Wieso schreibt man heute noch ein ganzes Buch über Fidelio? Ist nicht alles Wesentliche gesagt? Man kennt die Musik; neue Funde sind nicht mehr zu erwarten. Man weiß, wann sie entstanden ist und dass Beethoven lange an ihr gearbeitet hat. Man weiß, was er vorher und was er später komponiert hat, kennt also das musikalische Umfeld und auch das Zeitgeschehen, das die Oper umgibt, die politischen Bewegungen, die Literatur, die geistigen Strömungen. Demnach sind die wichtigsten Interpretationsansätze bekannt. Was also kann man noch Bedeutsames, Neues erfahren?
In der Beethoven-Forschung steht Fidelio wie auch die gesamte übrige Vokalmusik im Schatten der instrumentalen Werke. Sobald man ein wenig ins Detail geht, stellt man stets fest, dass vieles unklar, fragwürdig ist. Von der Oper existieren drei (oder mehr?) Fassungen; die letzte, Fidelio, wurde quasi in drei Etappen, von Mai bis Juli 1814 uraufgeführt. Was wurde bei der ersten Uraufführung im Mai gespielt? Die unvollständige Oper? Ohne Arie der Leonore, die erst im Juli hinzukam? Was entstand überhaupt 1814 (auf Veranlassung dreier Sänger?) und was wurde schon vorher, in der langen Zwischenzeit seit 1806 entschieden?
Wie ging Beethoven bei der Umarbeitung vor? Schrieb er eine neue Partitur, ein Autograph des Fidelio? Oder überarbeitete und korrigierte er nur die älteren Manuskripte der Leonore-Fassungen? Gab er dabei der sogenannten Ur-Leonore oder der revidierten, zweiten Fassung von 1806 den Vorzug? Besaß er noch Manuskripte aller Fassungen? Oder hatte er einige schon bei den Vorbereitungen der ersten Aufführungen 1805 und 1806 aus der Hand gegeben oder durch die ersten Umarbeitungen zerstört? Was davon ist bis heute erhalten und vor allem: was fehlt? Wie unterscheiden sich die Fassungen? Was hat Beethoven 1806 und was 1814 geändert? Die politische Haltung? Die Darstellung der Figuren? Den Gesangsduktus? Die Deklamation? Das „dramatische Timing“? Die Proportionen? Werden die Details und die Gründe für die Revisionen anhand der erhaltenen Materialien erkennbar und nachvollziehbar? Warum entstanden zu der Oper statt einer schließlich vier Ouvertüren? Warum gelangte Leonore III zu solcher Popularität, während Leonore I weithin unbekannt blieb?
An welchen Vorbildern, an welchem Opernrepertoire hat Beethoven sich orientiert? In welchen Operngeschichtlichen Rahmen trat er mit Leonore/Fidelio ein? Warum schrieb er keine weitere Oper? Lag es daran, dass ihm die instrumentale Musik näherstand? Oder scheiterten weitere Opernpläne, weil er kein Textbuch fand, das seinen Vorstellungen entsprach? Entsprach das Libretto des Fidelio seinen Ansprüchen? Finden sich darin gar biographische Bezüge? Was lässt sich darüber aus den zeitgenössischen Dokumenten in Erfahrung bringen? Identifiziert sich seine Komposition mit dem Libretto von Joseph Sonnleithner oder von dessen Nachfolgern Stephan von Breuning und Friedrich Treitschke? Wie muss man sich Beethovens Zusammenarbeit mit den Textautoren vorstellen?
Eine Fülle von Fragen, die verschiedene Forschungsbereiche berühren und hier keineswegs alle beantwortet oder vollständig geklärt werden können. Einen fast selbstverständlichen inhaltlichen Schwerpunkt bildet die Quellenforschung, speziell die Verfolgung von Kompositionsvorgängen, die sich an den erhaltenen Materialien so faszinierend erkennen lassen – an den Skizzen und Entwürfen und vor allem an den diversen Stadien der Partituren zu den einzelnen Nummern. Die beiden großen Soloszenen von Leonore und Florestan spielen dabei die Hauptrollen. Damit hängen die Erforschung der Überlieferung und der entstehungs- und aufführungsgeschichtlichen Fragen zusammen. Ein anderer immer wiederkehrender Themenkomplex befasst sich mit den dramaturgischen Aspekten von Beethovens Komposition, mit der Herkunft des Textes und mit den drei Fassungen des Librettos. Zu Beethovens Mitwirkung an der Textgestalt haben sich nach und nach immer neue Indizien gefunden.
Das vorgelegte Buch enthält eine Sammlung selbständiger Abhandlungen, die einzeln verständlich sind. Dementsprechend werden gelegentlich Angaben und Zitate wiederholt, wenn es für das spezielle Thema erforderlich ist. Viele der Aufsätze sind Zweit- oder sogar Drittveröffentlichungen aus teilweisen nur noch schwer erreichbaren Publikationen. Einige haben bereits ein beträchtliches Alter, wurden aber dennoch im Wesentlichen unverändert oder nur geringfügig aktualisiert aufgenommen, weil sie zur Grundlage für spätere Arbeiten geworden sind. Die ursprüngliche Bestimmung der Texte ist sehr unterschiedlich; sie reicht vom Opernprogrammheft über Festschriften bis zu wissenschaftlichen Tagungsbeiträgen, was für Anspruch und Ausrichtung prägend war.
Dass das Buch, das den größten Teil meiner Aufsätze zu Beethovens Oper enthält, nach einem missglückten ersten Anlauf nun doch erscheinen kann, verdanke ich Petra Weber, die angeboten hat, es in ihre Reihe Studien zur Musik aufzunehmen. Besonders glücklich bin ich über den seriösen und äußerst großzügigen Rahmen und darüber, dass sie mir in der Auswahl der Texte und bei der Einrichtung völlig freie Hand gelassen hat. Eine ganz große Hilfe war Werner Ciba, der die unendlich vielen Notenbeispiele neu geschrieben hat. Ohne sein grafisches Geschick, seine Sorgfalt und Geduld, mit der er jeden Korrekturwunsch erfüllt hat, hätte das Buch in dieser Form nicht erscheinen können. Ein herzlicher Dank richtet sich an Dr. Nicole Kämpken, Beethoven-Haus, Bonn, an Dr. Martina Rebmann, Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, und an Mgr. Matěj Dočekal, Archiv des Nationaltheaters, Prag für ihre Unterstützung bei der Beschaffung der Vorlagen zu den zahlreichen Abbildungen aus den Partituren und Textbüchern.
Mit diesem Buch wird meine Mitarbeit an der Erforschung der Werke Beethovens enden. Ich bin froh und dankbar, dass dies in einem so würdigen Rahmen geschieht.
Bonn, im Juli 2023 Helga Lühning