Kapitel 9 ›Vortrag über Ethik‹

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Den ›Vortrag über Ethik‹ hielt Wittgenstein 1929 vor akademischem Publikum in der Cambridge Heretics Society. Darin führt er die sprachphilosophischen Überlegungen des 1918 abgeschlossenen Tractatus fort und steigt mit dem Staunen dort ein, wo er im berühmten vorletzten Paragrafen des Frühwerks mit der Sprachlosigkeit »sozusagen die Leiter« (TLP 6.54) des Sagbaren weggeworfen hat. Hinsichtlich der Thematisierungen von Staunen, ich habe es bereits erwähnt, ist seine im ›Vortrag‹ vollzogene Analyse als zentrale Abhandlung im Gesamtwerk zu klassifizieren. Dies jedoch nicht, weil auf das Staunen bezogene Stränge in ihr zusammenlaufen oder von ihr ausgehen; in seiner thematischen Konzentration ist der ›Vortrag‹ einzigartig. Argumentativ weist er ein für Wittgenstein ungewöhnlich hohes Maß an Systematisierung auf. Er führt darin die Unterscheidung zwischen Staunen bzw., in äquivalentem Gebrauch, Wundern im »relativen Sinne« (VE S. 11) und im »absoluten Sinne« (VE S. 18) ein. Obschon in unterschiedlicher Qualität, ist beiden Kategorien ein sich der Sprache entziehender Moment eigen: Die erste Form, das relative Staunen, bleibt wegen eines verifizierenden epistemischen Progresses nur temporär ohne Sprache. Die zweite Form, das absolute Staunen, entzieht sich dem Sprachlichen hingegen gänzlich.

Meine These und entsprechende Lektürerichtung des ›Vortrags‹ besteht in der Annahme, dass Staunen, wie angedeutet, nicht nur als sprachlich rubriziertes, sondern dadurch auch als substanziell semiotisches Phänomen zu verstehen ist. Bevor ich diesen Zusammenhang anhand eines Hundes, eines Hauses und eines Löwenkopfs in Abgrenzung zur Existenz der Welt ausführe, werde ich deshalb mit dem Grimm’schen Märchen Rumpelstilzchen und Aleida Assmanns Begriff der ›wilden Semiose‹ zunächst einen argumentativen Referenzrahmen entwerfen, um dadurch die semiotischen Implikationen des relativen und absoluten Staunens stärker konturieren zu können.

9.1 Semiotische Vorüberlegungen mit ›Rumpelstilzchen‹

In einer Erinnerungsskizze von Wittgensteins Russischlehrerin Fania Pascal aus dem Jahr 1943 findet sich folgende Episode: »[I]ch erinnere mich noch, wie er [Wittgenstein, TH] nach dem Band mit den Grimmschen Märchen griff und mit ehrfurchtsvoller Stimme vorlas: Ach, wie gut ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß! ›Das ist wirklich tief‹, sagte er.«421

Das Märchen um das kleine Männlein, die zur Königin werdende Müllerstochter und ihr Kind ist bekannt. Der Passus: »Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; ach, wie gut ist, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß!«422, ist tief in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Als die Königin Rumpelstilzchen schließlich beim Namen nennt – der Loslösungs- bzw. Bannspruch –, stellt es für sie und ihr Kind keine Gefahr mehr dar. Mit dem Nennen des Namens löst sich die mit Rumpelstilzchen verbundene Angst schlagartig auf:

»Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt«, schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich selbst mitten entzwei.423

Die Erzählung dreht sich um den Themenkomplex von Macht, Gewalt und Kontrolle, in dessen Zentrum die Überführung von Unbekanntem in Bekanntes steht. Eine Buchstabenfolge wird zugeordnet. Der Gehalt des Märchens: Nur wer etwas sprachlich erfassen und formalisieren kann, ist in der Lage, etwas zu kontrollieren und zu beherrschen – erst signifiziert wird es funktionalisierbar. Im Akt des Benennens weist die Königin dem kleinen Männlein einen Namen zu; dieses wird zu Rumpelstilzchen und jene dem Signifikat Herr(-in), indem sie Kontrolle und Macht über das ehemals Unbestimmte erlangt. Der von der Königin als erschütternd empfundene, mit Ängsten aufgeladene Ausnahmezustand wird in den Zustand des unbedrohten Gewöhnlichen und Alltäglichen zurückgeführt, in ein ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹. Oder, mit Hans Blumenberg und der Arbeit am Mythos gesprochen: »Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit […] herausgehoben […]. Panik und Erstarrung als die beiden Extreme des Angstverhaltens lösen sich unter dem Schein kalkulierbarer Umgangsgrößen und geregelter Umgangsformen […].«424

Meine These: Im Grimm’schen Rumpelstilzchen tritt Sprache als das Leben formende Bewältigungstechnik auf. An der Figur der Königin führt das Märchen vor, was es bedeutet, Semiose zu betreiben. Ob es das ist, was Wittgenstein in der Überlieferung von Fania Pascal mit »Das ist wirklich tief«425 meinte?

Hier setzt meine Übertragung in das Vokabular der Semiotik an, hin zu Aleida Assmanns Im Dickicht der Zeichen und dem Terminus der ›wilden Semiose‹. Im semiotischen Dreieck besteht ein Zeichen bekanntlich aus dem relationalen Gefüge von Signifikant (sprachliche Materialisierung und Form eines Zeichens), Signifikat (semantischer Gehalt) und Referent (realweltlicher Gegenstand). Hierzu Assmann:

Während die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat durch einen Code geregelt ist, der rein linguistischer oder zeichentheoretischer Art ist, regelt die Verbindung zu einem Referenten die Einlassung des Zeichensystems in die Außenwelt und damit in praktisches Handeln und Verstehen. Mit der Referenz öffnet sich der Rahmen realweltlicher Erfahrungen und Bezüge […].426

