Kapitel 4 Ludwig Wittgenstein und die »Krankheit einer Zeit«

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Dieses als Überleitung konzipierte Kapitel verfolgt im Anschluss an das mit Foucault und Koselleck begründete Rahmentheorem ›Krise als Wissensunordnung‹354 und die darauf aufbauende Auseinandersetzung mit den jeweiligen Theoremen der Diskursbegründer:innen zwei Ziele: Zum einen geht es um ein Referat von Wittgensteins Ordnungsbegriff, auf den in den thematischen Diskussionen im weiteren Verlauf der Arbeit implizit zurückgegriffen wird, und zum anderen um eine Betrachtung des Krisen-Topos bei Wittgenstein. Diese zweigliedrige Vorgehensweise gewährleistet nicht nur die theoretisch-thematische Kontinuität innerhalb der Zwischenkriegszeit, sondern dient vor allem auch als Vorbereitung meiner inhaltlichen Vertiefung von Wittgensteins Begriffen und Semantiken von Staunen in Teil II.

Inmitten der Kriegshandlungen des mit der Julikrise 1914 beginnenden Ersten Weltkriegs heißt es in einem Tagebucheintrag Wittgensteins vom 1. Juni 1915: »Das große Problem, um welches sich alles dreht, was ich schreibe, ist: Ist, a priori, eine Ordnung in der Welt, und wenn ja, worin besteht sie?« (TB S. 145) Die Antwort auf diese stilisierte, Wittgensteins gesamtes Schaffen begründende Frage findet sich wenig später in der Druckfassung des Tractatus logico-philosophicus von 1922. Darin heißt es: »Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori.« (TLP 5.634) Für Wittgenstein ist jede Konzeption eines ob nun theologisch, philosophisch, politisch oder empirisch begründeten ordo rerum mit atemporalem Charakter ungültig. Die Ordnung der Dinge kann so, sie kann aber auch anders sein. Darstellungen von metaphysischen Ideenhimmeln oder einem göttlichen Plan seien spekulativ und deshalb zurückzuweisen.

Für Wittgenstein erfüllen Ordnungen von Dingen keine metaphysische, sondern eine rein praktische Funktion. Sein Ordnungsbegriff ist im alltäglichen Vollzug des Lebens verankert. In den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, also rund 25 Jahre nach seinen ersten Überlegungen zur Ordnung im Tagebuch, heißt es: »Die Unordnung – möchte ich sagen – wird zu praktischen, nicht zu theoretischen Zwecken vermieden.« (BGM S. 214) Als Vermeidung von Unordnung steht die Ordnung von Dingen also unter pragmatischen Vorzeichen. Sie gibt Handlungssicherheit. Unordnung bedingt Unwegsamkeiten und Widerstände im Lebensvollzug, Ordnung eine Orientierung, die sich im Lebensvollzug bewährt hat:

Eine Ordnung wird eingeführt, weil man ohne sie üble Erfahrungen gemacht hat – oder auch, sie wird eingeführt wie die Stromlinienform bei Kinderwagen und Lampen, weil sie sich etwa irgendwo anders bewährt hat und so der Stil oder die Mode geworden ist. (BGM 83)

Was aber, wenn Stil und Mode von gestern heute nicht mehr akzeptabel sind? Was, wenn sich eine Ordnung nicht mehr bewährt? Was, wenn eine bestehende Ordnung keine Orientierung mehr gibt? Was, wenn eine Ordnung zur Unordnung wird oder eine Ordnung in eine Krise gerät?

