Sichtbare Spuren der einst überaus erfolgreichen Zirkusunternehmen mit ihren pompösen Spielstätten und aufwendigen Inszenierungen finden sich in Berlin heute kaum mehr. Lediglich die Grabstätten der Zirkusdirektor:innen von Busch, Renz und Schumann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof II im Wedding sowie der Name der kurzen Straße „Am Zirkus“, die am Grundstück des einstigen Markthallenzirkus entlangführt, weisen (Wissende) noch auf die zirkusträchtige Vergangenheit der Hauptstadt hin. Dass sich die Angehörigen der Literaturtheater-Spielstätten dereinst durch den Erfolg der Zirkusse existenziell bedroht fühlten, ist heute kaum vorstellbar.
Ausgangspunkt dieser Studie war die Frage, welche Akteur:innen und Faktoren um 1900 zur Wende im Kräfteverhältnis zwischen Zirkus und ‚Theater‘ in Berlin beitrugen. Zu den von der Literaturtheater-Lobby erzielten Verschärfungen der Theater- beziehungsweise Gewerbegesetze und ihres Vollzugs kamen strengere Zensurmaßnahmen, neue Bauverordnungen, Spielverbote und Einschränkungen an Feiertagen sowie die Einführung der Lustbarkeitssteuer, die den Betrieb fester Zirkusspielstätten nach 1900 zunehmend kompliziert und unrentabel machten. Verstärkt wurde diese Entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Ersten Weltkrieg, eine hohe Inflation sowie die wachsende Konkurrenz durch andere kulturelle Angebote. Während die Zirkusse den Zenit ihres Erfolgs überschritten hatten, konnte das Literaturtheater nach 1918 den Gewerbestatus hinter sich lassen. Es wurde in den Rang einer der öffentlichen Bildung und ‚hohen‘ Kunst verpflichteten und damit ‚förderungswürdigen‘ Institution erhoben: Das bis heute bestehende Stadt- und Staatstheatersystem war etabliert.
Zur Aufwertung des eigenen ‚Standes‘ grenzte die Literaturtheater-Lobby das Bildungs- und Literaturtheater über Jahrzehnte hinweg konsequent vom Zirkus und anderen Theaterformen ab. Die Zirkuskünste und ihre Spielstätten wurden als kunstlos und ‚niedrig‘ bewertet sowie als kunst-, moral- und geschmackschädigend verunglimpft. Diese Diskreditierungen, die eng verbunden waren mit den Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen der damaligen Zeit, fanden auch Eingang in die Überarbeitung der Theatergesetze zwischen 1880 und 1900. Beim Blick auf die Veränderungen der Gesetze und auf ihre juristische Kommentierung fällt zudem nicht nur die sich konkretisierende Hierarchisierung verschiedener Theaterformen auf, sondern auch eine Rückkehr zu gattungsspezifischen Einschränkungen beziehungsweise eine diskursive Ausdifferenzierung der Sparten.
Die Legitimationsstrategie der Literaturtheater-Lobby war, wie im zweiten Kapitel dargelegt, eingebettet in die sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts etablierenden Ästhetikdiskurse in der Tradition einer Systematisierung der Künste beziehungsweise Kunstfertigkeiten, die bis in die Antike zurückreicht. Die Etablierung des Begriffs ‚niedrig‘ als ästhetische Kategorie, mit der Rohheit, Unsittlichkeit und Geistlosigkeit assoziiert wurde (und immer noch wird), geht ihrerseits auf die Ästhetiktheorien des frühen 19. Jahrhunderts zurück.
