Kapitel 8 Staunen und Aspektwechsel

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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In den vorangegangenen Kapiteln habe ich mich über den Aspekt der Sinnesdaten mehrfach auf Visualität bezogen. Die von mir angesprochenen Zäsuren korrelieren mit dem Aufkommen neuer Sichtweisen und Perspektiven gegenüber einer gewohnten Lebensform. In den folgenden Überlegungen zum Aspektwechsel und dem damit zusammenhängenden Staunen wird dieser Zusammenhang vertieft.

Als »Seherlebnis« (PU S. 525) ist der Aspektwechsel eines der wirkmächtigsten Theoreme Wittgensteins.413 Die damit verbundene interpretative Spannbreite reicht von Ethik, Symbol- bzw. Metapherntheorie bis zur Ästhetiktheorie.414 Gerade deshalb fällt auf, dass Staunen in diesem Zusammenhang nicht als substanzieller Faktor erforscht ist – eine eigentümliche Leerstelle, vor allem wenn man mit Wittgenstein Folgendes bedenkt: »Dem Aspektwechsel wesentlich ist ein Staunen.« (LS 565)

Der Aspektwechsel wird von Wittgenstein in vielen sich überschneidenden Wendungen thematisiert. Ausgangspunkt sind für ihn der polnisch-amerikanische Psychologe Joseph Jastrow und das durch diesen popularisierte Hase-Ente-Kippbild. Hierzu heißt es in den Untersuchungen: »Die folgende Figur, welche ich aus Jastrow entnommen habe, wird in meinen Bemerkungen der H-E-Kopf heißen. Man kann ihn als Hasenkopf, oder als Entenkopf sehen.« (PU S. 519)

Joseph Jastrows Hase-Ente-Kippbild und Wittgensteins Adaption im Zusammenhang des Aspektsehens in den Untersuchungen.
Abb. 1

Joseph Jastrows Hase-Ente-Kippbild und Wittgensteins Adaption im Zusammenhang des Aspektsehens in den Untersuchungen.

Nicht mehr über das Bild des »Flußbett[s]« (ÜG 97, s. o.) oder des »[H]ausbackene[n]« (PG 66, s. o.), sondern in Gestalt eines Hasen bzw. einer Ente ist der Lebensformkomplex nun aufgerufen. Das Regelgeleitete der automatisierten Alltäglichkeit entspricht hier einer konservativen Form des Wahrnehmens. Damit ist eine eindimensionale Sehformation bezeichnet, in der die »Wegweiser« (PU 85, s. o.) der Blickrichtung qua Gewöhnung in Richtung Hasen- oder Entenkopf zeigen. »Das Bild mochte mir gezeigt worden sein, und ich darin nie etwas anderes als einen Hasen gesehen haben.« (PU S. 520)

Demgegenüber ist der Aspektwechsel für Wittgenstein »Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung« (PU S. 522 f.). Er geht davon aus, dass man »zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden« (PU S. 520) muss. Das stetige Sehen habe ich bereits benannt: Auf Jastrows Bild ist zunächst entweder ein Hasenkopf oder aber ein Entenkopf zu sehen. Die Synthese und sinnbildliche Amalgamierung dieser Elemente findet nach Wittgenstein nun im »Aufleuchten eines Aspekts« (PU S. 520) statt. Für das Staunen ist dieser Moment zentral: Während des Aufleuchtens wird aus dem Hasen- oder Entenkopf ein Hasen- und Entenkopf, es entsteht ein Hase-Ente-Kopf. Es kommt zu einem Perspektivenwechsel; und ebendieser »Wechsel ruft ein Staunen hervor« (PU S. 528) bzw. ist dem »Aspektwechsel wesentlich […] ein Staunen« (LS 565).