Hieran anschließend und im Übergang zu Teil II bei Ludwig Wittgenstein von dem Krisennarrativ im Sinne einer inhaltlich zusammenhängenden Erzählung zu sprechen, ist problematisch. Was seinen an Kürze und Prägnanz orientierten Stil355 angeht, ist vielmehr von unterschiedlichen Mikronarrativen mit aphoristisch-sentenziösem Charakter zu sprechen. Verteilt über das Gesamtwerk und in allen Schaffensperioden finden sich Versatzstücke, die ›Krise‹ in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit verschiedenem Vokabular ausformulieren: So ist in einer Gesprächsnotiz aus dem ›Wiener Kreis‹ zum Beispiel die Rede von »unsere[r] halbverfaulte[n] Kultur« (WWK S. 142); in einem vermutlich an seine Schwester Hermine adressierten Brieffragment heißt es: »Mit dem Anfang des 19 Jahrh. (des geistigen) ist die Menschheit an die Grenze der abendl. Kultur gestoßen. Und nun stellt sich die Säure ein« (LUS S. 45), und in den Vermischten Bemerkungen: »Es ist z. B. nicht unsinnig, zu glauben, daß das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; daß die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist […].« (VB S. 529) Auch für Wittgenstein ist die ihn umgebende Kultur mit ihren dazugehörigen Ordnungsregistern nur noch in Schwundstufen erhalten. Auch für ihn herrscht »The Great Disorder«356.

Am ausführlichsten ist Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Krisen-Topos in einer alternativen Fassung des Vorworts zu den Philosophischen Bemerkungen357 von 1930 formuliert:

Dieses Buch ist für diejenigen geschrieben, die dem Geist, in dem es geschrieben ist, freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist, glaube ich, ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation. Der Geist dieser Zivilisation, dessen Ausdruck die Industrie, Architektur, Musik, der Faschismus und Sozialismus unserer Zeit ist, ist dem Verfasser fremd und unsympathisch. Dies ist kein Werturteil. Nicht, als ob er glaubte, daß was sich heute als Architektur ausgibt, Architektur wäre, und nicht, als ob er dem, was moderne Musik heißt, nicht das größte Mißtrauen entgegenbrächte (ohne ihre Sprache zu verstehen), aber das Verschwinden der Künste rechtfertigt kein absprechendes Urteil über eine Menschheit. Denn echte und starke Naturen wenden sich eben in dieser Zeit von dem Gebiet der Künste ab, und anderen Dingen zu, und der Wert des Einzelnen kommt irgendwie zum Ausdruck. Freilich nicht wie zur Zeit einer großen Kultur. Die Kultur ist gleichsam eine große Organisation, die jedem, der zu ihr gehört, seinen Platz anweist, an dem er im Geist des Ganzen arbeiten kann, und seine Kraft kann mit großem Recht an seinem Erfolg im Sinne des Ganzen gemessen werden. Zur Zeit der Unkultur aber zersplittern sich die Kräfte und die Kraft des Einzelnen wird durch entgegengesetzte Kräfte und Reibungswiderstände verbraucht, und kommt nicht in der Länge des durchlaufenen Weges zum Ausdruck, sondern vielleicht nur in der Wärme, die er beim Überwinden der Reibungswiderstände erzeugt hat. Aber Energie bleibt Energie, und wenn so das Schauspiel, das dieses Zeitalter bietet, auch nicht das des Werdens eines großen Kulturwerkes ist, in dem die Besten dem gleichen großen Zweck zuarbeiten, sondern das wenig imposante Schauspiel einer Menge, deren Beste nur privaten Zielen nachstreben, so dürfen wir nicht vergessen, daß es auf das Schauspiel nicht ankommt.

Ist es mir so klar, daß das Verschwinden einer Kultur nicht das Verschwinden menschlichen Wertes bedeutet, sondern bloß gewisser Ausdrucksmittel dieses Werts, so bleibt dennoch die Tatsache bestehen, daß ich dem Strom der europäischen Zivilisation ohne Sympathie zusehe, ohne Verständnis für die Ziele, wenn sie welche hat. Ich schreibe also eigentlich für Freunde, welche in Winkeln der Welt verstreut sind.

Ob ich von dem typischen westlichen Wissenschaftler verstanden oder geschätzt werde, ist mir gleichgültig, weil er den Geist, in dem ich schreibe, doch nicht versteht. Unsere Zivilisation ist durch das Wort ›Fortschritt‹ charakterisiert. Der Fortschritt ist ihre Form, nicht eine ihrer Eigenschaften, daß sie fortschreitet. Sie ist typisch aufbauend. Ihre Tätigkeit ist es, ein immer komplizierteres Gebilde zu konstruieren. Und auch die Klarheit dient doch nur wieder diesem Zweck und ist nicht Selbstzweck. Mir dagegen ist die Klarheit, die Durchsichtigkeit, Selbstzweck. (VB S. 458 f.)

