Versteckte Experimente und obskure Kammern
„Miserable à mon gré, qui n’a chez soy où estre à soy, ou se faire particulierement la court, ou se cacher!“
(„Arm dran ist meines Erachtens, wer bei sich zuhause nichts hat, wo er bei sich zuhause ist, wo er sich verbergen, wo er mit sich selbst Hof halten kann!“)
Michel de Montaigne, De trois commerces, 1588
Erscheinung ist ein merkwürdiges Wort. Es spricht gleichzeitig von Auftreten, Anwesenheit, Aussehen, Aufmachung, Publikation, Aufleuchten, Geist, Vision und Täuschung. Ist ein Versteck aber nicht das genaue Gegenstück zur Erscheinung? Jemand oder etwas tritt nicht in Erscheinung? Diese ‚Nicht-Erscheinung‘ müsste dann entsprechend von Abtreten, Abwesenheit, Unsichtbarkeit, Schweigen/Zensur/Geheimnis, Verdunkelung, Leibhaftigkeit, Sein und Wahrheit berichten. Trotz dieser Gegensätze vereint ein Versteck diese Bedeutungen zugleich. Die Bruchstelle, die im Wort Erscheinung selbst liegt, diese – anscheinende – Grenze zwischen Schein und Sein untersucht Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), neben seiner Arbeit als Literat, staatsbeamteter geheimer Rat und einem Interesse an Zauberkunst auch als naturwissenschaftliche Fragestellung über das Sehen. In seiner 1810 erscheinenden Schrift Zur Farbenlehre beschreibt er folgende Experimente, die er zuvor scheinbar heimlich still und leise im heimischen Kämmerlein anstellt:
In einem Zimmer, das möglichst verdunkelt worden, habe man im Laden eine runde Öffnung, etwa drei Zoll im Durchmesser, die man nach Belieben auf- und zudecken kann; durch selbige lasse man die Sonne auf ein weißes Papier scheinen und sehe in einiger Entfernung starr das erleuchtete Rund an;
Goethe setzt mit der Beschreibung eines zweiten Versuchs fort:
man schließe darauf die Öffnung und blicke nach dem dunkelsten Orte des Zimmers, so wird man eine runde Erscheinung vor sich schweben sehen. Die Mitte des Kreises wird man hell, farblos, einigermaßen gelb sehen, der Rand aber wird sogleich purpurfarben erscheinen.1
Er führt weiter aus, wie sich die Erscheinung in Farbe und Form verändert, nach und nach abnimmt. Ein weiterer Versuch läuft folgendermaßen ab:
Man öffne nun wieder die Öffnung, blicke durch selbige und werde so das Außenliegende sehen, ohne in den Blick eines Außenliegenden zu geraten.
In einem vierten und letzten Versuch passiert folgendes:
Erhellt man nun das Zimmer und wechsle nach Außen, zur anderen Seite des Loches, so wird man das Innere des Zimmers sehen, erhellt man es dagegen nicht, so wird darin nichts als reine Dunkelheit zu erkennen sein.
Nun ist nicht das Thema der Farbe oder Nachbilder als Erscheinung – letztere nennt Goethe auch Gespenst – im Zusammenhang mit dem Versteck von Interesse, sondern die begreifbare Architektur des Zimmers, die durch einen minimalen Eingriff, fast nur durch einen Punkt, manipuliert wird. Bohrt jemand ein im Durchmesser drei Zoll messendes Loch in den Fensterladen, wird ein derart abgedunkeltes Zimmer durch diesen minimalen Eingriff zu einer architektonischen Experimentalanordnung, einer Experimentalarchitektur.
Durch das Loch scheinendes Licht verwandelt die gegenüberliegende Wand in eine Mattscheibe, eine Leinwand, indem ein seitenverkehrtes Bild der Außenwelt darauf über Licht projiziert wird. Diese Architektur der Wissenschaft,2 die in diesem Falle zugleich eine der Kunst der Wissenschaft ist, verknüpft sich hier scheinbar eng mit Zimmer, Fenster, Fensterladen und Loch. Es werden in den drei obigen Experimenten drei ähnliche Aufbauten beschrieben:
a) die klassische Camera obscura, welche ein Bild der Außenwelt nach Innen wirft und zugleich damit ein mittelbarer heimlicher Beobachtungsposten ist,
b) eine dunkle Kammer oder Dunkelkammer, die als Versteck zu sehen ist,
c) ein heimlicher Beobachtungsposten, der durch das Loch einen unbemerkten Blick auf die Außenwelt gestattet.