Mit dem realweltlichen Bezug des Referenten besitzen Zeichen Assmann zufolge immer auch eine anthropologische Valenz. Der Mensch lebt »nicht unmittelbar in der Welt, sondern immer schon in einer durch selbstgemachte Zeichen organisierten kulturellen Welt«.427 Er zeichnet sich als »animal symbolicum«428 aus, indem er

sich in einem Reich selbstgeschaffener Zeichen einrichtet und seine Orientierung aus diesen Zeichen empfängt. […] Der Umgang mit Zeichen organisiert das menschliche Weltverhältnis zwischen Entzauberung und Wiederverzauberung, zwischen der Verbannung von Bildern und ihrer Wiederkehr, zwischen einem kontrollierenden und einem affizierten Modus.429

Wer ausgehend von dieser anthropologischen Setzung nun ›wilde Semiose‹ betreibt, macht sich nach Assmann »von den gesellschaftlich sanktionierten Standards der Zeichenlogik« frei: ›Wilde Semiose‹ ist »als irrationale Abweichung und Gefährdung des ›normalen‹ Lese- und Deutungsverhaltens« zu verstehen.430 Die mit dem semiotischen Dreieck angezeigte formalisierte Zeichenkontrolle wird zugunsten eines »affizierten Modus« aufgegeben. Dabei wird eine aus Signifikat, Signifikant und Referent bestehende Trias zersetzt und es findet ein »Auseinanderbrechen der Signifikantenkette«431 statt. Die Zeichenordnung einer bestehenden Semiosphäre wird Assmann zufolge prekär. »Diese Fragmentierung der Zeichenordnung macht sie als Medium zwischenmenschlicher Kommunikation unbrauchbar, dafür gewinnt sie aber in besonderen Augenblicken ein neues Gewicht und eine neue Gegenwart.« Der »Gegenstand der Betrachtung [wird] prä-sent, das heißt, er wird aufdringlich und bleibt vor [den] Sinnen stehen. Solche Umperspektivierungen, die mit plötzlichen Einblicken und Durchblicken verbunden sind, haben […] eine stark affizierende Wirkung.«432

Was Wittgensteins mit der Lebensform aufgeworfene Flussbett-Metaphorik und meine These angeht, Staunen sei als entgrenzender, in »Stein und Schutt« (PU 118) legender Sprengsatz an einem Flussbett zu verstehen, ist vor allem folgender Passus interessant:

Wilde Semiose bringt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Materialität des Zeichens ausgerichtet ist und die Präsenz der durch die Zeichen auf Distanz gehaltenen Welt wiederherstellt. In jedem Fall erzeugt sie Störungen und Unordnung im bestehenden Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen. Sie stellt neue, unmittelbare Bedeutung her, sie unterläuft, verzerrt, vervielfältigt, sprengt die vorgegebenen Raster der Sinnbildung.433

Dabei wird ein gewohnt flüssiger Wahrnehmungsverlauf »gehemmt [und] unter Umständen ganz zum Stillstand gebracht«. Nach Assmann kommt es zu einem Moment der Stauung und Zurückhaltung, der einen »Verstehensprozess in Gang«434 setzt, welcher habitualisierten Wahrnehmungsformen zuwiderläuft. So bezeugt die Wahrnehmungsform der ›wilden Semiose‹ »eine Bereitschaft« bzw. ein Ethos, »sich an Zeichen auszuliefern […], die weit über ein pragmatisches Interesse hinausgehen«435.

Auf der Grundlage dieser Ausführungen lassen sich mit Rumpelstilzchen und der ›wilden Semiose‹ zwei zentrale, jedoch gegenläufige semiotische Bewegungen für die folgende Auseinandersetzung mit Wittgensteins ›Vortrag‹ festhalten: (1) Die Königin konstruiert mit dem Signifikanten ›Rumpelstilzchen‹ ein sprachliches Zeichen, gewinnt durch Sprache Kontrolle über ihr Leben und überführt es dadurch in eine alltägliche Form. Mittels eines ausgesandten Boten betreibt sie erfolgreich Semiose.436 (2) Die ›wilde Semiose‹ hingegen dekonstruiert ein sprachliches Zeichen. Ihr affektiv aufgeladener und zersetzender Vorgang löst die aus Signifikat, Signifikant und Referent bestehende Trias auf und eröffnet dabei gleichzeitig die Möglichkeit von Neubesetzungen, Veränderungen und Nachjustierungen innerhalb eines triadischen, auf die reale Welt bezogenen Gefüges.

9.2 Relatives Staunen

Mit diesen semiotischen Vorüberlegungen ist anhand des ›Vortrags‹ nun zunächst das relative Staunen bzw. Wundern auszuführen. Dieses wird von Wittgenstein beispielgebend über die Größe eines Hundes und eines plötzlich wachsenden Löwenkopfes angesprochen.

[W]ir alle verstehen, was mit der Äußerung gemeint ist, daß ich über die riesige Gestalt eines Hundes staune, der größer ist als jeder, den ich bisher gesehen habe, bzw. daß ich über sonst etwas staune, was in gewöhnlichem Sinne des Wortes aus dem Rahmen fällt. In jeder derartigen Situation staune ich darüber, dass etwas der Fall ist, wovon ich mir vorstellen könnte, daß es nicht der Fall wäre. Ich staune über die Größe dieses Hundes, weil ich mir einen Hund von anderer, nämlich der normalen Statur vorstellen könnte, über den ich dann nicht staunen würde. Die Aussage ›Ich staune darüber, daß das und das der Fall ist‹ hat nur dann Sinn, wenn ich mir vorstellen kann, daß es nicht der Fall sei. (VE S. 15)

Das an dieser Stelle über den Vergleichsparameter ›Größe‹ eingeführte Staunen basiert auf der Kollation von gegebenen Sinnesdaten mit bereits vorhandenen kognitiven Strukturen. Wittgensteins relatives Staunen ist entsprechend seiner Ausführung ein ›in Relation zu etwas setzendes‹, ein referenzielles Staunen. Im angeführten Beispiel ist es »die riesige Gestalt eines Hundes«, die alle bekannten Vorstellungen von Hunden übersteigt und sich nicht darunter subsumieren lässt: »Ich staune über die Größe dieses Hundes, weil ich mir einen Hund von anderer, nämlich der normalen Statur vorstellen könnte, über den ich dann nicht staunen würde.«

Dass dieser »größer ist als jeder, den ich bisher gesehen habe«, größer ist als »gewöhnlich« oder »normal[]«, ist dabei ein aufschlussreiches Detail: Die Signalwörter rekurrieren auf die »Physiognomie [des] alltäglichen Leben[s]« (PU 235, s. o.) und die »Lebensschablone« (LS 206, s. o.). Im vorliegenden Beispiel lässt sich die Größe des Hundes mit der durch frühere Erlebnisse erworbenen Schablone ›Hund‹ nicht fassen. Er übersteigt das normale Maß oder, nun weiter mit Assmann, das gewohnte »Raster der Sinnbildung«437.

