Kapitel 3 Krise und Staunen

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Ein »Riß in der Ordnung der Dinge«75, gestörte Ordnungen76, ein fehlender »Homöostasezustand«77, die »Unbilligkeit gegen alles Bisherige«78 und das konflikthafte ›krínein‹ mit all seinen agonalen Loslösungsprozessen innerhalb überkommener Lebensformen finden sich im Europa der Zwischenkriegszeit an allen Orten und auf allen Ebenen. Binnen kürzester Zeit »wurden nahezu alle Möglichkeiten der modernen Existenz durchgespielt«.79 Die »historische Umwelt«80 jener Jahre ist durch zusammenbrechende Wissensordnungen81 bestimmt und befindet sich mit wenigen Ausnahmen von kurzen Konsolidierungen82 in einem dauerhaften Krisenmodus. Es sind die »Krisenjahre der Klassischen Moderne«, die vom »Zerfall der bisherigen soziokulturellen Selbstverständlichkeiten«, von Unsicherheit und von »Faszination und Irritation, Aufbruchshoffnung und Untergangsangst«83 zugleich geprägt sind. Es herrschte ›The Great Disorder‹84, die große Unordnung.

Die Schilderung dieser ›großen Unordnung‹, die Skizzen von kollabierenden Ordnungen sind auffallend gerade bei den philosophischen Diskursbegründer:innen85, also den die Epoche prägenden Autor:innen, allgegenwärtig. Der ›Output‹ an Krisennarrativen ist immens. ›Krise‹ in direkter Thematisierung oder in davon abgeleiteter Ausformulierung ist ein dominierendes Sujet – ein Sujet, das auffallend oft mit Konzepten von Staunen als Moment der Krisenlösung in Verbindung steht. Mit anderen Worten: Wo es Krisen gibt, ist das (rettende) Staunen nicht weit.

Aufgabe der folgenden Unterkapitel ist die Schilderung dieser zwischen 1918 und 1939 anzusiedelnden, von konservativer wie von progressiver Seite hervorgebrachten philosophischen Krisennarrative und der damit zusammenhängenden Konzepte von Staunen. Sie zielt nicht auf Vollständigkeit ab, sondern ist in Gestalt eines Überblicks ausgearbeitet und in vielerlei Hinsicht verkürzt. Da jedes der folgend angeführten Werke eine eigene und zum Teil auch kontrovers geführte Forschungstradition mit einer nahezu unüberschaubaren Anzahl an Aufsätzen und Monografien aufweist, hat ein ausführliches Forschungsreferat zu den jeweiligen Texten aus ökonomischen Gründen auszubleiben. Eine kritische Textdiskussion unter Berücksichtigung der Sekundärliteratur würde den Rahmen dieser Arbeit schlichtweg übersteigen. Sekundärliteratur, sofern für meine Referate notwendig, wird nur punktuell herangezogen oder als Verweis angeführt.

3.1 Edmund Husserl

Den Anfang meiner Diskussion von Krisennarrativen, Wissens(un)ordnung und Staunen bildet Edmund Husserl mit seiner Spätschrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie86 (1936). Diese wird provokant mit der Frage eröffnet, wie man von einer Krise der Wissenschaft sprechen könne, zumal die »exakten Naturwissenschaften, die wir doch nie aufhören können, als Vorbilder strenger und höchst erfolgreicher Wissenschaftlichkeit zu bewundern«87, doch einen Erfolg nach dem anderen vorweisen könnten. Aber nicht nur ihre Theoriearchitekturen seien bemerkenswert, auch die damit verwobenen Neuerungen, Errungenschaften und »technischen Erfindungen« riefen »Bewunderung«88 hervor, da sie den Alltag so vieler Menschen erleichterten und zivilisatorischen Fortschritt zuallererst ermöglichten.

Dennoch gibt es Husserl zufolge ein »Klagen über die Krisis [der] Kultur« und die der »Wissenschaft[] zugeschriebene[] Rolle«; es mehren sich Stimmen, die »Wissenschaftlichkeit aller Wissenschaften einer ernstlichen und sehr notwendigen Kritik zu unterwerfen«.89 Der Grund: Über allen Formeln, Berechnungen und empirischen Schematisierungen der positiven Wissenschaften gingen das Subjekt und die Fragen verloren, »die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind«. Husserls Diktum: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.«90 Und weiter:

In unserer Lebensnot […] hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Frage nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins.91

Dass dem nicht immer so war, belegt Husserl historisch mit der Renaissance. Hier seien »die spezifischen Menschheitsfragen aus dem Reiche der Wissenschaft«92 nicht verbannt und der aus Vernunft begründete Mensch Teil wissenschaftlichen Erkennens gewesen. In Rückbesinnung auf die Antike habe es gegolten, das Subjekt, die menschliche Umwelt, das soziale Dasein aus den Einsichten einer universalen Philosophie neu zu begründen. Dabei sei die Philosophie zu einer »allbefassenden Wissenschaft, der Wissenschaft von der Totalität des Seienden«93, avanciert. Das Projekt: die Einheit eines theoretischen Systems, in dem aus der Philosophie alle anderen Wissenschaften abzuleiten sind. Das Prinzip: ›top-down‹ mit der Philosophie an oberster Hierarchiestufe: »Wissenschaften im Plural, alle je zu begründenden und alle schon in Arbeit stehenden sind nur unselbstständige Zweige der Einen Philosophie.«94

Die Krisis der von Husserl beschriebenen Gegenwart resultiere nun daraus, dass sie sich von diesem hierarchischen Wissenschaftsprinzip verabschiedet habe. Das Projekt der philosophia perennis, aus der alle anderen, also auch und vor allem die empirischen Wissenschaften abzuleiten seien, konnte nicht realisiert werden. Allein ein Restbegriff von Wissenschaft sei übrig geblieben:

Der positivistische Begriff der Wissenschaft in unserer Zeit ist also – historisch betrachtet – ein Restbegriff. Er hat alle die Fragen fallen gelassen, die man in die bald engeren, bald weiteren Begriffe von Metaphysik einbezogen hatte, darunter alle die unklar sogenannten ›höchsten und letzten Fragen‹. […] Der Positivismus enthauptet sozusagen die Philosophie. Schon in der antiken Idee der Philosophie, die ihre Einheit in der untrennbaren Einheit alles Seins hat, war mitgemeint eine sinnvolle Ordnung des Seins und daher der Seinsprobleme.95

Das angestrebte Ziel einer orientierenden, universalen, »sinnvollen Ordnung« ist gescheitert. Der Grund: Das Ideal einer eindeutigen, belastbaren, integrativen und aufeinander aufbauenden wissenschaftlichen Systematik konnte nur auf dem Feld der Tatsachenwissenschaften realisiert werden. Deren zunehmend wachsender Gestalt und Komplexität, deren theoretischen und praktischen Erfolgen hatte die Philosophie Husserl zufolge nur »einander ablösende Systemphilosophien« entgegenzusetzen. Das »dirigierende Ideal der Philosophie und der Methode geriet ins Wanken«. Das »Gefühl des Versagens« habe sich eingestellt und die Philosophie sei zu einem Spezialistentum verkommen, das sich allein und nur noch bei »wenigen Berufenen und Auserlesenen«96 abspiele.

Aber auch für die positiven Wissenschaften eröffnet sich gemäß Husserl dadurch ein Krisenhorizont: Da alle neuzeitlichen Wissenschaften aus dem universalen Ideal der Philosophie auf den Weg gebracht worden seien und je »als Zweige der Philosophie begründet wurden«97, sei auch ihr Zustand prekär. Die von Husserl angesprochene Enthauptung der Philosophie durch den allein auf Objektivität ausgerichteten Positivismus98 ist letztlich eine Selbstenthauptung. »Es ist eine Krisis, welche das Fachwissenschaftliche in seinen theoretischen und praktischen Erfolgen nicht angreift und doch ihren ganzen Wahrheitssinn durch und durch erschüttert.«99 Und weiter:

Demnach bedeutet die Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität, eine zunächst latente, dann aber immer mehr zutage tretende Krisis des europäischen Menschentums selbst, in der gesamten Sinnhaftigkeit seines kulturellen Lebens, in seiner gesamten ›Existenz‹. […] [D]er Zusammenbruch des Glaubens an die universale Philosophie als Führerin des neuen Menschen besagt eben den Zusammenbruch des Glaubens an die ›Vernunft‹, so verstanden, wie die Alten die Episteme der Doxa gegenüber setzten. Sie ist es, die allem vermeintlich Seiendem, allen Dingen, Werten, Zwecken letztlich Sinn gibt, nämlich ihre normative Bezogenheit auf das, was seit den Anfängen der Philosophie das Wort Wahrheit […] bezeichnet. Damit fällt auch der Glaube an eine ›absolute‹ Vernunft, aus der die Welt ihren Sinn hat, der Glaube an den Sinn der Geschichte, den Sinn des Menschentums, an seine Freiheit, nämlich als Vermöglichkeit des Menschen, seinem individuellen und allgemeinen menschlichen Dasein vernünftigen Sinn zu verschaffen.100

Die Krisis der europäischen Wissenschaften hat sich Husserl zufolge zu einer Sinnkrise der Menschheit ausgewachsen.

Die Lösung dieser Sinnkrise ist in Husserls Krisis-Schrift eng mit dem prominenten und von ihm popularisierten Begriff der Lebenswelt101 verknüpft. Das Konzept greift das in der Antike gültige und in der Renaissance aktualisierte Zentralprinzip der Philosophie als oberste Erkenntnisinstanz auf, fundiert diese jedoch in der menschlichen Umwelt und den Voraussetzungen des (menschlichen) Daseins. Die Forderung: Der Tatsachenmensch102 habe die Tatsache zu berücksichtigen, dass die objektiven Erkenntnisse der Tatsachenwissenschaft ihren Ausgangspunkt in einer subjektiv wahrzunehmenden ›Lebenswelt‹ nehmen und wissenschaftliche Erkenntnisse letztlich nur Abstraktionen von dieser sind. Wenn die positiven Wissenschaften in ihrer rein objektiv-theoretischen Argumentation das Subjektive als Faktor von Erkenntnis ausklammern, setzt ›Lebenswelt‹ ebendieses als Apriori bzw. als Voraussetzung für positivistische Erkenntnisse wieder ein. ›Lebenswelt‹ lässt die Philosophie im Subjekt und dessen unmittelbarem Umfeld und nicht in den theoretischen Hochgebirgen der abendländischen Philosophie beginnen.

Aber was genau hat man sich unter ›Lebenswelt‹ vorzustellen? Für Husserl ist sie »der ständige Geltungsboden, eine stets bereite Quelle von Selbstverständlichkeiten, die wir, ob als praktische Menschen oder als Wissenschaftler, ohne weiteres in Anspruch nehmen«103 können. Ihm zufolge fungiert sie als Untergrund, besitzt vorlogische Geltung und begründet »die logischen, die theoretischen Wahrheiten«104 ; sie ist »›reine‹ Erfahrung, in allen ihren Modi der Wahrnehmungen«, in die »keine psychophysische, psychologische Interpretation aus der jeweiligen objektiven Wissenschaft« hineingetragen werden darf; sie ist die reine »›bloß subjektiv-relative‹ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens.«105 Die Lebenswelt eröffnet sich in der Wahrnehmung des Daseienden ohne Filter. Sie ist, so Husserl, das »Reich ursprünglicher Evidenz«:

Der Kontrast zwischen dem Subjektiven der Lebenswelt und der ›objektiven‹, der ›wahren‹ Welt liegt nun darin, daß die letztere eine theoretisch-logische Substruktion ist, die eines prinzipiell nicht wahrnehmbaren, prinzipiell in seinem eigenen Selbstsein nicht Erfahrbaren, während das lebensweltlich Subjektive in allem und jedem eben durch seine wirkliche Erfahrbarkeit ausgezeichnet ist. Die Lebenswelt ist ein Reich ursprünglicher Evidenz.106

Aus dieser Relation, der Fundierung objektiver Aussagen in subjektiver, lebensweltlicher Wahrnehmung, gewinnt Erkenntnis eine höhere Dignität. Die Tatsachenwissenschaft und der Tatsachenmensch werden nach Husserl so in die »Totalität des Seienden«107 (s. o.) eingebettet, wobei die »sinnvolle Ordnung des Seins« wiederhergestellt werde bzw. das Krisenmoment und die ihm innewohnenden »Seinsprobleme«108 verschwänden.

Die Verwirklichung dieses Vorhabens formuliert Husserl im letzten, sehr voraussetzungsvollen Teil der Krisis-Schrift unter dem Titel »Die Klärung des transzendentalen Problems und die darauf bezogene Funktion der Psychologie«109. Das Programm der Bewältigung der Krisis der europäischen Wissenschaften besteht beim Phänomenologen Husserl in der ›transzendentalen Phänomenologie‹, in deren Zentrum die durch transzendentale Reduktion110 gewonnene Selbsterkenntnis der transzendentalen Subjektivität steht.111 Mein mit Husserls Krisennarrativ verbundenes Interesse setzt jedoch früher an, nämlich schon bei der phänomenologischen Reduktion, einer Vorstufe zur transzendentalen Reduktion. Das Ziel dieser Methode ist die Beseitigung der soeben angesprochenen Filter, woraus die ausschließliche Wahrnehmung des Daseienden erfolgt. Der damit einhergehende Affekt ist das Staunen.

Doch wie hat man sich eine phänomenologische Reduktion und das damit einhergehende Staunen vorzustellen? Bei einer phänomenologischen Reduktion wird ein Ding durch radikalen Ausschluss aller dazu vorliegender Erkenntnisse und praktischer Wahrheiten in einen Wahrnehmungszusammenhang gestellt:

Zum Beispiel, da sind die jeweiligen einzelnen Dinge der Erfahrung; ich fasse irgendeines davon ins Auge. Es wahrnehmen, selbst wenn es als völlig unverändert wahrgenommen ist, ist ein sehr Mannigfaltiges; ist: es sehen, es tasten, es riechen, es hören usw., und in jedem habe ich Verschiedenes. Im Sehen Gesehenes ist an und für sich ein Anderes als im Tasten Getastetes.112

Auf diese Weise werden alle Modalitäten eines sinnlichen Wahrnehmens durchgespielt.113 »In ihrem Verlauf fungieren sie [die einzelnen Wahrnehmungsmodi, TH] so, daß sie bald eine kontinuierliche, bald eine diskrete Synthesis der Identifizierung oder besser der Einigung bilden.« Es stelle sich dergestalt eine »Sinnbereicherung«, eine »Sinnfortbildung«114 ein. Hier nun hat Staunen seinen Platz: Es ist der affektive Ausdruck dieser Sinnfortbildung, es ist der Moment in der phänomenologischen Reduktion, in dem sich das universale Apriori der Lebenswelt eröffnet. Mit der phänomenologischen Reduktion

kommen wir in ein Reich sich immer mehr verwickelnder und sehr merkwürdiger Aufweisungen. Wir merken gemeinhin von all dem Subjektiven der Darstellungsweisen ›von‹ den Dingen nichts, aber in der Reflexion erkennen wir mit Staunen, daß hier Wesenskorrelationen bestehen, die Bestandstücke eines weiter reichenden, eines universalen Apriori sind.115

In diesem aus Reflexion entwachsenden Staunen eröffnen sich Zusammenhänge, die über das Singuläre eines Dings hinausweisen. Husserl spricht hier von einer vom Subjekt ausgehenden »Horizontentfaltung, bei der man bald merkt, daß unbeachtete Beschränkungen, manche nicht fühlbar gewordenen Horizonte zur Befragung neuer Horizonte hindrängen, die mit dem schon aufgewiesenen untrennbar zusammenhängen«.116

In Rückbezug auf den Ausgangspunkt seines Krisennarrativs stellt das Staunen demnach eine Revision der Enthauptung dar. Es verleiht den autonom agierenden Gliedern der Einzelwissenschaften ein übergeordnetes Apriori, einen Kopf, die Fundierung aller Erkenntnis im subjektiven Erleben der Dinge zurück, sodass der von den Tatsachenwissenschaften hervorgebrachte Tatsachenmensch einen neuerlichen Bezug zum Dasein erfährt. Mit der an Staunen gekoppelten Sinnfortbildung und der sich dadurch erschließenden Lebenswelt, so lässt sich Husserl zusammenfassen, stellt der Mensch erneut eine »sinnvolle Ordnung des Seins«117 her und löst so die »Krisis des europäischen Menschentums selbst, in der gesamten Sinnhaftigkeit seines kulturellen Lebens, in seiner gesamten ›Existenz‹«118. Die mit Staunen gefasste Synthese der sinnlichen Wahrnehmung und die Erschließung der Lebenswelt geben für Husserl Antwort auf die angesprochene »Sinnlosigkeit [des] ganzen menschlichen Daseins«119.

Husserl verfährt in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie wie folgt: Der aus Wissenschaftskritik abgeleiteten Sinnkrise des Menschen (Wissensunordnung) wird in Form der Sinnfortbildung das Staunen als Lebenswelt öffnender Moment entgegengestellt. Das darin enthaltene Reich der ursprünglichen Evidenz stellt die Grundlage für die Erkenntnis einer auf Sinn zulaufenden holistischen Wissensordnung dar, wodurch Husserl sowohl ›die Krisis der europäischen Wissenschaft‹ als auch die damit verbundene »Krisis des europäischen Menschentums«120 gelöst sieht. Auch wenn diese Gesamtargumentation bei genauerer Betrachtung nur in Teilen belastbar ist – Husserls undeutliche Ansprache von Sinnkategorien, die Rede von der »sinnvolle[n] Ordnung des Seins«121, die »Totalität des Seienden«122 und auch die äußerst vage formulierten »Seinsprobleme«123 bleiben schemenhaft und werfen Fragen auf –, so artikuliert Husserls Krisis-Schrift doch ein erzählerisches Muster, das auch bei der folgenden Auseinandersetzung mit den Krisennarrativen der anderen Diskursbegründer:innen des Zeitraums 1918–1939 hervortreten wird: Ausgehend von der Schilderung eines Krisenzustands wird Staunen als Wendepunkt, als ›tipping point‹ zwischen einer krisenhaften Wissensunordnung und dem Entstehen einer neuen Wissensordnung profiliert.

