Kapitel 1 Einführung

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Die Anziehungskraft gewisser Arten von Erklärungen ist ganz überwältigend. Zu gewissen Zeitpunkten ist die Anziehungskraft einer bestimmten Art von Erklärung größer als man sich vorstellen kann.

(VuGÄPR S. 50)17

Im 17. Jahrhundert unternahm der britische Universalgelehrte John Wilkins den Versuch, Sprache und die damit korrespondierende Welt neu zu kartografieren. Das bestehende sprachliche Inventar schien ihm vor allem für wissenschaftliche Unternehmungen zu begrenzt, ungenügend und starr, weshalb er ein neues Ordnungssystem des Universums, einen »Weltkatalog«18, mit dem Ziel der Etablierung einer Universalsprache entwickelte. Zur Errichtung dieser neuen Systematik griff Wilkins auf natürliche Zahlen, das bestehende lateinische Alphabet sowie surenartige Zeichen zurück und wies den einzelnen Positionen bestimmte Semantiken in hierarchischen Klassen zu. So tragen zum Beispiel Äußerungen über das Transzendente die übergeordnete Klassifizierungsnummer I, Aussagen zum Göttlichen V, Baumarten XIV und Erwähnungen zu Tieren XVIII.19 Wilkins’ Plansprache muss man sich wie einen weltumfassenden Programmcode vorstellen, der mit formalisierten Chiffren die Realitäten des 17. Jahrhunderts abdeckt und, angepasst an den jeweiligen gesellschaftlichen und technischen Fortschritt, auch neue Programmsequenzen generieren kann. Obwohl Wilkins’ Universalsprache, zumindest Fritz Mauthner zufolge, gerade für Kinder leicht wie eine Muttersprache zu erlernen sei,20 ist An Essay towards a Real Character and a Philosophical Language, so der Titel des Weltkatalogs, heute höchstens noch für ein akademisches Fachpublikum interessant.

Jorge Luis Borges nimmt in seinem Aufsatz »Die analytische Sprache John Wilkins’« die Systematik jener Universalsprache aus dem 17. Jahrhundert zum Anlass, sich Gedanken über die enzyklopädische Ordnungsfunktion von Sprache und deren Konstitution von Welt zu machen. Borges, ganz Bibliothekar, aber auch Autor fantastischer Prosa mit entsprechendem Gespür für publizistische Kuriositäten, fügt Wilkins’ Weltsystematisierung in seinem Text ein weiteres Beispiel für ein alternatives sprachliches Ordnungssystem hinzu, nämlich in Form einer chinesischen Enzyklopädie mit dem Titel Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse. Bezogen auf das Klassifikationssystem des Tierreichs heißt es darin:

Auf [den] uralten Blättern steht geschrieben, daß die Tiere sich wie folgt unterteilen: a) dem Kaiser gehörige, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in diese Einteilung aufgenommene, i) die sich wie toll gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.21

Fiktionen von Tieren stehen in dieser Klassifikation gleichrangig neben streunenden Hunden, unzählbaren oder dem Kaiser gehörenden Tieren. Auch so kann Welt geordnet werden. Für mein Anliegen entscheidend ist jedoch Borges’ Schlussfolgerung:

Ich habe die Willkürlichkeiten von Wilkins [und den] unbekannten (oder apokryphen) chinesischen Enzyklopädisten […] [deshalb aufgeführt, da] bekanntlich […] keine Klassifikation des Universums [existiert], die nicht willkürlich und mutmaßlich wäre. Aus einem sehr einfachen Grund: wir wissen nicht, was das Universum ist.22

Sowohl Wilkins als auch die aufgeführte Enzyklopädie schlagen Alternativen zu einer bekannten und hinter ihrer Selbstverständlichkeit fast verschwindenden Systematisierung von Welt vor. Die Welt kann so, sie kann aber auch anders sein. Mit anderen Worten: Wer die Welt ändern will, muss die Sprache ändern. Borges legt das Feld der willkürlichen sprachlichen Konstitution, die willkürliche sprachliche Erschließung, den willkürlichen sprachlichen Zugang zur Welt und den auf willkürlichen Zeichen beruhenden Austausch über Welt frei und benennt dabei gleichzeitig das normierende Sprach-Apriori, aus dem Welt gemacht ist: Ein ›Weltkatalog‹, egal mit welchen Zeichen und mit welcher vorgegebenen Grammatik, sagt, was es gibt und was es nicht gibt, was wahr ist und was falsch. Er ist das Raster der Sinnbildung und gibt eine Wissensordnung vor.

Dass Wissensordnungen Transformationen unterliegen und sich verändern, dass der ›Weltkatalog‹ des 17. Jahrhunderts nicht dem des 18., 19. oder 20. Jahrhunderts entspricht, ist eine historische Tatsache. Wissens- und Denkformationen und ihre Handlungsfolgen sind nie absolut, ihre Gültigkeit ist temporär. Hieraus lassen sich Fragen ableiten: Wenn es Wissensordnungen gibt, wie ist dann das Gegenteil, die Wissensunordnung, zu denken? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie und warum lösen sich Wissensordnungen ab und auf? Was geschieht bei dem Zusammenbruch einer alten und der Errichtung einer neuen Ordnung? Wie entsteht Krise innerhalb einer Ordnung? Und: Gibt es Praktiken, die Transformationen von Wissensordnungen auslösen können?

