Im deutschsprachigen Raum ist der Zirkus im öffentlichen Diskurs mit zahlreichen Vorurteilen behaftet und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand lassen sich kaum finden. Im Gegensatz zu dem, was gemeinhin unter ‚Theater‘ verstanden wird, gilt der Zirkus nicht als Kunst, sondern als Unterhaltung, als Gewerbe oder allenfalls als ‚niedere‘ Kunst. Aber wie ist der Zirkus zu diesem schlechten Ruf gekommen? Warum gilt er als Nicht-Kunst oder als ‚niedere‘ Kunst? Wie ist diese unterschiedliche gesellschaftliche Bewertung von Zirkus und ‚Theater‘ historisch gewachsen? Und warum bewerten wir ‚Theater‘ heute wie selbstverständlich als Kunst und Zirkus als Nicht-Kunst oder auch als Nicht-Theater?
Antworten auf diese Fragen, so meine Ausgangsthese, sind im sogenannten langen 19. Jahrhundert zu finden. Bereits im 18. Jahrhundert gab es im deutschsprachigen Raum Bestrebungen, das Theater als eigenständige Bildungs- und Kunstinstitution zu etablieren. Diese sollten bald schon erste Früchte zu tragen beginnen. Parallel zur über das 19. Jahrhundert fortdauernden Aufwertung des Literatur- und Bildungstheaters fasste auch der Zirkus im Gefüge der Bühnenkünste festen Fuß. So existierten in Berlin ab den 1850er Jahren mehrere feste Zirkusgebäude im Stadtzentrum und ihre vielseitigen, ‚theaterähnlichen‘ Inszenierungen begeisterten ein großes und sozial durchmischtes Publikum. Bis nach 1900 besaßen alle Theaterformen Gewerbestatus, lediglich die königlichen Bühnen waren keine gewerblichen Betriebe, sondern wurden aus den Kassen der Fürsten1 finanziert. Als 1869 die Gewerbe- und damit auch die Theatergesetze liberalisiert wurden, kam es zu einer Vervielfachung der Spielstätten, die mit diversen Formaten um die Gunst der Zuschauer:innen buhlten. Auf der Grundlage eines rasanten Bevölkerungswachstums im Zuge der Industrialisierung ermöglichte die neue Theatergesetzgebung die Entstehung einer dynamischen Theaterlandschaft in der jungen Reichshauptstadt.2 Ein breites, durch neue Verkehrsmittel immer mobileres und durch die zunehmende Regulierung der Arbeitszeit verfügbares Publikum fand in den Theaterangeboten Abwechslung, Unterhaltung und Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen.3
Während nach 1869 viele Literaturtheater-Betriebe in existenzielle Not gerieten, verzeichneten die Zirkusse große Publikumserfolge. Befördert durch den Konkurrenzdruck in der Theaterlandschaft, galt der Zirkus unter den Vertreter:innen des bürgerlichen Literaturtheaters „als Zeichen von Verfall und Dekadenz“.4 Die Zirkuskünste wurden im Kontrast zum Bildungstheater in diversen Schriften – dies belegen auch die Forschungsarbeiten der Theaterwissenschaftlerin Birgit Peter – als vermeintlich kunstlos und ‚niedrig‘ bewertet sowie als kunst-, moral- und geschmackschädigend verleumdet.5 Diese Diskreditierungen sind vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen wie auch ästhetischen Bedrohung durch den Zirkus zu sehen, hängen allerdings auch mit den Bemühungen zusammen, das Bildungs- und Literaturtheater als ‚förderungswürdige‘ Theaterkunst zu legitimieren. Ihren Abschluss fanden diese Aufwertungsbemühungen um 1918 in der Etablierung des Literaturtheaters als Institution der sogenannten Hochkultur. Die bis ins späte 19. Jahrhundert gängigen Vorurteile gegenüber dem Theater werden seither vor allem mit dem Zirkus assoziiert.6
Die bis heute wirkmächtige Bewertung des Zirkus hängt jedoch nicht nur mit den Diskreditierungen in zahlreichen Streitschriften von Literaturtheater-Verfechter:innen zusammen, sondern – wie ich in diesem Buch aufzeigen werde – auch mit der jahrzehntelangen politischen Überzeugungsarbeit der Literaturtheater-Lobby. Insbesondere die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und der Deutsche Bühnenverein (DBV) gingen nach der Liberalisierung der Theatergesetze im Jahr 1869 mit Petitionen und sogenannten Denkschriften auf politischer Ebene gegen die Zirkuskonkurrenz vor. Obwohl die Interessenpolitik dieser Bühnenorganisationen ab 1880 rechtliche Verschärfungen zulasten der Zirkusse zur Folge hatte, konnte dies deren Erfolg bis Ende der 1910er Jahre nicht bremsen. Erst dann begann sich das Kräfteverhältnis von Zirkus und dem – ab 1918 zunehmend städtisch und staatlich subventionierten – Literatur- und Bildungstheater zu verschieben und letztlich umzukehren. Welche Umstände führten zu dieser Wende? Inwieweit wurde sie durch die Vorstöße der Literaturtheater-Lobby beeinflusst? Welche weiteren Akteur:innen und Faktoren trugen dazu bei? Und welche diskursiven Konsequenzen hatte diese Wende? Im Fokus dieser Studie steht das Verhältnis der beiden Theaterformen zwischen 1869 und 1918 in Berlin sowie die Frage, wie sich dieses auf den Status des Zirkus in der Gegenwart ausgewirkt hat.
***
‚Theater‘ steht auch heute noch wie selbstverständlich für eine bestimmte Theaterform: das bürgerliche Bildungs- und Literaturtheater. Wie der Theaterhistoriker Andreas Kotte in seiner Theatergeschichte festhält, etablierte sich im deutschsprachigen Raum ab dem 18. Jahrhundert „[d]ie heute noch gebräuchliche Begrifflichkeit das Theater […] mittels Reduktion von Theaterformen als Behauptung von Allgemeingültigkeit“.7 Daraus folgt im Umkehrschluss, dass mit der diskursiven Verengung des Theaterbegriffs auf das Bildungs- und Literaturtheater andere Theaterformen wie das Jahrmarktstheater oder auch der Zirkus ausgeklammert beziehungsweise als Nicht-Theater definiert wurden.
Diesem Buch liegt ein weiter Theaterbegriff zugrunde, das heißt, der Terminus ‚Theater‘ umfasst unterschiedliche Theaterformen.8 Bei dem Sammelbegriff ‚Theaterform‘ „handelt [es] sich, im Unterschied etwa zu Gattungen und Genres, um eine neutrale Gliederungsebene. Sie unterstützt einen Wechsel vom Denken in Traditionslinien zum Denken des Gleichzeitigen.“9 Der Begriff ‚Theaterform‘ fand erst in den 1980er Jahren Eingang in den theaterwissenschaftlichen Sprachgebrauch und hat sich bis heute nicht in der gesamten deutschsprachigen Theaterwissenschaft durchgesetzt. Im Folgenden wird von Literaturtheater gesprochen, um deutlich zu machen, dass das Theater (gemeint ist das bürgerliche Bildungs- und Literaturtheater) ebenfalls eine Theaterform unter vielen ist. Wenn explizit auf die diskursive Konstruktion des engen, normativen Theaterbegriffs verwiesen werden soll, wird ‚Theater‘ (in einfachen Anführungszeichen) verwendet.
Zum Forschungsstand
Die Vorstellung von Zirkus als ‚niederer‘ Kunst oder Nicht-Kunst spiegelt sich nicht nur im öffentlichen Diskurs und in der zeitgenössischen kulturpolitischen Praxis wider,10 sondern auch in einer umfassenden Forschungslücke im akademischen Kontext des deutschsprachigen Raums. Die wenigen Theaterwissenschaftler:innen, die sich in Deutschland, Österreich oder der Schweiz mit dem Thema Zirkus beschäftigt haben, sind sich darin einig, dass die Forschungslage desolat ist. Birgit Peter etwa, die über einen längeren Zeitraum zum Zirkus geforscht hat,11 beschreibt das Thema als „blinden Flecken literatur-, theater- und kulturhistorischer Auseinandersetzung“.12 Auch Stefan Koslowski und Nic Leonhardt sprechen in ihren Dissertationen mit Blick auf den Zirkus von einem „blinde[n] Fleck im Auge der Forschenden“13 bzw. von einem „ausgegrenzten Teil der deutschen Theatergeschichte“14. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.15
Diese Ausgrenzung bestimmter Theaterformen – darunter der Zirkus – aus der akademischen Forschung begleitet die Theaterwissenschaft laut Peter W. Marx seit ihrer Entstehung. In seinem Beitrag mit dem vielsagenden Titel „Die Entwicklung der Theaterwissenschaft aus der Erfahrung der Populärkultur um 1900“ untersucht der Theaterwissenschaftler den Kontrast zwischen der dynamischen und vielfältigen Theaterpraxis in Deutschland nach 1869 auf der einen und dem „Schweigen des akademischen Diskurses“ auf der anderen Seite.16 Er beschreibt dieses „Schweigen“ der jungen Theaterwissenschaft gegenüber zahlreichen prägenden und beim Publikum überaus beliebten zeitgenössischen Theaterformen als „Ausdruck eines tief sitzenden Unbehagens am Theater der eigenen Gegenwart“.17 Doch habe es sich bei diesem „Schweigen“ auch um „einen Akt strategischer Klugheit“ gehandelt, der das Ziel verfolgte, die Theaterwissenschaft als ernstzunehmende Disziplin zu legitimieren.18 Das wissenschaftliche Desinteresse am Zirkus hat letztendlich auch dazu beigetragen, den Status des Zirkus als nicht untersuchenswertes „Randphänomen zwischen Theater und Sport, Kitsch und Kommerz“ zu verfestigen.19
Statt systematischer, institutionalisierter Sammlungen findet man zur Forschungsthematik vor allem private Archive, die von interessierten Personen mit hohen Eigeninvestitionen aufgebaut wurden und betrieben werden. Während die universitären Bücherbestände zum Thema Zirkus im deutschsprachigen Raum in der Regel nicht viel zu bieten haben, lassen sich in außerakademischen Bibliotheken oftmals aufschlussreiche Publikationen von Vereinen, Spielstätten, Chronist:innen und Expert:innen oder Kataloge längst vergangener Ausstellungen finden. So hat etwa das Sammler:innenpaar Dietmar und Gisela Winkler seit Jahren kontinuierlich zur Zirkusgeschichte des deutschsprachigen Raums und insbesondere zu Berlin geforscht und publiziert. In ihrem Besitz befindet sich ein umfassendes Zirkusarchiv. Die Arbeiten der Winklers dienten dieser Studie vor allem bezüglich der zirkusgeschichtlichen Entwicklung Berlins als wichtige Orientierungshilfe und Nachschlagewerke.20 Doch sind viele der nicht-wissenschaftlichen, zirkushistoriografischen Publikationen in einer anekdotischen Schreibweise verfasst. Nicht selten mangelt es diesen Arbeiten an Transparenz im Umgang mit Quellen und auch der Wahrheitsgehalt zirkusgeschichtlicher Überlieferungen wird darin häufig nicht überprüft. Dieses Phänomen ist nicht nur im deutschsprachigen Raum anzutreffen und steht unter anderem mit dem besagten Desinteresse seitens der wissenschaftlichen Forschung in Verbindung: Als Historiker:innen betätigten sich seit der Institutionalisierung des modernen Zirkus vor allem Zirkusliebhaber:innen, deren Faszination für den Gegenstand ihre Arbeiten jedoch oftmals stark prägte.21
Aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Forschung sind die Publikationen jenseits des akademischen Kontexts für das zirkushistoriografische Arbeiten jedoch von zentraler Bedeutung, wenngleich sie besondere Herausforderungen mit sich bringen. An einer Beschreibung der Inszenierung des Berliner Circus Renz Harlekin à la Edison oder: Alles elektrisch (1884) lässt sich dies exemplarisch aufzeigen: In einer bildreichen Publikation von Wolfgang Carlé und Heinrich Martens über den Friedrichstadt-Palast aus dem Jahr 1987 ist über die Inszenierung zu lesen: „Die Primaballerina tanzt als ‚elektrische Dame‘, die Clowns knipsen bei ihren Szenen wechselweise rote, grüne und blaue Lämpchen an, und im turbulenten Finale fechten Akrobaten und Mimiker Duelle mit Schwertern aus, die bei jeder Berührung aufblitzen.“22 Diesem Bericht zufolge erstrahlten anlässlich von Harlekin à la Edison außerdem 2000 verschiedenfarbige Glühbirnen in der Manege des Markthallenzirkus – zu Beginn der 1880er Jahre eine echte Sensation.23 Die beiden Autoren nennen zu dieser Beschreibung jedoch keine Quelle. Somit ist unklar, ob sie einem Zeitungsbericht über die Inszenierung entstammt, einem Anschlagzettel entnommen wurde oder vielleicht doch der Vorstellungskraft der Autoren entsprungen ist. In ihrer Geschichte der Artistik und des Zirkus (2015) greift Gisela Winkler die Beschreibung auf – ebenfalls ohne Quellenangabe.24
Der Chronik über Circus Renz von Alwil Raeder aus dem Jahr 1897 ist bezüglich der Premiere von Harlekin à la Edison im Oktober 1884 immerhin zu entnehmen, dass der Tanz einer „elektrischen Dame“ sowie ein „Schwertkampf mit elektrischen Waffen“ auf dem Programm standen.25 Die elektrische Dame und die Duelle mit aufblitzenden Schwertern scheinen also nicht ganz frei erfunden. Aber die 2000 Glühbirnen und die Lämpchen der Clowns? Ein im britischen Victoria and Albert Museum noch vorhandenes Plakat von Circus Renz hilft leider auch nicht weiter, denn darauf findet man lediglich die Angabe, dass es sich bei Harlekin à la Edison um eine „[k]omisch-phantastische Ausstattungs-Pantomime“ gehandelt habe.26 Mein Versuch, im Archiv des Friedrichstadt-Palasts eine die fraglichen Aussagen bestätigende Primärquelle zu finden, scheiterte ebenso wie die Suche nach einer Zeitungsrezension der Inszenierung. Gäbe es für historische Zeitungen in Deutschland analog zur ANNO-Plattform der Österreichischen Nationalbibliothek die Möglichkeit einer Volltextsuche, ließe sich überprüfen, ob die Textpassage von Carlé und Martens womöglich auf einen zeitgenössischen Zeitungsbericht zurückgeht. Doch ist diese Möglichkeit leider bislang nicht beziehungsweise nur für wenige Zeitungstitel gegeben. Ob die Clowns in der Pantomime bei Circus Renz im Jahr 1884 mit roten, grünen und blauen Lämpchen spielten und 2000 Lampen im Zirkus glühten, kann derzeit also nicht belegt werden.27
Auch über die Forschungslücke zum Zirkus hinaus bewegt sich die Studie in thematischen Bereichen, zu denen bislang nur wenig bis keine (theater-)wissenschaftliche Forschung existiert: Zum Theaterrecht in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs und insbesondere zum Entwurf des Reichstheatergesetzes von 1911 ist Sekundärliteratur nur spärlich vorhanden,28 ebenso zur Berliner Theaterzensur beziehungsweise zum Verhältnis zwischen Theaterpolizei und Theaterpraxis zwischen 1851 und 1918.29 Untersuchungen zur Einführung der sogenannten Lustbarkeitssteuer in Berlin und deren Folgen für die Theaterlandschaft sucht man ebenfalls vergebens. Ähnlich dürftig ist der Forschungsstand für den Zeitraum dieser Studie sowohl zu den Literaturtheater-Verbänden GDBA und dem DBV wie auch zu den Vereinigungen der Artist:innen.30
Materialien und Methoden
Die Studie basiert auf historischen Quellen aus vier grundlegenden Themenbereichen: Theaterrecht, Diskussionen und Entscheidungen der Legislative, Aktivitäten und Publikationen von Interessengruppen sowie Presseberichten. Anhand der Reichstagsprotokolle, bestehend aus stenografischen Berichten der parlamentarischen Diskussionen sowie der zugehörigen Unterlagen, wurden die Entwicklungen und Überarbeitungen der Theatergesetze zwischen 1869 und 1918 analysiert. Aufschluss über den Vollzug der Theatergesetze in der Reichshauptstadt geben wiederum preußische Ausführungsbestimmungen und Berliner Polizeiverordnungen. Die Organe der Bühnenverbände geben ihrerseits Einblicke in die internen Debatten sowie die Tätigkeiten der einzelnen Interessengruppen. In den Reichstagsprotokollen sind überdies Hinweise auf Petitionen und Schriften der Bühnenverbände überliefert, deren Nachlässe unter anderem aufgrund von Kriegsschäden lückenhaft sind und sich mangels spezialisierter Archive lediglich vereinzelt in diversen theaterhistorischen Sammlungen auffinden lassen. Berichte aus Zeitungen und Zeitschriften dienten als ergänzende Kommentierung und als zeitgenössische Perspektiven auf die Geschehnisse.
Einen zentralen Bestandteil des Materialkorpus bilden die Zensurakten der sogenannten Berliner Theaterpolizei im Landesarchiv Berlin. Die Theaterpolizei war eine Unterabteilung des Berliner Polizeipräsidiums, deren Aufgabe darin bestand, die Theatergeschehnisse in der Reichshauptstadt zwischen 1851 und 1918 stetig zu überwachen – und zwar nicht nur in den Literaturtheater-Spielstätten, sondern auch in den Zirkusbetrieben.31 In den polizeilichen Akten lassen sich nicht nur Angaben zu Aufführungen und deren (un)zulässigen Inhalten finden, sondern eben auch – und das ist das Bemerkenswerte – zahlreiche thematisch relevante Zeitungsausschnitte, Schreiben diverser Verbände, Anweisungen von höheren Behörden, Steuerverordnungen, Baupläne, feuerpolizeiliche Bescheinigungen und vieles mehr. Dieses von der Berliner Polizei im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegte Theaterarchiv beherbergt Schätze und Blüten, die für diese Studie von weitreichender Bedeutung waren. Doch war die Arbeit mit diesen Akten aus dem 19. Jahrhundert zum Teil auch sehr zeitaufwendig, da sie oft in schwer zu entziffernder Hand- und Sütterlinschrift verfasst sind.
Für die Erforschung der historischen Berliner Zirkuskultur relevante, insbesondere auch ikonografische Quellen konnten im Archiv des Friedrichstadt-Palasts, im historischen Archiv des Deutschen Technikmuseums Berlin, in den Berlin Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin sowie in der Sammlung Varieté, Zirkus, Kabarett der Stiftung Stadtmuseum Berlin gefunden und gesichtet werden. Letztere beherbergt unter anderem Anschlagzettel, Fotografien, Nachlässe und zahlreiche Exemplare der um 1900 bestehenden Artistik-Fachzeitschriften.32
Im Kontrast zum beschriebenen Forschungsdesiderat gibt es eine große Fülle an historischen Zirkusquellen. Bereits Nic Leonhardt konstatierte in ihrer Dissertation die Existenz von zahlreichen „bislang nicht ausgewerteten Quellenmaterialien“ zu zirzensischen und anderen, nicht-literarischen Theaterformen.33 Da zirkushistoriografische Quellen bisher nur in Einzelfällen Eingang in systematische wissenschaftliche Sammlungen gefunden haben, war für diese Arbeit eine Recherche in privaten Archiven erforderlich, deren Zugänglichkeit und Existenz jedoch häufig alles andere als gesichert sind.34 Auch Findbücher oder Kataloge sind oftmals nicht vorhanden, sodass relevante Materialen häufig über Umwege ermittelt werden müssen. Kurzum: Der Forschungsgegenstand erfordert detektivisches Gespür.
Für diese Studie wurden historische Quellen aus verschiedenen Archiven, Sammlungen und Bereichen zusammengetragen und aufeinander bezogen. Anhand der überlieferten Daten lässt sich keine (vermeintlich) objektive Wahrheit rekonstruieren, doch ermöglicht die Zusammenstellung der heterogenen Quellenfelder, dass sich die unterschiedlichen Quellen gegenseitig kommentieren. Diese Vorgehensweise lässt Widersprüche und Kontraste, aber auch Lücken zutage treten. Eine weitere zentrale Methode dieser Studie besteht darin, ausgewählte historische Quellen mittels längerer direkter Zitate ‚sprechen‘ zu lassen. Durch ihre aus heutiger Sicht oftmals eigenwillige oder auf eine bestimmte Weise auch humorvolle Sprache geben die aus den Quellen zitierten Ausschnitte Einblicke in die zeitgenössischen gesellschaftlichen Ideen und Normen wie auch in ihre Veränderung im Verlauf des Forschungszeitraums. Und das ‚Zwischen-den-Zeilen-Lesen‘ ermöglicht ein (besseres) Verständnis für die damalige Zeit und ihre Diskurse. Die historischen Quellen ‚sprechen‘ zu lassen hat weitere Gründe: Sie ernst zu nehmen, ihnen Raum zu geben und transparent mit ihnen umzugehen ist auch oder gerade wegen des wissenschaftlichen Desinteresses am Zirkus sowie der oftmals anekdotischen oder programmatischen Erzählweise der bestehenden zirkushistoriografischen Literatur ein Anliegen dieser Studie gewesen.