3.2 Martin Heidegger

In indirekter Bezugnahme auf Husserls Krisis-Schrift von 1936124 findet sich der Zusammenhang von Krise und Staunen auch bei Martin Heidegger.125 In seiner im Wintersemester 1937/38 gehaltenen Vorlesung Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte ›Probleme‹ der ›Logik‹ spricht Heidegger das Staunen jedoch nicht wie Husserl als Etappe der phänomenologischen Reduktion an, sondern in Form von ›Er-staunen‹ als ›Grundstimmung‹, die dem Menschen das Gewöhnliche ungewöhnlich werden lasse und ihn so in den die Krise lösenden Anfang des Denkens und in die ›Unverborgenheit des Seyns‹ einstimme.126

Auch Heidegger argumentiert zunächst mit der in seiner Gegenwart anzutreffenden Distanz zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt bzw. mit dem »Unbezug[] zur Natur«127, überformt diese Problematik jedoch mit der Beziehungslosigkeit des Menschen gegenüber der Grundbedingung des Seyns, mit der »Fraglosigkeit des Seyns« und dem bei Heidegger omnipräsenten und in den Grundfragen als vorausgesetzt geltenden Topos der »Seinsvergessenheit«128 ; mithin mit dem, was allem Seienden überhaupt erst eine Wesensmöglichkeit einräumt. Diese Entkopplung von Seyn129 und Seiendem ist für Heidegger Ausgangspunkt einer auf Wissenschaftskritik angelegten Krisennarration. Hierbei hat er jedoch keineswegs eine fehlende Lebensnähe der Wissenschaft oder das Fehlen von damit korrespondierenden akademischen Disziplinen im Sinn: »Die ›Krisis‹ der Wissenschaft besteht allerdings nicht darin, daß sie bisher Urgeschichte, Volkskunde, Rassenkunde und noch einiges andere nicht in ›Ordinariaten‹ vertreten sein ließ, auch nicht, daß sie bisher nicht genug ›lebensnah‹ war […].«130 Die Sache ist für Heidegger komplexer – die Ursache der Krise liege tiefer:

Die schärfste Krisis der heutigen Wissenschaft könnte gerade darin bestehen, daß sie gar nicht ahnt, in welcher Krisis sie steckt; daß sie meint, durch ihre Erfolge und greifbaren Ergebnisse schon hinreichend bestätigt zu sein. Aber alles Geistige und alles, was als geistige Macht herrschen will und mehr sein soll als ein Betrieb, ist niemals schon bestätigt durch einen Erfolg und den Nutzen.131

Für Heidegger braucht es mehr als nur »nutzbare Ergebnisse«; die innovativen Erfolge seien Blendwerk, da es zum »Wesen jeder Wissenschaft« gehöre, »ein wesentliches Wissen ihres Gebietes und des zugehörigen Seinsbereiches mit vorzubereiten und zu gestalten«.132 Der Zustand der im Kollektivsingular angesprochenen Wissenschaften ist davon aus seiner Sicht weit entfernt. Ihren Erkenntnissen fehle ein vorgelagerter Begründungszusammenhang, ein Ausgangspunkt für eine Wissensordnung oder, wie Heidegger es nennt, ein natürlich gegebener ›Grund‹, ein Fundament, auf dem sie ihre Erkenntnisse errichten könne. Seine Bestandsaufnahme in sarkastischer Zuspitzung fortsetzend, schreibt er:

Denn wir haben uns längst an den Zustand gewöhnt, daß ein Forscher innerhalb seines Gebietes auf anerkannte Leistungen verweisen kann und zugleich mit einer erschütternden Ahnungslosigkeit blind sein darf gegenüber all dem, was seiner Wissenschaft den Grund und das Recht gibt. Wir finden es sogar ›wundervoll‹. Wir sind längst in den ödesten Amerikanismus abgerutscht, nach dessen Grundsatz das wahr ist, was Erfolg hat, alles andere ist ›Spekulation‹, d. h. ›lebensferne Träumerei‹. Wir plätschern bereits wieder […] in einem fröhlichen und sogar feuchten Optimismus, der schon das Gaudeamus igitur und das Ergo bibamus [fröhlich-süffige Studentenlieder, TH] wieder als die Krönung akademischen Lebens aufleben lässt […].133

Dieser Grund- und »Bodenlosigkeit«134 der Wissenschaften seiner Gegenwart setzt Heidegger die Notwendigkeit einer Besinnung auf das anfängliche Denken und die Frage nach dem Seyn entgegen. Es geht ihm um nichts weniger als das Fundament aller Erkenntnis, um das Fundament, auf dem jede Wissenschaft aufzubauen hat; es geht ihm um das Seyn als »das Wesen der Wahrheit als Grundcharakter des Seienden«135.

Doch wie hat man sich diese Besinnung vorzustellen? Am Anfang von Erkenntnis steht für Heidegger eine positiv konnotierte Not, also eine Erkenntnisbedürftigkeit und Erfordernis, die es aufzuheben gilt. »Die Not, die hier gemeint wird, ist das Nicht-aus-und-ein-Wissen […].«136 In der sprichwörtlichen Anlehnung des Begriffshybrids kommen zunächst das Erleben von Desorientierung, von fehlender Intentionalität sowie die daraus hervorgehende Passivität zum Ausdruck. Das Nicht-aus-und-ein-Wissen ist für Heidegger ein an das Dasein gebundener Zustand, in dem alles offen und noch keine Erkenntnisrichtung angezeigt ist; es ist ein »›Raum‹«, der jenes Dazwischen markiert,

in dem noch nicht bestimmt ist, was seiend ist und was unseiend, und wo doch auch schon nicht mehr die völlige Verwirrung der Ungeschiedenheit des Seienden und Unseienden alles in alles fort- und umherreißt. Diese Not, als solches Nicht-aus-und-ein-Wissen in diesem sich eröffnenden Zwischen ist eine Art des ›Seyns‹, in die gelangend oder geworfen der Mensch erstmals das erfährt […], was wir das Inmitten des Seienden nennen.137

Ungeachtet Heideggers argumentativer Leerstelle diesbezüglich, wie man in diesen Raum hingelangt oder geworfen wird, ist der Zustand des Nicht-aus-und-ein-Wissens kein chaotischer. Allein mit ›Raum‹ ist bereits eine Begrenzung angezeigt. Die Besinnung innerhalb des anfänglichen Denkens hat also nichts Willkürliches oder wild Assoziierendes, sie ist bereits in einem protoepistemischen Bereich verortet, der im angesprochenen »Inmitten« bzw. in einem ›Inmitten von …‹ zum Ausdruck kommt. Dem Denken werde so ein »Wesensraum« gegeben, in dem ein Seiendes »in der Entschiedenheit seines Seyns aufstehen«138 könne, jedoch noch nicht in einem Denkprozess eingespeist werde.

Einen Ausweg aus der Passivität inmitten des Nicht-aus-und-ein-Wissens sieht Heidegger nun im Begriff der Stimmung. Hierunter versteht er Folgendes: »Die Stimmung kann den Menschen in seine Leiblichkeit wie in ein Gefängnis einsperren. Sie kann ihn aber auch durch die Leiblichkeit als eine ihrer Ausschwingungsbahnen hindurchtragen.« Und weiter: »[D]ie Stimmung versetzt uns je so und so in diesen und jenen Grundbezug zum Seienden als solchem. Genauer: die Stimmung ist dieses Ver-setzende […].«139 Stimmung ist für Heidegger ein aktivierendes Potenzial und die Voraussetzung, um überhaupt einen Weltbezug herstellen zu können.

Hier nun hat Staunen, das thaumázein, oder, wie Heidegger es übersetzt, das Er-staunen seinen Platz. Für Heidegger ist es die »Grundstimmung des denkerischen Anfangs«140, die aus der Not des Nicht-aus-und-ein-Wissens hinausführt und letztlich das Seyn als »das Wesen der Wahrheit als Grundcharakter des Seienden«141 freilegt.142

Dem Verlauf seiner Vorlesung folgend, gilt es nun zu fragen: »Inwiefern ist das θαυμάζειν, das Erstaunen, eine Grundstimmung – solches, was in den Anfang des denkerischen Denkens versetzt und dieses durchstimmt?«143

Bei der Beantwortung der Frage ist Heidegger zunächst an der »innere[n] Mannigfaltigkeit«144 des griechischen Begriffs interessiert. Er wolle zunächst die »geläufigen Erfahrungen und Deutungen dessen aus[leuchten], was wir mit Staunen und Erstaunen bezeichnen, um dieses Geläufige dann ausdrücklich bei der Besinnung auf das θαυμάζειν fernhalten zu können«.145 Mit dem Sichwundern und Verwundern, dem Bewundern und Staunen möchte auch ich diesem Weg referierend folgen, um in einem letzten Schritt Heideggers Er-staunen als krisenlösenden Moment zu profilieren.

Das Sichwundern und Verwundern ist für Heidegger eng verbunden mit der »Erlebnistrunkenboldigkeit des modernen Menschen«146 :

[Es] hält sich stets an ein auffallendes Ungewöhnliches und hebt dieses aus dem Gewöhnlichen heraus und dagegen ab. Das Bekannte, Verständliche, Erklärliche ist dabei der nicht weiter beachtete Umkreis, in dem das Verwunderliche aufkommt und zu sich wegreizt. Das Sichverwundern ist ein gewisses Nicht-erklären-können und den Grund-nicht-kennen. […] [U]nd genauer besehen, will das Sichverwundern das Verwunderliche auch gar nicht erklärt haben, sondern es will durch das Unerklärliche als das Andere, Über-raschende, Ungewohnte gegenüber dem gemeinen Bekannten und Langweiligen und Leeren bedrängt und gefesselt sein.147

Die auf Kulturkritik angelegte Sequenz zielt auf das Bedürfnis des modernen Menschen nach Satisfaktion, Zerstreuung und Ablenkung gegenüber den Niederungen des Alltags, dem Gewöhnlichen – ein Bedürfnis, das gerade im Ausgang der Weimarer Republik und dem publikumswirksamen Aufkommen optischer und akustischer Medien eine noch nie dagewesene Befriedigung findet und dem Gesetz der Überbietung unterliegt (»Denken wir flüchtig an das, was das Kinotheater fortgesetzt an Ungewöhnlichem bieten muß«148 ). Das Sichwundern und Verwundern meint für Heidegger ein passives »Sich-angehen-[L]assen«, das »behext und verzaubert«,149 wobei die auf Zerstreuung angelegte Überwältigung den Kern des Erlebens bildet.

Mit dem Bewundern verhält es sich nach Heidegger zunächst ähnlich wie beim Sichwundern und Verwundern. Auch hier wird ein Zusammenhang zwischen Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem aufgestellt und auch das Bewunderte ist ungewöhnlich und ragt aus dem Alltag heraus. Anders als das auf Zerstreuung angelegte und rein auf Objektebene angesiedelte Sichwundern und Verwundern ist das Bewundern jedoch auf ein Subjekt und dessen Leistung bezogen, die von einem anderen Subjekt »anerkannt und gewürdigt«150 wird. Nicht mehr der behexende, verzaubernde Kinosaal mit seinen Überwältigungsexzessen, sondern »ein Skispringer oder Rennfahrer, […] ein Boxer oder ein Schauspieler«151 und seine ungewöhnlichen Leistungen stehen im Mittelpunkt. Bewunderung meint bei Heidegger ein Anerkennungsverhältnis, das – und hierin liegt eine interessante Beobachtung – die naheliegende Hierarchisierung von Bewunderin/Bewunderer und Bewundertem umkehrt:

Die Bewunderung weiß sich […] dem Bewunderten ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. Deshalb ist auch umgekehrt jeder, der sich bewundern läßt, und gerade wenn es zu Recht geschieht, von niederem Rang. Denn er unterstellt sich dem Gesichtskreis und den Maßstäben seiner Bewunderer.152

Bewunderung findet also dann statt, wenn die erbrachte Leistung für das bewundernde Subjekt Bedeutung hat. Die umgekehrte Hierarchie ergibt sich aus der Abhängigkeit der oder des Bewunderten von der oder dem Bewundernden.

Aus dem semantischen Spektrum von thaumázein nimmt sich Heidegger als letzten zurückzuweisenden Punkt das Staunen vor. Auch hier ist das Ungewöhnliche und Außeralltägliche Ausgangspunkt, qualitativ steigert es sich jedoch zum Außergewöhnlichen: »Das Staunen läßt vielmehr das Ungewöhnliche als das Außergewöhnliche hinaufwachsen in das, was das gewöhnliche Vermögen überwächst und den Anspruch auf eigene Rangbestimmung in sich trägt.«153 Die Formulierung vom Anspruch auf eigene Rangbestimmung zeigt es an: Staunen operiert für Heidegger außerhalb der Vergleichbarkeit, bekannte Parameter greifen hierbei nicht. Mit Staunen bezeichnet er ein singuläres Ereignis, welches das gewöhnliche (Sinnes-)Vermögen infolge seiner Außergewöhnlichkeit übersteigt bzw. damit nicht eingeholt werden kann.

Anders verhält es sich im direkten Anschluss an die auffallend knapp gehaltenen Ausführungen zum Staunen mit dem Er-staunen. »Anders, wesentlich anders gegenüber allen Arten und Stufen des Sichwunderns, Bewunderns und Staunens ist das, was wir in einem betonten Sinne das Er-staunen nennen und als das Wesen des θαυμάζειν in Anspruch nehmen.«154 Dieses setzt nicht am Un- oder Außergewöhnlichen an. Im Gegenteil: Heideggers Er-staunen als »Grundstimmung des denkerischen Anfangs«155 speist sich aus dem Gewöhnlichen. Es ist das »Gewöhnlichste selbst«, das »im Er-staunen und für es zum Ungewöhnlichsten«156 wird.

Hierbei hebt sich nicht wie beim Sichwundern und Verwundern, dem Bewundern und Staunen »ein bestimmtes vereinzeltes Ungewöhnliches«157 aus einem gewöhnlichen Umfeld heraus oder empor, »sondern im Er-staunen wird das Allergewöhnlichste von Allem und in Allem und somit Alles zum Ungewöhnlichsten«.158 Ob nun also das benutzte Geschirr in der heimischen Küche, die angestaubte Nachttischlampe oder der tägliche Arbeitsweg: »Alles in diesem Gewöhnlichsten (dem Seienden) wird für das Er-staunen in Einem zum Ungewöhnlichsten.«159

Hieraus erklärt sich auch Heideggers Klassifizierung des Er-staunens als Grundstimmung: »Das Er-staunen wendet sich vom Gewöhnlichen nicht ab, sondern ihm zu, aber ihm als dem Ungewöhnlichsten von Allem. Sofern diese Stimmung auf das Ganze geht und im Ganzen steht, heißt sie Grundstimmung160

Damit sind Ort und Referenz des Er-staunens geklärt. Aber wie hat man sich dieses vorzustellen? Wie wird das Gewöhnlichste zum Ungewöhnlichsten? Vor dem Hintergrund des passiven Zustands des Nicht-aus-und-ein-Wissens und des Inmitten-Seins geht Heidegger davon aus, dass unvermittelt ein aktivierender Moment eintritt, in dem sich ein »noch kaum geahnte[r] und bedachte[r] Spielraum[]« eröffnet, »in dem das Seiende als ein solches ins Spiel kommt, nämlich als das Seiende, das es ist, in das Spiel seines Seins.« Das Er-staunen ist für Heidegger dieser unvermittelte, spieleröffnende Moment: »Das Er-staunen ist das Auseinanderwerfen dieses Spielraums, dies aber so, daß es zugleich den Erstaunten mitten in das Auseinandergeworfene versetzt161 Der Spielbegriff ist hier zu unterstreichen. Als Eigenschaft des Er-staunens ergeben sich über diesen die Merkmale von Bewegung, unmittelbarer Beteiligung und Aufmerksamkeit sowie situative Gebundenheit an Zeit und Ort. Mit dem ›Ins-Spiel-Kommen‹ ist ferner der Aspekt der Neuheit angesprochen; etwas Neues, das als Phänomen Auswirkungen auf eine bereits bestehende Konstellation hat und sie als Position in einem interrelationalen Gefüge mit dem Er-staunen auch verändert. Dabei wird Heidegger zufolge das im Alltag verborgene, jedoch immer anwesende Seyn schlagartig – an anderer Stelle spricht er von »aufleuchten«162 – ersichtlich und tritt in die »Unverborgenheit«.163

Das Erleben eines Subjekts innerhalb dieser Unverborgenheit charakterisiert Heidegger als ein Leiden. Dies jedoch nicht im gebräuchlichen Wortsinn von Schmerz oder Trübsal: »Leiden meint hier Aufsichnehmen und zum Austrag Bringen dessen, was den Menschen überwächst und ihn so verwandelt und damit immer ertragsamer macht für das, was er fassen soll […].« Es ist »ein Leiden im Sinne [einer] schaffenden Ertragsamkeit«.164 Die Grundstimmung des Er-staunens stellt ein Subjekt also zunächst in ein positiv konnotiertes Leiden, das man sich als eine Art Training vorstellen kann. Es ist ein Zustand der Vorbereitung für das, was noch ansteht, was das Subjekt noch fassen soll. Dieser progressive Zustand des »Verwandeltwerden[s]« besteht für Heidegger im Hineinwachsen in die »Bereitschaft in ein anderes Seyn«.165

An dieser Stelle verortet Heidegger nun auch das anfängliche Denken, den Anfang des »denkerischen Fragens«166 nach dem Seyn. Das Hineinwachsen in die Bereitschaft in ein anderes Seyn beginnt für Heidegger in dieser Phase des Leidens. Mit ihr verbunden ist die »Anerkenntnis der Unverborgenheit des Seienden«167, die sich in das Fassen des »Seienden selbst«168 hineinentwickelt. Das Seyn, als das, was allem Seienden den Wesensraum gibt, der Anfang aller Dinge, stehe nun unverborgen vor dem er-staunten Subjekt und es finde ein »Verwandeltwerden des Menschen«169 statt.

Da der mit Er-staunen beginnende und mit Leiden erschlossene »Grundcharakter des Seienden selbst aufleuchte[t] und alsbald wieder verlöscht«170, der Weg hinein in das Vernehmen des Seins und in das »Wesen des denkerischen Fragens«171 sich bei Heidegger also in einem eng begrenzten Zeitrahmen abspielt, ist zu fragen, was nach der soeben angesprochenen Verwandlung des Menschen stattfindet. Was, wenn das Spiel des Seins beendet ist? Was, wenn es nicht mehr leuchtet, wenn die Grundstimmung verflogen ist? Bleibt das Gewöhnliche gewöhnlich? Das benutzte Geschirr in der heimischen Küche benutztes Geschirr in der heimischen Küche? Angestaubte Nachttischlampe weiterhin angestaubte Nachttischlampe? Und der tägliche Arbeitsweg?

Heideggers Begriff des Er-staunens hört hier nicht auf. Aus der angeführten Prozesslogik von Nicht-aus-und-ein-Wissen, Er-staunen, Leiden und dem Vernehmen des Seyns gewinnt der verwandelte Mensch nach Heidegger eine »Grundhaltung, in der sich die Bewahrung des Er-staunlichen, der Seiendheit des Seienden«172, in den Alltag überträgt. Gleich einer neuen Sichtweise auf alles Seiende erhält ein Mensch mit dem Er-staunen eine Technik, um die Welt nunmehr unter anderen Vorzeichen wahrzunehmen. Technik meint hierbei jedoch nicht

›Technik‹ im Sinne der maschinenhaften Einrichtung des Seienden, meint nicht Kunst im Sinne der bloßen Fertigkeit und Geschicklichkeit in irgendeinem Verfahren und Hantieren. [Technik] meint ein Erkennen – das Sichauskennen im Vorgehen des Seienden (und in der Begegnung mit dem Seienden) […].173

Um beim Bild des Spiels zu bleiben: Durch das Er-staunen gewinnt ein Subjekt Einsicht in die Spielregeln, die letztlich auch in den profanen Alltagsspielen ihre Gültigkeit haben. Alle Spielzüge des Seienden werden unter den Vorzeichen der Unverborgenheit lesbar. Nach Heidegger kommt so ein »vernehmende[r] Bezug zum Seienden als solchem« zustande, »um diesem gemäß das Seiende selbst zu pflegen und wachsen zu lassen bzw. durch Herstellung und Aufstellung von Entsprechendem innerhalb des Seienden im Ganzen sich einzurichten«.174 Die durch Er-staunen eröffnete Unverborgenheit des Seins bietet dem Menschen also ein Skript, nach dem sich sein Wissen, Denken und Handeln organisiert. Ein von Heidegger nicht weiter bestimmter ordo universi scheint hier durch, eine normative Systematik, die für alles Seiende eine feste Position innerhalb einer umfassenden Struktur, einer Wissensordnung bereithält.