Das arbiträre, aus Signifikant und Signifikat bestehende Zeichen ›Hund‹ und der realweltliche Bezug, die Referenz, sind nicht mehr kongruent. Das besagte »Auseinanderbrechen der Signifikantenkette«438 sowie die »Störungen und Unordnung im bestehenden Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen«439 setzen ein – ›wilde Semiose‹ findet statt. Staunen, wie von Wittgenstein an dieser Stelle vorgestellt, wird entsprechend dadurch hervorgerufen, dass sich ein vorhandenes Zeichen im praktischen Sprachzusammenhang nicht mehr bewährt. Nicht von ungefähr spricht Wittgenstein beim relativen Staunen davon, dass etwas im »gewöhnlichen Sinne des Wortes aus dem Rahmen fällt« (VE S. 15); ein bestehendes Zeichen verlässt seine konventionalisierten Grenzen. Man muss sich – um nun seine Zielvorgabe zu benennen – ›einen (neuen) Begriff von etwas machen‹. Das von Wittgenstein an dieser Stelle über die Größe eines Hundes angesprochene relative Staunen ist folglich auch ein Staunen der leerlaufenden, unerfüllten Erwartung und Imagination.440

Über das im ›Vortrag‹ wenig gelungene, hinkend konstruierte und mit vielen Redundanzen geschilderte Beispiel eines plötzlich wachsenden Löwenkopfes führt Wittgenstein das relative Staunen – das an dieser Stelle unvermittelt und ohne semantische Verschiebung zum relativen Wundern überwechselt – weiter:

Ein Wunder ist offenbar nichts weiter als ein Ereignis, dergleichen wir noch nie erlebt haben. Nun wollen wir annehmen, ein solches Ereignis habe sich zugetragen. Setzen wir den Fall einem von ihnen wachse plötzlich ein Löwenkopf und er begänne zu brüllen. Etwas Ungewöhnlicheres kann ich mir kaum ausmalen. Sobald wir uns von unserer Überraschung erholt haben, würde ich vorschlagen, einen Mediziner zu holen und den Fall wissenschaftlich zu untersuchen; und wenn es nicht weh täte, würde ich eine Vivisektion vornehmen lassen. Und was wäre dann aus dem Wunder geworden? Sobald wir die Sache in dieser Weise betrachten, ist alles Wunderbare offenbar verschwunden, es sei denn, wir verstehen unter einem Wunder nichts weiter als eine Tatsache, die noch nicht wissenschaftlich erklärt ist, was seinerseits nichts anderes bedeutet, als dass es uns bisher noch nicht gelungen ist, diese Tatsache mit anderen in einem wissenschaftlichen System zusammenzustellen. (VE S. 17)

Staunen ist hier der Anfangspunkt eines Erkenntnisprozesses bzw. die Zeitspanne von einem »Ereignis, dergleichen [man] noch nie erlebt« hat, bis zum Einsetzen eines Verifikationsvorgangs. Es endet, »[s]obald wir uns von unserer Überraschung erholt haben« und das »Ungewöhnliche[]« rationalisiert wird. Wittgenstein geht es hier um Entstaunen bzw. Entwundern. Er bezieht sich auf eine »Tatsache, die noch nicht wissenschaftliche erklärt ist«; es ist der orientierungslose Zustand zwischen dem Aufkommen eines Phänomens und dem Anfangspunkt der sprachlichen Einordnung in ein »wissenschaftliches System«. Die »Vivisektion« beendet die »Überraschung« – der affizierte Modus Staunen wechselt in kühle Empirie. Die Positionen des alten Syllogismus ›einem Menschen kann kein Löwenkopf wachsen‹ zerfallen und der neue Syllogismus ›einem Menschen kann ein Löwenkopf wachsen‹ wird verifiziert. Dem »Löwenkopf« (VE S. 17) ergeht es wie Rumpelstilzchen – es wird versucht, ihn durch Zeichen zu bändigen, um ihn herum eine neue Zeichentrias zu konstruieren.

Über Wittgensteins Aussagen zum Hund und zum Löwenkopf lässt sich das relative Staunen wie folgt zusammenfassen: (1) Zum einen ist es ein ›in Relation zu etwas setzendes‹, ein referenzielles Staunen. Hierbei kommt es zu einer Irritation von Erfahrungswissen bzw. korreliert eine bestehende kognitive Form nicht mit gegebenen Sinnesdaten. (2) Zum anderen intendiert das relative Staunen über Rationalisierungsstrategien die Übersetzung von Sinnesdaten in eine modifizierte Lebensform, das Wiederfinden von Sprache. Das Ziel ist die Wiedereingliederung in ein »wissenschaftliche[s] System« (VE S. 17). (3) Relatives Staunen ist weiterhin als stationärer Zustand zu denken. Dieser beginnt mit inkompatiblen Sinnesdaten und endet mit Verifikation. (4) Aus semiotischer Perspektive ergibt sich zuletzt, dass das relative Staunen für den Mensch als »animal symbolicum«441 den Anfangspunkt von semiotischen Suchbewegungen markiert. Sobald etwas im »gewöhnlichem Sinne des Wortes aus dem Rahmen fällt« (VE S. 15), setzt Staunen und mit ihm verbunden ›wilde Semiose‹ ein.