Die Arbeit mit Quellen erfordert natürlich eine permanente Reflektion der eigenen Positionierung als Forscherin.35 Denn bereits Entscheidungen weit vor Analyse und Kontextualisierung der ausgewählten Quellen haben einen Einfluss auf das spätere Ergebnis – etwa bei der Auswahl bestimmter Materialien zur Sichtung oder zur genaueren Untersuchung oder aber beim Arrangement der ausgewählten Quellen. Letztgenannter Arbeitsschritt erfolgte durch ein bewusstes, wiederholtes Sortieren und (Um-)Ordnen der Materialien, durch das unterschiedliche Bezüge zwischen den Quellen und mögliche Dramaturgien erkennbar wurden.36
***
Der Zirkus ist nicht nur Gegenstand von Marginalisierung, sondern auch von Verklärung. Verschiedene Vorurteile, aber auch romantisierte Vorstellungen durchkreuzen den Topos ‚Zirkus‘.37 Auf der einen Seite werden dem Zirkus in einem abwertenden Gestus Kitsch, Kommerz und damit Kunstlosigkeit unterstellt. Auf der anderen Seite wird er mit Faszination als nomadisierend, außerhalb der Gesellschaft stehend und daher rebellisch oder subversiv imaginiert. Auch Eigenschaften wie bunt, verspielt, kindlich und volkstümlich werden ihm zugeschrieben. Weiterhin heißt es, die zirzensischen Künste seien alt, weil bereits im alten Ägypten akrobatische Darbietungen aufgeführt worden wären und im antiken Rom Zirkusspiele in den Arenen stattfanden. Nicht zuletzt wird mit dem Zirkus ein Aufführungsformat assoziiert, das sich durch eine Nummerndramaturgie auszeichnet und sowohl ohne Narration als auch ohne Sprache auskommt. Diese Assoziationen, Fantasien, Vorurteile und Vorstellungen von gutem und schlechtem (Kunst-)Geschmack ziehen sich durch die Zirkusgeschichte ebenso wie durch die Zirkusgeschichtsschreibung – je nach gesellschaftlichem und historischem Kontext mit unterschiedlicher Ausprägung.38 Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der historischen Zirkuspraxis muss daher immer zwei Ebenen beinhalten: eine Annäherung an die konkrete Praxis und ein gleichzeitiges Aufbrechen der historiografisch und diskursiv abgelagerten Verklärungs- und Diskreditierungsschichten. Eine Auseinandersetzung mit zirkushistorischen Themen bedeutet also immer auch Aufräumarbeit.
Institutionalisierung des modernen Zirkus
Die Begründung des modernen Zirkus wird bis heute gemeinhin dem englischen Kunstreiter Philip Astley (1742–1814) zugeschrieben und auf das Jahr 1768 datiert. Im Jahr 2018 wurde in Großbritannien daher das 250-jährige Jubiläum des modernen Zirkus und Philip Astley als dessen Gründungsvater gefeiert.39 Dieser Gründungsmythos zieht sich bis heute durch die zirkushistoriografische Literatur. Differenzierte und kritische Auseinandersetzungen mit den Anfängen des modernen Zirkus finden sich nur in wenigen Veröffentlichungen, etwa bei Caroline Hodak (2018) oder Marius Kwint (2002).40 Der erfolgreiche englische Kavalier Philip Astley trug in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar maßgeblich zur Entwicklung eines neuartigen Aufführungsformats bei, doch war er damit weder der erste noch der einzige.
Ab Ende der 1750er Jahre veranstalteten Reitkünstler:innen im Londoner Norden öffentliche Darbietungen. Sie erlangten damit weit über die Stadtgrenzen hinaus Bekanntheit und traten ab den 1760er Jahren auch in kontinentaleuropäischen und russischen urbanen Ballungszentren auf.41 Ebenfalls ab Mitte des 18. Jahrhunderts organisierten sich in der englischen Hauptstadt pferdebegeisterte junge Männer in Clubs, die sich in unterschiedlichen Uniformen mit ihren Pferden auf rasanten Kutschenfahrten durch die Straßen Londons präsentierten.42 Diese regelrechte Pferdemanie trug nicht nur in England, sondern auch auf dem europäischen Festland zum Aufstieg des modernen Zirkus bei. In Frankeich etwa erlebten Pferdezucht und Reitkunst – nach dem Vorbild der englischen Pferdemode – unter Napoleon einen großen Aufschwung.43 Der Erfolg szenischer Pferdedarbietungen ist also auch im Kontext einer zunehmenden Popularisierung des Pferdes und der Reitkünste um 1800 zu betrachten. Letztere hatten zuvor hauptsächlich im militärischen Bereich und in elitären Reitakademien Verbreitung gefunden.44
Philip Astley sowie seine Konkurrent:innen und Nachfolger:innen unterschieden sich von ihren weniger berühmt gewordenen Vorreiter:innen in erster Linie durch ihr strategisches Entrepreneurship: Von der Wahl des Spielorts bis hin zur Bewerbung der Vorstellungen überließen sie nichts dem Zufall.45 Der ehemalige Kavallerist Astley eröffnete 1768 in der Gemeinde Lambeth (heute ein Stadtbezirk von London) südlich der Themse seine Riding School, in der er nach dem Unterricht auch Reitkunstdarbietungen unter freiem Himmel veranstaltete. Der damals kaum urbanisierte, aber ab 1769 durch zwei Brücken mit London verbundene Landstrich befand sich Ende des 18. Jahrhunderts in vollem Aufschwung: Mit dem berühmten Vergnügungspark Vauxhall Gardens und weiteren Freizeitangeboten lockte er die Städter:innen in eine Gegend, die damals nicht der Theatergesetzgebung von Westminster beziehungsweise Lord Chamberlain unterstand – ein Umstand, der sich für die Konstitution des Zirkus als bedeutsam erweisen sollte. Dank seines Erfolgs konnte Astley die Aufführungen fortlaufend ausbauen: Neben ihm selbst und seiner Partnerin traten weitere Reiter:innen auf, er engagierte Seiltänzer:innen, arrangierte narrative Szenen sowie komische Einlagen und ließ eine feste, überdachte Publikumstribüne bauen.46 1779 folgte die Errichtung eines ersten Gebäudes, Astley’s Amphitheatre, das jedoch bereits 1782 Konkurrenz erhielt: Charles Hughes, zunächst bei Astley als Reitkünstler engagiert, eröffnete nach der Gründung seiner British Horse Academy gemeinsam mit dem Theatermacher und Komponisten Charles Dibdin unweit von Astley’s Amphitheatre eine eigene Spielstätte: den Royal Circus.47 Dieser wurde, wie viele andere Zirkusspielstätten auch, mit einer Manege und – analog zur Guckkasten-Bühne der bürgerlichen Theater- und Opernhäuser – einer Tiefenbühne konzipiert. Mit einer derartigen Bühne, „on which might be represented spectacles, each to terminate with a […] grand object, so managed as to form novel, and striking coup-de-theatre“, musste der Royal Circus seinen Gründern zufolge unbedingt ausgestattet werden, um zu ermöglichen, „that the business of the stage and the ring might be united.“48
Mit der Gründung des Londoner Royal Circus durch Charles Hughes im Jahr 1782 wurde der Begriff ‚Zirkus‘ in der Moderne erstmalig mit dem sich konstituierenden Aufführungsformat assoziiert.49 Im Verlauf der 1780er und 1790er Jahre wurden dann auch außerhalb von London erste Zirkusspielstätten errichtet, etwa Swann’s Amphitheatre in Birmingham, der New Circus in Manchester oder der New Olympic Circus in Liverpool.50 Existierten in Großbritannien 1850 erst rund 20 Zirkusgebäude, waren es 1860 bereits etwa 60.51 Private ebenso wie kommunale Zirkusgebäude prägten ab 1800 nicht nur die Stadtbilder Großbritanniens, sondern auch jene von Paris, Madrid, Kopenhagen, Wien, Riga, Mailand, Sankt Petersburg und die vieler weiterer Städte. Die Standorte der Spielstätten bestimmten die transnationalen Tourneerouten der Zirkusgesellschaften, denen für den Transport nun auch ein immer besser ausgebautes Eisenbahnnetz zur Verfügung stand.52 Die Errichtung der Zirkusbauten fiel zeitlich zusammen mit dem europaweiten Bauboom von öffentlichen Theaterspielstätten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der sogenannte Chapiteau-, das heißt Zeltzirkus nach nordamerikanischem Vorbild in Europa.53 Entgegen dem gängigen Konnex von Zirkus und Nomadismus ist die Entwicklung des modernen Zirkus somit vor allem mit einem Prozess der Sesshaftwerdung verbunden: Die zuvor reisenden Künstler:innen der Messen und Märkte fanden in den festen Spielstätten einen dauerhaften Auftritts- und Arbeitsort.54 Die Zirkusdirektor:innen grenzten sich dabei bewusst von der Tradition der fahrenden Künstler:innen ab und agierten stattdessen „mit einem bürgerlich-unternehmerischen Selbstbewusstsein“.55
Londoner Zirkuspioniere wie Astley und Hughes waren in ihrer Etablierungsphase immer wieder mit temporären Schließungen und Inhaftierungen konfrontiert. Im späten 17. Jahrhundert hatten die englischen Machthaber ein Kontrollsystem über kulturelle Darbietungen etabliert, das sich in Form von präventiver Zensur und strenger gesetzlicher Reglementierung äußerte. Innerhalb dieses Systems blieb das Monopol über Aufführungen mit Dialogen und anderen szenischen Merkmalen, das sogenannte legitimate theatre, den privilegierten Spielstätten mit behördlichem Patent vorbehalten. Doch ließen sich die Programme der Zirkusveranstalter auf Grundlage der geltenden Londoner Theatergesetzgebung nicht komplett verbieten: Manche gesetzlichen Verordnungen, wie etwa die präventive Zensur, waren südlich der Themse gar nicht gültig. Und generell war in den bestehenden Theatergesetzen die Regulierung dieser neuartigen Spielstätten und Reitkunstdarbietungen nicht vorgesehen gewesen. Die daraus resultierenden gesetzlichen Grauzonen verschafften den Londoner Zirkusdirektionen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einen Spielraum, den sie gekonnt für ihre Programme nutzten. 1783 erhielten schließlich sowohl Astley als auch Hughes aufgrund einer Gesetzesergänzung eine offizielle Spielgenehmigung sowie den Status minor theatres für ihre Spielstätten. Damit konnten sie ihre Programme – unter Einhaltung des Monopols der privilegierten Bühnen des legitimate theatre – mit offizieller Genehmigung erweitern.56
Ähnlich wie in London spielten den Zirkusgesellschaften auch in Paris die Lücken der ab 1795 wieder zunehmend restriktiven Theatergesetze in die Hände. Antonio Franconi, der ab 1793 Astley’s Amphithéâtre Anglois in Paris übernahm, erhielt für seine ab 1806 als Cirque Olympique bekannte Spielstätte sogar eine Sonderstellung im Rahmen der rigiden napoleonischen Theaterverordnungen. Direkt nach dem Erlass der Theaterdekrete von 1806 und 1807 durfte der Cirque Olympique ausschließlich Darbietungen mit Pferden geben. Doch im Laufe der folgenden Jahre konnte er sein Repertoire wieder erweitern und 1811 wurde er sogar in die Reihen der privilegierten théâtres secondaires aufgenommen, obwohl dies die gesetzlich festgelegte Zahl von acht Etablissements mit dem Prädikat théâtre überstieg. Der Pariser Cirque Olympique stand also ganz offensichtlich in der Gunst des französischen Kaisers. Zwischen 1811 und 1834 hieß der Zirkus Théâtre du Cirque Olympique und juristisch blieb er auch nach 1834 ein Theater – seine Konzession wurde bis 1849 sogar mehrfach erweitert.57
So hatte sich in London und Paris bis zum Jahr 1800, basierend auf Pferdedarbietungen in Verbindung mit weiteren szenischen Elementen wie Seiltanz, Musik, Ballett, akrobatischen Darbietungen und Harlekinaden, ein Aufführungsformat konsolidiert, auf dessen Fundament sich fortan der moderne Zirkus weiterentwickelte.58 Diese Konsolidierung fand parallel zu einer zunehmenden Orientierung des Theaters an der Literatur statt, das heißt einer starken Verschiebung „[v]on der Kunst des Körpers zum Drama“.59 Diese ging wie gesehen mit einer gesetzlichen Regulierung des Theaters einher, welche das literaturbasierte Schauspiel und die Oper gegenüber anderen Theaterformen deutlich begünstigte.