Auch die Bestrebungen der Artistik-Lobby folgten jenem Aufwertungs- und Abwertungsmuster: Die Artistik-Verbände kämpften insbesondere in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts für ihre Spielstätten und Produktionen um Anerkennung als ‚höhere‘ Kunst und grenzten sich dabei vom sogenannten Tingeltangel-Unwesen ab, das als niedrig, unwürdig und schädlich diffamiert wurde. Die Versuche, dabei für Zirkus und Varieté eine bessere Stellung innerhalb der Theaterhierarchie im öffentlichen Recht zu erlangen, scheiterten jedoch. Die Auf- und Abwertungsargumentation seitens der Literaturtheater-Lobby, aber auch der Artistik-Verbände festigte die bis heute wirkmächtige, dualistische Vorstellung von ‚niederen‘ Künsten sowie U-Kultur auf der einen und ‚höheren‘ Theaterformen sowie E-Kultur auf der anderen Seite. Maßgeblich beeinflusst durch das Engagement von Literaturtheater-Verfechter:innen erlangte so ein exklusiver Theaterbegriff, der bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts diskursiv etabliert worden war, um 1900 in der Theaterpraxis eine hegemoniale Stellung.
Eine Hinterfragung dieses engen Theaterverständnisses und der mit ihm einhergehenden Institutionen und Strukturen in den 1970er und 1980er Jahren führte zwar zur Entwicklung neuer Produktions- und Spielstätten sowie entsprechender Förderinstrumente – die ‚freie Theaterszene‘ etablierte sich. Doch dominiert das um 1900 verdichtete und gefestigte Förderverständnis auch heute noch die kulturpolitische Praxis: Als ‚förderungswürdig‘ gelten Theatervorstellungen, auch jene der ‚freien Szene‘, nur dann, wenn sie einen Bildungsauftrag erfüllen – und sei es dadurch, dass ihnen eine inhaltliche oder gesellschaftliche ‚Relevanz‘ zugesprochen wird, womit in der Regel eine kritisch-reflektierende Perspektive auf gesellschaftliche Themen gemeint ist. Primär vergnüglich und sinnlich, wie es der Zirkus ist oder wie es diesem unterstellt wird, darf das geförderte Theater nicht sein. Die hierarchische Kategorisierung der beiden Theaterformen manifestiert sich demnach nicht nur in einem wissenschaftlichen Desinteresse und einem entsprechend dürftigen Forschungstand, sondern auch in der kulturpolitischen Praxis – zumindest jener des deutschsprachigen Raums. Eine Ausnahme stellte die DDR dar: Dort galt der Zirkus als Kultur und wurde auch entsprechend gefördert. Bis zur Wiedervereinigung existierte ein Staatszirkus.1
Ganz anders sieht die Situation in Frankreich aus. Hier veränderte sich die kulturpolitische Perspektive auf den Zirkus ab Ende der 1970er Jahre kontinuierlich im Rahmen von Debatten über den Schutz kultureller Traditionen (patrimoine culturel) und Diskussionen rund um die Erweiterung des Kulturbegriffs.2 So wurde der Zirkus, bis anhin Angelegenheit des Agrarministeriums, 1978 dem Zuständigkeitsbereich des Kulturministeriums zugeordnet. Dieser Entwicklung Rechnung tragend wurden ab 1980 verschiedene Fördermaßnahmen ins Leben gerufen. Zirkusbetriebe wurden etwa von Steuerabgaben entlastet, zudem wurden eine Struktur zur Produktionsförderung auf die Beine gestellt. In der Folge entstanden verschiedene, inzwischen international renommierte Zirkusfestivals, und auf den Spielplänen der Theater beziehungsweise Gastspielhäuser stellen Zirkusproduktionen heute keine Ausnahme mehr dar.