9.3 Absolutes Staunen

Im Gegensatz dazu lässt sich das absolute Staunen als sich aus mehreren Argumentationssträngen zusammengesetztes mystisches Erleben charakterisieren. Ausgehend vom Tractatus werde ich zunächst den Begriff des Mystischen ansprechen, um in einem zweiten Schritt die damit verbundene Sprachlosigkeit im ›Vortrag‹ zu identifizieren. Fluchtpunkt meiner Auseinandersetzung mit dem absoluten Staunen ist die Darstellung dessen, was Wittgenstein unter dem Staunen über die Sprache und der aus dieser erschaffenen Welt versteht.

Zunächst ist vom Tractatus ausgehend also zu fragen: Was meint Wittgenstein mit dem Mystischen? Für ihn gibt es zwei Kategorien: Das unter logischen Prämissen Sagbare und das diesem entgegengesetzte Mystische, das sprachlich nicht zu fassen ist und sich lediglich zeigt: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (TLP 6.522) Mystisches rekurriert auf das, was außerhalb des »logischen Raum[s]« (TLP 1.13) liegt und mit sinnvollen und auf Empirie basierenden Sätzen entsprechend nicht einzuholen ist. Etwas darüber zu sagen, wäre »Unsinn« (TLP S. 9, 4.003). Hierfür gibt es keinen sprachlichen Ausdruck, hier kann – wie noch beim relativen Staunen – ein »Wort[] [nicht] aus dem Rahmen [fallen]« (VE S. 15), denn für das, was beim Erleben des Mystischen geschieht, gibt es keinen Rahmen. Hierüber kann man nur »schweigen« (TLP 7).

Im ›Vortrag‹ wird die dem Mystischen zugehörige Sprachlosigkeit in folgendem Satz aufgegriffen und in Staunen bzw. das Wunderbare im absoluten Sinne überführt: »[W]ir [sind] außerstande […], das, was wir ausdrücken wollen, zum Ausdruck zu bringen, und […] alles, was wir über das absolut Wunderbare sagen, [bleibt] weiterhin Unsinn […].« (VE S. 18) Von einem semiotischen Standpunkt aus gibt es beim Wunderbaren also nur einen Referenten, aber weder Signifikat noch Signifikant. Eine Zeichentrias kann nicht etabliert werden, die Semiose bleibt vor dem Hintergrund dieser charakterlichen Facette des absoluten Staunens ›wild‹. Obschon das mit dem absoluten Staunen bzw. Wundern zusammenhängende mystische Erleben gleich dem relativen Staunen stationär ist – es nimmt auch »eine bestimmte Zeit in Anspruch« (VE S. 17), die Wittgenstein in Bezug auf das Mystische im Tractatus auch »Unzeitlichkeit« (TLP 6.4311) nennt –, kann es eben nicht in einem auf Sprache basierenden »wissenschaftlichen System zusammen[gefasst]« (VE S. 17) werden. Den Fluchtpunkt einer vom Staunen ausgehenden ›Übersetzung‹ von Erleben in Sprache gibt es beim Staunen im absoluten Sinne nicht. Anstatt einen Verifikationsprozess auszulösen, führt Staunen hier zu einer Transzendenzerfahrung, die mit den Mitteln eines empirischen Analyse- oder sprachlichen Verifikationsvorgangs nicht eingeholt werden kann.

In Zentrum des absoluten Staunens stehen bei Wittgenstein die sich der »logische[n] Notwendigkeit« (VE S. 13) entziehende Letztbegründung von Existenz und die Frage nach »übernatürliche[m] Wert« (VE S. 17). Für ihn ist das absolute Staunen ein Erlebnis, das man hat, wenn man »über die Existenz der Welt staun[t]« und »Formulierungen der folgenden Art« gebraucht: »›Wie sonderbar, daß überhaupt etwas existiert‹, oder ›wie seltsam, daß die Welt existiert‹.« (VE S. 14)442 Bezogen auf das Mystische heißt es damit korrespondierend im Tractatus: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« (TLP 6.44) »[Ge]staun[t]« wird beim absoluten Staunen, so Wittgensteins Beispiel, »über das Dasein des Himmels, egal, wie er aussieht« (VE S. 15). Ein aufziehendes Donnerwetter, die ›blaue Stunde‹, die Wolken von Sils Maria oder arktische Polarlichter sind für ihn infolgedessen unbedeutend; gestaunt wird beim absoluten Staunen über die Existenz des Himmels selbst, darüber, dass es ihn gibt – und genau dann findet gemäß Wittgenstein das Erleben eines Moments statt, in dem »man die Welt als Wunder sieht« (VE S. 18).

Bei diesem ›Sehen der Welt als Wunder‹ bleibt Wittgenstein jedoch nicht stehen. Seine Argumentation nimmt hinsichtlich des absoluten Staunens eine weitere Wendung:

Und nun möchte ich das Erlebnis des [absoluten, TH] Staunens über die Existenz der Welt mit den Worten beschreiben: Es ist das Erlebnis, bei dem man die Welt als Wunder sieht. Nun bin ich versucht zu sagen, der richtige sprachliche Ausdruck für das Wunder der Existenz der Welt sei kein in der Sprache geäußerter Satz, sondern der richtige Ausdruck sei die Existenz der Sprache selbst. (VE S. 18)

Die voraussetzungsreiche Textbewegung führt in tautologischer Verschiebung vor, was im ›Vortrag‹ selbst mit dem Anrennen »gegen die Grenzen der Sprache« bzw. mit dem »Anrennen gegen die Wände« eines sprachlichen »Käfigs« (VE S. 18 f.)443 benannt ist. Wittgenstein vollzieht in diesem Passus zunächst taxonomische Rochaden ohne semantischen Mehrwert. Das sich aus den Elementen »Staunen[] über die Existenz der Welt« und Sehen der »Welt als Wunder« zusammengesetzte »Wunder[n] [über die] Existenz der Welt« ist jedoch nicht Wittgensteins argumentativer Fluchtpunkt in dem Sinn, dass das absolute Staunen ausschließlich als Staunen bzw. Wundern über die Existenz der Welt zu sehen wäre; die angeführte Sequenz erfährt an ihrem Ende eine unerwartete Erweiterung bzw. relativierende Präzisierung: Gestaunt bzw. gewundert wird beim absoluten Staunen über »die Existenz der Sprache selbst« (VE S. 18).