Während der bis weit ins 19. Jahrhundert fortdauernden Aufwertung des bürgerlichen Literaturtheaters und seiner Etablierung als eigenständiger Bildungs- und Kunstinstitution erlangte also auch der Zirkus einen festen Platz im Gefüge der darstellenden Künste. Birgit Peter hält diesbezüglich fest: „Im Zirkus versammelt[e] sich in der Phase der Etablierung von Theater als bürgerlicher Kunst das ‚andere‘ Theater […].“60 Peter meint damit weder Stegreifkomödien noch schauspielerische Improvisation, sondern körperliche Praktiken und Fähigkeiten, die bis ins 18. Jahrhundert zum Aufführungsrepertoire von Theatergruppen auf Messen und Märkten gehörten.61 Sie beschreibt den „Zirkus als Sammlungsort der vom regelmäßigen Theaterbetrieb ausgeschlossenen Fertigkeiten“.62 Folglich ist die Institutionalisierung des modernen Zirkus nicht ohne die starke Verengung des Theaterbegriffs um 1800 zu verstehen.
Doch steht die Entwicklung des modernen Zirkus nicht ausschließlich in einem Gegensatz zu der des bürgerlichen Bildungs- und Literaturtheaters. Vielmehr sind beide Theaterformen auch in die ihnen übergeordneten kulturellen Tendenzen und Einflüsse der Theater- und Tanzpraxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts eingebettet. Wie andere minor theatres beziehungsweise théâtres secondaires präsentierten Zirkusunternehmen damals Vorstellungen, die als Pantomimen, Melodramen, Vaudevilles, Tableaux, Ballette, Feerien oder Burlesken angekündigt wurden.63 Ihre Produktionen bestanden – entgegen des heute gängigen Zirkusbildes – Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur aus eklektisch zusammengestellten Einzeldarbietungen, sondern auch aus narrativen Szenen mit Musik und Tanz. In England wurden derartige Aufführungen unter der Bezeichnung hippodrama, in Frankreich als théâtre équestre bekannt. Diese Zirkusinszenierungen konnten durchaus Dialoge beinhalten, sofern dies nach den geltenden Theatergesetzen gestattet war.64 Von den Programmen der anderen minor theatres oder théâtres secondaires unterschieden sich die Vorstellungen in Spielstätten wie Astley’s Amphitheatre, dem Royal Circus oder dem Cirque Olympique durch ihren Fokus auf Aufführungen von und mit Pferden, welche auch die Grundlage für die Legitimation und Legalisation ihrer Praxis bildeten.65
Aufgrund der Beliebtheit des ‚Pferdetheaters‘ begannen auch andere Spielstätten um 1800 Reitdarbietungen in ihre Inszenierungen zu integrieren. Im Jahr 1811 kamen in London beispielsweise für die Aufführungen des Stücks Blue-Beard im Covent Garden – eines der legtitimate theatres mit königlichem Patent – rund 20 Pferde und Reitkünstler:innen von Astleys Gesellschaft zum Einsatz.66 Auf die Eroberung der Bühnen des legitimate theatre durch Zirkuskünstler:innen folgten jeweils große Kontroversen in der Presse. Denn mit diesen Inszenierungen wurden die ideologischen und institutionellen Grenzen zwischen sogenannter ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Kunst überschritten. Für besonders viel Aufruhr sorgte dabei der Umstand, dass auch die Anhänger:innen des Literaturtheaters Gefallen an diesen Aufführungen fanden.67
***
Die Institution Zirkus etablierte sich im Zeitalter von Aufklärung, Industrialisierung und Kapitalismus im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den europäischen und russischen Großstädten. Und anders als oft behauptet ist der moderne Zirkus mitnichten als romantisch-subversives Projekt an den Rändern der Gesellschaft anzusehen.68 Auch orientierten sich die Zirkusunternehmen nicht aus idealistischen, sondern aus finanziellen Gründen an einem großen und heterogenen Publikum. Die Eintrittspreise der Spielstätten waren so gestaffelt, dass sich auch die ärmeren Stadtbewohner:innen den Zugang zu den Vorstellungen leisten konnten.69 Die Programme sowie die repräsentativen Zirkusarchitekturen und ihre pompösen Innenausstattungen entsprachen aber gleichzeitig dem Geschmack und Selbstverständnis der wohlhabenden Gesellschaftsschichten. Insbesondere Pferdedarbietungen galten über das ganze 19. Jahrhundert hinweg als Publikumsmagnet für Aristokratie und Bourgeoisie. So kam es in den Zirkusspielstätten zum Aufeinandertreffen verschiedener gesellschaftlicher Milieus im gleichen Raum. Gleichwohl spiegelte sich die Ordnung der Klassengesellschaft in den Sitzpreisen und entsprechenden Platzanordnungen deutlich wider.70
Der Zirkus war somit ein Raum, in dem Grenzen zwar einerseits klar nachgezeichnet wurden, andererseits aber auch stets verschwammen: In den Zirkusaufführungen wurden nicht nur die Grenzen des (vermeintlich) Menschenmöglichen überschritten, sondern auch diejenigen gesellschaftlicher Normen.71 Sylke Kirschnick beschreibt den Zirkus um 1900 daher als einen „Ort sowohl der Versicherung als auch der Verunsicherung des Menschen über sich selbst“ hinsichtlich der „normative[n] Ideale des Geschlechts, der Vernunft, der Sprache, der Fähigkeiten, des Alters, der Herkunft, der Familie und der Gemeinschaft […]“.72 Für Menschen mit Lebens- und Daseinsweisen jenseits der sozialen Normen konnte der Zirkus als (einzig möglicher) Arbeits- und Daseinsort dienen. Dies zeigt sich etwa bei Menschen mit sichtbaren körperlichen Besonderheiten, die im Zirkus arbeiten konnten und dort als ‚Freaks‘ präsentiert wurden. Auch für Frauen und Menschen, die nicht den binären Geschlechternormen entsprachen, konnte der Zirkus ein Schaffensort und (Über-)Lebensraum sein. Doch waren damit immer auch eine profitorientierte Zurschaustellung und Ausbeutung verbunden. So ist höchstens in differenzierten Fallstudien zu bewerten, ob der Rahmen einzelnen Akteur:innen tatsächlich eine menschenwürdige Existenz ermöglichte.73
Besondere Aufmerksamkeit im Rahmen von Zirkusaufführungen erfuhren auch weibliche beziehungsweise weiblich gelesene Körper, die sich entsprechend gut für die Bewerbung der Programme vermarkten ließen.74 Zum einen verkörperten sie zwei vermeintlich gegensätzliche Attribute in sich: Weiblichkeit und physische Kraft. Zum anderen erlaubte der Aufführungsrahmen einen voyeuristischen, männlichen Blick (male gaze) auf ihre scheinbar nackten Körper.75 Insbesondere durch die enganliegenden, manchmal hautfarbenen Trikots der Akrobat:innen oder Schwimmer:innen war im Verhältnis zu den für Frauen geltenden bürgerlichen Kleidungskonventionen sehr viel Bein zu sehen.76 Die britische Historikerin Brenda Assael verweist in diesem Zusammenhang auf das Konzept der ‚Parasexualität‘, das der Geschichtswissenschaftler Peter Bailey mit Blick auf weibliches Barpersonal (barmaids) in englischen Pubs des 19. Jahrhunderts entwickelt hat.77 Die ebenfalls als parasexuell beschreibbaren Darbietungen von Zirkusartist:innen dienten als Publikumsmagnet und lösten immer wieder Kontroversen über Anstand und Moral aus.78
Auch männliche Zirkusartisten traten im 19. Jahrhundert als Frauen auf, manchmal schlicht aus Mangel an weiblich besetzten risikoreichen Nummern. Spektakuläre weibliche Reitkunst- und Luftakrobatikdarbietungen waren publikumsattraktiv und damit besonders erfolgversprechend. Berühmte weibliche oder weiblich gelesene Künstler:innen verdienten in den großen Zirkusgesellschaften zudem meist sehr gut – manchmal sogar deutlich besser als ihre männlichen Kollegen.79 Innerhalb der Zirkusunternehmen kam es zu Beginn der 1910er Jahre auch zu frauenrechtlerischen Bemühungen, wie die Gründung der Barnum & Bailey Women’s Equal Rights Society in den Vereinigten Staaten belegt. Den intensiven Tourbetrieb des großen nordamerikanischen Zirkusunternehmens Barnum & Bailey nutzte die Vereinigung, um bundesweit auf ihre Anliegen, etwa die Durchsetzung des Frauenwahlrechts, aufmerksam zu machen.80
***
Das Aufführungsformat, das sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter dem Begriff ‚Zirkus‘ etabliert hatte, unterlag permanenten Veränderungen und Anpassungen. Ab den 1860er Jahren schwand das Interesse für Reitkünste und Pferdedarbietungen.81 Dafür fanden immer häufiger gymnastische Darbietungen Eingang in die Zirkusprogramme, so auch die Luftakrobatik. Der Spielraum des Zirkus erhielt damit eine weitere Dimension: die Höhe. Fortan prägte, neben der Beherrschung des Körpers, verstärkt das Spiel mit dem Risiko die zirzensischen Künste.82 Das Aufkommen der Gymnastik beziehungsweise Akrobatik im Zirkus ist im Zusammenhang mit der Turnbewegung und der Entwicklung neuer Sportarten im 19. Jahrhundert zu sehen.83 Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sowohl der Rad- als auch der Schwimmsport große Popularität erlangten, traten alsbald Radkünstler:innen und Schwimmer:innen in Zirkusvorstellungen auf. Auch Ringkämpfe oder Darbietungen von sogenannten Kraftmenschen wurden in den Zirkussen geboten.