Abgesehen von der sich durch den ganzen Text ziehenden Rhetorik der Selbststilisierung fällt zu Beginn der Sequenz zunächst Wittgensteins Distanznahme auf, die sich auf alle gesellschaftlich-kulturellen Felder erstreckt. Egal ob Organisations- und Produktionsformen in »Industrie, Architektur, Musik, der Faschismus und Sozialismus« – der »Geist [seiner] Zivilisation«, der »Strom der europäischen Zivilisation« ist Wittgenstein fremd. Für ihre »Ziele, wenn sie welche hat«, kann er kein Verständnis aufbringen. Er konstatiert eine »Zeit der Unkultur«358, in der »sich die Kräfte [zersplittern] und die Kraft des Einzelnen […] nur privaten Zielen nachstreb[t]«. Seine Gegenwartsdiagnose zeichnet das Bild der Zerfaserung, das Nebeneinanderher von Egoismen, in dem niemand einem »großen Kulturwerk[]« und einem »gleichen großen Zweck zuarbeite[t]«.

Dieser Generalabrechnung bzw. -ablehnung setzt Wittgenstein das Ideal der »großen Kultur« entgegen. Als Gegenentwurf zur bestehenden Kultur zeichnet sich diese durch eine organische Ordnung aus, in der jeder Mensch sein Denken und Tun in einem kollektiven Gemeinwohl einbringt. Der Kulturbegriff Wittgensteins orientiert sich an einer sozialen Entität:

Die Kultur ist gleichsam eine große Organisation, die jedem, der zu ihr gehört, seinen Platz anweist, an dem er im Geist des Ganzen arbeiten kann, und seine Kraft kann mit großem Recht an seinem Erfolg im Sinne des Ganzen gemessen werden. (VB S. 458)

Obschon in diesem Ideal gewiss der antike Polis-Gedanke anklingt und auch Strukturen der mittelalterlichen Ständegesellschaft durchscheinen, gibt Wittgensteins assoziatives Denken keine Antwort darauf, wer oder was hier als ordnende Instanz auftritt, wer oder was die »große Organisation« leitet und wer oder was jedem »seinen Platz anweist«. Seine Ausführungen zur »großen Kultur« bleiben Fragment.

Dessen ungeachtet wechselt er im letzten der hier angeführten Abschnitte von der globalen in eine dezidiert wissenschaftskritische Perspektive und greift den Fortschrittsbegriff des im Kollektivsingular angesprochenen »typischen westlichen Wissenschaftler[s]« an. Fortschritt, so Wittgenstein, meint eine »Form, nicht eine […] Eigenschaft[]« mit qualitativem Aussagewert. Der Irrtum der Wissenschaft besteht für ihn darin, dass sie das eine mit dem anderen gleichsetze: Die Anhäufung und das Aufeinander-Aufbauen von Wissen sowie das Konstruieren von »immer komplizierter[] [werdenden] Gebilde[n]« seien eine progressive Form von Wachstum. Qualitativ sagt dieser formale Fortschritt laut Wittgenstein jedoch nichts darüber aus, wie fortschrittlich eine Gesellschaft ist und in welchem Zustand sie sich befindet. Es gebe hier keine natürliche Korrelation oder eine parallel verlaufende Wachstumskurve. Fortschritt als Form und Fortschritt als Eigenschaft seien nicht aneinandergekoppelt. Welche Position Wittgenstein hierbei einnimmt, ist eindeutig: Seine Zeit möge viele Innovationen und viel Wissen hervorbringen, die Eigenschaft ›fortschrittlich‹ besitze sie jedoch nicht.