Im Jahr 1985 eröffnete das französische Kulturministerium die erste staatliche Zirkusausbildungsstätte in Frankreich, das Centre National des Arts du Cirque (CNAC) in Châlons-en-Champagne, unter anderem in einem dort 1898/99 errichteten Zirkusgebäude. Während in osteuropäischen Staaten wie auch in der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg staatliche Zirkusausbildungsstätten nach sowjetischem Modell etabliert wurden (in Berlin gibt es bis heute die 1956 gegründete Staatliche Artistenschule), wurden in Westeuropa und Nordamerika erst nach der Gründung von privaten Zirkusschulen ab Mitte der 1970er Jahre öffentlich finanzierte Zirkusschulen aufgebaut beziehungsweise privat geführte Einrichtungen verstaatlicht. Auch durch die Etablierung öffentlicher Ausbildungsstätten hat sich kulturpolitische Praxis in puncto Zirkus in Belgien, Kanada, England und den Niederlanden, aber auch in Schweden, Finnland, Tschechien, Italien und Spanien über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte stark verändert. Entsprechend existieren auch in diesen Ländern vielfältige Ausbildungsorte und Förderstrukturen sowie dynamische ‚freie Zirkusszenen‘.3
Seit ungefähr zehn Jahren erfährt der sogenannte Neue oder zeitgenössische Zirkus auch im deutschsprachigen Raum Aufschwung und Resonanz. In Deutschland, Österreich und der Schweiz waren die Zirkuskünste bislang von der Kulturförderung ausgeschlossen. Heute gelten sie nur unter gewissen Bedingungen, je nach Region und erst seit Kurzem, als ‚förderungswürdig‘. Bei den Legitimationsbestrebungen zur Förderung ‚künstlerischer‘ Zirkusproduktionen lässt sich indes eine Abgrenzung nach altbekanntem Muster beobachten: Die Interessenvertretung der freien Zirkuskünstler:innen schreibt sich in den auf einem tradierten Kunstverständnis basierenden Aufwertungsdiskurs ein, indem sie den zeitgenössischen Zirkus – im Gegensatz zum ‚traditionellen‘ oder ‚klassischen‘ Zirkus – als Kunstform darstellen. Damit werten sie bewusst oder unbewusst die ‚alte‘ Zirkuspraxis ab. Dies ist durchaus nachvollziehbar: Die Zirkuskünstler:innen ringen innerhalb der aktuellen Strukturen und der bestehenden kulturpolitischen Praxis um symbolische wie auch finanzielle Anerkennung für ihre Arbeit. Bei der kulturpolitischen Lobbyarbeit wird der zeitgenössische Zirkus zudem meist dezidiert als eigenständige Sparte positioniert. Diese Differenzierungsbestrebungen erscheinen aus historischer Perspektive paradox, denn die Zirkuspraxis ist, wie im ersten Kapitel gesehen, seit jeher hybrid und durch die Vereinigung verschiedener Künste gekennzeichnet.
Auf Basis der Erkenntnisse aus dieser Studie wie auch der Beobachtung derzeitiger Bemühungen, den zeitgenössischen Zirkus innerhalb des etablierten Fördersystems zu legitimieren, möchte ich folgende Frage stellen: Wäre es nicht an der Zeit, sich von den tradierten Denkmustern zu lösen und das Fördersystem beziehungsweise den ihm zugrunde liegenden Theater- und Kunstbegriff neu zu denken? Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass es bislang im deutschsprachigen Raum kaum Debatten darüber gibt, dass das öffentliche Theater-Fördersystem in einem Spannungsverhältnis zur grundrechtlich verankerten Kunstfreiheit steht.4 Die Förderung von Theaterinstitutionen, -gruppen und -künstler:innen basiert auf einem kompetitiven und selektiven System, dem in der Regel Bewertungskriterien zugrunde liegen, die sich auf künstlerische und inhaltliche Qualität beziehen. Damit wird definiert, was als Kunst verstanden wird beziehungsweise welche Theaterformen als ‚förderungswürdig‘ gelten. Förderkriterien bedürfen darüber hinaus meist einer begrifflichen Ausdeutung, die den Behörden beziehungsweise den entsprechenden Jurys einen erheblichen Ermessensspielraum lässt.5 Doch wird bei einer „inhaltliche[n] Beurteilung“ durch Fördergremien „die grundrechtliche Vorgabe der Gleichwertigkeit aller Kunst als auch das kommunikationsgrundrechtliche Gebot, dass sich der Staat gegenüber Ideen und Meinungen neutral zu verhalten hat“ missachtet.6 Die Juristin Vanessa Rüegger hält diesbezüglich fest:
Je stärker der Qualitätsbezug und je individueller die Beurteilung eines Förderinstruments ist, umso stärker wirkt die Kunstförderung nicht nur fördernd für die berücksichtigten Gesuchsteller, sondern auch beschränkend auf die künstlerische Freiheit der abgewiesenen Bewerberinnen und Bewerber.7
Die Förderung beziehungsweise Nicht-Förderung bestimmter Theaterformen und Künstler:innen produziert demnach nicht nur Ausschlüsse, sondern sie schafft auch Anreize. Förderkriterien prägen Arbeitsweisen und die Theaterlandschaft insgesamt, da Theatermacher:innen in der Regel versuchen, ihnen zu entsprechen, um ihre Chancen auf eine Förderung zu erhöhen. Die Aufwertung der Produktionen als ‚künstlerisch wertvoll‘ von Förderempfänger:innen festigt ihrerseits den gängigen Theater- und Kunstbegriff und damit die Tendenz, ‚förderungswürdige‘ Formen von Theater zu erarbeiten.8 Auf diese Weise sorgt die etablierte Theaterförderung nicht nur für eine Verengung des Kunstbegriffs, sondern auch für dessen Verstetigung. Dadurch beschränkt sie letztlich die Vielfalt in der Theaterlandschaft.
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Auf die verschiedenen Forschungslücken habe ich an den entsprechenden Stellen in den drei Kapiteln hingewiesen. Abschließend möchte ich zwei Aspekte nochmals besonders hervorheben.
1) Im ersten Kapitel bin ich ausführlich auf die Inszenierungspraxis der Berliner Zirkusse im ausgehenden 19. Jahrhundert eingegangen, insbesondere auf die Zirkuspantomimen. Diese zeichneten sich nicht nur durch spektakuläre Darbietungen und eine aufwendige Ausstattung aus, sondern auch durch ihre übergreifenden, narrativen Dramaturgien. Die Zirkuspantomimen erhielten daher, wie im zweiten Kapitel ausführlich dargelegt, einen Zwischenstatus innerhalb der Theatergesetzgebung. Das Erzählen von Geschichten oder das Vorhandensein einer Handlung in Zirkuspantomimen wurde demnach mit ‚höherer‘ Kunst verbunden. Dies belegt auch die Äußerung eines Berliner Zensors: Zur Bestimmung des ‚höheren Kunstinteresses‘ prüfe er, „ob eine Handlung vorgeführt werden soll“.9 Den Theaterformen ‚ohne Kunstinteresse‘ wurde damit ex negativo eine Abwesenheit von Handlung und Narration unterstellt. Doch trifft dies wirklich zu? Die in dieser Arbeit untersuchten narrativen Zirkusinszenierungen können auch als Einladung verstanden werden, genauer zu erforschen, inwiefern die sogenannte Kultur der Attraktionen um 1900 nicht eben doch auch von Narration(en) geprägt war – wenngleich es sich dabei um Formen des Erzählens handelte, die nicht den als ‚höher‘ bewerteten hegemonialen Erzählungen und Erzählweisen entsprachen.
Mit dem Wissen um die Aufführungspraxis der Zirkusse des späten 18. und des 19. Jahrhunderts lässt sich überdies auch das vermeintlich ‚Neue‘ des Nouveau Cirque, der sich im Fahrwasser der 68er-Bewegung in Frankreich entwickelte, als ein Wiederanknüpfen an einen ‚alten‘ Zirkus betrachten. Die Protagonist:innen dieses ‚neuen‘ Zirkus grenzten sich stark vom ‚klassischen‘ Zirkus ab, indem sie ihre Darbietungen mit Elementen verbanden, die gemeinhin mit ‚dem Theater‘ verbunden wurden und werden. Kurzum: Sie kreierten Zirkusstücke mit narrativen Dramaturgien.