Nicht nur durch die Integration von Gymnastik und anderen neuen Sportarten wurde das Aufführungsformat Zirkus laufend erweitert, sondern auch durch die Einbindung der neusten (bühnen)technischen Entwicklungen.84 So wurden nach 1900 Pferdedarbietungen zum Teil durch die Präsentation von Kinematographen und Filmvorführungen ersetzt.85 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden außerdem zunehmend weitere Tierdarbietungen in die Inszenierungen integriert. Dressierte Hunde, Hirsche oder Bären faszinierten das Publikum bereits um 1800 und waren von den Jahrmarktattraktionen her bekannt. Raubkatzen hingegen waren vor 1850 nur vereinzelt in Zirkussen zu sehen, so etwa ein Löwe in der Inszenierung Les Lions de Mysore 1831 im Pariser Cirque Olympique.86 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte der Handel mit sogenannten exotischen Tieren sowie deren Zurschaustellung in Zoos und Wandermenagerien auch aufgrund der zunehmenden globalen Mobilität und schnelleren Transportwege (insbesondere ab Eröffnung des Suezkanals 1870) einen bis dato ungekannten Aufschwung.87 Und so führten größere Zirkusunternehmen bald auch Menagerien als Beiprogramm mit. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und insbesondere mit der Entwicklung des sogenannten Zentralkäfigs im Jahr 1890 traten Dompteur:innen verstärkt mit dressierten Elefanten, Affen, Schlangen und Wildkatzen in den Zirkusprogrammen beziehungsweise in der Manege selbst auf.
Diese Tiere galten aufgrund ihrer ‚Fremdartigkeit‘ sowie ihrer bewusst inszenierten Wildheit und Gefährlichkeit als Sensationen. Wie auch die Entwicklung der Zoologischen Gärten im 19. Jahrhundert stehen diese Darbietungen in einem engen Zusammenhang mit der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte sowie den damit verbundenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen.88 Zirkus- wie auch Zoodirektor:innen boten dem Publikum ab den 1870er Jahren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein außerdem Zurschaustellungen ‚fremder‘ Menschen. Im deutschsprachigen Raum gehen die ersten ‚Völkerschauen‘ auf das Hamburger Tierhandel-Unternehmen von Carl Hagenbeck zurück, der ab 1874 nicht nur Tiere, sondern auch Menschen von seinen Exkursionen mit nach Europa brachte.89 Im selben Jahr tourte auch der US-amerikanische Impresario P. T. Barnum mit seiner Zirkusgesellschaft erstmalig in Europa, dessen Unternehmungen den Ausgangspunkt des Booms von ‚Völkerschauen‘ in Nordamerika bildeten.90 Ab den 1880er Jahren waren Ausstellungen von Menschen, die aus eurozentristischer Perspektive als kulturell fremd markiert wurden, fester Bestandteil des gesamten kulturellen Angebots (Theater, Museen, Panoptiken, Panoramen, Weltausstellungen usw.).91
Die erfolgreiche Etablierung von ‚Völkerschauen‘ als Format, das Ausstellung, Aufführung, (oberflächliche) Bildung und die Präsentation von Überlegenheit (white supremacy) in sich verband,92 ist nicht allein auf das große Publikumsinteresse zurückzuführen. Auch die sich damals gerade formierenden wissenschaftlichen Disziplinen der Anthropologie und Ethnologie, die sich das kulturell ‚Fremde‘ zum Forschungsgegenstand machten, waren maßgeblich daran beteiligt. Ebenso trug die Medizin mit ihrem Interesse an der Erforschung ‚anderer‘ Körper zur Legitimierung dieser entmenschlichenden Darbietungen bei.93 Diese Verflechtungen mit der Wissenschaft nutzten die Zirkusse gezielt zur diskursiven Aufwertung ihrer Programme, die dadurch als pädagogisch wertvoll ausgewiesen werden konnten. Die entsprechenden Zirkusaufführungen wie auch ihre Bewerbung trugen somit zur Konstruktion, Affirmation und Verbreitung rassistischer Ideologien bei.94
Ab der Institutionalisierung des modernen Zirkus im späten 18. Jahrhundert wurden die Inhalte der Aufführungen ständig aktualisiert. Mit dem jeweils Neuen versuchten die Direktionen, das Interesse des Publikums zu wecken und wahren. Mit ihren Inszenierungen des ‚Anderen‘, der menschlichen Überlegenheit über die Natur (Kontrolle des Körpers, Tierdressuren) oder von neusten technischen Errungenschaften schrieben sich die Zirkusprogramme des 19. Jahrhunderts in die großen zeitgenössischen Narrative ein und trugen damit gleichzeitig auch zu deren Verbreitung bei. Die Zirkuspraxis des sogenannten langen 19. Jahrhunderts ist somit auch ein Spiegel der zeitgenössischen Normen, Diskurse und Paradigmen: Körperkonzeptionen, Sexualmoral, Hygiene- und Sittlichkeitsdiskurse, Fortschrittsglaube, Individualismus, Nationalismus und Imperialismus – um nur einige zu nennen.
Zur Gliederung
Ab 1820 konnte die transnationale Zirkusbewegung auch in Berlin Fuß fassen. Mit ihren festen Spielstätten erlangten verschiedene Zirkusunternehmen ab 1850 einen festen Platz in der städtischen Theaterlandschaft. Im späten 19. Jahrhundert besaßen die Berliner Zirkusse mit ihren nahezu täglichen Vorführungen vom Herbst bis ins Frühjahr hinein eine große Präsenz im öffentlichen Raum und zogen ein breites Publikum an. So wurden die Zirkusunternehmen für die Literaturtheater-Spielstätten nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern auch auf ästhetischer Ebene zu gewichtigen Konkurrenten. Dies gelang ihnen vor allem, weil sie – was heute weitgehend vergessen ist – Inszenierungen mit narrativen Dramaturgien, sogenannte Zirkuspantomimen, darboten.
Das erste Kapitel gibt ausgehend von Quellen aus dem Zensurarchiv der Berliner Theaterpolizei, Presseberichten sowie historischen Schriften Aufschluss über die von der wissenschaftlichen Forschung bislang vernachlässigte Praxis der Berliner Zirkusse sowie über ästhetische Parallelen zwischen Zirkus und ‚Theater‘. Das Kapitel dient als Grundlage für die folgende Analyse des spezifischen Verhältnisses von Zirkus und ‚Theater‘ um 1900, dessen damalige Entwicklung sich bis in die Gegenwart negativ auf den Status des Zirkus auswirkt. Ausgangspunkt des zweiten Kapitels ist die Liberalisierung der Theatergesetze durch die Gewerbeordnung im Jahr 1869. In diesem Teil der Studie werden die Revisionen der liberalisierten Theatergesetze in den 1880er und 1890er Jahren sowie die Verschärfungen ihres Vollzugs bis um 1900 untersucht. Im Fokus steht dabei die Einflussnahme von Literaturtheater-Organisationen wie der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und dem Deutschen Bühnenverein (DBV) auf diese Gesetzesrevisionen sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für die Zirkusbetriebe. Die restaurativen Überarbeitungen und Verschärfungen der Theatergesetze werden dabei als Moment einer Diskursverdichtung und -materialisierung betrachtet und genauer untersucht. Zudem wird in diesem Teil die Legitimierung und Zementierung der Dichotomie von ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Theaterformen im Rahmen der Theatergesetze und Theaterdebatten beleuchtet.
Das dritte und letzte Kapitel ist der Hauptfrage der Arbeit gewidmet: Wie und unter Beteiligung welcher Akteur:innen gestaltete sich die Wende im Kräfteverhältnis von Zirkus und ‚Theater‘ nach 1900? Vorangetrieben wurde diese Verschiebung nicht nur von der Literaturtheater-Lobby, sondern auch von neuen Akteur:innen, die sich in den letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts formiert hatten. Dazu gehörten insbesondere die Artistik-Verbände sowie die Berliner Kreissynode, eine bedeutende Akteurin der christlich geprägten Sittlichkeitsbewegung. Beide richteten sich, wie auch die Literaturtheater-Lobby, gegen das sogenannte ‚Tingeltangel-Unwesen‘. Aber je nach Perspektive galten alle oder nur manche Arbeitsorte der Artist:innen als Tingeltangel. Auch die Einführung der sogenannten Lustbarkeitssteuer auf Eintrittskarten zu Theater- und Kinospielstätten in Berlin im Jahr 1913 wird in diesem Abschnitt behandelt. Die Bildungs- und Literaturtheater-Spielstätten blieben nach einer Phase des Protests von dieser Steuer befreit – doch welche Konsequenzen hatte sie für die Zirkusunternehmen? Schließlich wird in diesem letzten Kapitel die Zeit während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg genauer in den Blick genommen, um zu verstehen, inwiefern sich bestimmte Faktoren wie Krieg, Inflation, Konkurrenz durch Varieté und Kino, die Umstellung auf den Zeltbetrieb, die Interessenpolitik der Literaturtheater-Verbände sowie die Kommunalisierung und Verstaatlichung der entsprechenden Spielstätten auf die Veränderung des Verhältnisses der beiden Theaterformen auswirkten.
In diesem Buch wird bewusst das Maskulinum verwendet, wenn es sich ausschließlich um männliche Personen handelt. Im Allgemeinen wird im Sinne einer geschlechtersensibleren Sprache mit Doppelpunkt gegendert.
Vgl. Peter W. Marx, „‚Berlin ist ja so groß!‘ – Die Erfindung der Großstadt“, in: Matthias Bauer (Hg.), Berlin. Medien- und Kulturgeschichte einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert, Tübingen: Francke, 2007, S. 89–106, hier S. 89.
Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen: Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970. Frankfurt a. M.: Fischer, 1997, S. 63. Zum Thema ‚Freizeit‘ bzw. der Verkürzung der Arbeitszeit und deren Auswirkungen auf die Kulturangebote vgl. auch Martin Rühlemann, Varietés und Singspielhallen – Urbane Räume des Vergnügens. Aspekte der kommerziellen populären Kultur in München Ende des 19. Jahrhunderts. München: Peter Lang, 2012, S. 54–58.
Birgit Peter, „Geschmack und Vorurteil. Zirkus als Kunstform“, in: Kunsthalle Wien (Hg.), Parallelwelt Zirkus, Wien u. Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst, 2012, S. 70–84, hier S. 73.
Vgl. Peter, Geschmack, S. 70–84; dies., Zirkus. Geschichte und Historiographie marginalisierter artistischer Praxis. Unv. Habil., Universität Wien, 2013.
Vgl. Peter, Geschmack, S. 80.
Andreas Kotte, Theatergeschichte. Eine Einführung. Köln u. a.: Böhlau, 2013, S. 347, Kursivierung i. O.
Vgl. Andreas Kotte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Köln u. a.: Böhlau, 22012, S. 61–140, 276.
Kotte, Theaterwissenschaft, S. 278, vgl. auch S. 278–281.
