Kapitel 10 »Als ob der Blitz …« – Wissenschaftskritik

In: Quadraturen des Staunens
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Tim Hofmann
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Im frühen 20. Jahrhundert tritt in den Humanwissenschaften und in den Künsten eine neue Denkfigur auf den Plan: das Primitive. Hierzu Gess:

Anhand von indigenen Völkern, Kindern und Geisteskranken werden Ursprungsstudien betrieben, die entweder fortschrittslogisch oder genealogisch ausgerichtet und die Entwicklung des Menschen und seiner Kultur nachvollziehen wollen, oder aber ontologisch, insofern sie das eigentliche Wesen des Menschen ergründen wollen.469

In den Vermischten Bemerkungen partizipiert auch Wittgenstein an diesem »Kult des Archaischen«470. Die »primitiven Völker« bilden dabei die Reflexionsgrundlage für eine Kritik am verkürzten und gleichzeitig absolut gesetzten Wirklichkeitsmodell der im Kollektivsingular zusammengefassten empirischen Wissenschaft.471 Nicht von ungefähr in einem 1930 und somit in derselben Werkphase wie der ›Vortrag‹ entstandenen Notat bringt Wittgenstein das Staunen gegen den »Geist, in dem die Wissenschaft« in »hochzivilisierte[n] Völker[n]« betrieben wird, in Stellung. Sein zentrales Argument: Die »Erklärung[en] der Wissenschaft« können manche Arten von »Staunen« nicht »heben« (VB S. 457).

Ausgangs- und Absetzungspunkt seiner These ist die äußerst problematische, im Primitivismus-Diskurs um 1900 jedoch fest verankerte Schrift Histoire du peuple d’Israël (1893) des französischen Historikers Ernest Renan.472 Meine folgende Lektüre verzichtet auf ein Referat seiner wissenschaftskritischen Positionen, also dessen, wovon Wittgenstein sich abzugrenzen sucht. Diese Arbeit wurde bereits erbracht.473 Ich beabsichtige vielmehr eine auf Staunen ausgerichtete Zuspitzung der Sequenz, die vor allem die Querverbindungen zum ›Vortrag‹ und dessen Kategorien von relativem und absolutem Staunen sucht, gleichzeitig aber auch die Eigenständigkeit des Texts betont. Meine These: Wittgensteins vom Primitiven ausgehende Wissenschaftskritik ist für ihn Anlass, seinen Staunensbegriff stärker in Richtung des absoluten Staunens zu verschieben und das mystisch-transzendierende Moment darin stärker zu konturieren.

Der Text zeichnet sich durch fehlende Stringenz aus. Wittgenstein führt darin vor, was er selbst als die ihm eigene »natürliche Denkweise« beschreibt: »[S]o springe ich um das Thema herum«. (VB S. 489) Mit vielen Revisionsschleifen, semantischen Unschärfen und rhetorischen Fragen folgt er hierbei keinem explikativen, sondern einem sondierenden Verfahren. Aus diesem Grund kann meine auf das Staunen bezogene Lektüre der Sequenz nur kleinteilig und lokal erfolgen. Diesem Umstand begegne ich anhand von Wittgensteins eigener Textgliederung, seinen Absätzen in den thematischen Schwerpunktsetzungen: ›der (primitive) Mensch‹, der ›Blitz‹ und ›Einschläfern, Aufwachen, Staunen‹.

Um einen Überblick zu bieten, ist die Sequenz zunächst in Gänze angeführt:

Ich lese in Renans ›Peuple d’Israël‹: »La naissance, la maledie, la mort, le délire, la catelepsie, le sommeil, les rêves frappaient infiniment, et, même aujourd’hui, il n’est donné qu’à un petit nombre de voir clairement que ces phénomènes ont leurs causes dans notre organisation.«474 Im Gegenteil, es besteht gar kein Grund, sich über diese Dinge zu wundern, weil sie so alltäglich sind. Wenn sich der primitive Mensch über sie wundern muß, wieviel mehr der Hund und der Affe. Oder nimmt man an, daß die Menschen quasi plötzlich aufgewacht sind, und diese Dinge, die schon immer da waren, nun plötzlich bemerken und begreiflicherweise erstaunt waren? – Ja, etwas Ähnliches könnte man sogar annehmen; aber nicht, daß sie diese Dinge zum erstenmal wahrnehmen, sondern, daß sie plötzlich anfangen, sich über sie zu wundern. Das aber hat wieder nichts mit ihrer Primitivität zu tun. Es sei denn, daß man es primitiv nennt, sich nicht über die Dinge zu wundern, dann aber sind gerade die heutigen Menschen und Renan selbst primitiv, wenn er glaubt, die Erklärung der Wissenschaft könne das Staunen heben.