Zu diesem Irrtum trete noch ein weiterer Aspekt hinzu: Der wissenschaftliche Fortschritt und die damit verbundene Anhäufung von Wissen machen die Welt Wittgenstein zufolge nicht verständlicher. Im Gegenteil: Die »komplizierter[] [werdenden] Gebilde« bedingen für ihn keine »Klarheit«, sondern Unklarheit; anstatt »Klarheit, die Durchsichtigkeit«, eine vernebelte Masse an wissenschaftlicher Erkenntnis. Oder im Anschluss an meine Ausführungen zur Wissensordnung: Wissenschaftlicher Fortschritt in all seinem Spezialistentum häuft Wittgenstein zufolge so viel Wissen an, dass eine vereinheitlichende Ordnung nicht mehr herzustellen sei; Wissensunordnung entstehe. Was Wittgenstein zur Organisation der Kultur im ersten Abschnitt sagt, scheint als indirekte Forderung nun auch für den unübersichtlichen Zuwachs von Wissen im Raum zu stehen: Es fehle der »Geist des Ganzen«.

Neben dieser assoziativ-programmatischen Variante des Vorworts zu den Philosophischen Bemerkungen ist vor allem folgender Aphorismus aus den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik von 1938 hervorzuheben:

Die Krankheit einer Zeit heilt sich durch eine Veränderung in der Lebensweise der Menschen und die Krankheit der philosophischen Probleme konnte nur durch eine veränderte Denkweise und Lebensweise geheilt werden, nicht durch eine Medizin die ein einzelner erfand. Denke, daß der Gebrauch des Wagens gewisse Krankheiten hervorruft und begünstigt und die Menschheit von dieser Krankheit geplagt wird, bis sie sich, aus irgendwelchen Ursachen, als Resultat irgendeiner Entwicklung, das Fahren wieder abgewöhnt. (BGM 23)

Der literarische, zweigliedrige Aphorismus – die für Wittgenstein typische Adressatenansprache »Denke« leitet den zweiten Teil ein – ruft im Passus »Krankheit einer Zeit« zunächst die mit Koselleck ausgeführte etymologische Verzahnung von ›krínein‹ und Krankheit359 auf (s. o.); eine Pauschaldiagnose, der Wittgenstein in direkter Folge eine Therapieform entgegenstellt: Wer die »Krankheit einer Zeit« heilen wolle, müsse in Dingen des gewöhnlichen Lebens wie in philosophischen Belangen die »Denkweise und Lebensweise« der Menschen ändern. Hier gebe es keine ›Medizin‹, welche, verabreicht und konsumiert, die – nicht weiter benannten – Krisensymptome auflösen könnte. Die Verantwortung für diese Veränderung legt Wittgenstein in den Menschen selbst. Die Krankheit sei durch ihn entstanden; nur er, nicht ein wie auch immer geartetes Äußeres, könne diese Krise, diese Krankheit beenden.

Im Bild des »Gebrauch[s] des Wagens« und der mit ihm aufkommenden Entwicklungen führt Wittgenstein das Bild der Krankheit fort: Die Erfindung des Wagens habe in Form der Erreichbarkeit neuer Ziele wie des Transports eine neue Lebensweise und so einen gesellschaftlichen Mehrwert hervorgebracht. Die mit dieser Errungenschaft verbundene Kehrseite ist eine Dynamisierung, die nach Wittgenstein nun wiederum »gewisse Krankheiten« hervorruft. Aussicht auf Heilung bestehe nur, wenn sich der Mensch »aus irgendwelchen Ursachen, als Resultat irgendeiner Entwicklung, das Fahren wieder abgewöhnt«.