Diese Bezugslogik, die Rückkoppelung des Seienden an das Seyn, ist insofern hervorzuheben, als sie den Bogen zurück zum eingangs auf Wissenschaftskritik angelegten Krisennarrativ schlägt: Heidegger hatte der Wissenschaft eine Grund- und »Bodenlosigkeit«175 vorgeworfen. Ihre Erfolge sind für ihn insofern Blendwerk, als ihren Erkenntnissen ein vorgelagerter Begründungszusammenhang bzw. ein ›Grund‹, ein Fundament fehlt, auf dem sie ihre Erkenntnisse errichten und auf das sie sich rückbeziehen kann. Ihren Operationen und Analysen am Seienden fehlt nach Heidegger eine Besinnung auf den Anfang, auf den Ausgangspunkt aller Erkenntnis, auf das Seyn als »das Wesen der Wahrheit als Grundcharakter des Seienden«176. Mit dem Er-staunen bietet Heidegger ein Konzept, um der »›Krisis‹ der Wissenschaft«177 entgegenzuwirken und die Seinsvergessenheit aufzulösen. Die Besinnung auf den denkerischen Anfang bzw. die mit Er-staunen ansetzende Einsicht in die Unverborgenheit des Seyns liefert eine Technik, die allem Seienden einen Platz im Ganzen des Seins aufzeigt. Er-staunen ist der Auftakt zur Errichtung einer am Seyn orientierten Wissensordnung.

Warum Heidegger hierfür den Begriff des Er-staunens – der, wie die Auszüge in diesem Kapitel zeigen, darüber hinaus ohne semantische Umgewichtung willkürlich auch als Erstaunen178 und Er-staunen179 angeführt ist – für thaumázein und nicht das etablierte Staunen gebraucht, bleibt rätselhaft; auch deshalb, weil das von ihm zurückgewiesene Staunen bereits alle Eigenschaften des von ihm profilierten Er-staunens besitzt (s. o.). Vielleicht entspricht es – um hier Heidegger gegen Heidegger zu lesen – seinem Bedürfnis nach Bewunderung (s. o.), also der angesprochenen Anerkennung seiner philosophischen Eigenleistung, die mit einer innovativen Lesart von thaumázein verbunden ist. Ohnehin wirkt sein Begriff des Er-staunens nicht sonderlich innovativ: Die berühmte Stufenfolge, der Auf- und Abstieg, das Leiden des Philosophen aus Platons Höhlengleichnis180 scheinen seiner Konzeption des Er-staunens Pate gestanden zu haben. Mit der anzitierten Chiffre der ›maßgebenden Ideen‹181 nimmt Heidegger in den Grundfragen der Philosophie selbst Bezug auf die wohl berühmteste Allegorie der antiken Philosophie.182 Nichtsdestotrotz gilt es wie auch bei Husserl eine Auseinandersetzung mit und eine Engführung von Krisennarration, Wissensunordnung, Staunen und Wissensordnung festzuhalten.

3.3 Hannah Arendt

Auf Husserl und Heidegger folgt nun – gewissermaßen als Fortsetzung der auf persönlicher Ebene komplizierten Lehrer-Schüler-Beziehung – Hannah Arendt.183 Während Husserls Krisennarrativ eine wissenschaftskritische und jenes von Heidegger mit der Seinsvergessenheit eine fundamentalontologische Stoßrichtung hatte, bewegt sich Hannah Arendt mit Vita activa oder Vom tätigen Leben und dem darin ausgearbeiteten Krisennarrativ auf dem Feld der politischen Theorie.

Obschon erst 1958 veröffentlicht, findet ihr Werk dennoch in vorliegendem Zusammenhang Platz. Zum einen, weil es sich aus Arendts Erleben des aufkommenden Nazi-Terrors ab 1933 und der diesen reflektierenden Studie The Origins of Totalitarianism (1951) speist,184 zum anderen, weil Arendt angesichts der Wirkmächtigkeit ihrer Schriften und ihrer biografischen Spuren im intellektuellen Milieu als aus der Zwischenkriegszeit hervorgegangene Diskursbegründerin eingeordnet werden muss.185

Arendts in Vita activa ausgearbeitetes Krisennarrativ beginnt mit einer Skizze der »neuzeitliche[n] Weltentfremdung«186. Mit einer ähnlichen Intention wie Husserl nimmt sie die »Grundlagenkrise der Naturwissenschaften«187 in den Blick und betont hierbei vor allem das ihnen innewohnende Sprachdefizit:

Es zeigt sich nämlich, daß die ›Wahrheiten‹ des modernen wissenschaftlichen Weltbilds, die mathematisch beweisbar und technisch demonstrierbar sind, sich auf keine Weise mehr sprachlich oder gedanklich darstellen lassen. Sobald man versucht, diese ›Wahrheiten‹ in Begriffe zu fassen und in einem sprechend-aussagenden Zusammenhang anschaulich zu machen, kommt ein Unsinn heraus, der »vielleicht nicht ganz so unsinnig ist wie ein ›dreieckiger Kreis‹, aber erheblich unsinniger als ein ›geflügelter Löwe‹« (Erwin Schrödinger).188

Arendt zufolge richtet sich der Mensch durch diese Formelhaftigkeit und die Schematisierungen seines naturwissenschaftlichen Weltbildes in einer künstlichen Umgebung ein, in deren Sterilität er sich aus seinem »Reich des Lebendigen«189 zunehmend verabschiede. ›Wahrheiten‹ seien nur noch in Gleichungen und abstrakten Kalkulationen gültig; der lebensweltliche Bezug gehe dabei verloren. Die Folge: Der Mensch beschneide sich seines eigenen, auf Weltwahrnehmung fußenden Erkenntnisvermögens und liefere sich Apparaturen aus, die ihm das Denken abnehmen. Dieses Auslagern – hier scheint Arendts Erleben der Geschehnisse ab 1933 in Nazi-Deutschland auf – mache die Menschen zu »von allem Geist und allen guten Geistern verlassenen Kreaturen, die sich hilflos jedem Apparat ausgeliefert sehen, den sie überhaupt herstellen können, ganz gleich wie verrückt oder wie mörderisch er sich auswirken möge«.190

Was den entstehenden Unsinn bei der Rückführung von mathematischen Formeln in sprechend-aussagende Zusammenhänge anbelangt, geht Arendt noch weiter: Die Grundlagenkrise der Naturwissenschaften bedingt für sie eine Krise des Politischen. Die mathematische Formelsprache grabe dem Politischen die wesensbestimmende Ressource ab: die Sprache – und mit ihr das kommunikative Handeln:

Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind. Wären wir töricht genug, auf die von allen Seiten neuerdings erteilten Ratschläge zu hören und uns dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft anzupassen, so bliebe uns nichts anderes übrig, als auf das Sprechen überhaupt zu verzichten. Denn die Wissenschaften reden heute in einer mathematischen Symbolsprache, die ursprünglich nur als Abkürzung für Gesprochenes gemeint war, sich aber hiervon längst emanzipiert hat und aus Formeln besteht, die sich auf keine Weise zurück in Gesprochenes verwandeln lassen.191

Politik, so Arendts Argumentation, die der wissenschaftlichen Formsprache folgt, also Zahlen und Kalkulationen zur Entscheidungsmaxime erhebt, ist keine Politik mehr. Die sprach-lose Welt der Wissenschaft lasse das politische, das zur Politik begabte Wesen Mensch verstummen und stelle es in einen ausschließlichen Funktionszusammenhang.

Und dieser Tatbestand muß, was politische Urteilsfähigkeit betrifft, ein gewisses Mißtrauen erregen. […] Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann. Es mag Wahrheiten geben, die jenseits des Sprechenden liegen, und sie mögen für den Menschen, sofern er auch im Singular, d. h. außerhalb des politischen Bereichs im weitesten Verstand, existiert, von größtem Belang sein. Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.192

Arendt bringt an dieser Stelle einen sehr starken Begriff von Kommunikation in Anschlag. Ohne Dialog ist bei ihr keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, kein menschliches Zusammenleben zu machen. Das Politische wurzelt bei ihr im Primat der Sprache.

Doch wie konnte es zu diesem in Vita activa einleitend beschriebenen Verfall des Politischen, zum Verstummen des Menschen und der neuzeitlichen Weltentfremdung kommen? Ausgangs- und ursprungsphilosophischer Ansatzpunkt in Arendts teilweise unzugänglich dargelegter Argumentation ist das Ideal der antiken Polis193 und damit verbunden das kontemplative Staunen, aus dem ihr Begriff von (politischem) Handeln hervorgeht. Darauf aufbauend bzw. davon absteigend skizziert Arendt ihr politisches Krisennarrativ, das über den Zwischenschritt des Homo faber letztlich in die sozialanthropologische Figur des Homo laborans, den Inbegriff des passiv-apolitischen Menschen, mündet.

Die Polis baut gemäß Arendt strukturell auf dem Konzept der Vita activa auf: Dieses umfasste neben der menschlichen Arbeit (als Tätigkeit der Sicherung von Lebensnotwendigkeiten) das Herstellen (die Erschaffung von Dingen mit Bestand) und das Handeln. In dieser Trias spielt für Arendt vor allem Letzteres eine herausragende Rolle; »das Handeln [nimmt] den höchsten Platz innerhalb der Vita activa«194 ein. Dieses sei eine aus der Pluralität des Menschseins entstandene Notwendigkeit, die der Tatsache entspringt, dass »nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern«. Es diente »der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen […], schafft die Bedingungen für die Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte« und war »die politische Tätigkeit par excellence«.195

Dieses politische Handeln beinhaltete für Arendt sowohl Taten als auch »Sprechen«196 bzw. das »Wort«197, was den »öffentlichen Raum in der Welt überhaupt erst«198 hervorbrachte. Der Bezugspunkt hierfür lag in den Ideen, also in überzeitlichen »Vorbilder[n], Modelle[n] und Maßstäbe[n], nach denen sich praktisch-politisches Verhalten so zu richten hat, wie das handwerkliche Herstellen sich an dem Vorbild des herzustellenden Gegenstandes und an den jeweils geltenden Regeln und Maßstäben für seine Fertigstellung«199. Philosophie und Politik seien dergestalt miteinander verschränkt gewesen, wobei die »höchste Idee«, so Arendt in Bezugnahme auf Platon, im Feld des Politischen in der »Idee des Guten«200 bestand, die als Leitmaxime dem Handeln innerhalb der Polis, also dem Tun und Sprechen der freien Bürger, die Direktive vorgab.

Die Einsicht in diese das (politische) Handeln begründende Idee des Guten war für Arendt an kontemplatives Staunen gebunden. »Sie [die Idee, TH] steht in einem offenbaren inneren Zusammenhang mit dem berühmten Platonwort von dem Staunen […].«201 Staunen ist eine Erfahrung, die Arendt Sokrates imaginierend wie folgt beschreibt:

Der Anblick eines Menschen, den immer wieder sein Denken so übermannte, daß es ihn in einen Zustand völliger Versunkenheit warf, der sich äußerlich durch absolute, stundenlange Unbewegtheit manifestierte. Es liegt nicht weniger nahe zu meinen, daß dies erschütternde Staunen angesichts des Wunders des Seins als solchen grundsätzlich sprachlos war, daß sich sein Gehalt der Rede und dem in Worten Mitteilbaren nicht fügen konnte.202

Die staunende Kontemplation wird so verstanden zu etwas Präpolitischem: Sie ist ideeller Referenzpunkt, der in einem zweiten Schritt im kommunikativen Handeln der Polis-Gesellschaft ausformuliert und -agiert wurde; politisches Handeln hatte sich nach Arendt durch Staunen und die daraus zu erschließende Idee des Guten zu legitimieren.203 Der Vita activa ging eine Vita contemplativa voraus.

Mit Descartes und dem Zweifel fand Arendt zufolge eine Umjustierung statt, eine »Umkehrung [dieser] überkommenen hierarchischen Ordnung«204. Nicht mehr das aus Staunen abgeleitete (politische) Handeln, sondern das Herstellen nahm von nun an den obersten Rang in der Vita activa ein, in der Trias von Arbeiten-Herstellen-Handeln bzw. nun Arbeiten-Handeln-Herstellen. Staunende Kontemplation wurde zum Auslaufmodell.

In der neuzeitlichen Philosophie und ihrem Denken ist der Zweifel an die Stelle des θαυμάζειν getreten, also jenes Staunens über jegliches, das ist, wie es ist, welches seit dem Beginn der Philosophie ausdrücklich im Zentrum aller metaphysischen Bemühungen stand. Descartes hat als erster den Zweifel der Neuzeit begrifflich gefaßt und damit das zum eigentlichen Thema seines Philosophierens, was nach ihm einem unhörbaren Motor gleich den Antrieb alles begrifflichen Denkens bildete, die unsichtbare Achse wurde, um die es kreiste. Wenn von Platon und Aristoteles bis zur Neuzeit philosophische Tiefe und Größe sich daran maß, in welcher Weise begriffliches Denken einem ursprünglichen Staunen gerecht werden und es artikulieren konnte, so besteht die neuzeitliche Philosophie seit Descartes in der begrifflichen Erfassung und mannigfachen Artikulierung eines nicht weniger ursprünglichen Zweifels daran, daß irgendetwas so ist, wie es ist […].205

Der Zweifel erteilte dem kontemplativen Staunen als Garanten für wahrhaftige Erkenntnis eine Absage: »Dieser Zweifel zweifelt daran, daß es überhaupt so etwas wie Wahrheit«, geschweige denn so etwas wie durch Staunen hervorgerufenes »In-Erscheinung-Treten« und »Sich-Zeigen[]«206 von handlungsleitenden Ideen gibt.

Mit Descartes und dem Zweifel, gepaart mit naturwissenschaftlichen Erfindungen wie dem Teleskop von Galileo, sieht Arendt den Punkt in der Geschichte erreicht, an dem das Ideal der Mathematik auf den Plan tritt und mit ihm ein Aussagesystem, das Erfolg und Fortschritt nicht mehr anhand der Idee des Guten und des Gemeinwesens, sondern allein in der »reductio scientiae ad mathematicam«207 bemisst. Die Folge: Rückzug des Gemeinwesens und die Geburt von Homo faber, dem ›schaffenden Menschen‹, der das »Machen, Fabrizieren und Herstellen«208 dem (politischen) Handeln vorzieht und sein Dasein einem »mechanistische[n] Weltbild«209 unterordnet. Das »Herstellen [erreicht] nun den Rang […], den das politische Handeln ursprünglich eingenommen hatte«.210 Das Programm von Homo faber: »die Ausmerzung der Kontemplation aus der Reihe der sinnvollen menschlichen Vermögen«211 und

die Tendenz, alles Vorfindliche und Gegebene als Mittel zu behandeln; das große Vertrauen in Werkzeuge und die Hochschätzung der Produktivität im Sinne des Hervorbringens künstlicher Gegenstände; die Verabsolutierung der Zweck-Mittel-Kategorie und die Überzeugung, daß das Prinzip des Nutzens alle Probleme lösen und alle menschlichen Motive erklären kann […].212

Mit dem Auftritt von Homo faber ging für Arendt eine »Entwertung aller Werte«213 einher: Wird Menschsein allein auf funktionalistische Mittel-Zweck-Relationen reduziert, ist ein rationales Kalkül angezeigt, das mit Kategorien wie dem Guten oder Gerechten nichts mehr anfangen kann. Es gilt nicht mehr, was das Beste für das Gemeinwohl der sich sprachlich konstituierenden Polis ist, sondern was den größtmöglichen Nutzen für den Einzelnen einbringt.

Aus diesem Programm erfolgte gemäß Arendt »verhältnismäßig schnell die Verherrlichung der Arbeit«214. Homo faber hat einen direkten Nachkommen: das Animal laborans, das ›arbeitende Tier‹, das die in seinem Vorgänger angelegten Nützlichkeitskategorien auf die Spitze treibt:

Was immer Produktivität überhaupt steigert, bzw. die für sie notwendige Anstrengung herabsetzt, gilt als nützlich. Was besagt, daß der Maßstab nicht mehr Nutzen und Brauchen ist, sondern ›Wohlbefinden‹ – die Summe an Lust und Unlust, die in dem Produzieren oder Konsumieren erfahren wird.215

Weit entfernt von Handeln im emphatischen Sinn, zieht sich das Animal laborans ins Private und die Zielgröße ›Wohlbefinden‹ zurück.

Arendt erklärt das Auftreten dieses Typus im letzten Kapitel von Vita activa – hier schließt sie den argumentativen Kreis hin zu ihren einleitenden Bemerkungen bzw. zu ihrem eingangs vorgestellten in Sprachverlust mündenden Krisennarrativ – durch den von den mathematischen Wissenschaften bedingten »enorme[n] Erfahrungsschwund«:

Nicht nur, daß die anschauende Kontemplation keine Stelle mehr hat in der Weite spezifisch menschlicher und sinnvoller Erfahrungen, auch das Denken, sofern es im Schlußfolgern besteht, ist zu einer Gehirnfunktion degradiert, welche die elektronischen Rechenmaschinen erheblich besser, schneller und reibungsloser vollziehen als das menschliche Gehirn.216

Den Menschen, geformt durch die Formelsprache der Naturwissenschaft, sieht sie aus sprachlichen bzw. politischen Zusammenhängen herausgelöst und allein zur Arbeit, zur Apparatur degradiert. Sein Los: »sterile[] Passivität« in einer

Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können.217

Arendts an dieser Stelle sehr sprunghafte Argumentation, ihre ausschließlich defätistische Gegenwartsdiagnose lässt die Position des Politischen jedoch nicht unbesetzt. In einer fatalistischen Wendung zeichnet sie am Ende ihres Krisennarrativs das vage Bild eines politischen Systems, das den vormals starken, an kommunikatives Handeln gekoppelten Begriff des Politischen völlig ausgehöhlt hat:

Angesichts der objektiv vorliegenden Leistungen der exakten Wissenschaften, die schließlich nach Jahrhunderten aus der Stille der Laboratorien in die Öffentlichkeit getreten sind, scheint es nicht mehr als angemessen, den ›Taten‹ der Forscher schließlich sogar einen größeren Neuigkeitswert, sicher aber eine größere politische Relevanz zuzuschreiben, als das Tun und Treiben der Staatsmänner, die diplomatischen Vorgänge der Außenpolitik und die verwaltungstechnischen der Innenpolitik, gemeinhin hoffen dürfen zu erreichen. Es fällt schwer, nicht ironisch zu werden, wenn man sieht, wie diejenigen, die die öffentliche Meinung aller Zeiten als die unpraktischsten und unpolitischsten Mitglieder der Gesellschaft gebrandmarkt hat, sich plötzlich als die einzigen entpuppt haben, die überhaupt noch von dem Vermögen zu handeln Gebrauch machen und daher auch wissen, wie man es anstellt, zusammenzuhandeln.218

Der auf Arbeit, Konsum und Passivität reduzierte Mensch wird von Akteur:innen organisiert, die nach Maximen der exakten Wissenschaft handeln – anstatt handelnde Bürger, handelnde Technokraten.