Wie ist diese apodiktische Wendung zu verstehen? In meiner Lesart steht sie vor dem Horizont der Lebensform.444 Nochmals: »[E]ine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« (PU 19) Sie ist das »a priori shape-giving skeleton that supports all form of human life«445. Mit dem Lebensformkonzept hat Wittgenstein Sprache als anthropologische Voraussetzung universalisiert; mit dem absoluten Staunen denkt er diese Linie transzendent weiter: Sprache ist nun nicht mehr als die Existenz begründendes Medium angesprochen, sondern beim Erleben des Staunens im absoluten Sinne wird ein Subjekt mit der Instanz konfrontiert, von der diese Sprache ausgeht. Hierbei verschmilzt die Frage nach der Schöpfung »der Welt« mit derjenigen nach der Schöpfung »der Sprache« (VE S. 18). Wer die Welt erschaffen hat, hat die Sprache erschaffen; und wer die Sprache erschaffen hat, hat auch die Welt erschaffen.

Diese mit dem absoluten Staunen verbundene Denkformation ist der biblischen Vorstellungswelt entnommen. So heißt es in der Genesis: »Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde […].«446 Weiterhin und aus diesem »Gott sprach: Es werde« hervorgehend im Johannes-Evangelium: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.«447 Gott und Sprache, Sprache und Gott sind synonyme Begründungskategorien für Schöpfung und die daraus hervorgehende Welt – und eben über diese Sprachinstanz und die von ihr erschaffene »Existenz der Welt staun[t]« (VE S. 14) das absolute Staunen bei Wittgenstein.

Eine vage Vorstellung davon, was beim absoluten Staunen mit einem Subjekt geschieht, gibt Wittgenstein Jahre später in den Untersuchungen. Neben dem tradierten Körpervokabular von steifer Gebanntheit und aufgesperrten Augen448 wird Staunen wie auch im ›Vortrag‹ in Form der Bewunderung des Himmels (vgl. S. 15, s. o.) und anhand eines Menschen angesprochen, der »das Licht eintrinkt«:

Ich schaute steif vor mich hin – aber nicht auf irgend einen bestimmten Punkt oder Gegenstand. Meine Augen waren weit offen, meine Brauen nicht zusammengezogen (wie sie es meistens sind, wenn ein bestimmtes Objekt mich interessiert). Kein solches Interesse war dem Schauen vorangegangen. Mein Blick war ›vacant‹; oder ähnlich dem eines Menschen, der die Beleuchtung des Himmels bewundert und das Licht eintrinkt. (PU 412)

Vor dem Hintergrund der hier aufgeworfenen Aspekte ist das absolute Staunen wie folgt zusammenzufassen: (1) Das absolute Staunen zeichnet sich gegenüber dem relativen Staunen durch fehlende empirische Referenz aus. Rationalisierungsstrategien laufen leer. (2) Als mystisches Erleben entzieht es sich einem sprachlichen Zusammenhang. (3) Das absolute Staunen ist weiterhin dadurch charakterisiert, dass es sich auf eine sprachschöpfende Instanz und die von dieser erschaffenen Welt bezieht. (4) Aus einer semiotischen Perspektive verweigert es sich dem semiotischen Progress und lässt sich in einem triadischen Zeichen nicht fassen. Man kann sich vom Erleben innerhalb des absoluten Staunens wortwörtlich keinen Begriff machen. Das mystische Erleben führt zu einem »Auseinanderbrechen der Signifikantenkette«449, ohne dass die Möglichkeit bestünde, sie wieder zusammenzufügen.

Von dieser Zusammenfassung ausgehend, ist das im ›Vortrag‹ ausgeführte Staunen mit Martin Heidegger450 zu erweitern. Einen Hinweis auf diese Referenz gibt Wittgenstein selbst. In einer auf den 30. Dezember 1929 datierten und mit zahlreichen Versatzstücken aus dem ›Vortrag‹ versehenen Gesprächsaufzeichnung von Friedrich Waismann aus dem Wiener Kreis451 findet sich folgende Aussage Wittgensteins:

Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint. Der Mensch hat den Trieb, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen [vgl. VE S. 19]. Denken Sie z. B. an das Erstaunen, daß etwas existiert [vgl. VE S. 14]. Das Erstaunen kann nicht in Form einer Frage ausgedrückt werden, und es gibt auch gar keine Antwort. Alles, was wir sagen mögen, kann a priori nur Unsinn [vgl. VE S. 18] sein. Trotzdem rennen wir gegen die Grenzen der Sprache an [vgl. VE S. 18]. (WWK S. 68)

Was kann sich Wittgenstein mit Staunen verbunden »wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst« meint?452 Der hier in aller Vagheit ausgesprochene Satz setzt analytisch zunächst kaum Grenzen. Sein »wohl denken« schwebt so weit zwischen ›bestimmt‹ und ›unbestimmt‹, dass es alles und nichts bedeuten kann. Die über den zeitlichen Index gegebene Schnittmenge von Heideggers Sein und Zeit (1927) mit Wittgensteins ›Vortrag‹ (1929) sowie jener Gesprächsnotiz (1929) grenzt das für eine Interpretation belastbare ›Suchfeld‹ im Sinne einer themengebundenen Fokussierung jedoch ein.453 Letztlich liegt, so meine These, in Wittgensteins Andeutung »wohl denken« eine von ihm identifizierte Ansammlung ähnlicher Denkbewegungen im Kontext seiner Begriffe von Staunen mit Heideggers Sein und Zeit454 – Denkbewegungen und Assoziationen, die ich im Folgenden anhand von Parallelstellen anspreche und mit interpretativen Vorschlägen ergänzt nebeneinanderstelle.455

(1) Was das Sein in ontologischer Differenz zum Seienden genau ist, beantwortet Heidegger nicht. Dass sich das Sein der Sprache entzieht, mag ein Grund dafür sein: »Das Sein ist definitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch niedere nicht darzustellen.« Es fällt charakteristischerweise in das Feld der »Undefinierbarkeit«456 und wird bei Heidegger nur über den phänomenologischen Umweg des sich zeigenden »Sein[s] eines Seienden«457 ansprechbar. Als unaussprechliche Kategorie wird es in Heideggers Fundamentalontologie als notwendig »›vorausgesetzt‹, aber nicht als verfügbarer Begriff«458.

