dass sich an ihm besondere – andere – Gesellschaft versammelt. Foucault nennt unter anderem das Seniorenheim, die Psychiatrie, das Bordell. Als Gegenmodell der Heterotopie lässt sich nicht nur eine Utopie, auch eine Homotopie denken. Homotopie spricht von ‚gleichen Räumen‘ oder ‚gleichen Orten‘,46 es sind Orte, wo alle gleichen sich versammeln, ein Ort des ‚Mainstreams‘. Allerdings versammeln sich an der Heterotopie alle, die anders sind, womit sie am betreffenden Ort sich gleichen, was wiederum zur Homotopie führt. Walter Seitter macht ohnehin darauf aufmerksam, dass sich eine Heterotopie auf ziemlich jeden Ort – jedes Haus – übertragen lässt.
Hier interessiert nun nicht, wie sonst stets, die spiegelnde und wesentliche Seite des Spiegels, worin oder worauf der Versuchsteilnehmer sich selbst sieht. Es ist die andere Seite, die Rückseite und dunkle Seite des Spiegels, die sich im Blickfeld der Forschung befindet. Sie ist der Wand zugewendet und gelangt nur in seltenen Fällen zu Augen von jemandem, etwa des Handwerkers, der sich um die Befestigung kümmert. Von der dunklen Seite des Spiegels lässt sich mitunter hindurchschauen, wie durch eine Glasscheibe. Aus der Dunkelheit lässt sich heimlich Licht beobachten.
Einwegspiegel sind Wände und „Nicht-Wände“/„unwalls“ (Gordon Matta-Clark), die durch Licht zum Versagen gebracht werden.47 Einwegspiegel trennen eine dunkle und eine helle Seite. Die spiegelnde und somit undurchsichtige Seite – die des Beobachteten – sollte heller als die undurchsichtige Seite des Beobachters sein. Je nachdem wie man es nimmt, führt erst das falsche oder rechte Licht zur Reflexion des Spiegels und schafft damit erst das reflexive Geheimnis des Verstecks mittels Spiegel. Der Spiegel ist je nach Seite und Lichtsituation Spiegel oder Fenster. Aber: Licht bringt Klarheit, Licht bringt Aufklärung. Die englische Bezeichnung für Aufklärung „enlightenment“ spricht in ihrer wörtlichen Übersetzung in die deutsche Sprache von dieser Erleuchtung. Diese Aufklarung (und Aufklärung) des Spiegels verhindert wiederum eine Aufklärung durch den Spionspiegel mittels heimlicher Beobachtung. Die Verwirrung ist perfekt. Zur Aufklärung von Verbrechen tragen großformatige Spionspiegel in der Gegenüberstellung bei der Polizei bei, wie solche Glanzflächen als beliebtes Motiv in Kriminalfilmen in diesem Zusammenhang hinreichend bekannt sein dürften. Um die Anonymität des Augenzeugen zu schützen, wird dieser auf der dunklen, uneinsichtigen Seite des Spiegels platziert. Auf der anderen Seite befindet sich der Verdächtige, neben anderen Personen, woraufhin der Zeuge Auskunft darüber erteilen soll, ob er jemanden dieser Gruppe erkennt. Wann Einwegspiegel bei Gegenüberstellungen zur Klärung von Verbrechen beitragen, ist in diesem Zusammenhang nur grob zu ermitteln. Mitte des 19. Jahrhunderts behelfen sich Ermittler wohl noch bei der „Recognition aus dem Verstecke“ durch kleine Fenster und Ritzen, die einem Zeugen von einem benachbarten Zimmer aus oder aus einem „Behälter“ heraus ermöglichen, die vermeintlichen Schurken, unerkannt von diesen, zu erkennen.48 Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit Glasformaten und der Entwicklung von Verfahren für große Glasscheiben – im Grunde Voraussetzung für „die“ moderne Architektur mit großen Glasflächen.49 In den Sozialwissenschaften – eine für die Kriminalistik sehr einflussreiche Disziplin – wird über den Einsatz von diesen Spiegeln vermehrt nach dem zweiten Weltkrieg berichtet. In den USA wird der erstmalige Einsatz für die Zeit der Prohibition50 1919–1933 angegeben, wo Schwarzhändler sie für Alkohol („bootlegger“) einsetzen.
