II.1 Episteme

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Untersucht man den Staunensbegriff in seiner historischen Semantik, zeigt sich, dass er ein epistemisches Telos in sich trägt. Ausgehend von der griechischen Antike, steht er am Anfang einer epistemologischen Formation, die einen qualitativen Zuwachs in einem Bedeutungs-, Wahrnehmungs- oder Erkenntnisgeschehen markiert. Ziel der folgenden Gliederungseinheiten ist es, Wittgensteins Position in diesem Gefüge zu bestimmen.

Als ›Prolegomenon‹ zu seinem erkenntnistheoretischen Hintergrund ist anzumerken, dass Wittgensteins epistemologische Standpunkte mit metaphysischen Formen oder Facetten intelligibler Entitäten brechen. Sein epistemisches Programm steht nicht in der von der Antike präformierten Tradition einer qua Vernunft allgemein einsichtigen transzendentalen Epistemologie wie etwa in der transzendentalen Analytik Kants, die mit einer »Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis a priori«, einem »reinen Verstand«, »einem System«403 oder Ähnlichem operiert. Das historisch mit allen metaphysischen Weihen versehene Wort ›Erkenntnis‹ löst sich bei Wittgenstein wie im Tractatus in formale Logik (Abbildtheorie von Bedeutung404) oder konsenstheoretische Überlegungen wie in den Untersuchungen (Gebrauchstheorie von Bedeutung405) auf. Epistemologie ist bei Wittgenstein ein Bereich der Sprachphilosophie.

Nach einer vorangestellten, sich zunächst am semantischen Netzwerk von Staunen orientierenden Annäherung soll über Ausführungen zu verschiedenen qualitativen Wechselmodi der progressive Charakter des Staunensbegriffs bei Wittgenstein ausgeführt werden. Neben dem Aspektwechsel und der Wissenschaftskritik wird hier vor allem auf Wittgensteins ›Vortrag über Ethik‹ eingegangen. Darin findet sich die expliziteste Thematisierung des Staunens-Topos in Wittgensteins Gesamtwerk. Die Anmerkungen zum ›Vortrag‹ sind als inhaltliche Schwerpunktsetzung im Gesamtzusammenhang des folgenden Kapitels über Episteme zu verstehen.

403

Kant KrV A 65.

404

Vgl. z. B. TLP 3, 3.1, 4.01, 4.016, 4.031, 4.06; sowie vor allem mit letzter Angabe beispielgebend korrespondierend: »Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt. (Wie wenn im Pariser Gerichtssaal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird.) Daraus muß sich (wenn ich nicht blind wäre) sofort das Wesen der Wahrheit ergeben. Denken wir an hieroglyphische Schriften, bei denen jedes Wort seine Bedeutung darstellt! Denken wir daran, daß auch wirkliche Bilder von Sachverhalten stimmen und nicht stimmen können.« (TB S. 94 f.) Zu den sprachphilosophischen resp. logischen Formationen im Tractatus siehe ausführlich die immer noch maßgebende Einführung der Herausgeberin und Schülerin Wittgensteins Anscombe: Anscombe, G. E. M., Eine Einführung in Wittgensteins Tractatus. Themen in der Philosophie Wittgensteins, Wien/Berlin: Turia + Kant, 2016.

405

Am ersichtlichsten kommt dies innerhalb Wittgensteins Privatsprachenkomplex zu tragen, der vor allem auf die Konstitution von Bedeutung in einem sprachlichen Zusammenhang hinweist. Exemplarisch hierfür ist sein Käferbeispiel aus den Untersuchungen: »Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ›Käfer‹ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Anderen schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte.« (PU 293) Und an anderer Stelle: »Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung. Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus.« (TLP 3.262) Und nochmals aus den Untersuchungen: »Jedes Zeichen schein[t] allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist der Gebrauch sein Atem?« (PU 432)

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12