Dass Wittgenstein sich »wohl denken kann, was Heidegger mit Sein« (WWK S. 68) meint, überrascht folglich nicht. Letztlich sieht er in der fundamentalontologischen Stoßrichtung von Sein und Zeit strukturell wiederholt, was er nicht nur im Tractatus mit den »Grenzen der Sprache« (TLP 5.6), sondern auch im ›Vortrag‹ zum absoluten Staunen (VE S. 18) ausformuliert hat. Diesen Aspekt nimmt er in der Gesprächsnotiz im Satz: »Das Erstaunen kann nicht in Form einer Frage ausgedrückt werden, und es gibt auch gar keine Antwort. Alles, was wir sagen mögen, kann a priori nur Unsinn sein« (WWK S. 68), wieder auf. Meine These: Heideggers analytische Differenzierung von Sein und Seiendem entspricht Wittgensteins Topos des Unaussprechlichen, dem »Schweigen« (TLP 7) und dem sich ausschließlich zeigenden Mystischen (vgl. TLP 6.522) auf der einen Seite und dem durch Sprache erfassbaren empirischen »logischen Raum« (TLP 1.13) auf der anderen Seite. Wittgenstein erblickt in Heideggers Kategorie des Seins eine Analogie zu seinem Begriff des Mystischen, in dessen Zentrum das Unaussprechliche steht.

(2) Mit »Angst« (WWK S. 68) ist der zweite von Wittgenstein in der Gesprächsnotiz gegebene Begriff auszuführen. In Sein und Zeit wird jene in Abgrenzung zur Furcht entwickelt, die sich allein auf »innerweltliches Seiendes« bezieht bzw. sich von »innerweltlichem Seienden her« speist.459 Wie das relative Staunen ist die Furcht ausschließlich im immanent Gegebenen zu verorten. Sie »überfällt« ein Dasein »vom Innerweltlichen«460 her. Furcht hat eine empirische Evokationsgrundlage. Angst – den Themenkreis des ›Seins zum Tode‹ klammere ich wegen seiner systematischen Weitläufigkeit aus461 – bezieht sich hingegen auf »kein innerweltliches Seiendes«462. Darin besteht ein Berührungspunkt zu Wittgensteins mit dem Mystischen verwobenen absoluten Staunen und dem »übernatürlichen Wert« (VE S. 17).

»Die Angst […] entspringt aus dem Dasein selbst«, wobei sie nicht »hemmt und verwirrt«, sondern frei werden lässt »von ›nichtigen‹«463 irdischen Belangen. Sie ist ein affektiv erhebendes Moment, ein »›Aufsteigen‹ […] aus dem Dasein«464. In dieser Direktive drängt sich beim Empfinden von Angst die Existenzfrage nach der »Möglichkeit von Zuhandenem überhaupt, das heißt der Welt selbst«465, auf. Wittgensteins Aussage: »›Wie sonderbar, daß überhaupt etwas existiert‹, oder: ›wie seltsam, daß die Welt existiert‹« (VE S. 14), scheint hier durch. Dabei erschließt sich in Heideggers Angst die »Welt als Welt« bzw. »das In-der-Welt-sein selbst«466 ; eine Denkbewegung, die sich neben Wittgensteins absolutes Staunen und jenes Erlebnis stellen lässt, das man hat, wenn man »über die Existenz der Welt staun[t]« (VE S. 14).

Eine weitere Facette lässt sich ausgehend vom Angst-Topos mit Wittgensteins Überlegungen zum Staunen assoziieren. Zur Angst und ihrer Alltag und Vertrautheit zersetzenden Wirkung heißt es in Sein und Zeit:

Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes. […] Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. […] [D]as innerweltliche Seiende [ist] nicht ›relevant‹ […]. Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor Angst sich ängstet. Die innerweltlich entdeckte Bewandtnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen ist als solche überhaupt ohne Belang. […] Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit. […] In der Angst ist einem ›unheimlich‹. Darin kommt zunächst die eigentümliche Unbestimmtheit dessen, wobei sich das Dasein in der Angst befindet, zum Ausdruck: das Nichts und Nirgends. […] Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-Sein kommt in den existenzialen ›Modus‹ des Unzuhause. Nichts anderes meint die Rede von der ›Unheimlichkeit‹.467

Verschüttet unter reichlich Jargon, lässt sich Angst bei Heidegger als Zäsur beschreiben und als außerhalb der empirischen Welt angesiedeltes, affektiv stark aufgeladenes Moment, in dem »[d]ie alltägliche Vertrautheit […] in sich zusammen[bricht]«. Angst stellt ein Dasein in den Zustand von »Unheimlichkeit« und »Unzuhause«.468 Hier klingt das »[H]ausbackene[]« (PG 66) an, in dem das Staunen aufleuchtet (vgl. PU S. 520), das in ein »Ungewöhnliche[s]« (VE S. 17) überführt. Wittgensteins Staunen ist gleich Heideggers Angst ein Bruch in der »Physiognomie [des] alltäglichen Leben[s]« (PU 235). Staunen und Angst machen je ›un-heimlich‹ und lassen Kontingenz erleben.