Oben: Beobachtungslabor: Grundriss von Arnold Gesells The Yale Nursery Guidance. Beobachtungsposten sind dunkel hinterlegt. Unten: Entwurf für Beobachtungsposten mit Einwegspiegel zur heimlichen Verhaltensbeobachtung von Kindern, 1943.
5.6 Die Welt ist eine Scheibe
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verdrängen Spionspiegel in der Forschung bemalte Schirme aus feinem Drahtgewebe – Fliegengitter –,51 welche zuvor für die heimliche Verhaltensbeobachtung verbreitetet sind.52 Ende der 1920er Jahre werden solche bemalten Drahtschirme in der Clinic of Child Development an der Universität Yale von dem Kinderpsychologen Arnold Gesell (1880–1961) eingesetzt. Weiß oder mit bunten, verwirrenden Mustern (Prinzip der Camouflage) bemalt, erscheinen sie undurchsichtig wie Spionspiegel, falls die eine Seite ebenso dunkel ist. Gesell empfiehlt, dunkle Kleidung zu tragen und spiegelnde Oberflächen wie Brillen zu vermeiden. Er entwickelt eigene Beobachtungsarchitekturen, eine spezielle Wissenschaftsarchitektur. Der „Gesell Dome“ besteht aus einer Halbkugel, die in einem gesonderten Raum der Klinik steht. Sie ist zusammengesetzt aus sphärischen Elementen, die mit weiß emailliertem Drahtgewebe gespannt sind und von einer käfigartigen Stahlstruktur getragen werden. Das Gewebe besitze den Vorteil einer freien Luftzirkulation gegenüber einer geschlossenen Membrane und ermöglicht den Durchblick von außen zum helleren Innenraum, bleibt aus Sicht vom Innenraum jedoch undurchsichtig. Die helle Farbe erhöht die Reflexion und damit die Helligkeit im Innern (Bild 114). Der Durchmesser beträgt etwa 3,80 m. Auf das Zentrum der Kuppel gerichtete Kameras für Stand- und Bewegungsbilder können über Schienen auf der Oberfläche der Halbkugel bewegt werden, Mikrofone zeichnen Ton auf.53
Somit gewährt dieses seit März 1927 betriebene „klinische photographische Observatorium“, das Laboratorium und Filmstudio54 zugleich ist, einen von innen unbemerkten Blick von außen auf das Geschehen im Labor, wo ein Wissenschaftler mit einem Kind arbeitet (Bild 113 & 114). Obwohl es sich nicht um die häusliche Umgebung für das Kind handelt, die Mutter zwar im Innern, aber nur entfernt dabeisitzt, ergebe sich nach Gesell jedoch eine doppelte Möglichkeit der ungestörten Beobachtung, per Kamera und für die Beobachter von außen. Gesell spricht deswegen von „einem Observatorium im doppelten Sinne“ („an observatory in a double sense“).
Konstruktion des heimlichen Kinderobservatoriums an der Universität Yale, Foto: Anonym, 1927/28.
Durchsichtig und undurchsichtig: Von innen gesehen ist die Schale des heimlichen Kinderobservatoriums an der Universität Yale undurchsichtig, von außen durchsichtig, Foto: Anonym, 1927–1932.
Dieses Observatorium erinnert in seinem Aufbau stark an eine invertierte Sternwarte, wo im Zentrum nicht ein Beobachter ist, dessen Blick und Interesse nicht vom Zentrum weg auf das All, die Welt gerichtet ist, sondern auf das Zentrum mit dem Kind, auf einen beobachteten Beobachter im Observatorium selbst.