Es wäre naheliegend gewesen, hätte Arendt in Vita activa oder Vom tätigen Leben ein Plädoyer wie ›Zurück zum Staunen, zurück zur Polis‹ ausformuliert, um dergestalt das über Entfremdung und den Homo laborans angesprochene Krisennarrativ aufzulösen. Ihr durch Husserl und Heidegger geschulter phänomenologischer Ansatz verwehrt ihr eine dahingehende Aussage jedoch. Normativität oder ethisches Gebot finden sich im ganzen Buch nicht. Die Summe ihrer vordergründig rein deskriptiv anmutenden Ausführungen birgt, dies als spekulative Hypothese, dennoch einen politischen Appell, der sich im Kontext von Aufstieg und Fall des Dritten Reichs und vor dem Horizont eines ›Nie wieder‹ auf ihr Gesamtwerk bezogen wie folgt pointieren lässt: In einer Gesellschaft, in der das Staunen keinen Platz mehr hat und Funktionäre das Menschsein nur noch verwalten, ist der Weg hin zur ›Banalität des Bösen‹219 nicht mehr weit.

3.4 Walter Benjamin

In einer Artikelserie im Merkur220 schreibt Hannah Arendt rückblickend über ihren Freund Walter Benjamin,221 dass es ihr in den Wirren und Gleichzeitigkeiten der Weimarer Republik oft so vorgekommen sei, als gewinne er seine Positionen von einer höheren Warte aus; als säße er auf einer »›Mastbaumspitze‹«, »von der aus die tobenden Zeitumstände besser zu übersehen waren als vom sicheren Port, wenn auch die Rettungssignale des ›Schiffbrüchigen‹, dieses einen Mannes, der das Schwimmen nicht erlernt hatte, weder mit dem Strom noch gegen ihn, kaum bemerkt wurden«222. Mit viel metaphorischem Schmuck würdigt und skizziert Arendt an dieser Stelle nicht nur Benjamins intellektuelle Physiognomie, sie lässt auch sein persönliches Schicksal anklingen: Benjamins Werk, so ist Arendt zu verstehen, speist sich zum einen maßgeblich aus den Krisen und Verfallserscheinungen der Moderne, aus jenen »tobenden Zeitumstände[n]«, an denen er sich abarbeitete. Zum anderen sind diese tobenden Zeitumstände wie wohl nur bei wenigen Intellektuellen jener Jahre aber auch Anlass für die Biografie eines Schiffbrüchigen, des mit und an seiner Zeit kenternden Walter Benjamin:

Benjamins Leben […] könnte man ohne Schwierigkeiten als eine Folge von […] Scherbenhaufen erzählen, und es ist kaum eine Frage, daß er es selbst so gesehen hat. Gerade dadurch ist es trotz mancher Absonderlichkeit im Einzelnen ein so reines Zeugnis für die finsteren Zeiten und Länder des Jahrhunderts, wie das Werk, das mit so viel Verzweiflung diesem Leben abgezwungen wurde, paradigmatisch bleiben wird für die geistige Situation der Zeit.223

Die Krise und die »finsteren Zeiten« sind bei Benjamin also nicht nur beschrieben und analysiert, sondern, mit Hannah Arendt gesprochen, aufs Engste mit seiner Biografie verknüpft.

Im Gegensatz zu Husserl, Heidegger und Arendt kann man bei Walter Benjamin nicht das Krisennarrativ ausmachen. Ob, um nur einige Topoi anzureißen, Überlegungen zur »religiösen Krise«224, die mit Brecht geplante Zeitschrift ›Krise und Kritik‹225, die »Krise der Bildung«226, die »Krise der Sexualität im Bürgertum«227, die »Krise der Malerei«228 oder die »Krise in der Wahrnehmung«229 : In Benjamins Werk ›kriselt‹ es an vielen Stellen und innerhalb unterschiedlichster theoretischer Bezugsrahmen.

Da hier nicht der Ort ist, dieser thematischen Vielschichtigkeit umfänglich gerecht zu werden, wird nachstehend nur ein Krisennarrativ aufgegriffen: Zielgröße der folgenden Abschnitte ist eine komprimierte Darstellung von Benjamins Text Über den Begriff der Geschichte230 und der darin aus Krisenbeschreibung gewonnenen Geschichtsphilosophie, die an zentraler Stelle mit Staunen argumentiert.231 Die hierbei entfaltete Kritik zielt vorrangig auf einen fehlgeleiteten Begriff von Fortschritt und dessen folgenreiche Implikationen. Dabei verwebt Benjamin aktuelle Geschehnisse und Fehlformen der Sozialdemokratie, in deren Folge sich aus seiner Sicht der Faschismus entwickeln konnte, mit dem repressiven Charakter der gängigen und vom Historismus ausgehenden linearen Geschichtsschreibung. Vorab ist zudem anzumerken, dass die sehr rätselhaften und kaleidoskopisch zu lesenden Thesen in Über den Begriff der Geschichte unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und unmittelbar vor Benjamins Freitod 1940 entstanden sind. Sie sind »Ausdruck eines Denkens am Rande des Abgrunds«232, aber auch Ausdruck der Suche nach einem Ausweg aus den im Faschismus kulminierenden Abgründen.233

Bereits im Gothaer Programm – das vor allem von Marx gescholtene Gründungsdokument der deutschen Sozialdemokratie von 1875 –234 sieht Benjamin einen gefährlichen Begriff von Arbeit etabliert, der sich allein an den »technische[n] Entwicklungen«, am »technischen Fortschritt[]«235 orientiert und zum Garant einer besseren Zukunft erhoben wurde: »Arbeit als ›die Quelle alles Reichtums und aller Kultur‹«236. Etwas Religiöses, an Heil und Erlösung Erinnerndes ist diesem beigegeben. Für Benjamin stellt der sozialdemokratische Begriff von Fortschritt nichts anderes dar als »[d]ie alte protestantische Werkmoral […] in säkularisierter Gestalt«237. Dies unterstreichend, führt er den sozialdemokratischen Vordenker Josef Dietzgen an: »›Arbeit heißt der Heiland der neuen Zeit … In der … Verbesserung … der Arbeit besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat.‹«238 In dieser an den »Fortschritte[n] der Naturbeherrschung« orientierten profanen Sakralisierung von Arbeit sieht Benjamin jedoch keinen Fort-, sondern einen »Rückschritt[] der Gesellschaft«239, da sie in der Ausbeutung von Arbeitskräften münde und die sozialen Folgen – wie beispielsweise in Benjamins Einbahnstraße mit dem Text »Reise durch die deutsche Inflation«240 beschrieben – gänzlich ausblende. Fortschritt und eine bessere Zukunft um jeden Preis, die Gegenwart fällt dabei nicht weiter ins Gewicht. Der Bezugspunkt in dieser Argumentation ist der in jener Zeit allgegenwärtige Entfremdungs-Topos, dessen Aufkommen Benjamin eben in dem »sture[n] Fortschrittsglauben [der sozialdemokratischen] Politiker«241 und deren »technokratischen Züge[n]«242 sieht, die eine Gesellschaftsform hervorbrachte, »die später im Faschismus«243 in extremer Form ausformuliert ist.

Dieser Begriff von Arbeit hat für Benjamin eine weitere negative Komponente: »Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus […].« Vage und in einem Gemeinplatz verharrend, führt Benjamin an dieser Stelle ein ökologisches Argument ins Feld: Natürliche Ressourcen seien dem Fortschritt untergeordnet bzw. lieferten die materielle Grundlage, um diesen über Arbeit zu befördern. Mit ironischem Seitenhieb in Richtung Dietzgen ist die Ausbeutung für Benjamin zusammengefasst also eine zweifache: »Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit gehört als sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat, ›gratis da ist‹.«244 Mit der sozialen Krise des Proletariats geht laut Benjamin eine ökologische Krise einher.

Benjamins mit Versatzstücken arbeitende Kritik am sozialdemokratischen Begriff von Fortschritt und Arbeit korrespondiert mit seiner Kritik am Historismus und dessen teleologischer Form der Geschichtsschreibung – der bis heute gängigen, an Wohlstand und an sozialer, gesamtgesellschaftlicher Verbesserung ausgerichteten Fortschrittserzählung. Fällt Ersteres dabei argumentativ noch blutleer, wenig differenziert und unterkomplex aus, gewinnen Benjamins geschichtsphilosophische Thesen mit Letzterem ein hermetisches, zumeist in mystisch-esoterischem Gestus hervorgebrachtes Abstraktionsniveau, dem nur mit bis in einzelne Details hineinreichenden Lektüren und viel hermeneutischem Bemühen beizukommen ist.

Die Vorgehensweise des Historismus, so Benjamin, »ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten« auf und stellt diese in eine progressive Reihung, die nach der Logik von »›Es war einmal‹«245 ein an Folgerichtigkeit orientiertes Gesamtbild (›Es musste so kommen‹) der historischen Entwicklung erzählt. Der Historismus lässt »die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen […] wie ein Rosenkranz«.246 Das Material zu dieser Abfolge liefern gemäß Benjamin Ereignisse mit großer Tragweite wie Kriege, Machtwechsel oder Grenzziehungen. Hier werden keine (alltäglichen) Details betrachtet; dem Historismus gehe es um die großen Linien der »Universalgeschichte«247 und um die Ordnung von kollektiver Erinnerung, die Sichtung und Sicherung von Traditionsbeständen.

An dieser Stelle setzt Benjamins Kritik an: Die Fortschrittserzählungen des Historismus generieren sich aus dem »Verfahren der Einfühlung«, einer Methode, die aus einer bestimmten Perspektive von einem historisch nachgelagerten Zeitpunkt vergangene Ereignisse in eine kohärente, telelogische Erzählung überführt. Die für Benjamin alles entscheidende Frage dabei ist, »in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger.«248 Das von Benjamin ausgesprochene Prinzip: Der Sieger bekommt alles, Geschichte wird allein von den Siegern geschrieben. Die Geschichtsschreibung des Historismus wird so zu einer Geschichte der Herrschenden:

Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. […] Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.249

Der an Einfühlung geschulte Historiker degradiert sich nach Benjamin dergestalt »zum Werkzeug der herrschenden Klasse«250, das Wort ›Fortschritt‹ diene als Überschrift seiner Prozessbeschreibung. Was diese Version von Geschichte laut Benjamin verschweigt: Die Geschichte der Unterdrückten, der nationalen, kulturellen oder sozialen Verlierer:innen. In den Narrativen des Historismus haben sie keinen Platz.

Diesem ›Fortschritt‹ setzt Benjamin einen alternativen Begriff von Geschichte entgegen, der nicht nur einen radikalen Bruch mit dem Historismus begeht, sondern darüber hinaus eine durch Staunen ausgelöste revolutionäre Praxis vorschlägt, die den von den Siegern der Geschichte marginalisierten und unterdrückten Menschen befreit.251 Der linearen Geschichte des Fortschritts begegnet Benjamin mit dem »Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«252, und der »Jetztzeit«253. Sein Ziel: »Geschichte gegen den Strich bürsten«254.

Doch wie soll das gehen? Benjamin geht davon aus, dass die »Vergangenheit […] einen heimlichen Index« birgt, der nach »Erlösung« strebt. Geschichte ist für ihn nicht unwiederbringlich vergangen, sie kann aktualisiert werden. An anderer Stelle spricht Benjamin von einer »schwache[n] messianischen Kraft«255, die als Potenzial in allen vergangenen Ereignissen liege und lediglich abgedunkelt sei. Der »unterdrückte[n] Klasse«256 komme nun die Aufgabe zu, diese Kraft freizusetzen und »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«257, um dadurch nicht nur sich selbst zu befreien, sondern auch eine »Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener«258 auszulösen. Es geht ihm um das Besiegen der Sieger. Das als ›Sprengsatz‹259 zur Verfügung stehende Mittel: Staunen, das in diesem Zusammenhang von Benjamin als revolutionärer, die Befreiung der Unterdrückten auslösender Impuls eingeführt wird.

In Über den Begriff der Geschichte tritt dieses Staunen in der Architektur des Texts an zentraler Stelle in These VIII und im Vorfeld der berühmten Allegorie vom ›Engel der Geschichte‹260 auf. Dabei ist auffallend, dass sich in der Sequenz die anderweitig nur eingestreuten appellativen Versatzstücke an dieser Stelle des Texts verdichten und Benjamin in schneller Abfolge mit ›wir‹, ›uns‹ und ›unsere‹ nachdrücklich ein Kollektiv adressiert. Von ihrem Leseeindruck her wirkt die These nicht wie ein Ausschnitt aus einer theoretischen Abhandlung ›über den Begriff der Geschichte‹, sondern eher wie eine auf Klassenkampf gepolte Kampfschrift, die sich als Aufruf zur Tat versteht. Da der Abschnitt in Benjamin-Manier hinsichtlich Undurchsichtigkeit und Nuancenreichtum nichts zu wünschen übrig lässt und infolgedessen einer Detailanalyse unterzogen werden muss, ist die Sequenz in Gänze aufgeführt:

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. – Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.261

Zunächst ist der Satz: »Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches«, und sind die in diesem durch typografische Markierung hervorgehobenen Besonderheiten genauer zu betrachten: Mit ›noch‹ wird eine Fassungslosigkeit in Anbetracht der aus dem Faschismus hervorgehenden Geschehnisse markiert: Wie ist es möglich, dass im allgemein propagierten Fortschrittsnarrativ solche Geschehnisse ›noch‹ möglich sind? Der Terror des Faschismus fügt sich nicht ein in das Bild einer sich fortlaufend verbessernden Zukunft; er widerspricht dem teleologischen Geschichtsnarrativ. Das kursiv gesetzte »kein« betont mit Nachdruck, dass das Staunen über die vom Faschismus ausgehenden Geschehnisse nichts mit dem herkömmlichen, dem philosophischen Staunen zu tun habe: Als Anfang der Philosophie ist dieses als Auslöser eines Erkenntnisfortschritts zu denken, der durch vernunftbasierte Operationen ein unbekanntes, Staunen auslösendes Phänomen in logische Strukturen überführt. Kontingenzerleben wird mit Rationalisierungsstrategien begegnet, Unbegreifliches in ein Ordnungssystem überführt. In Aristoteles’ Metaphysik ist dieser Weg mit ›vom Staunen zum Entstaunen‹ bzw. zur Verwunderungslosigkeit beschrieben, mit ›von thaumázein zur athaumastía‹.262 Für Benjamin steht nun fest, dass sich die abgründigen Geschehnisse seiner Gegenwart nicht in ein Ordnungssystem überführen lassen. Das Handeln des Naziregimes lässt sich mit einer das Staunen tilgenden Vernunft nicht einebnen, Rationalisierungsstrategien greifen nicht. Benjamin synchronisiert hier also den im philosophischen Staunen angelegten Erkenntnisfortschritt mit dem historischen Fortschritt, wobei er beide Fortschrittslogiken für nicht mehr haltbar, für obsolet erklärt.

Es bleibt also zu fragen: Wenn es kein philosophisches Staunen ist, was für ein Staunen ist es dann? Hierüber gibt der letzte Satz des Abschnitts Auskunft. Er ist das argumentative Nadelöhr, durch das man bei der Erschließung von Benjamins Begriff von Staunen in Über den Begriff der Geschichte hindurchgehen muss: »Es [das Staunen, TH] steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.«263 Der Satz ist komplex und arbeitet mit allerlei rhetorischen Rochaden. Mit einer Lesart von Sigrid Weigel lässt er sich wie folgt auflösen:264

Steht das Staunen hier also am möglichen Anfang einer Erkenntnis über die Unhaltbarkeit einer Geschichtsvorstellung, der es entstammt, so markiert es zugleich das Ende eben dieser Geschichtsvorstellung. Damit ist das Staunen als Grenzfall gekennzeichnet: Als nicht-philosophisches bewertet, bezeichnet es die Zäsur gegenüber einem Geschichtsbegriff, der die zeitgenössischen Ereignisse an einem progressiven Geschichtsverlauf mißt und sie dergestalt als inadäquat bzw. als rückschrittlich betrachtet; und als Staunen jenseits eines philosophischen wird es zugleich zur Möglichkeitsbedingung einer anderen Art von Erkenntnis.265

Benjamins ›neuer‹ Begriff von Staunen zielt also zum einen auf den Bruch mit dem linearen Fortschrittsbegriff, der sowohl dem sich aus der Antike speisenden und an logischer Einebnung interessierten Staunen als auch dem Geschichtsnarrativ der Sieger eigen ist. Insofern markiert er eine Zäsur und zieht die Grenze innerhalb von Konvention und Tradition. Zum anderen ist dieses Staunen jedoch auch Voraussetzung einer neuen Art des Erkennens; es ist Voraussetzung für das Erkennen einer neuen Art von Geschichtlichkeit; es ist Benjamins Möglichkeitsbedingung des Messianismus.

Als zentrale Kategorie von Über der Begriff von Geschichte meint Messianismus als ein die Vergangenheit erlösender und eine heilvolle Zukunft einleitender Zustand Folgendes: Ausgangspunkt ist die kontemplative Betrachtung eines »geschichtlichen Gegenstand[s]«266, dem eine Person bzw., wie Benjamin es nennt, ein »Subjekt historischer Erkenntnis«267 in stetigem Wechsel von Denken und Affekt gegenübertritt. »Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken[,] sondern ebenso ihre Stillstellung.«268 Im Fortgang dieses kontemplativen Einlassens auf einen geschichtlichen Gegenstand kommt es an einem von Benjamin nicht weiter benannten Punkt nun zu einem »Chock«: »Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock […].«269 Im wechselseitigen Spannungsaufbau von Denken und Affekt kommt der kontemplative Akt mit einer plötzlichen Erschütterung – die Sprengmetapher, das Aufsprengen von Geschichte270 hat hier seinen Platz – zum Erliegen. In dessen Folge eröffnet sich ein neues Verständnis von Geschichte und es greift das, was Weigel im Zusammenhang von Benjamins ›neuem‹ Staunen mit der »Möglichkeitsbedingung einer anderen Art von Erkenntnis«271 anspricht. Benjamin versteht Staunen entsprechend als ein »Chock«-Erlebnis, in dem eine »messianische Stillstellung des Geschehens«272 stattfindet. Kern dieses Erlebens ist die »Jetztzeit«273, das Ineinanderfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In ihr, so Benjamin, ist alles aktuell, nichts vergangen und nichts zukünftig – alles ist jetzt. In diesem nur temporär zu denkenden Augenblick erfasst ein Subjekt nun »die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist«.274 Es ergeben sich Bezugnahmen, die das Vergangene in der Gegenwart, die Gegenwart im Vergangenen, die Zukunft in der Gegenwart, die Gegenwart in der Zukunft, das Vergangene in der Zukunft und die Zukunft im Vergangenen erkennen lassen. Dergestalt verschwinden Epochengrenzen und historische Periodisierungen, alles wird in einem interrelationalen Verhältnis begriffen und es entsteht gemäß Benjamin eine »ungeheure[] Abbreviatur […] der ganzen Menschheit«275, also nicht nur eine der Sieger, sondern auch eine der Unterdrückten.276

Für Benjamin stellt dieses durch Staunen ausgelöste, mit Kontemplation beginnende und in Jetztzeit mündende messianische Erleben insofern eine revolutionäre, auf Klassenkampf angelegte Praxis dar, als es ein Bewusstsein dafür schafft, dass die historisch gewordenen und vom Historismus flankierten Zustände nicht zementiert, sondern veränderbar sind. Es ist ein Bewusstsein, das Benjamin in Bezug auf die Julirevolution von 1830 in Frankreich und den Aufstand des sich solidarisierenden Arbeiter- und Bürgertums gegen den Adel in der XV. These wie folgt beschreibt:

Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.277

Eine andere Zeitrechnung ist laut Benjamins Plädoyer möglich. Im Historismus und der Geschichte der Sieger walten keine Naturgesetze. Geschichte kann so, sie kann aber auch anders sein. Staunen als ›Sprengsatz‹ wird bei Benjamin so verstanden zum revolutionären Impuls, der die mit allerlei Tradition und Konvention versehene Geschichtskonstruktion und deren Fundament ›Fortschritt‹ zum Einsturz bringt. Die von den Siegern »unterdrückte Vergangenheit«278 und das Schicksal der Unterdrückten werden durch Staunen erlöst.