Gewiss sind die von mir angeführten Perspektiven spekulativ. Was Wittgenstein sich »wohl [dachte], was Heidegger mit Sein und Angst« (WWK S. 68) meint, wird zwangsläufig unbeantwortet bleiben müssen. Man kann Wittgenstein nicht mehr fragen. Die vorangegangenen Gegenüberstellungen und Parallelisierungsbemühungen schaffen jedoch einen Assoziationsraum, der seine Überlegungen zum Staunen für andere, zeitgebundene Themenfelder und Begriffe der Philosophie öffnet. In meinen methodischen Vorüberlegungen in Kap. 5.2 Methodik habe ich davon gesprochen, dass bei Wittgenstein jedes Wort in einem »komplizierte[n] Netz von Ähnlichkeiten steht, die einander übergreifen und kreuzen« – »Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen« (PU 66). Mit Heideggers Sein und Angst lässt sich zusammen mit der Gesprächsnotiz aus dem Wiener Kreis eine externe, von Wittgenstein mit »wohl denken« (WWK S. 68) vorgeschlagene Ähnlichkeitsbeziehung zum Staunen herstellen und zum Ausdruck bringen, was er mit Staunen terminologisch weiter assoziierte.

421

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422

Grimm 1997 [1819]: 317.

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427

Ebd.

428

Ebd. 26. Vermutlich, sie markiert ihren Ausgangspunkt nicht, rekurriert Assmann mit dem ›animal symbolicum‹ auf Ernst Cassirers Großessay Versuch über den Menschen. Darin wird der Mensch anthropologisch als symbolisches Wesen bestimmt. Diesbezüglich heißt es u. a.: »[Der Mensch] lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. […] So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.« (Cassirer, Ernst, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg: Meiner, 1990 [1944], S. 50) Vgl. zur anthropologischen Valenz von Semiose weiter Lotman, Jurij, Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik, 4 (1990), S. 287–305; sowie das Japanbuch von Roland Barthes, in dem dieser die alltägliche Semiosphäre Japans der 1960er-Jahre beschreibt (Barthes, Roland, Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981).

429

Assmann 2015: 26.

430

Assmann 2015: 24.

431

Ebd. 19.

432

Ebd.

433

Ebd. 22.

434

Ebd. 24.

435

Assmann 2015: 25 f.

436

Im Märchen heißt es hierzu: »Nun besann sich die Königin die ganze Nacht über auf alle Namen, die sie jemals gehört hatte, und schickte einen Boten über Land, der sollte sich erkundigen weit und breit, was es sonst noch für Namen gäbe.« (Grimm 1997 [1819]: 317)

437

Assmann 2015: 22.

438

Ebd. 19.

439

Ebd. 22.

440

Mit Stanley Cavell lässt sich dieser Gedanke weiterführen. Nach ihm ist der Mensch als handlungsfähiges Subjekt wesentlich auf seine ›projektive Imagination‹ angewiesen. Er meint damit die allergewöhnlichsten Fähigkeiten wie das Bilden von Vorhersagen, Handlungen vorgeschalteten Hypothesen, das Projektierten von Vorstellungen und Abwägungen, Vermutungen und Annahmen. Der Alltag ist laut Cavell voll von Aufforderungen, »einen Fall zu setzen oder zu fingieren« (Cavell, Stanley, Der Anspruch der Vernunft, Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 264). Das von Wittgenstein anhand des Hundes ausgeführte relative Staunen kann daran anschließend auch als Imaginationsbruch oder als Projektionsstörung verstanden werden.

441

Assmann 2015: 26.

442

Mit dieser im Kontext des absoluten Staunens stehenden Aussage betritt Wittgenstein ein tradiertes, von der Geschichte der Philosophie weitläufig bearbeitetes Feld. So heißt es u. a. bei Schelling: »Auf die Frage, die der am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnde Verstand aufwirft: Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas? Ist nicht das Etwas, sondern nur das All oder Gott die vollgültige Antwort. Das All ist dasjenige, dem es schlechthin unmöglich ist nicht zu seyn, wie das Nichts, dem es schlechthin unmöglich ist zu seyn.« (Schelling, Friedrich Wilhelm, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart/Augsburg: Cotta’scher Verlag, 1860 [1806], S. 140–197, hier S. 174) Und, mit großem philosophiegeschichtlichen Zeitsprung, bei Heidegger und dessen phänomenologischer Beantwortung der Frage, was Metaphysik sei: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« (Heidegger, Martin, Was ist Metaphysik?, Frankfurt am Main: Klostermann, 1976 [1929], S. 122) Vgl. zum gesamten historischen Aufriss der je nur leicht variierten Existenzfrage von Welt Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, hg. v. Rico Hauswald, Jens Lemanski und Daniel Schubbe, Hamburg: Meiner, 2013.

443

Vgl. zu dieser Metaphorik auch TLP 6.53–7 und PU 119 bzw. im erweiterten Kontext der ›sprachlichen Gefangenschaft‹ meine Ausführungen zum Fliegenglas-Aphorismus in Kap. 16 Staunen als Ausbruch aus dem Fliegenglas.

444

Vgl. Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis.

445

González-Castán 2015: 278.

446

Gen 1,1–3.

447

Joh 1,1–3.