Als ob der Blitz heute alltäglicher oder weniger staunenswert wäre als vor 2000 Jahren.

Zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist ein Mittel um ihn wieder einzuschläfern. (VB S. 457)

10.1 Der (primitive) Mensch

Der erste Abschnitt nimmt die bereits in Kap. 7 Begriffliche Annäherungen ausgeführte binäre Logik von Gewöhnlichem/Alltäglichem und Ungewöhnlichem/Seltsamem auf. Der Wechsel zwischen beiden Qualitäten markiert hier das Staunen bzw. dessen von Wittgenstein willkürlich gesetztes Substitut des Sich-Wunderns. Dieses, so Wittgenstein, findet nicht in einem ›Szenario des ersten Mals‹ statt: »[D]er primitive Mensch« staunt bzw. wundert sich nicht in Anbetracht des Ungewöhnlichen und Unbekannten, das er »zum erstenmal wahrn[immt]«; er staunt bzw. wundert sich in Anbetracht des Gewöhnlichen und alltäglich Bekannten, das »plötzlich« ungewöhnlich und unbekannt wird. Woraus diese unvermittelte Veränderung des Wahrnehmungsmodus resultiert, was diesen qualitativen Wechsel auslöst, darüber gibt der Text keine Auskunft. Wittgenstein bleibt an dieser Stelle eine Antwort schuldig. Der Auslöser des Staunens verbleibt, bedingt durch die Sprunghaftigkeit seines Denkens, im Dunkeln.

Ungeachtet dieser argumentativen Leerstelle spannt Wittgenstein ausgehend von der qualitativen Unterscheidung von ›gewöhnlich‹ und ›ungewöhnlich‹ im ersten Abschnitt einen anthropogenetischen Bogen und durchmisst den Weg vom »primitive[n]« bis zum »heutigen Menschen«. Staunen wird dabei zunächst implizit als initiierendes Moment, als ›Entwicklungsmotor‹ in einer menschheitsgeschichtlichen Fortschrittslogik angesprochen. Diese historische Dimensionierung erfährt jedoch eine Revision: Wittgenstein unterläuft den an die positiven Wissenschaften gekoppelten Fortschrittsgedanken und formuliert ein Gegennarrativ. Am Ende des Absatzes nimmt er den pejorativen Gebrauch des Attributes ›primitiv‹ auf und überträgt dieses invers auf den anthropogenetischen Progress: ›Primitiv‹ ist dann nicht mehr der Primitive, ›primitiv‹ sind »die heutigen Menschen«, wenn sie glauben, dass »die Erklärung[en] der Wissenschaft […] Staunen heben« können. In einer empirisch durchkartografierten Welt hat Staunen keinen Platz; genau dies ist für Wittgenstein jedoch »primitiv […], sich nicht über die Dinge zu wundern«. Zugespitzt heißt das: Wer die Fähigkeit des Staunens nicht mehr besitzt, also im positiven Sinn als Staunende:r ›primitiv‹ ist, fällt mit Wittgenstein zurück auf eine Entwicklungsstufe des prähistorischen Menschen vor dessen plötzlichem Wahrnehmen des Alltäglichen als Nichtalltägliches. Der von den Naturwissenschaften propagierte und von technologischen Neuerungen und Innovationen flankierte Fortschritt stellt für Wittgenstein in anthropogenetischer Hinsicht einen Rückschritt dar.

10.2 Blitz

In Wittgensteins Argumentation steht außer Frage, dass ein ausschließlich aus Rationalisierungsstrategien bestehender Weltzugang verkürzend und unzulänglich ist. Mit dem Vokabular der Empirie allein können Phänomene nicht eingeholt werden. An zentraler Stelle, im zweiten Abschnitt des Zitats aus den Vermischten Bemerkungen (s. o.), heißt es: »Als ob der Blitz heute alltäglicher oder weniger staunenswert wäre als vor 2000 Jahren.« Der despektierliche Gestus des Satzes ist offensichtlich. Er zielt auf das Selbstverständnis der positiven Wissenschaften. Sinngemäß polemisiert Wittgenstein gegen Folgendes: Seit Benjamin Franklin, den publikumswirksamen, auf Faszination ausgerichteten ›Thunder Houses‹ im 19. Jahrhundert und der Blütezeit der Gewitterforschung um 1900475 ist zu den physikalischen Gesichtspunkten eines Blitzes alles gesagt worden. Meteorologische Forschung hat den Blitz gebändigt, in die Archive des Wissens verbannt und empirisch einsortiert. Dennoch: Entlädt sich ein Blitz, erhellt er für Sekundenbruchteile gleißend das umgebende Dunkel und fährt er zuckend vom Himmel zur Erde, so ist das ungeachtet aller rationaler Erklärungen, nun wieder mit Wittgenstein, immer noch ungewöhnlich, nicht alltäglich und eben »staunenswert«. Angesichts unmittelbar sich entladender Naturgewalt fehlen der Empirie die Worte.