Im Film Die Truman Show (1998)55 wird eine ähnliche Konstruktion in viel größerem Maßstab zu einer eigenen Welt für den Protagonisten Truman Burbank. Er weiß nicht, dass sein ganzes Leben eine Fernsehshow ist, seine Mitmenschen lediglich Schauspieler sind und über 5.000 Kameras 24 Stunden in Echtzeit jedes noch so intime Detail im TV übertragen. Das halbkugelförmige Studio, die OmniCam-Ecosphere hüllt das allseitig vom Wasser umgebene Dorf Seahaven als künstlichen Himmel ein. Sein Leben folgt seit der Geburt den Planungen des gottgleichen Regisseurs Christof. Seine heimliche Beobachtung ist die Truman Show – Schau – für Fernsehzuschauer in aller Welt. Irgendwann trifft Truman nach dem übertreten von Grenzen auf die Stelle, wo seine Welt zu Ende ist (Bild 116) und gelangt in eine neue Welt jenseits der Kuppel, wie der Missionar aus dem Mittelalter in Flammarions Stich, der auf die Stelle trifft, wo sich Himmel und Erde berühren, seinen Kopf hindurch steckt und von seiner neue Warte nun all das und das All beobachten kann, was sich hinter dem Himmelszelt verbirgt (Bild 115).
Aufklärung und Meteorologie: Heißt es den Kopf durch die Sphäre stecken? „Flammarions Holzstich“, „Wanderer am Weltenrand“ aus dem Kapitel La forme du ciel (Die Form des Himmels) in Camille Flammarions Buch L’atmosphère. Météorologie populaire, Paris 1888. Stich: Anonym, o. J.
Truman erreicht das Ende seiner Welt: Peter Weir, Die Truman Show, Film, USA 1998, Standbild.
1947 präsentiert die Zeitschrift Life in einem fotografischen Essay des Fotografen Herbert Gehr (1910–1983) Gesells Dome einem breiten Publikum.56 Mit neuesten Kameras und Fotoapparaten benutzen die Forscher um Arnold Gesell 1927 zwar neueste Technologie, gehören aber nicht zu den Pionieren der Anwendung dieser Medien in der Wissenschaft. Fotografie setzen etwa Etienne Jules Marey (1830–1904) oder Ernst Mach (1838–1916) in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in weit anspruchsvollerer Weise für ihre Beobachtungen schneller Bewegungsvorgänge ein. Sie halten damit ihre Beobachtungen nicht nur fest, machen sie nicht nur reproduzierbar, sondern überhaupt erst eine Beobachtung möglich. Es ist vielmehr die Heimlichkeit, die Gesell und seine Mitarbeiter in diesem Bereich perfektionieren und einführen. In den 1950er Jahren erscheinen in soziologischen und psychologischen Fachzeitschriften Beschreibungen über die Planung heimlicher Laborarchitekturen, die zum Teil eine Anleitung für den Bau des Herzstücks, den Einwegspiegel geben. 1951 kostet ein Quadratzoll Einwegspiegel 5,30 $ bis 8,00 $, was der Kaufkraft zur Entstehung dieser Zeilen von 53 $ bis 80 $ entspricht. Umgerechnet käme damals ein Quadratmeter somit auf etwa 57 $ bis 86 $, entsprechend 2019 auf etwa 560 $ bis 845 $. Diese Preise machen den großflächigen Einsatz seinerzeit teuer und häufig unmöglich. Der beschriebene Eigenbau soll die Kosten auf gut ein Zehntel senken und mit geringen chemischen Kenntnissen möglich sein, wie der Psychologe Samuel R. Pinneau angibt.57 Bei der Planung von Beobachtungsräumen oder Laboratorien für soziologische Studien58 entsteht durch Installation eines Einwegspiegels ein heimliches Beobachtungslaboratorium. Er teilt das Labor in zwei Bereiche: den Raum des Beobachters und den Raum des Beobachteten. Entscheidend ist diese Grenze des Spiegels, die den Ort des Geschehens vom Ort der Beobachtung trennt.