Rekapituliert man den Text in Gänze, sind einige Fragezeichen zu setzen. Dies betrifft allem voran den proklamierten und für Über den Begriff der Geschichte in Anspruch genommenen Kampf gegen den Faschismus.279 Wie soll dieser aussehen? Hier mangelt es an argumentativer Tiefe. Gleiches gilt für die aus der jüdischen Tradition stammenden Hinweise auf den Messianismus280 sowie Benjamins verkürzte Aufnahme von Marx, dessen an Hegel geschultes teleologisches Geschichtsverständnis und den historischen Materialismus281, was Benjamins ›neuem‹ Begriff von Geschichtlichkeit augenscheinlich entgegensteht.282 Der Text hat etliche offene Enden, vieles ist nur angedeutet, und die Gefahr der Überinterpretation – verstärkt durch das oft anzutreffende Muster ›Benjamin mit Benjamin erklären‹, dem herbeizitierenden Erklären mit anderen Versatzstücken aus seinem Gesamtwerk – steht immer im Raum.

Für das Anliegen meiner Arbeit und den auf historische Rahmung fokussierten Teil I ist diese theoretische Unterbestimmtheit jedoch sekundär und, wie schon bei Husserl, Heidegger und Arendt aus einer Perspektive der Halbdistanz, als Resümee vielmehr Folgendes festzuhalten: Auch Benjamin entwickelt einen Begriff von Staunen vor dem Hintergrund eines in der Zwischenkriegszeit zu verortenden Krisennarrativs. Was bei Husserl die Krise der Wissenschaft, bei Heidegger die Krise des Daseins und bei Arendt die Krise der politischen Philosophie ist, ist bei Benjamin in Über den Begriff der Geschichte die Krise der am Fortschrittsbegriff ausgerichteten Form von historischer Erkenntnis und der daraus hervorgehenden Unterdrückungspraktik der Sieger. Innerhalb dieses linear-teleologischen Geschichtsverständnisses profiliert Benjamin Staunen als Moment der Unterbrechung, das eine andere, eine neue Zeitrechnung und, mit dieser verbunden, eine Befreiung der Unterdrückten vorschlägt.

3.5 Ernst Bloch

In das sich zwischen konservativen und progressiven Theoremen aufspannende, mit der jeweiligen Biografie eng verbundene und nicht selten unproblematische Panoptikum der Diskursbegründer:innen der Jahre 1918–1939 reiht sich auch Ernst Bloch. Insbesondere mit Benjamin verbindet ihn eine enge, wenn auch wechselvolle Freundschaft – nach Gershom Scholem herrschte »[z]wischen Benjamin und Bloch […] ein Magnetismus, zu dem sowohl die Anziehung wie die Abstoßung gehörte«283 –, die mit Plagiatsvorwürfen284, gemeinsamem Haschischkonsum285 und gegenseitigen Rezensionen286 viele Facetten aufweist. Vor allem Blochs Aufsehen erregendes Erstlingswerk Geist der Utopie (1918) hinterließ bei Benjamin einen tiefen Eindruck. 1919 schreibt er, noch unter dem Eindruck der Lektüre stehend, an seinen Jugendfreund Ernst Schoen: »Es mag Ihnen genügen, zu hören, daß dies doch das einzige Buch ist, an dem ich mich als an einer wahrhaft gleichzeitigen und zeitgenössischen Äußerung messen kann.«287

Im Folgenden konzentriere ich mich ausschließlich auf diese von Benjamin gewürdigte ›zeitgenössische Äußerung‹ in Form von Geist der Utopie. Hierbei liegt mein Augenmerk allein auf der Darstellung von Blochs in der Zwischenkriegszeit anzusiedelndem Krisennarrativ und dessen im Staunen liegenden Ausweg bzw. auf seinem dahingehenden Lösungsvorschlag. Entsprechend sind sowohl der im Anschluss an Geist der Utopie entstandene und eher als literaturgeschichtliche Illustration zu denkende Essay »Hoffen, doppeltes Dunkel an sich, Staunen, zentrales Inkognito, Ding für uns«288 – Bloch zitiert hier ausgiebig aus dem Werk Jean Pauls, Goethes und Schillers – als auch die Wiederaufnahme von Staunen als das ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ in seinem Hauptwerk Prinzip Hoffnung289 (1954) und die Tübinger Einleitung in die Philosophie290 (1963) ausgeklammert. Eine Werkgruppen übergreifende und diachrone Verhandlung von Blochs Begriff von Staunen würde neben der Überschreitung des gesetzten Zeitrahmens (1918–1939) den Rahmen des in Teil I angestrebten komprimierten Überblicks schlichtweg übersteigen. »Staunen zieht sich […] als Konstante durch Blochs gesamte Philosophie«291 – ein Umstand, dem ich im Kontext meiner Arbeit nicht umfänglich gerecht werden kann.292 Ausgeklammert ist auch eine Vertiefung der von Gess abgesteckten Untersuchungsfelder der aus Staunen abzuleitenden und bei Bloch festzuhaltenden Rhetorik des Staunens, seiner Rhetorik der Verdunkelung, seiner Verweigerung eines rationalen Diskurses sowie der problematischen Re-Etablierung von Herrschaft in Geist der Utopie.293

Geist der Utopie steht in direktem Zusammenhang mit der kulturellen und humanitären Zäsur des Ersten Weltkriegs. In den Kriegs- und Krisenjahren 1914–1918 verfasst,294 1918 veröffentlicht und 1923, im Jahr der Hyperinflation295, in einer aktualisierten zweiten Fassung vorgelegt, setzt das Werk mit einer expressiv-verdichteten Absichtserklärung ein, die anhand einer vorangestellten Bestandsaufnahme deutlich macht, gegen wen und was sich Geist der Utopie in Stellung bringt.

Hierbei nimmt Bloch zunächst den »Triumph der Dummheit« in Gestalt des »kaiserlichen Deutschland[s]« in den Blick:

Die Faulen, die Elenden, die Wucherer wurden verteidigt. Was jung war, mußte fallen, zum Sterben gezwungen für so fremde, geistesfeindliche Ziele, aber die Erbärmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube. Von ihnen ist keiner verloren gegangen, doch die andere Fahnen geschwungen haben, so viel Blüte, so viel Traum, so viel geistige Hoffnung, sind tot. […] Lichtloser war nie ein Kriegsziel als das des kaiserlichen Deutschland; ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigen verhängt, von Mittelmäßigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschützt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern.296

Bloch bleibt hier vage und bezieht sich nicht direkt auf Personen. Vielmehr adressiert er ein Kollektiv und bringt zum Ausdruck, dass es ein Großteil der gesamten deutschen Gesellschaft gewesen sei, der den Krieg mitgetragen hat. Die Sequenz skizziert ein unreflektiertes Bürger- und Arbeitermilieu, eine im kaiserlichen Hurra-Patriotismus aufgehende Gesellschaft, die den politischen Geschehnissen nichts entgegenzusetzen hatte. Die Kosten für diese von Bloch als kollektive Mittelmäßigkeit bezeichnete Passivität habe die Generation der Frontsoldaten gezahlt; eine Jugend – Bloch spielt auf die unzähligen politischen, künstlerischen und sozialen Avantgarde-Bewegungen der Vorkriegsjahre an –, die Gedanken und Hoffnung auf eine andere, neuartige Zukunft hatte, die sich nicht mit den gegebenen Umständen zufrieden gab. Sie wurde gezwungen, für die Belange des Kaiserreichs zu kämpfen, für eine Fahne, die nicht die ihre war.

Dennoch, so Bloch weiter, öffnete sich nach dem Krieg ein kurzer Zeitraum – vermutlich in Anspielung auf die russische Oktoberrevolution von 1917 oder die Novemberrevolution in Deutschland von 1918 –, in dem eine neue und, an dieser Stelle bezieht Bloch nun eindeutig Position, sozialistisch geprägte Gesellschaft,297 eine andere Zukunft zum Greifen nah war. Jedoch: »Der Krieg ging aus, die Revolution ging an und mit ihr die offenen Türen. Aber richtig, sie haben sich bald wieder geschlossen. Der Schieber rührte sich, setzte sich, und alles Veraltete schwemmte an ihm wieder an.«298 Die Weimarer Republik ist für Bloch demnach lediglich die Aktualisierung der Zustände vor dem Ersten Weltkrieg. Der »wuchernde Bauer, der mächtige Großbürger […] und der verängstigte Kleinbürger«299 hätten alles getan, um die Realisation einer neuen Gesellschaft zu verhindern – nämlich nichts. So bestehen für Bloch weiterhin allein die »Schollenphrase, [der] Traditionalismus vaterländischer Kultur und jene[] instinktlose[] Romantik, die den Bauernkrieg vergaß und lediglich Ritterburgen in der mondbeglänzten Zaubernacht sah«.300 Aus Revolution wurde Restauration. »Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken.«301

Was im neuen alten Status quo übrig blieb, so das Ende dieses diskussionswürdigen Krisennarrativs, ist Sehnsucht: »Wir haben Sehnsucht […], aber wenig Tat und […] keine Weite, keine Aussicht […].«302 Der Satz kann in zwei Richtungen gelesen werden: als fatalistisch anmutender Endzustand eines in Passivität, Trost- und Tatlosigkeit mündenden Krisennarrativs oder aber als Potenzialität im Sinne von ›die Sehnsucht bleibt, doch wir müssen zurückfinden zur Tat‹.

Das Programm von Geist der Utopie zielt auf letzteren Punkt: Es will die Türen zur Revolution aufstoßen, die revolutionären Strömungen wieder in Bewegung setzen und den von allerlei veralteten Kräften gehaltenen und stauenden Schieber lösen. Der hierfür zentrale Begriff: die »Utopie, gehalten gegen Elend, Tod und das Schalenreich der physischen Natur«303. In ihr liegt für Bloch die Aussicht auf »vita nova«304, das neue Leben – eine neue Ordnung, welche die Krisen der Gegenwart löst, das Vergangene hinter sich lässt und die Potenziale einer neuen Gesellschaft entfaltet. Der die Utopie veranlassende Moment: Staunen.

Doch wie ist dieses Staunen bei Bloch zu denken? Die in Geist der Utopie formulierte Konzeption von Staunen greift zunächst das in der Absichtserklärung angesprochene Krisennarrativ und dessen Motivkreis auf, zieht es aus den Niederungen der deutschen Zustände ab und verlegt es ins Subjekt und dessen Erkenntnisvermögen: Ausgangspunkt ist ihm hierbei der Mensch, der »im Matten liegt« und an seine »innere[n] Regungen [nicht mehr] herankommt«.305 Dumpf und abgedichtet gegen die Außenwelt, befinde sich dieser »gegenwärtig in der größten Verdunklung, sowohl des Innen als vor allem auch des Außen und Oben, die jemals in der Geschichte vorkam«.306 Bloch spricht hierbei dezidiert Säkularisierungsprozesse und die fehlende Fähigkeit des Glaubens an: »Weihnacht, Ostern und Pfingsten [erscheinen] wie ein einziger Karfreitag […], wie ein bloßes traurig substanzloses Wissen, daß der Erlöser gestorben ist, aber so, als ob er bereits in der Krippe ermordet worden wäre; und hohl schwebt die Ahnung der Glorie darüber.«307

Den Sehnsuchts-Topos aus der Absichtserklärung wieder aufnehmend – »[d]och in uns tief drinnen will es anders gären, und wir suchen nach jedem Korn, das so hier nicht wuchs«308 –, leitet Bloch nach der Aktualisierung und Fortschreibung seines Krisennarrativs dann zu seinem eigentlichen Anliegen über. In pathosschwangerem Ton formuliert er folgendes Programm als Zielgröße von Geist der Utopie:

In uns allen brennt noch Licht, mitten im Einsturz der Erde und des Himmels, und die schöpferische, die philosophische Stunde katexochen ist da; sie zu erfüllen, dazu hilft die andauernde Wachtraum-Konzentration auf ein reineres, höheres Leben, auf die Erlösung von Bosheit, Leere, Tod und Rätsel, auf die Gemeinschaft mit den Heiligen, auf die Wendung aller Dinge zum Paradies. Nur dieser denkende Wunschtraum schafft Wirkliches, tief in sich hineinhörend, bis der Blick gelungen ist: in die Seele, in das dritte Reich nach Stern und Götterhimmel […]. [A]lles Seiende hat seinen utopischen Stern im Blut, und die Philosophie wäre nichtig, bildete sie nicht die Gedankenlösung für diesen Kristallhimmel erneuerter Wirklichkeit. Das Leben geht um uns und weiß nicht, wohin es geht, nur wir selbst sind noch Hebel und Motor, es stockt der äußere und erst recht der offenbarte Sinn: aber der neue Gedanke bricht endlich hinaus, in die vollen Abenteuer, in die offene, unfertige, träumende Welt, in die Verschüttung und Finsternisse Satans, der Abriegelung selber.309

Zentral in dieser Passage ist die Vokabel der ›Wach-‹ bzw. ›Wunschtraum-Konzentration‹ – für Bloch die Voraussetzung für ein erneuertes ›Wirkliches‹, das utopische Bewusstsein und letztlich die Utopie. Diese auszubilden obliege der Philosophie. Als Technik angesprochen, falle ihr die Aufgabe zu, »die Gedankenlösung für diesen Kristallhimmel [einer] erneuerte[n] Wirklichkeit« durch das Imaginieren anderer Realitäten und das Erträumen einer neuen Welt mit all ihrem Seienden voranzutreiben und aufrechtzuerhalten. Das durch diese Praktik anvisierte, nur vage benannte und mit allerlei christlichem Bildinventar aufgeladene utopische Telos: das Paradies, der Platzhalter für das in der Absichtserklärung formulierte »incipit vita nova«310, worin »das Seelenhafte und das kosmisch Totale [sich] vereinen«311.

Verschüttet unter allerlei expressionistischer Digression312, rhetorischen Nebelkerzen in Gestalt von esoterischem Vokabular ohne semantischen Mehrwert und thematischen Abbrüchen mit losen Wiederaufnahmen, verleiht Bloch seiner Programmatik in den Folgekapiteln schrittweise Kontur und beschreibt den Prozess, wie sich aus der Sehnsucht nach dem neuen Leben, ausgelöst durch Staunen, das neue Leben realisieren soll. Dabei fällt auf, dass die soeben angeführte Inpflichtnahme der Philosophie als Technik der Wachtraum-Konzentration nicht mehr angesprochen ist. Allein die Zielgrößen des Seelenhaften (Selbsterkenntnis) und kosmisch Totalen (Welterkenntnis) werden beschrieben, nicht jedoch die ins Subjekt verlagerte Praktik und die Notwendigkeit der Tat.

Blochs sukzessiv ins Epiphanische mündender Lösungsvorschlag zur bestehenden Krise beginnt mit dem Traum, den er in Anlehnung an Freud als Artikulationsraum vergessener oder unterdrückter Sehnsüchte bestimmt: »Jedoch das vergangene Wollen, vergangene Erleben hört nicht auf zu bestehen […], auch wenn es nicht mehr bewußt ist. Im Traum […] kehrt das wachend untergegangene Wollen wieder, bemächtigt sich, bewegt und dennoch nichts mehr bewegend, halluzinierter Erinnerungsinhalte.«313 In diesem Artikulationsraum des, wie Bloch es nennt, Nicht-mehr-Bewussten ist nicht nur subjektives Erinnern möglich; in ihm könne

sogar eine abgelaufene magische Welt wieder geträumt oder atavistisch hellgesehen werden […], wie sie gar nicht mehr besteht, deren Kräfte und Inhalte unser Leben gar nicht mehr bestimmen. Zuweilen zeigen sich in diesem Erinnern Züge des gleichsam höheren, menschlichen Wollens […]; gewiß auch zeigen sich in diesem Erinnern die tiefsinnigen Vergoldungen des Gewesenen, die ein Weiteres, Utopisches, Wesentliches als eingesprengt in dem Vergangenen anzeigen und daraus retten.314

Da jedoch nur Traum, sind diese individuellen und kollektiven Sehnsüchte unzugänglich. Sie verbleiben abgedunkelt im Unterbewusstsein des Subjekts.

Anders verhält es sich mit Sehnsüchten, die sich im »›Wachtraum‹«315 artikulieren. Diffus und nicht scharf umrissen, ist der Wachtraum ein »offene[s] Fragen, Schäumen«, das Bloch als das »noch nicht Bewußte[]«316 und in Variation seiner Freud-Ausführungen als das »schöpferische Unbewußte«317 bezeichnet. Zur Illustration dieses Noch-nicht-Bewussten führt er das Kind und dessen imaginierendes Erleben an:

Als Kinder schon sind wir beständig unruhig, zu warten, uns selbst schon darin endlich zu versichern. Es bleibt im Menschen, dieses sehr Brennende und Rätselhafte, das uns am Sonntagabend bei jedem Klingelzeichen draußen auffahren ließ, ob nun das Rechte endlich ausgerichtet werde. So öffnet sich überall dort, wo neues Leben beginnt, jenes offene Fragen, Schäumen, verhüllte Enthüllen als der Erwartungszustand des Heraufkommens überhaupt.318

Das hier anhand der Figur des Kindes aufgezeigte Noch-nicht-Bewusste meint ein latentes Bewusstsein im Wachzustand319, in dem sich Sehnsüchte affektiv andeuten, unbestimmt zirkulieren und letztlich in einer von Bloch nicht weiter differenzierten, auf die Zukunft ausgerichteten Erwartungshaltung zusammenlaufen. An anderer Stelle spricht er auch von einem »Dämmern, ein[em] innere[n] Hellwerden, Mühe, Dunkel, krachende[m] Eis, ein[em] Aufwachen, sich annähernde[n] Vernehmen« sowie von einem »namenlosen apriorischen Brauen in uns, an uns, vor uns«.320 Der »Zustand des Ahnens« ist hier angesprochen, der »die Erstaunens-Werte«321 in sich trägt.