Das Thema wurde in den letzten Jahren, insbesondere während der Covid-19 Pandemie, auch in der Presse besprochen (vgl. etwa Heike Manssen, „Roncalli-Chef Bernhard Paul: ‚Wir werden nicht sang- und klanglos untergehen‘“, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland (12.12.2020); Peter Steinkirchner, „Circus Roncalli. ‚Das Publikum hat mit uns geweint‘“, in: Zeit Online (07.11.2021), https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-11/circus-roncalli-bernhard-paul-coronavirus-kulturgut (Zugriff 03.11.2022); Birgit Walter, „Geld für Zirkus? Eine Polemik über die ungerechte Verteilung von Fördermitteln“, in: Berliner Zeitung (21.11.2017)).
Vgl. Birgit Peter, „Billig und luxuriös: Über Zirkus und Varieté in Wien“, in: Brigitte Dalinger u. a. (Hg.), ‚Gute Unterhaltung!‘: Fritz Grünbaum und die Vergnügungskultur im Wien der 1920er und 1930er Jahre, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2008, S. 47–56; dies., Geschmack, S. 70–84; dies., Zirkus; dies., „Zur Geschichte von Zirkus in Österreich“, in: ig kultur. Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda 2 (2016), S. 60–62. Die Studien von Birgit Peter beschäftigen sich insbesondere mit der Geschichte des Zirkus in Österreich sowie mit der Geschichtsschreibung anhand von frühen zirkushistoriografischen Schriften.
Peter, Geschmack, S. 80.
Stefan Koslowski, Stadttheater contra Schaubuden. Zur Basler Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. Zürich: Chronos, 1998, S. 12.
Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899). Bielefeld: transcript, 2007, S. 9.
Explizite Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Zirkus und ‚Theater‘ in Deutschland um 1900 beschränken sich auf ein Unterkapitel in der Dissertation von Leonhardt sowie auf einen einseitigen Exkurs im Sachbildband der Kulturwissenschaftlerin Sylke Kirschnick (vgl. Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 165–168; Sylke Kirschnick, Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus. Stuttgart: Theiß, 2012, S. 89). Zur Aufführungspraxis der Zirkusse im deutschsprachigen Raum um 1900 existieren derzeit lediglich zwei Beiträge der Kulturwissenschaftlerin Katalin Teller zu den Inszenierungen von Circus Busch zwischen 1900 und 1940 (vgl. Katalin Teller, „‚Raffinierte Machwerke chauvinistisch-militärischer Propaganda‘. Geschichtsschreibung und historische Ausstattungspantomimen im Zirkus Busch“, in: Werner Michael Schwarz / Ingo Zechner (Hg.), Die helle und die dunkle Seite der Moderne, Wien: Turia + Kant, 2014, S. 77–84; dies., „Kulturpolitischer Raum und Frauenrollen. Die Ausstattungspantomimen des Zirkus Busch in Breslau und Wien in den 1910–30er Jahren“, in: Anna Gajdis / Monika Mánczyk-Krygiel (Hg.), Der imaginierte Ort, der (un)bekannte Ort. Zur Darstellung des Raumes in der Literatur, Bern: Peter Lang, 2016, S. 121–134). Auch in ihrer bislang unveröffentlichten Habilitationsschrift beschäftigt sich Katalin Teller mit der Thematik (vgl. dies., Geschichte in der Zirkusmanege. Das Geschichtsbild von Manegeschaustücken. Unv. Habil., ELTE Universität Budapest, 2021).
Peter W. Marx, „Die Entwicklung der Theaterwissenschaft aus der Erfahrung der Populärkultur um 1900“, in: Maske und Kothurn 55.1–2 (2009), S. 15–26, hier S. 17.
Marx, Entwicklung, S. 18.
Marx, Entwicklung, S. 19.
Peter, Geschmack, S. 79. In der englisch- und französischsprachigen Wissenschaftslandschaft findet der Zirkus als Forschungsgegenstand seit den 1980er Jahren zunehmend Aufmerksamkeit, mit dem Ergebnis, dass insbesondere in den letzten Jahren zahlreiche historiografische Studien und Beiträge publiziert wurden, etwa zu einzelnen Zirkusunternehmen, zur Geschichte der Tierdarbietungen, der Clownerie oder auch zur Entwicklung der Luftakrobatik. Der Circus Studies Reader bietet in diesem Zusammenhang eine Übersicht über Forscher:innen und Themen (vgl. Peta Tait / Katie Lavers (Hg.), The Routledge Circus Studies Reader. Abingdon: Routledge, 2016). Aus einer internationalen Kollaboration verschiedener Zirkushochschulen ist 2018 die bilinguale Online-Plattform CARP (Circus Arts Research Platform) hervorgegangen, welche die internationale Forschungsgemeinschaft vernetzt und Ergebnisse bzw. Publikationsangaben versammelt (vgl. CARP: Circus Arts Research Platform, https://circusartsresearchplatform.com (Zugriff 09.07.2022)). Katalin Teller vermittelt in ihrer Arbeit einen ausführlichen Überblick über den deutsch-, englisch-, russisch- und ungarischsprachigen Forschungsstand im Bereich der Zirkushistoriografie (vgl. Teller, Geschichte, S. 43–83).
Vgl. u. a. Dietmar Winkler, „Zirkus“, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur: Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart: Metzler, 2003, S. 526–529; Gisela Winkler, Circus Busch: Geschichte einer Manege in Berlin. Berlin: be.bra, 1998; dies., Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden, Bd. 1: Die Geschichte der Artistik und des Zirkus; Bd. 2: Die Künste der Artistik. Gransee: Edition Schwarzdruck, 2015.
Vgl. Teller, Machwerke, S. 83; dies., Geschichte, S. 45.
Wolfgang Carlé / Heinrich Martens, Kinder wie die Zeit vergeht. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes. Berlin: Henschel, 41987 [1975], S. 23–26.
Vgl. Carlé / Martens, Kinder, S. 23.
Vgl. G. Winkler, Von fliegenden Menschen, Bd. 1, S. 105.
Vgl. Alwil Raeder, Der Circus Renz in Berlin. Eine Denkschrift zur Jubiläums-Saison 1896/97. Berlin: Ullstein, 1897, S. 189.
Circus Renz Poster 1884, S.1798–1995, Victoria and Albert Museum, Theatre and Performance Collection, https://collections.vam.ac.uk/item/O1166815/circus-renz-poster-poster-litfass-erben-e/ (Zugriff 03.12.2021).
Aus einer technischen Perspektive ist es durchaus vorstellbar, dass die Clowns 1884 Lämpchen besaßen, die sie an- und ausknipsten, und dass Duelle mit elektrischen bzw. leuchtenden Waffen veranstaltet wurden. Davon zeugen elektrische Schmuckstücke und effektreiche Requisiten, die zur damaligen Zeit von Erfindern wie Gustave Trouvé entwickelt wurden (vgl. Kevin Desmond, Gustave Trouvé. French Electrical Genius (1839–1902). Jefferson: McFarland & Company, 2015).
Vgl. Anja Brauneck, Die Stellung des deutschen Theaters im öffentlichen Recht, 1871–1945. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1997, S. 16 f.; Bastian Dewenter / Hans-Joachim Jakob (Hg.), Theatergeschichte als Disziplinierungsgeschichte? Zur Theorie und Geschichte der Theatergesetze des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter, 2018, S. 13; Marion Linhardt, „Das ‚Reichstheatergesetz‘ der Kaiserzeit: Rechte und Pflichten zwischen Theatergeschäft und Kunstausübung“, in: Bastian Dewenter / Hans-Joachim Jakob (Hg.), Theatergeschichte als Disziplinierungsgeschichte? Zur Theorie und Geschichte der Theatergesetze des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter, 2018, S. 251–269.
Vgl. Nic Leonhardt, „Im Bann der Bühnengefahren. Preußische Theaterverordnungen zwischen Prävention und Subversion“, in: Uwe Schaper (Hg.), Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin, Berlin: Gebrüder Mann, 2006, S. 31–49, hier S. 32 f.
Zur historischen Entwicklung der GDBA existieren eine theaterwissenschaftliche Studie (Joachim Rübel, Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen (GDBA). Hamburg: Bühnenschr.-Vertriebs-GmbH, 1992) sowie eine Chronik von 1921 (Max Hochdorf, Die Deutsche Bühnengenossenschaft. Fünfzig Jahre Geschichte. Geschrieben im Auftrage der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehörigen. Potsdam: G. Kiepenheuer, 1921). Für die Geschichte des DBV liegen zwei Chroniken vor, die jedoch nicht den wissenschaftlichen Arbeitsstandards entsprechen, da Quellenangaben vielfach fehlen (Knut Lennartz, Theater, Künstler und die Politik. 150 Jahre Deutscher Bühnenverein. Berlin: Henschel, 1996; Eugen Schöndienst, Geschichte des Deutschen Bühnenvereins. Ein Beitrag zur Geschichte des Theaters 1846–1935. Frankfurt a. M. u. a.: Propyläen, 1979). Für die Entwicklungen im Bereich der Artistik-Verbände ist vor allem auf die Arbeit des Theaterwissenschaftlers Wolfgang Jansen zu verweisen (Wolfgang Jansen, Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst. Berlin: Ed. Hentrich, 1990).
Vgl. Leonhardt, Im Bann, S. 34 f.
Die Erschließung der Sammlung ist noch nicht abgeschlossen, doch leider wurde die Stelle der letzten Sammlungsbetreuerin nach ihrer Pensionierung 2018 nicht neu besetzt, was die Nutzung der Sammlung zu Forschungszwecken erheblich beeinträchtigt. Als Forscher:in ist man auf eine genaue Kenntnis von fachkundigen Mitarbeiter:innen angewiesen, um Einsicht in relevante Archivalien nehmen zu können.
Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 9.