Diese sich um das Blitzbeispiel gruppierende Textbewegung nimmt das im ›Vortrag‹ ausgeführte Doppelregister von relativem und absolutem Staunen476 auf, allerdings nicht affirmativ, sondern revidierend: Relatives Staunen habe ich als auslösenden Moment innerhalb eines rationalen Verifikationsvorgangs eingeführt. Über das Löwenkopf-Beispiel und den Verifikationsvorgang wurde es als Impuls der Resystematisierung angesprochen. Das Ziel: sprachliche Überführung eines Phänomens in ein logisch kohärentes, auf empirischen Daten beruhendes »wissenschaftliche[s] System« (VE S. 17).

Diese Verbindung von Staunen und positiver Wissenschaft war im ›Vortrag‹ noch unproblematisch. In den Bemerkungen, in der Sequenz über den »primitive[n] Menschen« und der darauf aufbauenden Wissenschaftskritik ist dieser Zusammenhang aufgelöst. Das relative Staunen, vormals noch gleichwertige und vor allem empirische Kategorie neben dem absoluten Staunen, wird von Wittgenstein zurückgewiesen. Selbst der angesprochene initiierende Moment als Auslöser eines epistemischen Prozesses findet keinen Platz mehr. Die Wissenschaft, so ist Wittgenstein hier zu verstehen, staunt nicht mehr; sie gibt nur noch eindimensionale »Erklärung[en]« (VB S. 457).

Im Gegensatz zu dieser Disqualifizierung des an Empirie geknüpften relativen Staunens erfährt das absolute Staunen im Blitzbeispiel eine Aufwertung und wird alleingültig. Staunen ist absolut oder gar nicht. Über den ›Vortrag‹ habe ich die sich den »Tatsachen im logischen Raum« (TLP 1.13) entziehende Kategorie als Moment der Sprachlosigkeit, des mystisch-transzendenten Erlebens charakterisiert. Eine ›Übersetzung‹ von Erleben in Sprache gibt es hier nicht, da das absolute Staunen einen »übernatürlichen Wert« (VE S. 17) besitzt, der mit den Mitteln eines sprachlogischen Analyse- oder Verifikationsvorgangs nicht eingeholt werden kann.

Diese Charakterisierung des absoluten Staunens nimmt die Aussage »Als ob der Blitz heute alltäglicher oder weniger staunenswert wäre als vor 2000 Jahren« (VB S. 457) wieder auf. Wittgenstein verwendet für die Darstellung der empirischen Unzulänglichkeit im Verhältnis zum absoluten Erleben des Staunens nicht von ungefähr den Blitz als explikatives Symbol. Als Chiffre für transzendentes Erleben hat er Tradition. Vom Blitzbündel des Zeus über die alttestamentlichen Epiphanien, als Symbol für den Zorn Gottes oder Sinnbild der Nichtigkeit des Menschen gegenüber einer übermächtigen Natur:477 Wenn es blitzt, berührt die Transzendenz die Immanenz, dann geht es um das, was über der Physik steht – um Metaphysik, die bei Wittgenstein bekanntlich dem »Unaussprechliche[n]« (TLP 6.522) angehört und von der man bei ihm »nicht sprechen, […] [nur] schweigen« (TLP 7) bzw., wie in vorliegendem Kontext, nur staunen kann.

Neben jenem symbolischen Gehalt des Transzendenten ist der Blitz fest im deskriptiven Vokabular des Topos des Erhabenen verankert. So heißt es bereits bei Pseudo-Longinus in dessen das rhetorisch-theoretische Feld des Erhabenen begründenden Schrift Peri hypsous (ca. 30 n. Chr.): »[D]as Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, [zerteilt] den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz [und] [offenbart] schlagartig die geballte Kraft des Redners.«478 Im deutschsprachigen Raum theoriegeschichtlich vor allem von Kant vorgeprägt, wird der Blitz in der Kritik der Urteilskraft (1790) ebenfalls zur Illustration des Erhabenen verwendet:

Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines Flusses u. d. gl.479

Nach Kant bedingt Erhabenes die »Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns«480, wobei das Erleben das kognitive Fassungsvermögen übersteigt.