Der Kunsthistoriker Jonathan Crary macht in seiner Studie über die Techniken des Betrachters, worin er sich ausführlich mit der Camera obscura auseinandersetzt, darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Versuchsaufbau aus Goethes erstem Experiment um eine solche Camera obscura handelt.3 Im 17. und 18. Jahrhundert dient das Gerät als philosophische Metapher in Bezug auf die Abschottung des in der Kammer befindlichen Individuums von der Außenwelt und als Modell zur Veranschaulichung der Funktion des Auges. Als technischer Apparat wird es zur Unterhaltung (eine Art Filmprojektor mit Leinwand, ein Kino vor dessen Erfindung), wissenschaftlichen Forschung sowie als Zeichenhilfe verwendet. Infolge der Aufklärung wandelt sich im 19. Jahrhundert die Betrachtungsweise des Gerätes. Es wird nun als etwas angesehen, was die wahre Welt falsch wiedergibt. Vor dieser Zeit wird hingegen nicht zwischen Abbild und Wirklichkeit unterschieden.4 Die Projektion auf der Wand gibt nur ein mittelbares Bild der Außenwelt wieder. Ist ein unmittelbares Bild möglich? Im zweiten Versuch schottet sich Goethe durch das Schließen des Loches von der Außenwelt ab.
Seine Kammer wird zu einem Versteck. Kein Licht kann den Sehnerv reizen und der Herr Geheimrat ist demnach blind. Trotzdem scheint Goethe etwas zu sehen. Er nennt diese optische Wahrnehmung „Erscheinung“ und diese führt bei ihm zu einer Erkenntnis, ohne zu sehen. Er sieht in seiner Geisterkammer nichts und etwas. Es ist eine Wirkung ohne direkte Ursache. Er sieht Gespenster. Seine Kammer wird zu einem Versteck und zu einem anderen Raum, zu einer sehr obskuren Kammer. Der dritte und vierte Versuch ist im Aufbau dem ersten gleich, jedoch unterscheidet er sich darin, wie der Aufbau genutzt wird.
Betrachtet wird nicht die Projektion auf der Wand, wie in Versuch eins, eine mittelbare Sicht der Außenwelt, sondern Goethe blickt demnach direkt durch das Loch und somit unmittelbar in die Außenwelt. Diese Nutzung entspricht der Funktion eines Guckkastens oder einer Peepshow, sowohl im ursprünglichen Sinne als Apparat der Medientechnik wie in der geläufigeren Form, die aus dem Erotikbereich bekannt ist. Die Beobachtung entspricht der durch ein Schlüsselloch. Der Insasse ist Voyeur in einem Beobachtungsposten. Er sieht und vermeidet zugleich, selbst gesehen zu werden. Er versteckt sich und kann die unbeobachtete Beobachtung genießen. Die Camera obscura ist eine direkte Verbindung von Architektur und Medienwissenschaft, ist sie ein Medium zur mittelbaren Betrachtung der Welt über deren spiegelverkehrte Projektion in das Innere. Zum anderen – in ihrer immobilen Variante – ist sie meist ein „allseitig umfestigter Leerraum“, der eine „übermenschengroße Ausdehnung“ besitzt, so ein Haus, um Walter Seitters Minimaldefinition zu folgen.5 Meist vernachlässigt wird aber die Rolle dieser obskuren Kammer als Versteck, als heimlicher Beobachtungsposten, als Architektur des Geheimnisses.
Eine Sache wird dem pedantischen Leser womöglich spanisch vorkommen. Die dritte und vierte Versuchsbeschreibung ist zwar als Zitat formatiert, aber eine genaue Quellenkennzeichnung fehlt. Im Zusammenhang betrachtet scheint das Experiment aus Goethes Feder, Geist und Beobachtung entsprungen zu sein, möglicherweise ist lediglich eine Fußnote abhandengekommen. Ist es jedoch möglich, dass ich, der Autor, diesen Text verfasst, den Stil Goethes nachgeahmt habe (eine Goethe-Mimesis) und ihn lediglich fälschlicherweise als Zitat formatiert habe? Warum sollte ich eine solche Verfehlung, sozusagen wissenschaftliche Selbstentleibung, auf den letzten Metern dieser Untersuchung begehen? Es ist möglich, dass im Eifer des Gefechts der Abfassung dieser Zeilen mir das Gedächtnis einen Streich bezüglich des Verfassers gespielt hat. Letzterer Fall nennt sich Kryptomnesie (griechisch für „vergessene Erinnerung, verstecktes Gedächtnis“), ist eine Bezeichnung für ein psychologisches Phänomen, bei dem sich jemand fälschlicherweise, aber gutgläubig als Urheber eines Gedankens oder einer Schöpfung versteht. Das ist etwas, was selbst anerkannten Gehirnakrobaten wie Ludwig Wittgenstein zu unterlaufen scheint und ihn überraschenderweise als Plagiator überführen lässt.6 Ohnehin passen Phänomene und Worte im Zusammenhang mit dem Wortbestandteil „krypt“ zu dieser Untersuchung.