Der Einwegspiegel ist ein Medium, das auf der einen Seite die Beobachtung erst durch seine Unsichtbarkeit wie Durchsichtbarkeit und auf der anderen Seite durch seine Sichtbarkeit als Spiegel mit dessen Undurchsichtbarkeit ermöglicht.59 Der Ort des Lichts und der Dunkelheit bestimmen den Weg des Blickes und die Richtung der Beobachtung. Licht schaltet den Spiegel und regelt die Beobachtung. Die dunkle Seite des Spiegels ermöglicht eine heimliche Beobachtung der hellen Seite. In Michael Connors Versteckratgeber findet sich eine solche Anleitung (Bild 117 & 118). Die Nutzer solcher Labore im Bereich von Universitäten, Militär oder Regierungsforschung60 können die dunkle Seite zur Aufstellung von Kameras nutzen oder sie durch die verborgene Hardware miniaturisieren oder gar verschwinden lassen. Die Kammer hinter dem Spionglas wird zur Kamera mit Linsen, die Signale werden übertragen und die Anwesenheit eines menschlichen Beobachters hinter einem Spiegel wird überflüssig. Der Beobachter kann nun überall sein, wohin die Signale sich übertragen lassen. Eine spezielle mobile Einwegspiegelkonstruktion als Beobachtungskammer verwandelt jedes Zimmer in ein Labor.61 Gleichermaßen gelingt dies über Kamera und Mikrofon.
Anleitung von Michael Connor zur Herstellung eines Spionspiegels, Illustration: Bill Border, 1984.
Anregung von Michael Connor zum Einsatz eines Spionspiegels, Illustration: Bill Border, 1984.
Ein mobiler Beobachtungswagen oder umgebauter Caravan kann gleichermaßen zum mobilen Labor zur Beobachtung von Kindern werden62 oder zum Beobachtungsposten zur Beobachtung der Außenwelt.
Ein Spionspiegel wandelt sich durch Licht auf der dunklen Seite vom Spiegel zum Glas. Selbst Spiegelglas, einfaches Glas, reflektiert und ist undurchsichtig, wenn es tagsüber hell ist und aus dem Innern der Häuser kein Licht dringt. Glas ist dann von der (hellen) Außenseite betrachtet nicht transparent.63 Nachts, sobald die Welt dunkel und die Häuser innen hell sind, werden Fenster aber endlich auch von außen gesehen glasklar: Licht verändert Glas. Spiegelnde Flächen, etwa von Ferngläsern, können verräterisch für eine Observation sein.64 Es ist auch möglich, von einem Versteck, das hinter einem gewöhnlichen Spiegel liegt, heimlich zu beobachten, falls durch einen kleinen Kratzer die Beschichtung bis auf das Glas entfernt ist, wie es 1894 im bekannten Strand Magazine zu lesen und sehen ist (Bild 120).65 In Ratgebern zum Bau von Verstecken66 werden Einwegspiegel als Versteck dem Leser ans Herz gelegt, damit die Außenwelt kontrolliert werden kann: Ist die Luft rein?
DIY-Wissenschaft: mobiles Einwegspiegellabor zum Selbstbau.
James Scott illustriert 1894 diesen Raum hinter einem Spiegel als Versteck und heimlichen Beobachtungsposten.