2) Eine Blüte der Artistik oder des Zirzensischen wird im kollektiven Kulturgedächtnis gemeinhin mit den sogenannten Goldenen Zwanzigern beziehungsweise ihrem wilden Nachtleben in den urbanen ‚Vergnügungsetablissements‘ verbunden und vielfach heraufbeschworen. Dies nicht nur in der Forschungsliteratur, sondern auch in kulturellen Produktionen, etwa in der erfolgreichen Fernsehserie Babylon Berlin aus dem Jahr 2017. Auch künstlerische und gesellschaftliche Aufbrüche ebenso wie eine hohe transnationale Mobilität werden häufig mit den 1920er Jahren assoziiert. Anhand des Quellenmaterials dieser Studie wird der umrissene Mythos der Goldenen Zwanziger beziehungsweise die gängige (theater)historische Nacherzählung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg neu perspektiviert. Denn die Artistik hatte zumindest im Zirkus, wo wie im ersten Kapitel gesehen künstlerische und technische Experimente gewagt wurden, ihre Blüte bereits lange vor 1920. Im dritten Kapitel bin ich auch auf die länder- und kontinentübergreifende Vernetzung der Artist:innen und ihr damit einhergehendes Selbstverständnis vor 1914 eingegangen. Außerdem haben einflussreiche kulturelle beziehungsweise ‚zirzensische‘ Akteur:innen der 1920er Jahre, die bühnenübergreifend wie auch international vernetzt waren, den Grundstein für ihre künstlerische Praxis vor dem Ersten Weltkrieg erarbeitet. Man denke etwa an die Chansonnière Claire Waldoff, die Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven oder auch die Operettensängerin Fritzi Massary.10 Sowohl für die transnationale Vernetzung als auch für das künstlerische Selbstverständnis stellte der Erste Weltkrieg eine tiefgreifende Zäsur dar. Die Zeit um 1900 erscheint mit Blick auf die transnationale, gattungs- und formatübergreifende Mobilität sowie das künstlerische Selbstverständnis der Akteur:innen einer umfassenderen Untersuchung wert.
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Den historischen Avantgarden der 1910er und 1920er Jahre dienten die Zirkuskünste bekanntlich als Inspirationsquelle,11 und auch in den 1970er und 1980er Jahren interessierten sich im europäischen und nordamerikanischen Kontext Theaterschaffende auf der Suche nach neuen Formen sowie neuen, zugänglich(er)en Aufführungsorten jenseits der etablierten Theaterinstitutionen für den Zirkus. Doch im Zuge der Aufwertung und Institutionalisierung der ‚freien Theaterszene‘ wurde der Zirkus im deutschsprachigen Raum erneut ausgegrenzt.
Die Zirkuskünste dienten für Theaterschaffende also in der Vergangenheit – insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und ästhetischer Neuorientierung – immer wieder als negativer wie auch positiver Bezugspunkt, ohne dass sich diese Bedeutung jedoch bislang auch nur ansatzweise angemessen in der theaterwissenschaftlichen Forschung niedergeschlagen hätte.
Auch aktuell scheint der Zirkus im Bereich des öffentlich geförderten Theaters wieder verstärkt Faszination auszulösen und als Inspiration zu dienen – zu nennen wären aus der jüngsten Vergangenheit etwa Inszenierungen von Barrie Kosky an der Komischen Oper in Berlin, der Eröffnungsabend der Intendanz René Polleschs an der Berliner Volksbühne oder auch die Arbeiten der Choreografin Florentina Holzinger mit Akrobat:innen in der ‚freien Szene‘.12 Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses neuerliche Interesse diesmal auch auf die wissenschaftliche Forschung im deutschsprachigen Raum überträgt.