Hier nun hat Staunen seinen Platz. Als Moment der beginnenden Selbsterkenntnis gibt es gemäß Bloch dem Ahnen und den in diesem enthaltenen »Erstaunens-Werte[n322 eine Kontur und bedingt so zuallererst die Manifestation und deutliche Konturierung der soeben angesprochenen Sehnsüchte: »Staunen[,] oft völlig beliebig, ja unangemessen«323 und ohne bestimmbaren Grund ausgelöst, stellt für Bloch »die Lichtung []eines Dunkels, []einer alles enthaltenden Latenz«324 dar. Es »entzündet«325 das Noch-nicht-Bewusste, wobei das »überrieselnde[] Staunen[] […] seine Latenz […] zur beginnenden ›Sichtbarkeit‹«326 bringt. Dieses, so Bloch weiter, »tief[e] Erstaunen, wie es sich oft auf ein Nichts hin zu rühren scheint und doch das Fließen des gerade Gelebten stillt, sich in sich selbst einspiegeln läßt, dergestalt, daß das uns tiefst Gemeinte darin erscheint, sich seltsam erfaßt«.327

Bei diesem Gedanken Blochs gilt es das ›Beginnen‹ der Sichtbarkeit und damit allein den Anfangspunkt einer voranschreitenden Konkretion von Sehnsüchten zu unterstreichen: Bloch denkt Staunen als »Pforte des sich selbst Entgegenblickens«328. In seiner Konzeption fungiert es als Schwelle, die das Noch-nicht-Bewusste und dessen latente Sehnsüchte vom vollumfänglichen, artikulierbaren Bewusstwerden von Sehnsüchten trennt. Staunen wird so zu einem transitiven Moment, der vom vorbewussten Wachtraum in den bewussten Wachzustand oder, wie Bloch es nennt, den »Wahrtraum«329 führt. Es löse ein »[V]or-sich-selbst-Stellen, [S]ich-selbst-über-sich-hinaus-Drehen«330 aus und bereite so »zur Überfahrt in das letzte Antworten, in das uns selbst Essen, in uns selbst Auferstehen, sich selbst Rezitieren des einzigen Themas«331 vor. In vereinfachender Zusammenfassung der beiden vorangegangenen Absätze und ohne Blochs geschwollen-pathetischen Tonfall könnte man auch sagen: Staunen ist ein transitives Moment, das verborgene Sehnsüchte konkret werden lässt und dadurch zur Selbsterkenntnis beiträgt.

Mit dem soeben angeführten Stichwort der ›Überfahrt‹ ist das Abenteuer als weiteres Charakteristikum von Staunen angesprochen. In den Ausführungen in unmittelbarem Anschluss an seine Definitionsbemühungen zum Staunen heißt es:

So erst [durch das Staunen, TH] wirft das Denken des Herzens seinen Lichtschein voraus in das wetterleuchtende Land, das wir alle sind, in dem wir alle treiben, in das wir endlich entscheidend einbrechen, unserer Ankunft, unserem Lösewort entgegenhörend. Hier ist nicht bloß neuer Weg ins alte feste Wirkliche, sondern das Wirkliche selber zeigt sich aufgebrochen, noch dorthin, wo der Fundus intimus endlich in allem erscheint; und wie im Märchen und der erloschenen Epopöe geht der Mensch, unendlich viel kräftiger als er selbst, wieder in die unbekannte Welt, in die Abenteuer eines sich bis ans unbekannte Ende ausdehnenden Seelenraums. Erst recht aber ist die philosophische Erkenntnis, die hier gemeint ist, Lampe, die in Edelstein verwandelt, Ankunft des Ministers in den Gefängnissen des demiurgischen Pizarro. Ist Tun des großen Werks, des Lebenswassers des Erlösungsworts; magischer Idealismus aus Gründen des im Haupt aller Dinge wartenden Wahrtraums, der unkonstruierbaren Frage, ihres Dings an sich: daß dieses also ist, was noch nicht ist, was letzte Zukunft, endlich echte Gegenwart ist, sich in Existenz befindliches Selbstproblem, noch unbekannte, unfertige Utopie.332

Flankiert von den narrativen Mustern des Märchens und des Epos, wird Staunen als Beginn eines Abenteuers (»neuer Weg«) und zum Moment des Aus- und Aufbruchs aus dem Vertrautem und Gewöhnlichem profiliert – eben das, wogegen Bloch bereits in der Absichtserklärung polemisierte. Neben den daraus hervorgehenden Merkmalen des Unvertrauten und Ungewöhnlichen, »die unbekannte Welt«, ist der Aufbruch in das Abenteuer noch mehr: Es ist der Anfangspunkt eines unvorhersehbaren Verlaufs, ein Wagnis mit Unwegsamkeiten.

Wohin dieses Abenteuer führt? Hierüber gibt Bloch keine genaue Auskunft. Selbst das teleologisch vage angesprochene Paradies (s. o.) tritt lediglich als nebulöse Chiffre auf und ist zu unterbestimmt, um eine normative Zielgröße abzugeben. Für Bloch ist Staunen der Beginn eines Abenteuers, an dessen Ende man nicht weiß, wo man ankommt. Als »Überfahrt in das letzte Antworten«333 schickt es lediglich auf den Weg hin zur »noch unbekannte[n], unfertigen Utopie« oder, wie an anderer Stelle in Geist der Utopie formuliert, »in eine Heimat, in der man noch niemals war und die dennoch Heimat ist«.334

Müssen für Blochs paradiesische Utopie »vita nova«335 »das Seelenhafte und das kosmisch Totale [sich] vereinen«336 (s. o.), so hat er mit dem Staunen als Wechselmoment zwischen dem Noch-nicht-Bewussten und dem beginnenden Wahrtraum sowie mit dem ›Seelenhaften‹ bzw. der Selbsterkenntnis einen Teil seines Programms erfüllt. Doch wie steht es mit dem ›kosmisch Totalen‹ bzw. der Welterkenntnis, der anderen Säule seines Lösungsvorschlags angesichts der diagnostizierten Krise? Gekoppelt an das Feld der Metaphysik, nimmt Staunen als epistemisches Moment über den tradierten Topos ›Staunen als Anfang der Erkenntnis‹ auch hier eine signifikante Rolle ein:

Damit also erscheint im Gefolge des begriffenen Staunens zuletzt wieder jener neue, uralte innerlichste Evidenzbegriff, […] wie er seinen Primat von praktisch-mystischer Vernunft auch noch und gerade in den höchsten Höhen der Metaphysik bewährt. […] Dieses Intendieren auf einen Stern, eine Freude, eine Wahrheit gegen die Empirie, hinter ihrer satanischen und erst recht hinter ihrer Inkognito-Nacht, ist der einzige Weg, noch Wahrheit zu finden […]. [Es] schafft endlich das Reich der zweiten, der allein wahrhaftigen Wahrheit […].337

Staunen tritt in dieser Sequenz nicht als subjektiver Anfangspunkt der Erkenntnis von individuellen Sehnsüchten, als »Pforte des sich selbst Entgegenblickens«338, sondern in einer epistemischen Funktion auf. »[I]m Gefolge des begriffenen Staunens« eröffnet sich für Bloch eine metaphysische Evidenz, die den empirischen Wissenschaften eine »wahrhaftige Wahrheit« und einen übergeordneten Begründungszusammenhang in Form von Welterkenntnis entgegenstellt.

Die »im Gefolge des begriffenen Staunens« stehende metaphysische Erkenntnis wird in der angeführten Sequenz metaphorisch gedoppelt. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem kosmisch Totalen bedient sich Bloch mit Staunen als »Intendieren auf einen Stern« und mit Staunen als Weg aus der »Inkognito-Nacht« der Lichtmetaphorik – eine Trope, die sich mit Hans Blumenberg wie folgt umschreiben lässt:

An Aussagefähigkeit und subtiler Wandlungsfähigkeit ist die Lichtmetapher unvergleichlich. Von ihren Anfängen an hat die Geschichte der Metaphysik sich dieser Eigenschaft bedient, um für ihre letzten, gegenständlich nicht mehr faßbaren Sachverhalte eine angemessene Verweisung zu geben. [Licht ist die] absolute Seinsmacht, die die Nichtigkeit des Dunkels enthüllt, das nicht mehr sein kann, wenn es erst einmal Licht geworden ist. Licht ist das Eindringliche, es schafft in seiner Fülle jene überwältigende, unübersehbare Deutlichkeit mit der das Wahre ›heraustritt‹, es erzwingt die Unentziehbarkeit der Zustimmung des Geistes. Das Licht bleibt, was es ist, während es Unendliches an sich teilhaben läßt, es ist Verschwendung ohne Schwund. […] Licht [ist] Metapher des ›Heils‹, der Unsterblichkeit.339

Im Zusammenhang von Blochs metaphysischer Welterkenntnis wird Staunen so zum ›lichtenden Moment‹. Es ist der epistemische Ort des Umschlags zwischen der von ihm despektierlich als satanisch titulierten Empirie und der alles überstrahlenden, metaphysisch übergeordneten »wahrhaftigen Wahrheit«340.

In diesem Moment der Erhellung und im Gebrauch der Lichtmetaphorik berühren sich in Geist der Utopie beide Säulen. Denn nicht nur bei der soeben beschriebenen Welterkenntnis, auch in seiner Bestimmung von Staunen als Beginn der Selbsterkenntnis sowie in der damit verbundenen Sequenz zum einsetzenden Abenteuer ist Licht die tragende Metapher: Bei Ersterem »entzündet«341 das Staunen das Noch-nicht-Bewusste, wobei das »überrieselnde[] Staunen[] […] seine Latenz […] zur beginnenden ›Sichtbarkeit‹«342 bringt; bei Letzterem spricht Bloch vom »[vorausgeworfenen] Lichtschein in das wetterleuchtende Land«, dem Erscheinen des »Fundus intimus« und der »Lampe, die in Edelstein verwandelt«343 (s. o.). Dergestalt fungiert Staunen in beiden Säulen seiner »vita nova«344, bei der Selbst- und der metaphysischen Welterkenntnis, als transitives Moment zwischen den ontologisch mit Unkenntnis und Erkenntnis aufgeladenen Kategorien von Hell und Dunkel.

Das von Bloch in Geist der Utopie entwickelte Konzept mag als Lösungsansatz innerhalb des in seiner Absichtserklärung entwickelten Krisennarrativs durchaus greifen. Aus der »Schollenphrase, [dem] Traditionalismus vaterländischer Kultur und jener instinktlosen Romantik, die den Bauernkrieg vergaß und lediglich Ritterburgen in der mondbeglänzten Zaubernacht ragen sah«345 (s. o.), weiß er mit dem doppelten Staunen durchaus hinauszuführen. Der durch Staunen ausgelöste Progress vom Wunsch- bzw. Wachtraum zum Wahrtraum (Selbsterkenntnis) und der Weg zur Welterkenntnis sind durchaus plausibel. Bei genauerer Betrachtung tun sich jedoch Leerstellen auf, die selbst mit viel affirmativem Bemühen nicht zu füllen sind: Hier ist es nicht nur die bereits angesprochene, nicht weiter ausgeführte philosophische Praxis der ›Wach-‹ bzw. ›Wunschtraum-Konzentration‹, sondern auch die unbeantwortete Frage, wie er die beiden Säulen Welt- und Selbsterkenntnis im Sinne der vita nova synthetisieren und in einem letzten Schritt in die in der Absichtserklärung angesprochene Tat, in eine Praxis bzw. Realität überführen will. Gleiches gilt für die sich ebenfalls aus der Absichtserklärung ergebende kollektive Zielgröße seines Unternehmens: Wie geht aus dem von ihm ins Individuum verlagerten Staunen eine im sozialen Kollektiv realisierte, durch Revolution herbeigeführte Utopie hervor? Wie ist der Weg von der individuellen zur sozialen Utopie, dem in Gesellschaft realisierten neuen Leben, zu denken? Staunen die Staunenden dann doch in Richtung ein und derselben Utopie? Besitzt sein Utopiebegriff dann doch normativen Gehalt? Auch diese Fragen bleiben in Geist der Utopie unbeantwortet. Blochs ohnehin nur schwer zu identifizierenden Argumentationslinien zerfasern nicht selten oder brechen abrupt ab.

Oder ist ihm an einer kohärenten Theorie mit philosophischem Anspruch gar nicht gelegen? Es gibt zumindest Indizien, dass Geist der Utopie neben den theoretischen Reflexionen zu jenem ›Geist der Utopie‹ noch ein weiteres Projekt verfolgt: Bereits die von mir nachvollzogenen Argumentationslinien und angeführten Sequenzen zu Blochs Begriff von Staunen erwecken den Eindruck, er wolle sich mit seinem Schreiben über das Staunen schreibend selbst in Staunen versetzen. Das von mir im Zusammenhang der staunenden Selbsterkenntnis angeführte »[S]ich-selbst-über-sich-hinaus-Drehen«346 sowie das »sich selbst Rezitieren des einzigen Themas«347 (s. o.) gelten nicht nur für sein Theorem zum Staunen, sondern auch für den ihm eigenen Stil, die Form seiner Verschriftlichungsstrategien. Sein expressionistischer Gestus, die endlose Hypotaxe, in der Subjekt, Objekt und Prädikat miteinander verschwimmen oder untergehen, sowie ein in keine eindeutige Richtung verweisendes esoterisch-religiöses Vokabular bewegen sich im Grenzbereich des Sagbaren bzw. in einem Bereich der semantischen Indifferenz, der weniger auf den Inhalt als vielmehr auf eine Auflösung von Form und Ordnung abzielt. Nicht von ungefähr spricht Bloch vom »allerunmittelbarsten Erstaunen« und auch von einem »philosophischen Lyrismus letzter Grenze«348. Es steht also zumindest die Frage im Raum, ob man in Geist der Utopie jemandem zuschauen kann, der sich beim Schreiben über das Staunen in das Staunen hineinschreiben will.

3.6 Zusammenfassung

Bis zu diesem Punkt meiner Ausführungen konnte aufgezeigt werden, dass es in der Zwischenkriegszeit 1918–1939 mit je unterschiedlicher Zielgröße und Gewichtung eine starke Korrelation von Wissensordnung, Krise und dem Staunen gibt: Bei Husserl wurde die durch die empirischen Wissenschaften bedingte Krisis des europäischen Menschentums dadurch gelöst, dass Staunen und die damit verbundene Sinnfortbildung die gegebene, jedoch durch Empirie getilgte Lebenswelt des Menschen neuerlich erschließen und eine »sinnvolle Ordnung des Seins«349 einleiten. Bei Heidegger wurde der konstatierten Seinsvergessenheit, der sich im Zustand der Grund- und »Bodenlosigkeit«350 befindenden Wissenschaft das Er-staunen entgegengesetzt, das als Grundstimmung in der Besinnung auf den denkerischen Anfang die krisenhafte Seinsvergessenheit auflöst, sodass ein »Verwandeltwerden des Menschen«351 stattfindet, worauf die Einsicht in die Ordnung des Seienden folgt. Bei Arendt und ihrer durch die Grundlagenkrise der Wissenschaft bedingten Krise des Politischen erschloss Staunen (Vita contemplativa) die Idee des Guten, an der sich kommunikatives Handeln (Vita activa) innerhalb einer politischen Gemeinschaft zu legitimieren hat. Benjamins Krisennarrativ setzte am Fortschrittsbegriff des Historismus an, wobei er Staunen und das durch dieses ausgelöste Erleben der »Jetztzeit«352 als Ermöglichungsbedingung einer neuen, messianischen Zeitrechnung etabliert. Blochs Krisendiagnose zielte auf die Zustände des Deutschen Kaiserreichs und deren Wiedererrichtung in der Weimarer Republik, wobei er der restaurativen Ordnung Staunen als revolutionäres Moment entgegenstellt, das Wege in die Realisation einer neuen Ordnung, der »vita nova«353, eröffnet.

Beim Übereinanderlegen der hier rekapitulierten Theoreme zeichnet sich eine Struktur ab, die den mit viel Tradition behangenen Begriff ›Staunen‹ neu denken lässt: Von einer als krisenhaft beschriebenen Wissensordnung, einer Krisennarration ausgehend, wird Staunen als Zäsur profiliert, die als transformatorischer Moment Suchbewegungen und Möglichkeitsbedingungen hinsichtlich einer anderen Wissensordnung auslöst bzw. Wege aus einem Krisenzustand hin zu einer neuen Wissensordnung aufzeigt. Vor diesem Hintergrund lassen sich zusammenfassend zwei Stoßrichtungen identifizieren: Zum einen wird Staunen in einer Wendung hin zur Phänomenologie weiterhin in der Tradition von Episteme verhandelt (Husserl, Heidegger); zum anderen gewinnt Staunen in der Zwischenkriegszeit jedoch auch eine politische Valenz (Arendt, Benjamin, Bloch), die ideen- und begriffsgeschichtlich ein Novum darstellt. – Hieran anschließend gilt es nun zu fragen: Wie stellt sich dieser Sachverhalt bei Ludwig Wittgenstein dar?

75

Foucault 1971: 26.

76

Vgl. Burckhardt 2018 [1905]: 176.

77

Goetze/Strobel 2011: 513.

78

Burckhardt 2018 [1905]: 176.

79

Peukert 2014: 266 ff.

80

Gumbrecht 2013: 9.

81

Vgl. ebd. 391–451.

82

Vgl. Peukert 2014: 191–242.

83

Ebd. 268.

84

Vgl. Feldman, Gerald D., The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation 1914–1924, New York: Oxford University Press, 1993.

85

Unter Diskursbegründer:innen bzw. »›Diskursivitätsbegründern‹« versteht Foucault Autoren »einer Theorie, einer Tradition, einer Disziplin, innerhalb derer dann andere Bücher und andere Autoren ihrerseits Platz finden können. Mit einem Wort würde man sagen, dass diese Autoren sich in einer ›transdiskursiven‹ Position befinden. […] Das Besondere an diesen Autoren ist, dass sie nicht nur die Autoren ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben mehr geschaffen als das: die Möglichkeit und die Formationsregeln anderer Texte. […] Sie haben den Raum für etwas anderes als sich selbst geöffnet, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben. […] Sehr schematisch formuliert heißt dies: das Werk dieser Begründer situiert sich nicht im Verhältnis zur Wissenschaft und in dem Raum, den sie umreißt, sondern die Wissenschaft oder die Diskursivität beziehen sich auf ihr Werk als primäre Koordinaten.« (Foucault, Michel, »Was ist ein Autor?«, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 234–270, hier S. 251–255)

86

Husserls Krisis-Text gilt neben den Logischen Untersuchungen und den Cartesianischen Meditationen als die wirkmächtigste, zugleich jedoch hermetischste Schrift Husserls. »Die Krisis-Schrift hat das Bild der Phänomenologie wie kaum eine zweite Arbeit Husserls geprägt und die Interpreten herausgefordert. Vermutet man doch in dem letzten Werk das Erbe der Phänomenologie, das es aufzugreifen und weiterzuführen gilt. Dabei handelt es sich durchaus um eine sperrige Hinterlassenschaft. Denn die Krisis-Schrift ist nicht einfach auf den Begriff zu bringen. Die Überlegungen entwickeln sich nah an den Auffassungen und Einstellungen der Zeit, ohne dass sie aber irgendeiner Mode verfallen. Es wird der Positivismus kritisiert, ohne die Wissenschaft zu verteufeln. Vortheoretische Erfahrungen werden aufgedeckt und in ihrer eigenständigen Sinn- und Seinsform ernst genommen, ohne einer selbstgenügsamen Lebensphilosophie zu verfallen. Das Vorhaben verschreibt sich der Zukunft einer aufgeklärten Subjektivität, radikal werden Ansätze der Gegenwart kritisiert, nie aber werden die historischen Ursprünge des Verstehens vergessen oder das metaphysische Erbe einfach über Bord geworfen.« (S. 97) Dieses zum Teil nur schwer nachvollziehbare Changieren zwischen Themenkreisen wird weiterhin durch die uneindeutige Textgrundlage erschwert. Was gehört zur Krisis-Schrift und was nicht? Bildet die Textgrundlage die Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Philosophia von 1936/1937? Band VI der Husserliana, in dem zusätzliche Abschnitte und Belege aufgenommen sind? Oder doch der Ergänzungsband (Bd. XXIX), in dem auch der Krisis-Schrift vorangehende Vorträge, Aufsätze etc. angeführt sind? (Vgl. Bermes, Christian, »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie«, in: Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Sebastian Luft und Maren Wehrle, Stuttgart: Metzler, 2017, S. 97–104, hier S. 97 f.) Da das Ziel von Teil I in der kompakten Darstellung der zeitgebundenen Krisennarrative und der daraus hervorgehenden Begriffe von Staunen liegt, begebe ich mich folgend nicht in die soeben geschilderten inhaltlichen und editionsphilologischen Tiefen der Krisis-Schrift. Für die Reflexion des Zeitindexes wäre eine vertiefte Analyse nicht weiter relevant und würde von meinem eigentlichen Vorhaben ablenken. Aus pragmatischen Gründen wird im vorliegenden Zusammenhang deshalb auch auf die sehr leserfreundliche Textgrundlage des Meiner-Verlags und das hier für meine implizierte Orientierung wichtige Register zurückgegriffen. Zur allgemeinen Einführung in den Krisis-Text vgl. die darin aufgeführten Bemerkungen von Elisabeth Ströker (in Husserl 2012, S. XV–XXVIII) sowie Moran, Dermot, Husserl’s Crisis of the European Sciences and Transcendental Phenomenology. An Introduction, Cambridge: Cambridge University Press, 2012.