448

Obschon hier nicht der Ort ist, dies zu vertiefen, scheint mir eine ausführliche Untersuchung der von Wittgenstein angesprochenen Körpervokabeln im Zusammenhang von Staunen lohnenswert zu sein. Welches Ensemble von Gestik und Mimik ist für den Ausdruck von Staunen charakteristisch? Mit Aby Warburg wäre zu fragen: Gibt es eine Pathosformel des Staunens? Pathosformeln sind historisch tradierte und sich ähnelnde Formationen einer sich körperlich darstellenden Rhetorik, die zu einem »idealisierten Symbol« geronnen sind. Sie sind »stilisierte Form für Grenzwerte mimischen und physiognomischen Ausdrucks«, die in Teilen mitunter bis in die Antike zurückreichen (vgl. Warburg, Aby, »Dürer und die italienische Antike«, in: Verhandlung der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg 1905, Leipzig: B. G. Teubner, 1906, S. 55–66). Kunstgeschichtlich wäre dies vor allem über die Mimik des geöffneten Mundes oder anhand von aufgerissenen Augen anzusprechen; so zum Beispiel anhand von Rembrandts Selbstbildnis mit Mütze, den Mund geöffnet (1630), Sébastien Le Clercs physiologischer Studie Étonnement (1695–1720) oder Joseph Wright of Derbys An Experiment on a Bird in an Air Pump (1768). Auch literarische Spuren finden sich diesbezüglich. So heißt es in Rainer Maria Rilkes Die Turnstunde (1902): »Und ein Kleiner mit schwarzen Augen ist oben auf dem Bock hocken geblieben und starrt mit offenem Mund nach der Kammer. Etwas Lähmendes scheint in der Luft zu liegen.« (Rilke, Rainer Maria, Die Turnstunde, in: Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1996, S. 439) Vgl. zu einem ersten Ansatz auf diesem Untersuchungsfeld Aggermann, Lorenz, »Erst das Loch bestimmt den Status eines Körpers im Raum. Der offene Mund als Reflexion und als Geste«, in: Staunen als Grenzphänomen, hg. v. Nicola Gess, Mireille Schnyder, Hugues Marchal und Johannes Bartuschat, Paderborn: Fink, 2017, S. 141–156.

449

Assmann 2015: 19.

450

Vgl. zu Heideggers Begriff von Staunen ausführlich Kap. 3.2 Martin Heidegger.

451

Vgl. zu Waismanns und Schlicks bewundernder Haltung gegenüber Wittgenstein und dessen priesterlichen Ambitionen im Wiener Kreis Kap. 18.4.1 Der Wiener Kreis und sein Priester Wittgenstein.

452

Das der Frage nach dem Sinn vom Sein untergeordnete Angstthema als ›Grundstimmung‹ (vgl. insb. Heidegger 2006 [1927]: 187–191) ist im Gesamtzusammenhang von Sein und Zeit zentral. Aufgrund der damit verbundenen Komplexität und des systematischen Anspruchs sehe ich von einem vertiefenden Referat jedoch ab. Wohl wissend um diese kursorische Lektüre, reicht meine Thematisierung Heideggers allein an die Gesprächsnotiz aus dem Wiener Kreis heran. Heidegger wird von mir ausschließlich von Wittgensteins Begriff des Staunens her gelesen – hier ziehe ich auch die interpretative Grenze.

453

Auch der Herausgeber von WWK, Brian McGuinness, verweist in seinen Anmerkungen zur Gesprächsnotiz auf Heideggers Sein und Zeit. Dabei bleibt eine Begründung dieser Referenz jedoch aus, sie wird als gegeben gesetzt. Auf den Topos des Staunens und die Bezüge zu VE geht McGuinness gar nicht ein.

454

Innerhalb des Gesamtwerks stellt die Gesprächsnotiz die einzige Bezugnahme Wittgensteins auf Heidegger dar. Von einer vertieften Kenntnis der Schriften Heideggers ist nach meinem Ermessen nicht auszugehen. Eher scheint der Kommentar im Gesprächskreis bei Schlick vom 30. Dezember 1929 eine flüchtige Bemerkung zu sein, die als Ausweis zeitgenössischer philosophischer Lektüren zu bewerten ist. Eine die Textstelle ernst nehmende Kontextualisierung bietet sich meiner Ansicht nach dennoch an, da sich aus ihr andeutungsweise entnehmen lässt, was der fragmentarisch-assoziative Denker Wittgenstein seiner Konzeption des Staunens als zugehörig beistellt.

455

Was die argumentative Orientierung an Parallelstellen angeht, heißt es bei Szondi: »Ob eine Stelle als Parallelstelle anzusehen ist, kann […] nicht etwa der Gliederung des Textes, auch nicht einer anderen Faktizität, sondern ausschließlich dem Sinn der Stelle entnommen werden. Die Parallelstelle muß sich wie jeder andere Beleg über ihren Belegcharakter erst ausweisen. Das aber geschieht in der Interpretation.« (Szondi 2011: 281)

456

Heidegger 2006 [1927]: 4.

457

Ebd. 9.

458

Ebd. 8.

459

Vgl. ebd. 185. Die Differenzierung von Angst und Furcht bezieht Heidegger von Kierkegaard (vgl. Kierkegaard, Søren, Der Begriff der Angst, Frankfurt am Main: Syndikat, 1984 [1844]: 40 ff.). Zu Heideggers Kierkegaard-Adaptionen siehe ferner Kuder, Paul, Heideggers Kierkegaard, Baden-Baden: Nomos, 2016.

460

Heidegger 2006 [1927]: 344.

461

Heidegger 2006 [1927]: § 46 ff. Vgl. vertiefend zum Gesichtspunkt ›Sein zum Tode‹ und dessen Stellenwert im Gesamtkontext von Sein und Zeit Thonhauser, Gerhard, Heideggers ›Sein und Zeit‹. Einführung und Kommentar, Berlin: Metzler, 2022, S. 127–143.

462

Heidegger 2006 [1927]: 186.

463

Ebd. 344.

464

Ebd.

465

Ebd. 187.

466

Ebd.

467

Ebd. 186–189.

468

Heidegger 2006 [1927]: 189. Übertragen auf einen Sozialzusammenhang, ist Angst in Heideggers Konzeption auch dasjenige Moment, das aus dem ›Man‹ heraus Singularisierung bewirkt. Es hebt aus der »Seinsart der Alltäglichkeit« heraus. ›Man‹ ist bei Heidegger in folgendem Sinne zu verstehen: »Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.« (Ebd. 126 f.) Es ist die konzentrierte, sozial überformte »durchschnittliche Alltäglichkeit« (ebd. 43 ff., vgl. 181–195), die bei Wittgenstein in ähnlichem Begründungszusammenhang mit dem Begriff ›Lebensform‹ bereits ausgeführt wurde (vgl. Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis).

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12