Nun kann die Reinheit und somit Unsichtbarkeit wie Durchsichtbarkeit von Luft wohl mit bloßem Auge ermittelt werden, wie es bereits Fritz Heider erwähnt.67 Die Reinheit kann gemessen werden. Das Medium der Luft lässt sich manchmal auch riechen, wenn sie etwas belastet. Die Luft ist ein Medium für Gerüche, überträgt diese. Heimliche Beobachtung – aktiv (beobachten) wie passiv (beobachtet werden) – beschränkt sich allgemein auf Hören und Sehen,68 aber ein Beobachter im Labor(raum) sollte darauf achten, nicht gerochen zu werden, wohingegen der Geruch eine Beobachtung im Experiment wert sein kann. Bei Tieren ist dieser Sinn mitunter stark entwickelt und dürfte einen unsichtbaren und lautlosen Beobachter verraten.69 Scheinbar sind der ganze Aufwand und die Diskussion ohnehin überflüssig, da nach Auswertung von Studien über die Reaktivität von Beobachtung auf Beobachtetes sich spätestens 2010 anscheinend herausstellt, dass diese nicht wirklich stark ist.70 Ist Heimlichkeit völlig überflüssig – auch bei Nachrichtendiensten? Was ist mit dem Forscher, der unter dem Ehebett liegt, um Bettgeflüster aufzunehmen?71 Selbstredend wäre das Paar wenig amüsiert, wenn es den Forscher unter ihrem Bett erwischen würde. Beim Ort des Bettes ergreift Michel Foucault mit den Heterotopien erneut das Wort:
Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden.72
Was ist dort unter dem Bett, wo sich Staub, Heimlichkeit und Unheimlichkeit sammelt? Was ist mit einer sich nicht nur dort verbergenden Figur, die der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935) in seinem Lehrbuch zur Sexualpathologie Störungen im Sexualstoffwechsel mit besonderer Berücksichtigung der Impotenz als intimen Kenner von Handwerk und Optik beschreibt:
Er trug Bohrzeug bei sich, um nach Art der Voyeure kleine Löcher in die Zwischenwände öffentlicher Klosetts zu bohren, oder schüttete dort, wo die Zwischenwände nicht bis zum Boden reichten, Flüssigkeiten aus, in denen sich die Genitalien spiegelten.73
Diese Zeilen nähern sich dreckigen, verruchten Kreisen, wo Sex, Triebe, Perverse, gar das Perverse an sich, herrschen, gar Orgien und vor allem Mysterien regieren. Ü 18 …
Foucault 1967/2002, S. 39–40.
So Michel Foucaults alternative Beschreibung der Disziplin und ihrer Tätigkeit, als eine Beschreibung der Beschreibung, vgl. ebd., S. 39–40.
Eine optische Täuschung ist eine solche Falschnehmung.
Seitter 2001, S. 7.
Chalmers 1972/2007, S. 7, 25.
Carrier 2006, S. 36.
Vgl. Ruß 2004, S. 149–151.
Ausnahmen davon bilden spezielle wissenschaftliche Beobachtungen etwa mit Tele- und Mikroskop oder im Labor, vgl. Daston und Galison 2007, S. 3.
Vgl. Daston und Lunbeck 2011.
Daston und Galison 2007, S. 17.
Vgl. Foerster, Müller und Müller 1996/1997, S. 130.
Vgl. Pörksen 2011, S. 23.
Vgl. Foerster und Floyd 2004/2008, S. 58.
Wie bei: Horn 2001, S. 56.
Ebd., S. 56.
Roboter oder Maschinen sind Objekte, die Ähnlichkeiten mit Lebewesen besitzen.
Vorstellbar sind Maschinen oder Roboter, die auf eine Weise konstruiert sind, dass sie auf die Anwesenheit von Lebewesen reagieren. Damit würde sich das Verhalten solcher technischen Systeme dem Verhalten sozialer Systeme annähern. Deren Analyse müsste sich Methoden der Soziologie bedienen.
Vgl. Latour und Woolgar 1979/1986.
Es lässt sich zwar von einem Experiment sprechen, aber es braucht viele Experimente, um Gewissheit zu erzeugen, wie der Biologe und Erkenntnistheoretiker Ludwig Fleck historisch nachgewiesen hat und von einem „System der Experimente“ spricht, vgl. Rheinberger 1992, S. 24–25, Rheinberger und Hagner 1993.