87

Husserl 2012 [1936]: 3.

88

Ebd. 4.

89

Husserl 2012 [1936]: 5.

90

Ebd. 5 f.

91

Husserl 2012 [1936]: 6.

92

Ebd. 7.

93

Ebd. 8.

94

Ebd.

95

Ebd. 9.

96

Husserl 2012 [1936]: 11.

97

Ebd. 12.

98

Vgl. ebd. 9.

99

Ebd. 13.

100

Ebd.

101

Vgl. ausführlich zum bei Husserl prominent verhandelten Lebensweltbegriff und dessen Zentralstellung für Husserls gesamte Phänomenologie Dzwiza-Ohlsen, Erik Norman, Die Horizonte der Lebenswelt. Sprachphilosophische Studien zu Husserls ›erster Phänomenologie der Lebenswelt‹, Paderborn: Fink, 2019.

102

Vgl. Husserl 2012 [1936]: 6.

103

Ebd. 131.

104

Ebd. 134.

105

Ebd. 135.

106

Husserl 2012 [1936]: 138.

107

Ebd. 8.

108

Ebd. 9.

109

Ebd. 111 ff.

110

Vgl. ebd. 164 f.

111

Vgl. ebd. 277–286.

112

Ebd. 170.

113

In der Krisis-Schrift heißt es hierzu ausführlich: »Ich drücke das in etwa so aus: das reine Sehding, das Sichtbare ›vom‹ Ding, ist zunächst seine Oberfläche, und diese sehe ich im Wandel des Sehens einmal von dieser ›Seite‹ und einmal von jener, kontinuierlich wahrnehmend in immer wieder anderen Seiten. Aber in ihnen stellt sich für mich in einer kontinuierlichen Synthese die Oberfläche dar, jede ist bewußtseinsmäßig eine Darstellungsweise von ihr. Darin liegt: während sie aktuell gegeben ist, meine ich mehr, als sie bietet. Ich habe ja Seinsgewißheit von diesem Ding, dem alle Seiten zugleich eigen sind, und in dem Modus, wie ich es ›am besten‹ sehe. Jede Seite gibt mir etwas vom Sehding. Im kontinuierlichen Wandel des Sehens hört eben die gesehene Seite zwar auf, wirklich noch gesehen zu sein, aber sie wird ›behalten‹ und mit den von früher fortbehaltenen ›zusammengenommen‹, und so ›lerne‹ ich das Ding ›kennen‹. […] Ähnliches ist zu studieren in jeder Modalität sinnlichen Wahrnehmens (des tastenden, hörenden usw.) von demselben Ding. Im Wandel spielen sie alle, bald aussetzend, bald einsetzend, und zwar als Darstellung, ihre Rolle, sie bieten vielgestaltige Mannigfaltigkeiten von Darstellungen, Erscheinungen, deren jede eben als Darstellung von fungiert.« (Husserl 2012 [1936]: 170 f.)

114

Ebd. 171.

115

Ebd. 172.

116

Ebd.

117

Husserl 2012 [1936]: 9.

118

Ebd. 13.

119

Ebd. 6.

120

Ebd. 13.

121

Ebd. 9.

122

Ebd. 8.

123

Ebd. 9.

124

Vgl. Heidegger 1984 [1937/1938]: 53.

125

Vgl. zu Wittgensteins auf Staunen zulaufender Lektüre von Heideggers Sein und Zeit Kap. 9.3 Absolutes Staunen.

126

Soweit für mich ersichtlich, genießt das Er-staunen in der Heidegger-Forschung bisher ein eher schattenhaftes Dasein. Gleiches gilt für Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte ›Probleme‹ der ›Logik‹ im Allgemeinen. Nimmt man das Heidegger-Handbuch (hg. v. Dieter Thomä, Stuttgart: Metzler, 2013) als Bemessungsgrundlage für forschungsspezifische Schwerpunktsetzung, so fällt auf, dass die Grundfragen gar nicht und Staunen nur als Marginalie im Kontext anderer Themenkreise auftaucht. Auch im Heidegger-Lexikon wird das Er-staunen lediglich in drei Sätzen und mit Werkverweis, jedoch ohne qualitative Auseinandersetzung abgehandelt (vgl. Seubert, Harald, Heidegger-Lexikon, Paderborn: Fink, 2021, S. 134). Einschlägige Auseinandersetzungen finden sich nur vereinzelt. So etwa eine frühe Studie von Hansjürgen Verweyen (Ontologische Voraussetzungen des Glaubensaktes. Zur transzendentalen Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung, Düsseldorf: Patmos, 1969), eine mit Staunen verbundene Verhältnisbestimmung von Heidegger zur antiken Philosophie von Rainer Marten (»Heidegger und die Griechen«, in: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie, 23 (1993), S. 34–50) sowie eine dezidiert mit den Grundfragen zusammenhängende und das Er-staunen extrapolierende, jedoch sehr affirmative Auseinandersetzung von Klaus Held (»Krise der Gegenwart und Anfang der Philosophie. Zum Verhältnis von Husserl und Heidegger«, Studia Phaenomenologica, 3 [2003], S. 131–144, hier insb. S. 137–140).

127

Heidegger 1984 [1937/1938]: 53.

128

Ebd. 185. Ausführlich ist Heideggers berühmte Formulierung der Seinsvergessenheit bereits in seinem Hauptwerk Sein und Zeit angesprochen. Hierin heißt es mit Blick auf das fehlende Fundament der abendländischen Philosophie im Allgemeinen: »Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn vom Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert. Man sagt: ›Sein‹ ist der allgemeinste und leerste Begriff. Als solcher widersteht er jedem Definitionsversuch. Dieser allgemeinste und daher undefinierbare Begriff bedarf auch keiner Definition. Jeder gebraucht ihn ständig und versteht auch schon, was er je damit meint. Damit ist das, was als Verborgenes das antike Philosophieren in die Unruhe trieb und in ihr erhielt, zu einer sonnenklaren Selbstverständlichkeit geworden, so zwar, daß, wer danach fragt, einer methodischen Verfehlung bezichtigt wird.« (Heidegger 2006 [1927]: 2) Prominent ist diese Problematik u. a. auch im »Brief über den ›Humanismus‹« angesprochen. Hier heißt es, die Seinsvergessenheit ausgehend von Sein und Zeit vertiefend: »Die Seinsvergessenheit bekundet sich mittelbar darin, daß der Mensch immer nur das Seiende betrachtet und bearbeitet. Weil er dabei nicht umhin kann, das Sein in der Vorstellung zu haben, wird auch das Sein nur als das ›Generellste‹ und darum Umfassende des Seienden oder als eine Schöpfung des unendlichen Seienden oder als das Gemachte eines endlichen Subjekts erklärt. Zugleich steht von altersher ›das Sein‹ für ›das Seiende‹ und umgekehrt dieses für jenes, beide wie umgetrieben in einer seltsamen und noch unbedachten Verwechslung.« (Heidegger, Martin, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Wegmarken, Frankfurt am Main: Klostermann, 1976 [1946], S. 313–364, hier S. 339)

129

Eine genauere Bestimmung des prozessual im Vollzug des Sich-Ereignens gedachten Seynsbegriffs findet sich in Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Hierin heißt es: »Das Seyn west als das Zwischen für den Gott und den Menschen, aber so, daß dieser Zwischenraum erst dem Gott und dem Menschen die Wesensmöglichkeit einräumt, ein Zwischen, das seine Ufer überbrandet und aus der Brandung erst als Ufer erstehen läßt, immer zugehörig dem Strom des Er-eignisses, immer verborgen im Reichtum ihrer Möglichkeiten, immer das Herüber und Hinüber der unerschöpflichen Bezüge, in deren Lichtung Welten sich fügen und versinken, Erden sich erschließen und die Zerstörung dulden.« (Heidegger, Martin, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt am Main: Klostermann 1989 [1946], S. 476) Zur Differenz von ›Seyn‹ und ›Sein‹ vgl. ebd. S. 111 f. In den Grundfragen nimmt Heidegger diese Differenzierung nicht vor. In seiner Grundfragen-Vorlesung sind die Begriffe Substitute, ihr jeweiliger Gebrauch willkürlich. Wissend um die Differenzierung von Seyn und Sein, werde ich mich dieser Haltung anschließen, da eine Detaillektüre unter den Vorzeichen von Seyn und Sein auch für mein Anliegen der Profilierung des Er-staunens als krisenlösendes Moment keinen weiteren Mehrwert besitzt.

130

Heidegger 1984 [1937/1938]: 53.

131

Heidegger 1984 [1937/1938]: 54.

132

Ebd. 54.

133

Ebd. 54 f.

134

Ebd. 53.

135

Ebd. 158.

136

Heidegger 1984 [1937/1938]: 152.

137

Ebd.

138

Ebd. 153.

139

Ebd. 154.

140

Heidegger 1984 [1937/1938]: 156.

141

Ebd. 158.

142

Anlässlich des Dekaden-Kolloquiums in Cerisy-la-Salle – einer hoch renommierten Veranstaltung zur Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, an der u. a. Jean Beaufret und Paul Ricœur teilnahmen – greift Heidegger die Charakterisierung des Staunens als (Grund-)Stimmung wiederholt auf und setzt sie in das Zentrum seines bezeichnend mit »Was ist das – die Philosophie?« betitelten Eröffnungsvortrags. Darin sagte er, seine Gedanken aus den Grundfragen paraphrasierend: »Das πάθος des Erstaunens steht nicht einfach so am Beginn der Philosophie wie z.B. der Operation des Chirurgen das Waschen der Hände voraufgeht. Das Erstaunen trägt und durchherrscht die Philosophie. Aristoteles sagt dasselbe […][:] ›Durch das Erstaunen hindurch nämlich gelangten die Menschen jetzt sowohl als auch zuerst in den beherrschenden Ausgang des Philosophierens‹ (zu dem, von woher das Philosophieren ausgeht und was den Gang des Philosophierens durchgängig bestimmt). Es wäre sehr oberflächlich und vor allem ungriechisch gedacht, wollten wir meinen, Platon und Aristoteles stellten hier nur fest, das Erstaunen sei die Ursache des Philosophierens. Wären sie dieser Meinung, dann hieße das: irgendeinmal erstaunten die Menschen, nämlich über das Seiende, darüber, daß es ist und was es ist. Von diesem Erstaunen angetrieben, begannen sie zu philosophieren. Sobald die Philosophie in Gang gekommen war, wurde das Erstaunen als Anstoß überflüssig, so daß es verschwand. Es konnte verschwinden, da es nur ein Antrieb war. Aber: das Erstaunen ist άρχή – es durchherrscht jeden Schritt der Philosophie. Das Erstaunen ist πάθος. Wir übersetzen πάθος gewöhnlich durch Passion, Leidenschaft, Gefühlswallung. Aber πάθος hängt zusammen mit πάσχειν, leiden, erdulden, ertragen, austragen, sich tragen lassen von, sich bestimmen lassen durch. Es ist gewagt, wie immer in solchen Fällen, wenn wir πάθος durch Stimmung übersetzen, womit wir die Ge-stimmtheit und Be-stimmtheit meinen. Doch wir müssen diese Übersetzung wagen, weil sie allein uns davor bewahrt, πάθος in einem neuzeitlich-modernen Sinne psychologisch vorzustellen. Nur wenn wir πάθος als Stimmung (dis-posi-tion) verstehen, können wir auch das θαυμάζειν, das Erstaunen näher kennzeichnen. Im Erstaunen halten wir an uns (être en arrêt). Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, daß es ist und so und nicht anders ist. Auch erschöpft sich das Erstaunen nicht in diesem Zurücktreten vor dem Sein des Seienden, sondern es ist, als dieses Zurücktreten und Ansichhalten, zugleich hingerissen zu dem und gleichsam gefesselt durch das, wovor es zurücktritt. So ist das Erstaunen die Dis-position, in der und für die das Sein des Seienden sich öffnet. Das Erstaunen ist die Stimmung, innerhalb derer den griechischen Philosophen das Entsprechen zum Sein des Seienden gewährt war.« (Heidegger, Martin, »Was ist das – die Philosophie«, in: Identität und Differenz, Frankfurt am Main: Klostermann, 2006 [1955], S. 7–26, hier S. 22 f.)

143

Heidegger 1984 [1937/1938]: 157.

144

Heidegger 1984 [1937/1938]: 157.

145

Ebd. 163.

146

Ebd. 162.

147

Ebd. 157 f.

148

Ebd. 158.

149

Ebd.

150

Heidegger 1984 [1937/1938]: 164.

151

Ebd.

152

Ebd.

153

Ebd. 165.

154

Ebd. 165 f.

155

Heidegger 1984 [1937/1938]: 156.

156

Ebd. 166.

157

Ebd.

158

Ebd.

159

Ebd. 167.

160

Ebd. 168.

161

Ebd. 169.

162

Heidegger 1984 [1937/1938]: 158.

163

Ebd. 169.

164

Ebd. 175.

165

Ebd. 176.

166

Ebd. 177.

167

Ebd.

168

Ebd. 178.

169

Ebd.

170

Ebd. 158.

171

Ebd. 177.

172

Heidegger 1984 [1937/1938]: 178.

173

Ebd. 179.

174

Ebd.

175

Ebd. 53.

176

Heidegger 1984 [1937/1938]: 158.

177

Ebd. 53.

178

Vgl. ebd. 163.

179

Vgl. ebd. 169.

180

Vgl. Platon Pol. 514A–517B.

181

Vgl. Heidegger 1984 [1937/1938]: 181.

182

Vgl. zu Heideggers Lesarten des Höhlengleichnisses Heidegger, Martin, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, Frankfurt am Main: Klostermann, 1988 [1932]; sowie ders.: »Platons Lehre von der Wahrheit«, in: Wegmarken (1919–1961), Frankfurt am Main: Klostermann, 1976 [1940], S. 203–238.

183

Vgl. zu den biografischen und intellektuellen Verwebungen von Heidegger und Arendt Grunenberg, Antonia, Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München: Piper, 2008.

184

Hierzu Knott: »So wirkt Vita activa auf den ersten Blick wie eine systematische Analyse, die aus einer systematischen Fragestellung heraus entstanden ist. Die komplexe Entstehungsgeschichte zeigt jedoch, dass das Buch ursprünglich nicht als phänomenologische Analyse der menschlichen Tätigkeiten angelegt ist, sondern sich erst langsam aus Arendts Überlegungen im Anschluss an Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [The Origins of Totalitarianism, TH] herauskristallisiert. Der Ausgangspunkt ist dabei ein theoretisches Defizit der Totalitarismusanalyse […][.] Aus dem veröffentlichten Text der Vita activa geht der enge Zusammenhang mit dem ursprünglichen Forschungsprojekt nicht mehr eindeutig hervor. Arendt fragt hier nicht mehr unmittelbar nach den Ursprüngen des Totalitarismus, sondern viel allgemeiner nach dem Verfall des Politischen im Zusammenhang mit dem Aufstieg der modernen Massengesellschaft.« (Knott, Marie Luise, »The Human Condition/Vita activa oder Vom tätigen Leben«, in: Arendt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Bernd Heiter, Stefanie Rosenmüller und Wolfgang Heuer, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2011, S. 61–70, hier S. 61 f.)

185

Vgl. zur Gesamtcharakteristik von Arendts (politischem) Denken sowie einer intellektuellen Einordnung in die Zwischenkriegszeit Rebentisch, Juliane, Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt, Berlin: Suhrkamp, 2022.

186

Arendt 1981 [1958]: 13.

187

Ebd. 9.

188

Arendt 1981 [1958]: 9.

189

Ebd. 8.

190

Ebd. 10.

191

Ebd.

192

Arendt 1981 [1958]: 10 f.

193

Vgl. zur Antikenrezeption und dem Polis-Gedanken in Arendts Werk allgemein Piepenbrink, Karen, »Zur Rezeption der griechischen Polis bei Hannah Arendt«, in: Antike und Abendland, 1 (2022), S. 149–172.

194

Arendt 1981 [1958]: 287.

195

Arendt 1981 [1958]: 14 ff.

196

Ebd. 186.

197

Ebd. 190.

198

Ebd. 191.

199

Ebd. 220.

200

Ebd.

201

Ebd. 295.

202

Ebd.

203

In Arendts posthum erschienenem Aufsatz Philosophie und Politik (1993) ist dieser Gedanke einer auf Staunen aufbauenden Politik bzw. dezidiert einer auf Staunen aufbauenden politischen Theorie umfänglich ausgearbeitet. Thaumázein wird hierin als fundamentale Kategorie einer aus ethischen Prämissen abgeleiteten Organisation von Gesellschaft vorgeschlagen. Historisch argumentierend, sieht sie mit der Verurteilung des Sokrates eine Trennung von Philosophie und Politik angezeigt. Der Polis-Gedanke, in dem eine auf Staunen basierende Philosophie das politische Zusammenleben organisierte, zerfällt. Philosophie und Politik werden zwei voneinander unabhängige Felder. In der Rückbesinnung auf diese durch die Polis vorformulierte Koinzidenz von Staunen, Philosophie und Politik sieht Arendt einen Ausweg aus der von ihr kritisierten Massengesellschaft, da jene die Pluralität eines jeden Menschen wahrnimmt und ernst nimmt: »Philosophie, politische Philosophie und alle ihre anderen Zweige werden nie ihren Ursprung im thaumadzein, in dem Staunen über das, was ist, wie es ist, leugnen können. Wenn die Philosophen trotz ihrer notwendigen Entfremdung von dem Alltagsleben der menschlichen Angelegenheiten jemals zu einer wahren politischen Philosophie gelangen sollten, müssten sie die Pluralität des Menschen, aus dem der ganze Bereich der menschlichen Angelegenheiten entsteht – in ihrer Größe und ihrem Elend – zum Gegenstand ihres thaumadzein machen. Biblisch gesprochen, würden sie so, wie sie im sprachlosen Staunen das Wunder des Universums, des Menschen und des Seins akzeptieren, das Wunder akzeptieren müssen, daß Gott nicht DEN Menschen schuf, sondern ›er schuf einen Mann und ein Weib‹.« (Arendt, Hannah, »Philosophie und Politik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2 [1993], S. 381–400, hier: S. 400) Zusammenfassend: Die Theorie einer pluralen Gesellschaft ist aus Motiven des Staunens zu begründen.