Heimliche Beobachtung: Die Camera obscura, ein Raum mit Loch, ermöglicht heimlich das Äußere im Innern zu beobachten. Als technische Besonderheit wird hier über einen Spiegel das seitenverkehrte Bild über den Schirm auf dem Tisch korrekt wiedergegeben, Illustration: Jules Gagniet, 1859.
Jeder mag aus dem einen oder anderen Grund nun Nachsicht walten lassen. Es muss dabei nicht einmal eine besondere sein: „Das wäre eine lässliche Sünde, ein Versehen, wie es in einer langen Arbeit passieren kann.“7 Ziemt sich eine Nachsicht, obwohl ich den Eindruck erwecke, mich mit den fremden Federn des Großmeisters Johann Wolfgang von Goethe schmücken zu wollen, eine Form der Maskerade betreibe, was aber wiederum zum Rahmen dieser Untersuchung passt? Dem Skeptiker wird die Sache vielleicht keine Ruhe lassen, er wird sich über die soeben gelesenen Zeilen wundern, schließlich wäre eine Korrektur viel einfacher, als es in dieser Form auf das Tablett zu bringen und auszuwalzen, den Quark zu treten, bis er dem Sprichwort nach nicht mehr breiter wird. Nicht nur der Pedant wird nun die Stelle im Original nachlesen wollen. Um dieser Tat vorzugreifen, darf verraten werden, dass kein drittes und viertes Experiment in dieser Form durch Goethe beschrieben wird. Die Experimente sind eine Fälschung und reine Fiktion – von mir, dem Autor. Es wurde von mir versucht, Goethe etwas anzudichten oder zumindest den Anschein zu erwecken. Die beiden Versuche sind denkbar, liegen auf der Hand, und es ist gut möglich, dass sie wohl aus Neugier oder zur Funktionsprüfung (Überprüfung der Freiheit des Loches von Bohrstaub oder dergleichen auf optischem Weg mittels einfacher Durchsicht) von Goethe durchgeführt werden. Trotzdem sind diese Experimente nicht belegt. Die deutsche Sprache steht in diesem Zusammenhang wohl auf meiner Seite. Sie spricht, wie der Advokat, für mich. In beiden Fällen ist die Bezeichnung Geschichte gestattet und eine Unterscheidung nicht möglich. Die englische Sprache erscheint aufgeklärter und bietet die ‚history‘, die Zeitgeschichte, und die ‚story‘, Fiktion, an. Das eine wirkt auf das andere, koppelt zurück und damit entsteht Neues usw. usf. Die einleitende Episode mit der verschwindenden Dame ist nun zweifelhaft. Hat es sich derart zugetragen und gibt es diese heimliche Spiegeltür in diesem Modehaus? Macht es einen Unterschied, ob es eine von mir erdachte Geschichte ist oder eine historische Erzählung eines Erlebnisses? Ist es relevant für die Thematik des Verstecks? Es geht schließlich um die Wirkung von Geschichte und Geschichten, was mit ihrer Popularität steigt und nicht mit einem ihnen zugeschriebenen intellektuellen oder akademischen Anspruch: Batman ist wirkungsvoller als Johann Wolfgang von Goethe.
Das Heimnis ist irgendetwas zwischen Heim und Geheimnis. Das Versteck in Haus und Heim ist das Heim(nis) im Geheimnis. Ein Versteck ist kein Geheimnis, aber es ist geheimnisumwittert. Ein Versteck ist die räumliche Entsprechung zum Geheimnis. Die Welt der Verstecke ist eine verlegte Welt, der restlichen Welt entrückt und wird trotzdem oder deswegen nicht oft verlegt, ausnahmsweise und erstmals in Form der Veröffentlichung dieser Untersuchung. Wer oder was im Versteck versteckt ist, ist scheinbar nicht der Fall. Das Versteck führt zum Un-fall. Diese Weltabgeschiedenheit ist ein beliebtes Motiv in Film, Literatur, Presse, jedoch nicht der Wissenschaften. Sie ist eine Welt der Amateure, Laien, Dilettanten, die Schutz, Einsamkeit oder Unterhaltung suchen, weniger die der Spezialisten und Akademien. In ihr verbergen sich Lebewesen, Dinge und Daten. Im Falle ihrer Entdeckung sind Verstecke keine Verstecke mehr. Verstecke sind wohl letzte kleine zauberhafte weiße Flecke auf den Landkarten der entzauberten Welt. Ein Versteck verzaubert das Haus.
Es war, wie wenn diese Menschen, die hier kommen und gehen, immer die gleichen Menschen, in den Schränken und Wandverschalungen versteckt wären, sie treten heraus und treten hinein .. immer wieder .. heraus und hinein, wie von dem schläfernden Atem des Hauses in einer ungeheuren, langsamen, starren Regelmäßigkeit bewegt.
Robert Musil, Das verzauberte Haus, 1908
Punkt – Aus – Ende.