Wittgensteins die Wissenschaft wegen ihres verengten Erfahrungsbegriffs diskreditierende Sequenz aus den Bemerkungen nimmt Aspekte dieser Traditionslinie auf: Der Blitz ist über die Wissenschaft erhaben, mit Messschieber und Feldstecher kommt man ihm nicht bei. Er illustriert, wie auch in Kants Beispiel, ein übersinnliches Vermögen und die Entgrenzung des kognitiven Fassungsvermögens; allein bei Wittgenstein heißt es Staunen. Zu Wittgensteins Surrogat von Staunen und Wundern481 fügt sich mit dem Blitz ein neuer Strang hinzu. Das unscharfe terminologische Konglomerat ist hinsichtlich des Erhabenen zu erweitern. Wiederholt zeigt sich, dass Wittgenstein keinen systematischen, konzeptionell ausgearbeiteten Begriff von Staunen hat; nur das Moment der Sprachlosigkeit ist dem Komplex ›Staunen-Wundern-Erhabenheit‹ eigen. Sie markiert das qualitative höherwertige Erleben gegenüber dem immanenten und an Empirie ausgerichteten Vokabular der Wissenschaft.

Doch nicht nur symbolisch bezieht sich Wittgenstein mit dem Blitz auf den Topos des Erhabenen. Im hinsichtlich seiner Überlegungen zum Staunen einschlägigen ›Vortrag‹ wird es explizit angesprochen. Neben einer Randbemerkung in den Denkbewegungen (vgl. DB S. 76) ist die darin vorkommende Thematisierung die einzige Erwähnung im Gesamtwerk überhaupt. Die soeben angeführte Konkordanz von Staunen und Erhabenem ist als Befund auch über die textuelle Ebene zu unterstreichen. Hierbei ist interessant, dass sublimes Erleben, wie über den Blitz in den Bemerkungen vermittelt, ebenfalls als qualitativ höherwertiger Pol gegenüber der Wissenschaft gedacht wird: »[W]ir [können] kein wissenschaftliches Buch schreiben […], dessen Gegenstand womöglich an und für sich erhaben und etwas Höheres wäre […].« (VE S. 13) Warum? »Es gibt keine Sätze, die in einem absoluten Sinne erhaben […] sind […].« (VE S. 12) Sprachlosigkeit also auch hier. Wittgenstein schreibt in Wiederholungsschleifen.

10.3 Einschläfern, Aufwachen, Staunen

Auf die über das Blitzbeispiel formulierte Kritik an »der Wissenschaft« folgt im letzten Abschnitt der Sequenz eine zusammenfassende Passage, die sich sowohl analytisch als auch instruktiv liest: »Zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist ein Mittel um ihn wieder einzuschläfern.« (VB S. 457) Neben der Aktualisierung der von der Wissenschaft kolportierten anthropogenetischen Fortschrittserzählung im ersten Absatz – der mit »wieder« angedeuteten zirkulären Struktur und der Wiederaufnahme von »aufgewacht« auf der Textebene – ist die letzte Textgruppe in ihrer Verwobenheit voraussetzungsreich. Sie erschließt sich jedoch durch das Herauslösen der darin aufgeführten Motive Einschläfern, Aufwachen und Staunen.

Für Wittgenstein hat Wissenschaft etwas Sedierendes. Ihre erklärenden Narrative stellen ihm zufolge prästabilierende Raster der Sinnbildung dar, die Sinnesdaten in schablonenhaftes Denken überführen. Dadurch finde ein »[E]in[]schläfern« der Wahrnehmung statt. Auch Theoreme der Wissenschaft sind Lebensformen.482 In dieser dystopisch anmutenden Zeitdiagnose wird »der Mensch« bzw. das menschliche Leben in einem traumwandlerischen Daseinszustand positioniert. Was diesen durch das Narkotikum ›Wissenschaft‹ ausgelösten Zustand des Schlafes auszeichnet, wird von Wittgenstein in der Unruhe des Texts und in der schnellen Abfolge der verhandelten Gesichtspunkte übergangen. Allein ein vages Konzept von Unbewusstsein deutet sich mit »[E]in[]schläfern« an. Seine pauschale Situierung des Menschen läuft auf das Bild einer gegenüber externen Sinnesdaten abgedichteten Existenzform zu. Das Korsett der empirischen Narrative verhindert ein umfassendes und über das ganze Sinnesspektrum aufgefächertes Durchdringen von Welt. »Die Wissenschaft« (VB S. 457) und die von ihr ausgehenden Rationalisierungsstrategien schieben einen Riegel zwischen Welt und erlebendes Subjekt.