Vgl. Romanyshyn 1971, S. 103–104.
Vgl. Webb u. a. 1966/1975, S. 7.
Vgl. Scholl 2013, S. 87, 89.
Vgl. Bungard und Lück 1974.
Vgl. Webb u. a. 1966/1975, S. 146–150.
Ebd., S. 176.
Vgl. Gehrau und Schulze 2013, S. 333.
Webb u. a. 1966/1975, S. 176.
Vgl. Hanke 2014, Hanke und Höhler 2010.
Zur Architektur der Wissenschaft vgl. Galison und Thompson 1999.
Hanke und Höhler 2010.
Schäffner 2013.
Vgl. Lemma Laboratorium, Kluge 2012, sowie entsprechend: Pfeifer 2004.
Vgl. Orne 1962, S. 776.
Neben wissenschaftlichen Laboren gibt es etwa Fotolabore. Gibt es aber unwissenschaftliche Labore mit entsprechend unwissenschaftlichen Mitarbeitern? Sind sie ein Ort, wo genau das gemacht wird, wovor sich die tapferen Hüter der Wissenschaft fürchten und Verstöße dagegen durch die selbst ernannte Wissenschaftspolizei rigoros verfolgt werden? Ein unwissenschaftliches Laboratorium verspricht ein höchst spannender, subjektiver und poetischer Ort zu sein.
Schneirla 1950.
„Die Tarnkappe ist ein Überzug für den Kopf. Sie soll in Verbindung mit der Tarnzeltbahn die Tarnung einzelner Personen vervollständigen.“ So lautet eine weltliche Beschreibung dieser Technik in einer militärischen Ausbildungsanleitung von 1935 der deutschen Heeresleitung zu Tarnkappen als „künstliche Tarnmittel“, vgl. Reichswehrministerium 1929/1935, S. 7, 34. Die dort beschriebenen Tarnverfahren zählen zur Camouflage und sollen vor der mittelbaren Beobachtung durch militärische Aufklärungsmittel (Luftbildfotografie, Fernglas) schützen, wie es dort heißt bzw. bei: Shell 2012. Heute wird die weltliche Tarnkappe wiederum anders aufgefasst. Die Stealth-Technik ermöglicht Tarnkappenflugzeugen und -schiffen die Unsichtbarkeit oder Gestaltveränderung gegenüber der feindlichen Radaraufklärung. Das Radar ist wiederum eine mittelbare Form von Beobachtung.
Tarnkappe, Erker und Kamera als Mittel zur heimlichen Beobachtung nennt: Westerbarkey 1998/2000, S. 77–78.
Webb u. a. 1966/1975, S. 181–183.
Diese Vorgehensweise unterscheiden etwa: Zadeh 2005, S. 5, Aicher 1991a.
Beobachtung im Bereich von naturwissenschaftlicher Forschung ist meistens Beobachtung von Beobachtung, da der Experimentator mit Instrumenten arbeitet. Es handelt sich um Beobachtung zweiter Ordnung, vgl. Schickore 1999. Die Beobachtung mittels Kamera und Mikrofon ist Beobachtung zweiter Ordnung.
Möhring und Schlütz 2013, S. 12, vgl. zum Vorbehalt gegenüber Abhörgeräten zu diesem Zwecke: Burchard 1957. Die Sichtweisen verschiedener Gruppen in der Psychiatrie wertet aus: Smith 1969.
Roth 1962.
Vgl. Hanke und Höhler 2010, S. 310.
Zu diesem Einsatz des Spiegels vgl. Martin und Bateson 1986, S. 17–18.
Vgl. Foucault 1967/2002, S. 39.