Vgl. Dietmar Winkler, Zirkus in der DDR. Im Spagat zwischen Nische und Weltgeltung. Gransee: Edition Schwarzdruck, 2009; ders., Wie beerdigt man einen Zirkus? Das langsame Sterben des Staatszirkus der DDR. Gransee: Edition Schwarzdruck, 2015.
Im November 2022 ist der Zirkus auch von der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen als Tradition und eigenständige Form der darstellenden Künste in das Inventar des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden (vgl. Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, „Sie stiften Identität und Gemeinschaft – vier Neuzugänge beim Immateriellen Kulturerbe“, in: Kultur und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen, 25.11.2022, https://www.mkw.nrw/sie-stiften-identitaet-und-gemeinschaft-vier-neuzugaenge-beim-immateriellen-kulturerbe (Zugriff 28.11.2022)).
Vgl. Mirjam Hildbrand, „Zirkusformen“, in: Beate Hochholdinger-Reiterer u. a. (Hg.), Theater und Tanz. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden: Rombach Wissenschaft, 2023 (bevorstehend).
Das Recht der Kunstfreiheit in ihrer heutigen Form wurde in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg im Grundgesetz verankert und ist in der Schweiz seit 1999 durch die Bundesverfassung garantiert. Auf übergeordneter Ebene ist die künstlerische Freiheit durch die Grundrechtecharta der Europäischen Union sowie durch die Rechtssprechung im Zusammenhang mit der europäischen Menschenrechtskonvention abgesichert (vgl. Rüegger, Kunstfreiheit, S. 21, 97, 164 f.). Alex Bänninger, ehemaliger Kulturchef des Schweizer Fernsehens, kritisierte im Juni 2020 in diesem Zusammenhang die Filmförderpraxis durch das schweizerische Bundesamt für Kultur (vgl. Alex Bänninger, „Wissenslücken und Beratungsresistenz: Das Bundesamt für Kultur fördert die falschen Filme“, in: Tagblatt (27.06.2020), https://www.tagblatt.ch/kultur/das-bundesamt-fuer-kultur-foerdert-die-falschen-filme-die-beamten-haben-wissensluecken-und-sind-beratungsresistent-ld.1232652 (Zugriff 23.11.2022)).
Vgl. Rüegger, Kunstfreiheit, S. 352–356.
Rüegger, Kunstfreiheit, S. 355.
Ebd.
Vgl. Rüegger, Kunstfreiheit, S. 354 f.
Berliner Polizeipräsidium an das Polizeipräsidium Frankfurt am Main, 15.02.1916, Polizeipräsidium Berlin, Theaterpolizei, A Pr. Br. Rep. 030-05, 205, Landesarchiv Berlin.
Für Freytag-Loringhoven vgl. Irene Gammel, Baroness Elsa: Gender, Dada, and Everyday Modernity. A Cultural Biography. Cambridge: MIT Press, 2002.
Vgl. zu diesem Thema Anna-Sophie Jürgens / Mirjam Hildbrand (Hg.), Circus and the Avant-Gardes. History, Imaginary, Innovation. London u. New York: Routledge, 2022.
Vgl. Egbert Tholl, „Schwerelos wie im Märchen“, in: Süddeutsche Zeitung (17.10.2019), https://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-schwerelos-wie-im-maerchen-1.4644542 (Zugriff 01.12.2021); Janis El-Bira, „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen – Volksbühne Berlin. Am großen Entfremdungskörper“, in: Nachtkritik.de (16.09.2021), https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=19951:aufstieg-und-fall-eines-vorhangs-und-sein-leben-dazwischen-volksbuehne-berlin-rene-pollesch-zelebriert-zum-intendanz-einstand-den-diskurszirkus&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40 (Zugriff 01.12.2021); Petruschka / L’Enfant et les Sortilèges: Programmheft der Komischen Oper Berlin. Berlin: o. A., 2017.