Das Artistenmuseum in Klosterfelde bei Berlin etwa musste, nachdem es bereits 2008 in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, nach dem Tod seines Gründers Roland Weise im Jahr 2013 von dessen Nachkommen aufgelöst und die Inhalte verkauft werden. Die Materialien des Museums finden sich nun auf Trödelmärkten und teilweise bei Ebay wieder (vgl. Kai Uwe Krakau, „Artisten vor dem Aus“, in: MOZ.de (23.10.2008), https://www.moz.de/landkreise/barnim/bernau/artikel3/dg/0/1/32176/ (Zugriff 14.05.2019); Christian Meurer, „Katja Nicks Nachlass. Rückwärts von Raab bis Ribbentrop“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (08.08.2014); o. A., „Internationales Artistenmuseum“, in: Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Internationales_Artistenmuseum (Zugriff 09.12.2021)). Die Sammlung von Martin Schaaff wiederum, der zusätzlich zu seinem eigenen Bestand nach dem Tod der Zirkusdirektorin Paula Busch 1973 das Archiv des Circus Busch übernommen hat, war seit dessen Ableben 2015 bzw. dem Tod seiner Frau 2018 nicht mehr zugänglich (vgl. Anne Vorbringer, „Circus Krone in Berlin: Der Pfarrer und die Tigerbraut“, in: Berliner Zeitung (22.10.2014), www.berliner-zeitung.de/berlin/circus-krone-in-berlin-der-pfarrer-und-die-tigerbraut-411298 (Zugriff 14.05.2019)). Die Nachlässe konnten zu Beginn des Jahres 2020 glücklicherweise dem Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv übergeben werden, wo sie derzeit erschlossen werden (vgl. Björn Berghausen, „Manege frei für Circus Busch. Mit zirzensischer und unternehmerischer Innovationskraft übertrumpften Paul Busch und seine Tochter Paula die Berliner Konkurrenz“, in: Berliner Wirtschaft 3 (2020), S. 42–43, hier S. 43). Dietmar und Gisela Winkler haben mit dem Bundesarchiv eine Vereinbarung zur Übernahme ihrer archivalischen Quellen getroffen. Was mit ihrer umfangreichen Fachbibliothek geschehen soll, ist jedoch unklar. Dabei stellt sich die Frage, warum die Nachlässe nicht in theater- oder kulturwissenschaftliche Sammlungen aufgenommen werden.
Vgl. Reiner Keller, „Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Profilierung der Diskursforschung“, in: Franz X. Eder (Hg.), Historische Diskursanalysen: Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 51–69, hier S. 59.
Vgl. auch Stefanie Lorey, Performative Sammlungen. Begriffsbestimmung eines neuen künstlerischen Formats. Bielefeld: transcript, 2020, S. 47–52. Als grundsätzlicher methodischer Zugang diente ein auf Michel Foucaults machtanalytischem Diskursbegriff basierender diskursanalytischer Ansatz (vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974 (1966); ders., Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981 (1969)). Konkretisierungen zum Diskursbegriff nach Foucault finden sich u. a. bei Thomas Laugstien, „Diskursanalyse“, in: Wolfgang Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg: Argument Verlag mit Ariadne, 1996, S. 727–743; Rainer Diaz-Bone, „Die französische Epistemologie und ihre Revisionen. Zur Rekonstruktion des methodologischen Standortes der Foucaultschen Diskursanalyse“, in: Forum Qualitative Sozialforschung 8.2 (2007), Art. 24, https://doi.org/10.17169/fqs-8.2.238; sowie Judith Butler, Bodies That Matter. On The Discoursive Limits of Sex. London: Routledge, 1993. Für die Operationalisierung bot insbesondere die historische Diskursanalyse nach Achim Landwehr Orientierung (vgl. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M.: Campus, 2008).
Vgl. Peter, Zirkus. Birgit Peter geht in ihrer Studie genauer auf Vorurteile gegenüber dem und Projektionen auf den Zirkus ein.
Vgl. Helen Stoddart, Rings of Desire: Circus History and Representation. Manchester: Manchester University Press, 2000, S. 2. Bezüglich des Konnexes von Zirkus und Fragen nach dem ‚guten Geschmack‘ vgl. Peter, Zirkus, S. 8–19.
Vgl. Vanessa Toulmin, „Celebrating 250 Years of Circus“, in: Early Popular Visual Culture 16.3 (2018), S. 231–234, hier S. 231.
Vgl. Caroline Hodak, Du théâtre équestre au cirque. Le cheval au cœur des savoirs et des loisirs (1760–1860). Paris: Belin, 2018, S. 35–47; Marius Kwint, „The Legitimization of the Circus in Late Georgian England“, in: Past & Present 174.1 (2002), S. 72–115, hier S. 77–78.
Vgl. Joseph Halperson, Das Buch vom Zirkus. Leipzig: Zentralantiquariat, 1990 [1926], S. 45; Hodak, Théâtre équestre, S. 38, 115; Kwint, Legitimization, S. 77; Jewgeni Kusnezow, Der Zirkus der Welt, übers. von Melitina Orlowa, erg. von Ernst Günther und Gerhard Krause. Berlin: Henschel, 1970 (1931), S. 12.
Vgl. Michael Gamer, „A Matter of Turf: Romanticism, Hippodrama, and Legitimate Satire“, in: Nineteenth-Century Contexts 28.4 (2006), S. 305–334, hier S. 308 f.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 248–291; vgl. auch Kwint, Legitimization, S. 90; Marline Otte, Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933. New York: Cambridge University Press, 2006, S. 32.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 30; Kwint, Legitimization, S. 77.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 116; Kwint, Legitimization, S. 75.
Vgl. Highfill, Philip H., u. a. (Hg.), „Astley, Philip“, in: dies., A Biographical Dictionary of Actors, Actresses, Musicians, Dancers, Managers and Other Stage Personnel in London, 1660–1800, Bd. 1: Abaco to Belfille, Carbondale: Southern Illinois University Press, 1973, S. 146–151.
Vgl. Kwint, Legitimization, S. 72–115; Philip H. Highfill u. a., „Hughes, Charles“, in: dies., A Biographical Dictionary of Actors, Actresses, Musicians, Dancers, Managers and Other Stage Personnel in London, 1660–1800, Bd. 8: Hough to Keyse, Carbondale: Southern Illinois University Press, S. 19–22, hier S. 19 f.; Hodak, Théâtre équestre, S. 45–54.
Zit. n. Philip H. Highfill u. a., „Dibdin, Charles“, in: dies., A Biographical Dictionary of Actors, Actresses, Musicians, Dancers, Managers and Other Stage Personnel in London, 1660–1800, Bd. 4: Corye to Dynion, Carbondale: Southern Illinois University Press, 1975, S. 358–381, hier S. 368.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 68. Ab 1816 wurde der Royal Circus als Surrey Theatre weitergeführt (vgl. Kwint, Legitimization, S. 94).
Vgl. G. Winkler, Von fliegenden Menschen, Bd. 1, S. 77. Bezeichnungen früher Zirkusspielstätten wie „Amphitheater“, „Circus“ oder „Hippodrom“ referieren auf die Namen antiker Spielstätten. Begriffliche Bezugnahmen sowie architektonische und gestalterische Referenzen des modernen Zirkus auf die Antike entsprachen dem klassizistischen Zeitgeschmack und dienten der Nobilitierung (vgl. Patrick Désile, „Le cirque et le cinéma. Mythologies et convergences“, in: Sébastien Denis / Jérémy Houillière (Hg.), Cirque, cinéma et attractions. Intermédialité et circulation des formes circassiennes, Lille: Presses universitaires du Septentrion, 2019, S. 23–34, hier S. 24). Diese Bezugnahme auf die Antike als Legitimierungsstrategie findet sich auch in der frühen Zirkushistoriografie. Die Parallelität zur Theatergeschichtsschreibung ist dabei natürlich nicht zu übersehen (vgl. Peter, Geschmack, S. 70; dies., Zirkus, S. 20).
Vgl. Brenda Assael, The Circus and Victorian Society. Charlottesville u. London: University of Virginia Press, 2005, S. 27.
Vgl. Christian Dupavillon, Architectures du Cirque. Des origines à nos jours. Paris: Moniteur, 1982, S. 126; Pascal Jacob, Une histoire du cirque. Paris: Seuil, 2016, S. 70; Sylke Kirschnick, „Vom Rand ins Zentrum und zurück. Moderner Zirkus und moderne Metropole“, in: Paul Nolte (Hg.), Die Vergnügungskultur der Großstadt. Orte – Inszenierungen – Netzwerke, 1880–1930, Köln u. a.: Böhlau, 2016, S. 53–64, hier S. 63; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, Bd. 3: 1849–1914. München: C.H. Beck, 1995, S. 67–100.
Vgl. G. Winkler, Von fliegenden Menschen, Bd. 1, S. 100, 128; Eric Weitz, „Circus, Modern“, in: Dennis Kennedy (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Theatre & Performance, Bd. 1: A–L, Oxford: Oxford University Press, 2003, S. 274–276, hier S. 275. Amerikanische Zirkusse waren bereits ab den 1820er Jahren mit mobilen Zelten unterwegs, feste Zirkusgebäude waren in den USA hingegen eine Seltenheit (vgl. ebd.).
Vgl. Assael, Circus, S. 4; Désile, Cirque et cinéma, S. 24; Hodak, Théâtre équestre, S. 66; Jane Moody, Illegitimate Theatre in London, 1770–1840. Korr. Neuaufl., Cambridge: Cambridge University Press, 2007 [2000], S. 15 f.; Gertrude E. Stipschitz, „Historische Voraussetzungen für Zirkus und Schauvergnügen in Wien“, in: Birgit Peter / Robert Kaldy-Karo (Hg.), Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien, Wien: LIT Verlag, 2013, S. 13–32, hier S. 13 f.
Koslowski, Stadttheater, S. 31, vgl. auch S. 30; Assael, Circus, S. 1–7; Kwint, Legitimization, S. 113.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 58–77; Kwint, Legitimization, S. 74–86; Moody, Illegitimate, S. 10–47. Das britische Parlament befürchtete in Bezug auf die illegitimate theatres vor allem, dass diese eine sinkende Arbeitsmoral sowie erhöhte Kriminalitätsraten mit sich bringen würden (vgl. Kwint, Legitimization, S. 81).
Vgl. Patrick Désile, „,Cet opéra de l’œil‘: Les pantomimes des cirques parisiens au XIXe siècle“, in: memento 4 (2011), S. 2–13, hier S. 3. Hodak, Théâtre équestre, S. 151–167; Rüdiger Hillmer, Die Napoleonische Theaterpolitik. Geschäftstheater in Paris 1799–1815. Köln u. a.: Böhlau, 1999, S. 282 f.; Nicole Wild, Dictionnaire des théâtres parisiens au XIXe siècle. Les théâtres et la musique. Paris: Aux Amateurs de livres, 1989, S. 83–85; Jean-Claude Yon, Une histoire du théâtre à Paris de la Révolution à la Grande Guerre. Paris: Aubier, 2012, S. 39–52. In Lexikoneinträgen zum Stichwort ‚Zirkus‘, etwa im Theaterlexikon von Brauneck / Schneilin (2007) oder im Handbuch populäre Kultur (2003), werden die 1806/07 von Napoleon erlassenen Theatergesetze für die Durchsetzung des Begriffs ‚Zirkus‘ verantwortlich gemacht (vgl. Wolfgang Beck, „Zirkus“, in: Manfred Brauneck / Gérard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon, Bd. 1: Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Hamburg: Rowohlt, 2007, S. 1197–1199; D. Winkler, Zirkus, S. 526–529). Nach der Einführung der napoleonischen Theaterverordnung durften nur noch bestimmte Theaterhäuser die Bezeichnung théâtre verwenden. Laut den genannten Lexika wurde der Begriff cirque just deswegen gebräuchlich, weil sich der Cirque Olympique ab dann nicht mehr théâtre bzw. amphithéâtre nennen durfte (vgl. Beck, Zirkus, S. 1197; D. Winkler, Zirkus, S. 526). Die genannten Einträge klammern jedoch aus, dass dieser Pariser Zirkus ab 1811 im Rahmen der napoleonischen Gesetzgebung als théâtre secondaire unter die Theater zweiter Klasse aufgenommen wurde. Napoleons Theatergesetze trugen also eher durch diese Begünstigung und nicht durch ein Namensverbot zur Etablierung des Begriffs ‚Zirkus‘ für ein bestimmtes Aufführungsformat bei.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 86.