Mit jeweils anderer Akzentuierung schreibt Wittgenstein diesen Vorgang und die dazugehörige Zentralkategorie Staunen in anderen Abschnitten der Untersuchungen und anderen Werkgruppen fort. So heißt es beispielsweise, hier nur summarisch angeführt, dass der Aspektwechsel ein »Staunen hervor[ruft], den das Erkennen [von Hase oder Ente, TH] nicht hervorrief« (PU S. 28); und weiter: »Erst wenn [einer Person] die Gleichheit der Figuren [gezeigt wird], folgt das Erstaunen« (BBP 165), bzw.: »Erst wenn wir […] die Gleichheit der Figuren [erkennen], folgt das Erstaunen.« (LS 165) Allen Beschreibungen des mit Staunen verbundenen Aspektwechsel-Geschehens ist gemein, dass eine bestehende Wahrnehmungsformation aufgelöst und eine neue etabliert wird: »Die neue Lage ist wie aus dem Nichts entstanden. Dort, wo früher nichts war, dort ist jetzt auf einmal etwas.« (BGM 46) Sowie: »Ich meine, ich habe an diese Art der Zusammensetzung gar nicht gedacht.« (BGM 43). – Der Aspektwechsel ist »Ausdruck der neuen Wahrnehmung« (LS 518), Staunen für Wittgenstein der damit einhergehende Affekt.

Bei diesem Vorgang lohnt es sich, den von mir als Substitut von Staunen gelesenen Begriff des Aufleuchtens eingehender zu problematisieren und ihn aus dem Hase-Ente-Komplex herauszulösen. Was meint Wittgenstein mit dem »Aufleuchten eines Aspekts« (PU S. 520)? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich in zwei Schritten geben: Zum einen ist Aufleuchten ein Zeitbegriff, zum anderen eine Metapher für Erkenntnis.

Auf die temporale Semantik des Aufleuchtens weist Wittgenstein explizit in den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie hin: »Der Aspekt leuchtet nur auf, er bleibt nicht stehen.« (BBP 518) Der Vorgang des Aufleuchtens ist für Wittgenstein also nicht auf Dauer gestellt; er vergeht in der Zeit, ist flüchtig. Mit einem Typoskriptauszug zum H-E-Komplex lässt sich dieses Merkmal präzisieren. Dort steht eine Reihe von Suggestivfragen: »Was ist denn die Äußerung des Staunens? Kann es eine stationäre Haltung sein? Kann also das Staunen ein Zustand der Ruhe sein? [E]in stationärer Zustand sein?« (TS 232, 734) Aufleuchten bzw. das Staunen ist von Wittgenstein mit dem »stationäre[n] Zustand« als etwas der Zeit Enthobenes gedacht. Damit stellt er sich auf einen zum Staunen gehörenden Gemeinplatz. Gess fasst diesen in allgemeinem Bezug auf die Eigenzeitlichkeit von Staunen wie folgt: »Wer staunt, dem kommt die normale Zeitwahrnehmung abhanden.«415 Und weiter: »Der Affekt des Staunens setzt die normale/normierte Zeitwahrnehmung außer Kraft […].«416

Diese Eigenzeitlichkeit von Staunen bzw. das Aufleuchten als »stationärer Zustand« (TS 232, 734) ist eine Zäsur in der Zeit; eine Zäsur, die eben auch in ein Davor und ein Danach unterteilt. Die Bewegung von Aufleuchten zeigt es an: Hier steigt etwas aus einer Kontinuität auf, um wieder in die gleiche Kontinuität hinabzusinken, in sie zurückzukehren. Im Zusammenhang des H-E-Komplexes ist dieses Davor der Hasen- oder Entenkopf, das Danach der Hasen- und Entenkopf, der Hase-Ente-Kopf – ein in Eigenzeit entstandenes Konzept, das im Fortgang und in der Rückkehr in die »normale/normierte Zeitwahrnehmung«417 eine »neue[] Wahrnehmung« (LS 518) bereits bekannter Sinnesdaten darstellt.418

Neben diesem temporalen Aspekt hat das Aufleuchten auch einen epistemischen Gehalt. Ich habe es in meinen Ausführungen zu Bloch bereits angesprochen:419 Licht ist Metapher für Erkenntnis schlechthin. Nochmals Blumenberg:

An Aussagefähigkeit und subtiler Wandlungsmöglichkeit ist die Lichtmetapher unvergleichlich. Von ihren Anfängen an hat die Geschichte der Metaphysik sich dieser Eigenschaft bedient, um für ihre letzten, gegenständlich nicht mehr faßbaren Sachverhalte eine angemessene Verweisung zu geben. […] Licht kann der gerichtete Strahl, die wegweisende Leuchte im Dunkel, die vordringende Entmachtung der Finsternis, aber auch die blendende Überfülle, ebenso wie die unbestimmbar allgegenwärtige Helle sein, in der alles darinsteht: das selbst nicht-erscheinende Erscheinenlassen, die unzugängliche Zugänglichkeit der Dinge. […] Oder das Licht ist die absolute Seinsmacht, die die Nichtigkeit des Dunkels enthüllt, das nicht mehr sein kann, wenn erst einmal Licht geworden ist. Licht ist das Eindringliche, es schafft in seiner Fülle jene überwältigende, unübersehbare Deutlichkeit, mit der das Wahre ›heraustritt‹, es erzwingt die Unentziehbarkeit der Zustimmung des Geistes. Das Licht bleibt, was es ist, während es Unendliches an sich teilhaben läßt, es ist Verschwendung ohne Schwund.420

Wittgensteins Metapher des Aufleuchtens trägt sich von diesem Zitat ausgehend in eine lange epistemische Tradition ein: Was Blumenberg an dieser Stelle mit seiner Rede über eine »wegweisende Leuchte im Dunkel, die vordringende Entmachtung der Finsternis«, mit der »allgegenwärtige[n] Helle […], in der alles darinsteht«, dem »selbst nicht-erscheinende[n] Erscheinenlassen«, dem Erschaffen von »unübersehbare[r] Deutlichkeit, mit dem das Wahre ›heraustritt‹«, und dem Erzwingen einer »Unentziehbarkeit der Zustimmung des Geistes« zur Lichtmetapher aufwirft, ist bei Wittgenstein mit einem Hasen und einer Ente bzw. im Aspektsehen und dem Hase-Ente-Komplex ausformuliert. (Auf-)Leuchten belichtet ein vormals Nichtgesehenes bzw. Nichtgedachtes. Es ist mit Blumenberg das »Erscheinenlassen« eines neuen, nicht gesehenen Aspekts.

Zusammenfassend gilt es, mit dem Aspektwechsel bis zu diesem Punkt meiner Auseinandersetzung Folgendes festzuhalten: Staunen ist für Wittgenstein ein zeitlich begrenzter Ausdruck im Kontext einer neuen bzw. anderen Perspektive auf gewohnte Sinnesdaten. Dabei treten vormals unbekannte Aspekte eines Sachzusammenhangs in Erscheinung, wodurch eine kognitive Umstrukturierung stattfindet und ein neues Paradigma entsteht. Ausgehend vom Hase-Ente-Kopf – seine fragmentarische und an Systematik wenig interessierte Rhetorik gibt nicht mehr her – lässt sich in groben Zügen eine Epistemologie formulieren, die im Kontext des folgenden Kapitels vor allem über den Gesichtspunkt des relativen Staunens zu vertiefen ist.

413

Thorsten Jantschek weist darauf hin, dass sich Wittgenstein mit seinen Ausführungen zum Aspektsehen in die um 1870 einsetzende wahrnehmungspsychologische Erforschung der sogenannten reversiblen Figuren, Vexierbilder bzw. Kippfiguren stellt. Auch Husserl, Köhler und Heidegger beschäftigten sich Jantschek zufolge zur selben Zeit wie Wittgenstein und in ähnlichen Formen mit diesem Wahrnehmungsphänomen. Rezipiert wurden Wittgensteins Ausführungen vor allem in der sprachanalytischen Erkenntnistheorie von John Austin, der anhand des Aspektsehens Differenzierungsprozesse zwischen wirklicher Wahrnehmung und Illusion beschreibt. Naheliegend, so Jantschek, spielt der Aspektwechsel jedoch auch bei Thomas Kuhn und dessen Theorem des Paradigmenwechsels eine bedeutsame Rolle in der Wissenschaftstheorie. In ästhetischer Hinsicht wurde der von Wittgenstein geprägte Aspektwechsel vor allem als Zentralkonzept der ästhetischen Erfahrung durch Roger Scruton und metapherntheoretisch durch Max Black und Donald Davidson konfiguriert. (Vgl. Jantschek, Thorsten, »Sehen als Aspektsehen«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, hg. v. Joachim Ritter und Joachim Gründer, Basel: Schwabe, 1995, S. 162)