Ob die Metaphorik des Wagens und des Fahrens von Wittgenstein glücklich gewählt ist, sei dahingestellt. Mir geht es an dieser Stelle um etwas anderes. Meine Lektüre zielt auf Wittgensteins Vokabular und die hinter dem Aphorismus stehende Intention, weil sie für mein Anliegen zentrale Bedeutung besitzt: Zum einen bündelt die Sequenz aus den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik mit »Krankheit einer Zeit« und dem Verändern der »Denkweise und Lebensweise« die jeweilige Grundbewegung aller von mir in Teil I angeführten Krisennarrative, also die Krisen- bzw. Zeitdiagnosen der Diskursbegründer:innen mit dazugehöriger Lösungsstrategie in Form der Veränderung einer bestehenden Denk- oder Lebensweise. Als Wegmarke artikuliert der Aphorismus zum anderen, dies gilt es zu unterstreichen, jedoch vor allem den übergeordneten Fragehorizont von Teil II: Mit ›Lebensweise‹ spricht Wittgenstein ein an der praktischen Lebenswelt des Einzelnen orientiertes Konzept an, das sich als ›roter Faden‹ in Form seines sehr weit gefächerten Begriffs der ›Lebensform‹360 durch meine gesamte Arbeit zieht. Ich unternehme im Folgenden den Versuch, Staunen und die dazugehörigen semantischen Variationen und Praktiken bei Wittgenstein als zwischen temporalen, kognitiven und affektiven Gesichtspunkten changierenden Moment zu profilieren, der die »Denkweise und Lebensweise« vor dem Hintergrund der »Krankheit einer Zeit« ändert. Dabei reihe ich Wittgenstein nicht nur in die Abfolge der Diskursbegründer:innen der Zwischenkriegszeit 1918–1939 und ihrer mit Staunen verbundenen Krisennarrative ein, sondern profiliere ihn auch als Autor und historische Person, die auf den Feldern der Episteme, der Rhetorik und der Performanz Quadraturen des Staunens betreibt.

354

Vgl. Kap. 2.2 Krise als Wissensunordnung.

355

Vgl. hierzu ausführlich Kap. 13 Wittgensteins (Un-)Form der Philosophie und Kap. 15 Aphoristik.

356

Vgl. Feldman, Gerald D., The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation 1914–1924, New York: Oxford University Press, 1993. (s. o.)

357

Zur letztlich verwendeten, aus der Vorstufe hervorgegangenen Version des Vorworts siehe PB S. 7.

358

Vgl. hierzu ausführlich den Sammelband Zeit der Unkultur. Ludwig Wittgenstein im Österreich der Zwischenkriegszeit, in dem die von Wittgenstein in der Vorwort-Variation genannte »Zeit der Unkultur« (VB S. 458) vorrangig anhand der intellektuellen, künstlerischen und architektonischen Zirkel im Wien der Zwischenkriegszeit reflektiert wird. Károly Kókai geht hierbei so weit, die ›österreichische‹ Zwischenkriegszeit 1918–1938 – vom Ende der Habsburgermonarchie bis zum sogenannten Anschluss an Nazi-Deutschland – als eminent wichtige, vor allem für das Spätwerk entscheidende Werkphase zu profilieren. Ohne die ›Zeit der Unkultur‹, so Kókai, ist der späte Wittgenstein und mit ihm seine auf den alltäglichen Gebrauch der Sprache ausgerichtete Sprachphilosophie nicht zu verstehen. Hierzu Kókai: »Der Blick auf Wittgenstein wird durch zwei Perspektiven bestimmt. Die eine ist Wien um 1900 und die zweite ist Cambridge nach 1929 […]. […] [D]iesen zwei [Perspektiven muss] eine dritte Perspektive zur Seite gestellt werden […], nämlich das Österreich der Zwischenkriegszeit. Ist die Periode Österreichs 1918–1938 nicht eine selbstständige? Handelt es sich dabei bloß um eine Übergangsperiode zwischen Frühwerk und Spätwerk? Die Isolierung dieser dritten Periode bringt natürlich einige wissenschaftliche Probleme mit sich, so etwa die Frage, wie die ab 1929 einsetzende philosophische Arbeit in England von dieser zu scheiden ist. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem kann aber nicht dahingehend gelöst werden, dass die Eigenständigkeit der österreichischen Periode 1918–1938 geleugnet wird. Bedeutend scheint eher die Einsicht, dass die philosophische Arbeit Wittgensteins in England ab 1929 erst dann verstanden werden kann, wenn seine philosophische Tätigkeit 1918–1939 in Österreich als eigenständig betrachtet wird.« (Kókai, Károly, »Ludwig Wittgenstein im Österreich der Zwischenkriegszeit«, in: Zeit der Unkultur. Ludwig Wittgenstein im Österreich der Zwischenkriegszeit, hg. v. dems., Wien: NoPress, 2022, S. 51–72)

359

Vgl. Koselleck 2006: 204.

360

Vgl. Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12