Ort bezeichnet einen Punkt, eine Koordinate, eine Lage im Raum, während ein Raum eine dreidimensionale Ausdehnung bezeichnet. In der Architektur verschmelzen diese Bezeichnungen aber, so ist ein Haus oder ein Zimmer durchaus ein Ort, aber auch ein Raum. Das Zimmer ist ein Raum (engl. ‚room‘) und ein Raum (engl. ‚space‘). Eine Ansammlung von Häusern wird allerdings als Ort oder Ortschaft bezeichnet, die wiederum über einen Punkt oder eine Nadel auf der Karte markiert und lokalisiert werden kann, vgl. hierzu auch: Horstmann 2009, S. 38–47.
Auf diesen Umstand macht aufmerksam: Weizman 2006, S. 94, 96.
Für den deutschsprachigen Raum, vgl. Jagemann 1838, S. 153–154, in der Folge: Pfyffer von Altishofen und Gilgen 1843, S. 218–219.
Eine Entwicklung der maximalen Größen von Glasscheiben zeigt auf: Robilant u. a. 2014, S. 42–43. Diese Entwicklung sagt aber noch nicht aus, wann entsprechende Glasformate erschwinglich und gebräuchlich, alltäglich werden und wann solche Spionspiegel in entsprechenden Formaten hergestellt werden.
Für diese Zeit finden sich zahlreiche Beispiele für Verstecke, die in Form von Speakeasies (dt. Flüsterkneipen) den Alkohol oder das ganze Lokal verbergen, wie etwa der 21st Club in New York, vgl. Gauntlett 2008. Soll Roehner (1904–1983), ein auf den Bau von Geheimtüren für Speakeasies spezialisierter Handwerker, plant zeitgleich mit dem Erscheinen vieler DIY-Ratgeber über den Versteckbau in den 1980er Jahren die Verarbeitung seiner Erinnerungen zu zwei solchen Versteckratgebern. Beide sind aber wohl nicht erschienen und lassen sich nur als Datensätze über eine Datenbank für Urheberrechte (www.copyright.gov) in den USA ermitteln, vgl. Roehner 1979, Roehner 1981.
Arnold Gesell beschreibt die genaue Herstellung solcher Schirme: Gesell und Ilg 1943, S. 369–371.
Pinneau 1951, S. 235. Für die Konjunktur des Spionspiegels in der Forschung erst nach dem zweiten Weltkrieg spricht auch, dass der Psychiater James R. Smith erwähnt, dass sie in psychiatrischen Kliniken 1969 seit über 20 Jahren im Einsatz seien, vgl. Smith 1969, S. 1161.
Zum detaillierten Aufbau siehe: Halverson 1928 sowie: Gesell 1928, S. 56–80.
Hierzu: Gesell 1932, einen Blick auf Arnold Gesells Rolle als Pionier solcher Wissenschaftsfilme und diese Studioarchitektur aus Sicht von Medien-/Filmwissenschaft wirft: Curtis 2011.
Weir 1998.
Gehr 1947.
Pinneau 1951, S. 235.
Z. B. Bales und Flanders 1954.
Der Durchsichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Glas und damit seiner Eigenschaft als Medium hat sich Fritz Heider gewidmet, vgl. Heider 1927, S. 113–114, 132.
Bales und Flanders 1954, S. 772.
Zwei Lösungen hierzu beschreiben: Burton 1971 und Gewirtz 1952.
Bijou 1958.
Ein Ergebnis eigensinniger Beobachtung, aber auch noch einmal pointiert durch: Vidler 1992/2002, S. 272.
Vgl. Glitza 2009, S. 65–66.
Vgl. Scott 1894, S. 733.
Connor 1984a, S. 81–87.
Vgl. Heider 1927, S. 113–114.
So auch: Westerbarkey 1998/2000, S. 79.
Auf diesen Sinn machen in diesem Zusammenhang aufmerksam: Martin und Bateson 1986, S. 17–18.
So berichten es: Yoder und Symons 2010, S. 60–62.
Diesen Fall nennen: Webb u. a. 1966/1975, S. 13.
Foucault 1966/2005b, S. 10.
Hirschfeld 1920, S. 49.