Ausgehend von diesen einleitenden Überlegungen werden in den folgenden Kapiteln von Teil I die zwischen den Weltkriegen liegenden Jahre 1918–1939 auf den Topos der Wissensunordnung hin befragt. Es ist auffallend, dass in diesen rund zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von etablierten (sprachlichen) Ordnungssystemen unzureichend werden und Ordnungskonzepte von Welt unter dem Druck gesamtgesellschaftlicher Transformation kollabieren, während andere emergieren.23

Neben den pauschal unter ›Lebensreform‹ zusammengefassten sozialen Bewegungen24 und den nur schwer zu überblickenden ästhetischen Artikulationsformen25 ist es vor allem die Philosophie, die dieser aufkommenden Wissensunordnung in Form von Krisennarrativen ein Gesicht gibt. Gegenwartsdiagnosen mit bisweilen fatalistischen Stoßrichtungen finden sich sowohl in konservativen als auch in progressiven philosophischen Schriften. Bei aller Unterschiedlichkeit der Herangehensweisen tritt ein Motiv im Besonderen und jeweils an prominenter Stelle in der jeweiligen theoretischen Krisenarchitektur hervor: Staunen als Ausweg aus der Krise, als krisenlösendes Moment hin zu einer neuen Ordnung.

Neben dem Interesse an der terminologischen Einführung der Begriffe ›Wissensordnung‹ und ›Krise‹ sind Ziel und Gegenstand der folgenden Kapitel von Teil I die exemplarische, nicht auf Vollständigkeit abzielende Darlegung dieser philosophischen Krisennarrative und des daraus hervorgehenden Begriffs von Staunen. Auf dieser Grundlage werde ich das Paradigma entwickeln, den mit viel Tradition aufgeladenen Begriff des Staunens innerhalb krisenhafter Wissensordnungen neu zu denken. Das letzte Kapitel des folgenden Teil I stellt wiederum einen Übergang zu Teil II dar: Über die Darstellung des Topos der Krise bei Ludwig Wittgenstein schließt es an die Überlegungen zu den Krisennarrativen 1918–1939 an, eröffnet aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit Wittgensteins mit Staunen verbundenen Motivkreisen in Teil II. Dergestalt dient Teil I einerseits als Heuristik für Teil II, andererseits versieht er die Darstellung von Wittgensteins mit Staunen verbundenen Theoremen, seine Praktiken und Strategien der Bewunderungserzeugung mit einem Zeitindex.

17

Orthografische, grammatische und interpunktorische Eigenheiten der zitierten Autor:innen werden hier und fortan stillschweigend übernommen. Auch Kursivierungen in Zitaten – mit Ausnahme von vorangestellten Mottos – werden ohne besonderen Hinweis übernommen, während eigene Hervorhebungen und Zusätze durch eine Anmerkung in eckigen Klammern ausgewiesen werden.

18

Mauthner 1910: 500.

19

Vgl. Wilkins 1668: 23.

20

Vgl. Mauthner 1910: 501.

21

Borges 1966: 212.

22

Ebd.

23

Da Teil I in einem Funktionszusammenhang mit Teil II steht und die vorliegende Arbeit keine Geschichtsschreibung beansprucht, sondern lediglich einen historischen Index mit philosophischem Fokus konturieren möchte, sind die politischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen jener Jahre ausgeklammert. So sind bspw. die ›Nachkriegskrise‹, die ›Strukturkrise‹ oder die ›Krise des Sozialstaats‹ (vgl. Peukert 2014) bei meinen Ausführungen gewiss mitzudenken, als eigenständiger Referenzpunkt für Teil II jedoch nicht weiter relevant.

24

Vgl. u. a. Schwitalski, Ellen, »Werde, die du bist«: Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Bielefeld: Transcript, 2015; Bollmann, Stefan, Monte Verità. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München: DVA, 2017, sowie Wedemeyer-Kolwe, Bernd, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt: Philipp von Zabern, 2017.

25

Beispielhaft sind hierzu die unter der Überschrift ›Krisis des Romans‹ zusammengefasste Debatte über die Illegitimität des kohärenten Erzählens und die Auflösung von Form (vgl. Lukács, Musil, Mann), die Atonalität in der Musik (bspw. Webern, Schönberg) oder die expressionistische Malerei (Grosz, Arp, Ernst) zu nennen. Das mit der Krise des Romans eng verbundene Themenfeld der Sprachkrise wird in Form von Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief als flankierendes Beispiel für Wittgensteins ›(Un-)Form der Philosophie‹ in Kap. 13 Wittgensteins (Un-)Formen der Philosophie aufgegriffen.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12