Kotte, Theatergeschichte, S. 272.
Peter, Geschmack, S. 73.
Vgl. ebd. Komische Figuren der Wandertheatertradition wie Arlecchino und Hanswurst tauchten im Zirkus des 19. Jahrhunderts – in veränderter Form – als akrobatische Clowns wieder auf (vgl. Peter, Geschmack, S. 71).
Peter, Geschmack, S. 79.
Vgl. Michael R. Booth, „Minor Theatres“, in: Dennis Kennedy (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Theatre & Performance, Bd. 2: M–Z, Oxford: Oxford University Press, 2003, S. 860; Hodak, Théâtre équestre, S. 336.
Vgl. Jacky Bratton, „What Is a Play? Drama and the Victorian Circus“, in: Tracy C. Davis / Peter Holland (Hg.), The Performing Century: Nineteenth-Century Theatre’s History, Houndmills: Palgrave Macmillan, 2007, S. 250–262, hier S. 252; Désile, Cirque et cinéma, S. 25.
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 76 f., 384.
Vgl. Gamer, Turf, S. 305–308; Hodak, Théâtre équestre, S. 76 f. Gamer stellt bezüglich der Rezeption und Bewertung von Pferdetheaterproduktionen auf den Bühnen mit königlichem Patent in der Presse und anderen Berichten fest: „Thus, in spite of hippodrama’s growing popularity between 1790 and 1810, reviewers and satirists were able to maintain a relatively stable cultural hierarchy, whose notions of ‚high‘ and ‚low‘ culture comfortably mirrored the legal institution of ‚major‘ and ‚minor‘ theaters.“ (Gamer, Turf, S. 319).
Vgl. Gamer, Turf, S. 305–319; Kwint, Legitimization, S. 110.
Die Verklärung des Zirkus ist kein Produkt des 20. Jahrhunderts, sondern erfolgte bereits um 1900. In einem Buch des frühen deutschsprachigen Zirkushistoriografen Signor Domino [Emil Cohnfeld] von 1888 ist etwa zu lesen: „Es ist eine wunderlich bunte, romantische Welt, diese Welt des Cirkus […].“ (Signor Domino [Emil Cohnfeld], Der Cirkus und die Cirkuswelt. Berlin: S. Fischer, 1888, S. 7). An anderer Stelle schreibt er: „Und es ist eine Welt, die in ihrer romantischen Eigenartigkeit ihren Reiz […] auf alle Schichten der Bevölkerung, auf alle Klassen der Gesellschaft ausübt […].“ (Signor Domino, Cirkus, S. 12).
Vgl. Assael, Circus, S. 4.
Vgl. ebd.; Kwint, Legitimization, S. 88, 109.
Vgl. Stoddart, Rings, S. 1; Peter, Zirkus, S. 234–250.
Kirschnick, Vom Rand, S. 63.
Vgl. Janet M. Davis, The Circus Age: Culture and Society under the American Big Top. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2002, S. 26 f.
Vgl. Assael, Circus, S. 114–119; Stoddart, Rings, S. 166–192; Peta Tait, Circus Bodies: Cultural Identity in Aerial Performance. Abingdon: Routledge, 2005. Die Kulturwissenschaftlerin Sylke Kirschnick weist darauf hin, dass sowohl auf Werbemitteln wie auch in den Aufführungen Geschlechterstereotype affirmiert wurden: Während etwa die männlichen Dompteure als den Wildkatzen überlegene Gegenspieler präsentiert wurden, waren bei den Dompteur:innen piktorale wie auch performative Inszenierungen als Löwen- oder Tigerbräute in den klischierten und sexualisierten Rollenbildern von Kindfrau, Mutter oder femme fatale üblich (vgl. Kirschnick, Vom Rand, S. 60 f.; Peter, Zirkus, S. 250–261).
Der male gaze ist ein Konzept der feministischen Theorien und wurde in den 1970er Jahren vor allem durch den Autor und Künstler John Berger und die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey geprägt (vgl. John Berger, Ways of Seeing. London: BBC u. Penguin, 1972; Laura Mulvey, „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16.3 (1975), S. 6–18).
Vgl. Gillian Arrighi, The FitzGerald Brothers’ Circus. Spectacle, Identity, and Nationhood at the Australian Circus. Melbourne: Australian Scholarly, 2015, S. 160.
Mit Parasexualität ist eine durch die kapitalistische und patriarchale Organisationslogik entstandene „new form of open yet licit sexuality“ gemeint, also eine geregelte Inszenierung von Sexualität in der Öffentlichkeit im Rahmen der rigiden, aber doppelbödigen bürgerlichen Sexualmoral des 19. Jahrhunderts (Peter Bailey, „Parasexuality and Glamour: The Victorian Barmaid as Cultural Prototype“, in: Gender & History 2.2 (1990), S. 148–172, hier S. 148).
Vgl. Assael, Circus, S. 114–121.
Vgl. Arrighi, FitzGerald Brothers’, S. 154–160, 164–169; Peta Tait, „Replacing Injured Horses, Cross-Dressing and Dust: Modernist Circus Technologies in Asia“, in: Studies in Theatre and Performance 38.2 (2018), S. 149–164, hier S. 157 f. Besonders berühmt wurde um 1850 die US-amerikanische Reitkünstler:in Miss Ella Zoyara beziehungsweise Omar oder Olmar Kingsley, die ihr biologisches Geschlecht offenbar über viele Jahre geheim halten konnte oder musste. 1854 trat Miss Ella erstmalig auch in Berlin auf (vgl. Neue Salzburger Zeitung, 28.12.1854, o. S.). Signor Domino widmete ihr in seinem Buch Der Cirkus und die Cirkuswelt ein eigenes Kapitel (vgl. Signor Domino, Cirkus, S. 116–142).
Vgl. Helma Bittermann / Brigitte Felderer, Tollkühne Frauen. Zirkuskünstlerinnen zwischen Hochseil und Raubtierkäfig. München: Knesebeck, 2014, S. 20; Public Broadcasting Service, „The Circus“, in: Films https://www.pbs.org/wgbh/americanexperience/films/circus/ (Zugriff 14.03.2020).
Vgl. Hodak, Théâtre équestre, S. 235–299. Im deutschsprachigen Raum wurden im 19. Jahrhundert ‚Kunstreiterei‘ (etwa ‚Kunstreiter-Vorstellungen‘, ‚Schaustellungen mit den Kunstreitermarstallungen‘) und ‚Zirkus‘ (z. B. ‚Circusunternehmer‘, ‚Circus-Vorstellungen‘, ‚Circusgesellschaft‘) synonym verwendet. Analog zur Veränderung der Programme verfestigte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Begriff ‚Zirkus‘.
Patrick Désile stellt fest, dass sich ab 1850 Presseberichte über Zirkusunfälle, insbesondere Stürze aus der Höhe, mehren (vgl. Désile, Cirque et cinéma, S. 33). Ein österreichischer Zeitungsartikel von 1891, der vor dem Hintergrund eines tödlichen Sturzes über diverse verstorbene Zirkuskünstler:innen berichtet, trägt den anschaulichen Titel „Das Schlachtfeld des Trapezes und der Manège“ (Deutsches Volksblatt, 16.09.1891, S. 6).
Vgl. Jacob, Histoire, S. 92–102.
Vgl. Gillian Arrighi, „The Circus and Modernity. A Commitment to ‚the Newer‘ and ‚the Newest‘“, in: Peta Tait / Katie Lavers (Hg.), The Routledge Circus Studies Reader, Abingdon: Routledge, 2016, S. 386–402; dies., „Circus and Electricity: Staging Connexions Between Science and Popular Entertainments“, in: Anna-Sophie Jürgens (Hg.), Circus, Science and Technology: Dramatising Innovation, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2020, S. 81–100, S. 84.
Damit sowie mit entsprechenden Werbestrategien schrieben sich die Zirkusse der Theaterwissenschaftlerin Peta Tait zufolge auch in den zeitgenössischen Hygienediskurs ein (vgl. Tait, Replacing Injured Horses, S. 158–162; vgl. auch Kwint, Legitimization, S. 104).
Vgl. Désile, Opéra de l’œil, S. 9.
Vgl. Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung ‚exotischer‘ Menschen in Deutschland 1870–1940. Frankfurt a. M.: Campus, 2005, S. 15; Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen. Düsseldorf: Vier Falken, 1950 [1928], S. 34–53.
Vgl. David A. H. Wilson, The Welfare of Performing Animals. A Historical Perspective. Heidelberg: Springer, 2015, S. 19.
Vgl. Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 15.
Vgl. Pascal Blanchard u. a., „Human Zoos. The Greatest Exotic Shows in the West“, in: Pascal Blanchard u. a. (Hg.), Human Zoos: Science and Spectacle in the Age of Colonial Empires, übers. von Teresa Bridgeman, Liverpool: Liverpool University Press, 2008 (2001), S. 1–49, hier S. 3–7. Die Publikation bietet einen internationalen Überblick über die Etablierung der Völkerschauen in Europa und Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für die Situation in der Schweiz ist die Studie von Rea Brändle beachtenswert, die auch ein Kapitel über Zirkusprogramme beinhaltet (Rea Brändle, Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835–1964. Zürich: Rotpunktverlag, 2013 [1995].)
In ihrer Studie vermittelt Nic Leonhardt im Unterkapitel „Kolonien im Blick: Schauplätze deutscher ‚Fremden-Bilder‘“ einen differenzierten Einblick in die vielfältigen Präsentationsformate, die auf Darstellung und Konstruktion des kulturell ‚Fremden‘ beruhen (vgl. Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 226–296).
White supremacy ist ein Konzept der postkolonialen und intersektionalen Theorien, das seit den späten 1980er Jahren verwendet wird (vgl. etwa Frances Lee Ansley, „Stirring the Ashes: Race, Class and the Future of Civil Rights Scholarship“, in: Cornell Law Review 74.6 (1989), S. 993–1077).
Vgl. Rühlemann, Varietés und Singspielhallen, S. 374. Die komplexen Verbindungen von Wissenschaft bzw. Wissensformationen und kulturellen Praktiken mit den entsprechenden populären Diskursen in Bezug auf sogenannte Freaks untersucht Birgit Stammberger in ihrer 2011 erschienen Studie (vgl. Birgit Stammberger, Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, 2011).
Vgl. Blanchard u. a., Human Zoos; Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 131–149, Kirschnick, Vom Rand, 59–63; Stefanie Wolter, Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums. Frankfurt a. M.: Campus, 2004, S. 45–81.