414

Zu den angesprochenen Themenfeldern vgl. Fortuna, Sara, Wittgensteins Philosophie des Kippbilds. Aspektwechsel, Ethik, Sprache, Wien: Turia + Kant, 2012; Bezzel, Chris, Aspektwechsel der Philosophie. Wittgensteins Werk und die Ästhetik, Berlin: H-E Verlag, 2013; Bossart, Yves, Ästhetik nach Wittgenstein. Eine systematische Rekonstruktion, Berlin/Boston: De Gruyter, 2013; sowie Huss, Till Julian, Ästhetik der Metapher. Philosophische und kunstwissenschaftliche Grundlagen visueller Metaphorik, Bielefeld: Transcript, 2019, insb. S. 107–111 und S. 144–158.

415

Gess 2021: 37.

416

Ebd. 49. Vgl. ferner Gess 2019: 23.

417

Gess 2021: 49.

418

Der an dieser Stelle beschriebene Progress des Aspektwechsels reformuliert letztlich die epistemische Traditionslinie des Staunens nach Aristoteles und den in der Metaphysik ausgeführten Wechsel vom thaumázein zur athaumastía (vgl. Aristoteles Met. 983a). Hierzu ausführlich Matuschek: »Staunen ist [für Aristoteles] insofern der Anfang der Philosophie, als es den Anreiz zu einer von allem utilitären Denken freien Erkenntnis gibt. Damit kommt der Begriff thaumázein […] dem nahe, was mit modernem Vokabular etwa ›Forscherneugierde‹ genannt wird. Und wie die Neugierde vergeht auch das Staunen, sobald die Einsicht erlangt ist. Wer staunt, ist unwissend […], findet sich vor dem Unerklärlichen, das aber dann, wenn es schließlich erklärt werden kann, auch alles Erstaunliche verliert. Ist die Überwindung der Unwissenheit das Ziel der Philosophie […], so muß sie gleichermaßen auf die Überwindung des Staunens aus sein. Auf dieses Umschlagen des anfänglichen Affekts in die Affektlosigkeit des Einsichtigen legt Aristoteles allen Nachdruck […]. Obwohl die Verwunderung als Antrieb zur Erkenntnis sich stets an anderen Phänomen erneuern kann, ist sie nach Aristoteles doch nur insofern als philosophischer Affekt zu bezeichnen, als sie überwunden wird. Wenn das Staunen zu lange anhält, wird es umgekehrt zum Merkmal des unphilosophischen Menschen, denn der Einsichtige zeichnet sich gerade dadurch aus, daß ihn das für andere Erstaunliche nicht mehr wundert. Wer einmal die Ursachen erkannt hat, wundert sich vielmehr dann, wenn es sich nicht verhielte, wie es ihm anfänglich als erstaunlich aufgefallen ist […]. Der Satz vom Anfang der Philosophie müßte daher, wenn man ihn auf Aristoteles zurückführen will, eine neue Lesart bekommen: ›Staunen kann nur dann der Anfang der Philosophie sein, wenn es durch Erkenntnis gelöst wird.‹ Um insgesamt der Akzentuierung des Aristotelischen Texts in dieser Frage gerecht zu werden, wäre es angemessener, wenn man den Nachdruck nicht so sehr auf das thaumázein, als vielmehr auf die athaumastía, die ›Verwunderungslosigkeit‹ des Weisen legte.« (Matuschek 1991: 10 f.) Vgl. zu diesem Progress von Staunen auch meine Parallelisierung mit Benjamin in Kap. 3.4 Walter Benjamin.

419

Vgl. Kap. 3.5 Ernst Bloch.

420

Blumenberg 2001a: 140 ff.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12