204

Arendt 1981 [1958]: 281.

205

Arendt 1981 [1958]: 267.

206

Ebd. 269.

207

Ebd. 277.

208

Ebd. 287.

209

Ebd. 290.

210

Ebd. 294.

211

Ebd. 298.

212

Ebd.

213

Ebd. 299.

214

Arendt 1981 [1958]: 299.

215

Ebd. 301.

216

Ebd. 314.

217

Arendt 1981 [1958]: 314 f.

218

Ebd. 316.

219

Vgl. Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München: Piper, 1964.

220

Vgl. zur Rezeption, zu thematischen Verweisen und der Entstehung dieser Artikelserie im Merkur (I. Der Bucklige, II. Die finsteren Zeiten, III. Der Perlentaucher, alle 1968 [Nr. 238, 239, 240]) ausführlich Geulen, Eva, »Bucklicht Männlein. Hannah Arendts Benjamin-Porträt«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 878 (2022), S. 41–53.

221

Vgl. zur Freundschaft von Arendt und Benjamin ausführlich Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, hg. v. Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, hier insb. S. 11–44.

222

Arendt 1968a: 212.

223

Arendt 1968b: 50 f.

224

Benjamin 1991a [1912]: 20.

225

Benjamin 1978 [1930]: 519.

226

Benjamin 1991b [1931]: 288.

227

Benjamin 1991c [ca. 1934]: 637.

228

Benjamin 1991d [1936]: 498.

229

Benjamin 1991e [1939]: 645.

230

Benjamins geschichtsphilosophische Thesen avancierten bereits in der frühen Benjamin-Forschung zu einer für alle möglichen Zusammenhänge herangezogenen Spezialdisziplin. Ob religiös, politisch, philosophisch oder historiografisch motiviert: Über den Begriff der Geschichte gibt für viele Funktionalisierungsweisen Anlass. So widmete beispielsweise Benjamins Freund Scholem den Thesen und dem darin vorkommenden ›Engel der Geschichte‹ eine große Anzahl von Aufsätzen und kleineren Beiträgen (vgl. Scholem, Gershom, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983), in Folge der 68er-Bewegung sind die aus viel linker Prominenz zusammengestellten Beiträge aus dem Sammelband Materialien zu Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Beiträge und Interpretationen (hg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975) zu nennen. Für eine umfassende Darstellung und Einordnung von Über den Begriff der Geschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungslage vgl. Vom Ende der Geschichte her. Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen, hg. v. Thomas Schröder und Jonas Engelmann, Mainz: Ventil, 2017. Dass all diese nahezu unüberschaubaren Vorarbeiten und Perspektiven im Kontext meiner an Überblick interessierten Darstellung der Krisennarrative der Zwischenkriegszeit 1918–1939 und deren Konnex mit Staunen ausgeklammert werden müssen, ist naheliegend und mit einem ökonomischen Argument zu unterstreichen.

231

Vgl. zur ›Zielgröße‹ Ästhetik bzw. zu einer anhand von Benjamins Aufsatz ›Was ist das epische Theater?‹ entwickelten ästhetischen Lektüre seines Begriffs von Staunen Gess 2019: 115–121.

232

Gagnebin 2011: 285.

233

Zu den historisch-biografischen Zusammenhängen und der Entstehungsgeschichte von Benjamins Über den Begriff der Geschichte vgl. ausführlich Eiland, Howard; Jennings, Michael W., Walter Benjamin. Eine Biographie, Berlin: Suhrkamp, 2020, S. 851–889.

234

Vgl. Marx, Karl, »Kritik des Gothaer Programms«, in: Marx/Engels Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 25, Berlin: Akademie Verlag, 1985 [1875], S. 515–559.

235

Benjamin 1991f [1940]: 698.

236

Ebd. 699.

237

Ebd.

238

Ebd.

239

Ebd.

240

Hierin heißt es u. a.: »Alle näheren menschlichen Beziehungen werden von einer fast unerträglichen durchdringenden Klarheit getroffen, in der sie kaum standzuhalten vermögen. Denn indem einerseits das Geld auf verheerende Weise im Mittelpunkt aller Lebensinteressen steht, andererseits gerade dieses die Schranke ist, vor der fast alle menschliche Beziehung versagt, so verschwindet wie im Natürlichen so im Sittlichen mehr und mehr das unreflektierte Vertrauen, Ruhe und Gesundheit.« (Benjamin 1991h [1926]: 96)

241

Benjamin 1991f [1940]: 698.

242

Ebd. 699.

243

Ebd.

244

Ebd.

245

Ebd. 702.

246

Benjamin 1991f [1940]: 704.

247

Ebd. 702.

248

Ebd. 696.

249

Ebd.

250

Ebd. 695.

251

Neu ist diese von Benjamin in Über den Begriff der Geschichte hier nur in groben Zügen umrissene und weiterhin mit Staunen und These VIII noch detailliert auszuarbeitende Argumentationslinie nicht. In ihrer Genese hat sie viele Vorläufer, Variationen und Parallelen; wobei es vor allem das Verdienst von Gess (2019: 115–121) ist, die vielen über das Werk verteilten Stränge freigelegt zu haben. Anhand der Lektüren von »Was ist das epische Theater?«, »Über einige Motive bei Baudelaire« und »Zum Bilde Prousts« arbeitet sie Benjamins Begriff von Staunen heraus und rückt diesen ausgehend von seinem Aufsatz über das epische Theater in die bei Benjamin prominent verhandelten Motivkreise ›Einfühlung‹, ›Schock‹, ›Eingedenken‹, ›mémoire involontaire‹, ›Jetzt der Erkennbarkeit‹, ›dialektisches Bild‹, ›Dialektik im Stillstand‹ und ›Stauung des Lebensflusses‹ – alles Schlagwörter aus Benjamins wechselseitig verknüpftem Verständnis von Ästhetik, Geschichts- und Gedächtnistheorie. Viele meiner im Folgenden angestellten Überlegungen laufen parallel zu den Lesarten von Gess oder tragen Gesichtspunkte ihrer Ausführungen implizit in sich. Bei aller erhellenden und werkumspannenden Lektüre fällt jedoch auf, dass sie, obwohl auch auf Über den Begriff der Geschichte (vgl. 117 f.) eingehend, These VIII in ihrer Argumentation ausspart. Meine folgende, textimmanent und ohne Verweise auf andere Werkgruppierungen argumentierende Lektüre von Über den Begriff der Geschichte und dem hier angesprochenen Staunen möchte diese Lücke schließen. Sie sieht sich entsprechend als Ergänzung zum Unternehmen von Gess, Staunen innerhalb Benjamins Werk als eigenständigen Motivkreis zu etablieren.

252

Benjamin 1991f [1940]: 701.

253

Ebd. 703, 704.

254

Ebd. 697.

255

Ebd. 693 f.

256

Ebd. 700.

257

Ebd. 701.

258

Ebd. 700.

259

Vgl. zur Sprengmetaphorik bei Wittgenstein Kap. 5.1 Fragestellung und These und Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis.

260

Vgl. Benjamin 1991f [1940]: 697 f. Zur Genese und den verschiedenen metaphorischen Leistungen des Engels in Benjamins Gesamtwerk vgl. ausführlich Zschunke, Lena, Der Engel in der Moderne. Eine Figur zwischen Exilgegenwart und Zukunftsvision, Berlin/Boston: De Gruyter, 2022, S. 149–229.

261

Benjamin 1991f [1940]: 697.

262

Vgl. Matuschek 1991: 11.

263

Benjamin 1991f [1940]: 697.

264

Soweit ersichtlich, ist Weigel die Einzige, die dem Staunen als geschichtsphilosophischer Kategorie in Über den Begriff der Geschichte überhaupt nachgegangen ist. In einer nicht wie von mir intendierten systematischen, sondern komparatistisch motivierten Perspektive stellt sie Benjamins nachphilosophisches Staunen als Heuristik in Bezug auf Adorno und Bachmann vor. »Dabei geht es um die Grenzen der (Geschichts-)Philosophie angesichts jenes durch die Shoah markierten Zivilisationsbruches und um den textuellen Ort jener Reste, die sich der Rationalität entziehen.« (Weigel 1996: 120)

265

Weigel 1996: 121.

266

Benjamin 1991f [1940]: 703.

267

Ebd. 700.

268

Ebd. 702.

269

Ebd. 702 f.

270

Vgl. ebd. 701 f.

271

Weigel 1996: 121.

272

Benjamin 1991f [1940]: 703.

273

Ebd.

274

Benjamin 1991f [1940]: 704.

275

Ebd. 703.

276

Die wohl ausführlichste Studie zu Benjamins Jetztzeit hat Giorgio Agamben vorgelegt. Ausgehend von Benjamins Konvolut ›N‹ im Passagen-Werk und der hierin geäußerten Haltung, dass es die höchste Kunst und sein eigenes Programm sei, »ohne Anführungszeichen zu zitieren« (Benjamin 1991c: 572), belegt Agamben mit Jacob Taubes, vor allem aber mit Benjamins Freund Gershom Scholem, dass Benjamins Jetztzeit als Synonym für die messianische Zeit ein unmarkierter Verweis auf Paulus und dessen Brief an die Römer (55/56 n. Chr.) ist (vgl. S. 153–162). Dieser, so Agamben, habe in den Römerbriefen mit nyn kairos ein Konzept der Jetztzeit (messianischen Zeit) vorgelegt, das Benjamin in Über den Begriff der Geschichte in hohem Maß adaptierte. Paulus versteht laut Agamben unter der Jetztzeit Folgendes: »Es gibt zuallererst die profane Zeit, auf die sich Paulus gewöhnlich mit dem Ausdruck chronos bezieht und die sich von der Schöpfung bis zum messianischen Ereignis (das für Paulus nicht die Geburt Jesu, sondern seine Auferstehung ist) erstreckt. Mit diesem Ereignis beginnt die Zeit sich zusammenzuziehen und zu enden. Diese zusammengedrängte Zeit, auf die sich Paulus mit dem Ausdruck ho nyn kairós, die ›Jetztzeit‹, bezieht, dauert bis zur parousía, bis zur vollständigen Anwesenheit des Messias, die mit dem Tag des Zorns und dem Ende der Zeit […] zusammenfällt. Hier explodiert die Zeit, oder vielmehr: sie implodiert in einen anderen Äon, die Ewigkeit.« (S. 76) Die Jetztzeit ist bei Paulus also nicht das Ende der Zeit, sondern eine Zwischenstufe: eine Etappe hin zur Ewigkeit. Sie ist der Beginn einer neuen Zeitrechnung, nicht jedoch deren Verwirklichung. In einer dezidierten Skizzierung der Jetztzeit – und eben hier werden Benjamins Verwendung von Jetztzeit (s. o.) und der von Paulus ausgehende Einfluss am ersichtlichsten – heißt es bei Agamben weiterhin: In der Jetztzeit des Paulus wird »die Vergangenheit in die Gegenwart verschoben und die Gegenwart in die Vergangenheit ausgedehnt. […] [D]ie messianische Zeit [ist] weder das Abgeschlossene noch das Unabgeschlossene, weder die Vergangenheit noch die Zukunft, sondern deren Inversion. Bei Paulus drückt die typologische Beziehung genau diese konverse Bewegung aus: Sie ist ein Spannungsfeld, in dem die beiden Zeiten zu einer Konstellation zusammengedrängt werden, die der Apostel den nyn kairos nennt: In ihr gewinnt die Vergangenheit (das Abgeschlossene) wieder Aktualität und wird unabgeschlossen, während die Gegenwart (das Unabgeschlossene) eine Art von Abgeschlossenheit erfährt.« (Agamben, Giorgio, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zu den Römerbriefen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 88 f.)

277

Benjamin 1991f [1940]: 702.

278

Ebd. 703.

279

Ebd. 699.

280

Vgl. ebd. 694 f., 704.

281

Vgl. ebd. 694 f., 700 f.

282

So heißt es u. a. in Zur Kritik der politischen Ökonomie: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schooß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Proceß ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.« (Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx/Engels Gesamtausgabe, Abt. 2, Bd. 2, Berlin: Dietz, 1980 [1859], S. 95–245, hier S. 101) Wie von Benjamin am Historismus kritisiert, denkt also auch Marx mit dem von ihm vorgeschlagenen Theorem des historischen Materialismus Geschichte als einen in Epochen untergliederten Fortschritt. Hierzu Mäder: »Denn selbstverständlich ist auch die Marxsche Geschichtsauffassung – der sich darauf berufende Historische Materialismus sowieso – in ihrer formalen Konzeption von Entwicklung schon deshalb eine lineare Auffassung, weil sie eine evolutionäre Gesellschaftsentwicklung auf erweiterter Stufenleiter von relativ primitiven Ursprüngen zu immer komplexeren Verhältnissen voraussetzt.« (Mäder, Denis, Fortschritt bei Marx, Berlin: Akademie Verlag, 2010, S. 15)

283

Scholem in Bloch 1922: 54.

284

Vgl. Benjamin, Walter, Gesammelte Briefe, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 469; ebd., Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 61.

285

Vgl. Benjamin, Walter, »Protokolle zu Drogenversuchen«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 560–570.

286

Vgl. Benjamin 1978: 231–234; sowie Bloch, Ernst, »Revueform in der Philosophie«, in: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1962 [1928], S. 368–317.

287

Benjamin 1978: 219. Vgl. ausführlich zu Benjamins Lektüren und Überlegungen zu Geist der Utopie Eidam, Heinz, Strumpf und Handschuh. Der Begriff der nichtexistenten und die Gestalt der unkonstruierbaren Frage. Walter Benjamins Verhältnis zum »Geist der Utopie« Ernst Blochs, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992.

288

Vgl. Bloch, Ernst, »Hoffen, doppeltes Dunkel an sich, Staunen, zentrales Inkognito, Ding für uns«, in: Philosophische Aufsätze zur Phantasie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, S. 144–158.

289

Vgl. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986 [1959], insb. S. 350–364.

290

Vgl. Bloch, Ernst, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1963, insb. S. 15–20.

291

Gess 2019: 89 f.

292

Vgl. als ersten Ansatz für dieses Unternehmen Gess 2019: 89–94.

293

Vgl. ebd. 95–102.

294

Vgl. Münster 2012: 70.

295

Vgl. zum historischen Hintergrund ausführlich Ullrich, Volker. Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München: Beck, 2022.

296

Bloch 1985 [1918/1923]: 11.

297

Gess weist darauf hin, dass Blochs Rede von der sozialistischen Gesellschaft im weiteren Verlauf von Geist der Utopie zunehmend in den Hintergrund rückt. Was in der Absichtserklärung nominell noch angezeigt ist und ein politisches Theorem erwarten lässt, verschiebt sich zunehmend in eine Abhandlung über den an Innerlichkeit und Transzendenz interessierten Utopiebegriff. Hierzu Gess: »Der Geist der Utopie speist sich aus der Hoffnung auf eine kommende sozialistische Revolution. Es wäre also zu erwarten, dass es sich bei diesem Buch um ein politisches Manifest handelt, das sich an materialistisch-marxistischer Theorie orientiert. Doch im Gegenteil verhält sich der Politikentwurf des Geist der Utopie erstaunlich anti-politisch und auch anti-materialistisch, indem er sich der Innerlichkeit und transzendenten Kategorien zuwendet […].« (Gess 2019: 93) Vor diesem Hintergrund werde auch ich Blochs Rede von der sozialistischen Gesellschaft im weiteren Verlauf meiner Überlegungen nicht weiter thematisieren und den sehr allgemein gehaltenen Utopiebegriff ohne politische Implikationen in den Vordergrund stellen.

298

Bloch 1985 [1918/1923]: 11.

299

Ebd.

300

Ebd. 11 f.

301

Bloch 1985 [1918/1923]: 12 f.

302

Ebd. 13.

303

Ebd. Vgl. zum bei Bloch prominent verhandelten Utopiebegriff ausführlich Zudeick, Peter, »Utopie«, in: Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, hg. v. Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann, Berlin: De Gruyter, 2012, S. 633–664.

304

Bloch 1985 [1918/1923]: 13.

305

Ebd. 209.

306

Ebd. 212.

307

Bloch 1985 [1918/1923]: 212. Vgl. zum Christus-Motiv in Geist der Utopie Gess 2019: 92 f.; ferner die weitreichende, werkumspannende Studie von Jürgen Moltmann, der Bloch »nicht nur als Philosophen mit religiösem Interesse […], sondern auch als jüdisch-christlichen, d. h. messianischen Bibeltheologen« (S. 6) ernst nimmt. Moltmann verfolgt werkübergreifend, ausgehend von Geist der Utopie und dem hier abschließend angebrachten ›Christusimpuls‹, Blochs Messianismus, seine messianische Deutung des Atheismus, seine apokalyptischen Begriffe und seine, wie er es nennt, Christologie nach vorn (vgl. Moltmann, Jürgen, »Ernst Blochs Christologie«, in: Evangelische Theologie, 1 [2004], S. 5–19).

308

Bloch 1985 [1918/1923]: 213.

309

Ebd. 216 f.

310

Bloch 1985 [1918/1923]: 13.

311

Ebd. 236.

312

Zur inhaltlichen und stilistischen Nähe von Geist der Utopie und dem literarischen Expressionismus vgl. Münster 2012: 87–105.

313

Bloch 1985 [1918/1923]: 237 f.

314

Ebd. 238.

315

Bloch 1985 [1918/1923]: 241.

316

Ebd. 243.

317

Ebd.

318

Ebd. 241 f.

319

Vgl. hierzu vertiefend Zeilinger, Doris, »Latenz«, in: Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, hg. v. Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann, Berlin: De Gruyter, 2012, S. 232–242.

320

Bloch 1985 [1918/1923]: 243.

321

Ebd. 244.

322

Ebd.

323

Ebd. 243.

324

Bloch 1985 [1918/1923]: 244.

325

Ebd. 243.

326

Ebd. 254.

327

Ebd. 243.

328

Ebd.

329

Ebd. 256.

330

Ebd. 253.

331

Ebd. 255.

332

Bloch 1985 [1918/1923]: 255 f.

333

Ebd. 255.

334

Ebd. 186. Vgl. zu Blochs vornehmlich an Freiheit und nicht an einen Ort oder eine Person gekoppeltes Verständnis von Heimat weiterführend Koch, Gerd, »Heimat«, in: Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, hg. v. Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer Zimmermann, Berlin: De Gruyter, 2012, S. 168–189, insb. S. 175 f.

335

Bloch 1985 [1918/1923]: 13.

336

Ebd. 236.

337

Bloch 1985 [1918/1923]: 259 f.

338

Ebd.

339

Blumenberg 2001a: 140 ff.

340

Bloch 1985 [1918/1923]: 260.

341

Ebd. 243.

342

Ebd. 254.

343

Ebd. 255.

344

Ebd. 13.

345

Ebd. 12.

346

Bloch 1985 [1918/1923]: 253.

347

Ebd. 255.

348

Ebd. 244 f.

349

Husserl 2012 [1936]: 9.

350

Heidegger 1984 [1923/1937]: 53.

351

Ebd. 178.

352

Benjamin 1991f [1940]: 703.

353

Bloch 1985 [1918/1923]: 13.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12