Wie ist der nächste Begriff, das ›Aufwachen‹, zu charakterisieren? Dazu gibt ein Auszug aus Wittgensteins 1931 entstandener Studie Bemerkungen über Frazers ›Golden Bough‹ Auskunft. Sie steht textgenetisch in engem Verhältnis zu den von mir behandelten Abschnitten aus den Bemerkungen483 und kann mit dem »erwachenden Geist des Menschen« (GB S. 35) als inhaltliches Supplement zu »[A]ufwachen« (VB S. 457) herangezogen werden: »Denn keine Erscheinung ist an sich besonders geheimnisvoll, aber jede kann es uns werden, und das ist eben das Charakteristische am erwachenden Geist des Menschen, daß ihm eine Erscheinung bedeutend wird.« (GB S. 35) Der von Wittgenstein beschriebene Wachzustand ist aufs Engste an das Geheimnis und das Geheimnisvolle gebunden; wer aufwacht, für den bzw. die werden die Dinge geheimnisvoll.

Dieser Aspekt führt zum ersten Abschnitt der Textgruppe zurück: Jemand, der sich im Wachzustand befindet, zeichnet sich nach Wittgenstein dadurch aus, dass er bzw. sie »die Dinge, die schon immer da waren«, nicht als »Dinge, die schon immer da waren« (VB S. 457), wahr- und hinnimmt, sondern sie in ihrer singulären, geheimnisvollen Erscheinung aus der Alltagswahrnehmung herauslöst und ihnen dergestalt Bedeutung zukommen lässt.

Wittgensteins ›Aufwachen‹ ist so als ein die empirischen Erklärungsnarrative und Funktionszusammenhänge dekonstruierender Prozess der Bewusstwerdung zu verstehen, in dessen Folge ein Gegebenes aus kausalen Zusammenhängen gelöst und in seinen ursprünglichen Daseinszustand zurückversetzt wird. Wenn alle bewiesenen Formeln, alle induktiv gewonnenen Aussagen, alle empirischen Schemata, alle instrumentellen Verweis- und Verwertungslogiken aus der Welt geschafft sind, erscheinen die Welt und ihre Phänomene in geheimnisvoller Gestalt.

Für Wittgenstein ist dieses »[A]ufwachen« (VB S. 457) bzw. der »erwach[te] Geist des Menschen« (GB S. 35) jedoch nur eine Etappe und zuallererst eine Bedingung für das Staunen. Diese Abfolge ist im ersten, sehr nuancierten Satz des Gefüges mit »Zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen« vorgegeben. Man muss erst aufwachen, um staunen zu können. Der Wachzustand bleibt unter den Vorzeichen von Staunen nicht bei einer profanen Reflexion stehen, nicht bei einem Bewusstwerden der Dinge des alltäglichen Lebens. Der im dritten Textabschnitt umrissene Begriff von Staunen nimmt den im ersten und zweiten ausgeführten aktualisierend auf: Aus dem Wachzustand entwickelt sich für Wittgenstein ein Staunen, das »Dinge, die schon immer da waren« (VB S. 457), nicht nur bewusst wahrnimmt, sondern auch in einen mystischen Zusammenhang stellt. Dieses Staunen zielt nicht auf das Geheimnisvolle der Dinge, sondern auf die Konfrontation mit derjenigen Instanz, von der diese geheimnisvollen Dinge ausgehen und erschaffen wurden. Es ist das im ›Vortrag‹ geäußerte Staunen, in das man versetzt wird, wenn man »über die Existenz der Welt staun[t]« (VE S. 14) – ein Staunen, das Wittgenstein den ›Primitiven‹ zuspricht und den ›primitiven‹ »heutigen Menschen« (VB S. 457) abspricht.

Argumentativ kulminieren die Elemente Einschläfern, Aufwachen und Staunen in Folgendem: Wenn das Sedativum empirische »Wissenschaft […] ein Mittel« ist, um den Menschen »einzuschläfern« (VB S. 457), so ist das über den Zwischenschritt ›Aufwachen‹ vermittelte Staunen das dazugehörige Antidot. Es zersetzt das an induktiver Universalisierung ausgerichtete und dadurch Bedeutung nivellierende Narkotikum Wissenschaft. So etabliert Wittgenstein seine Wissenschaftskritik über ein antagonistisches Verhältnis, in dem einer rationalen Verengung durch Staunen ein Moment der sinnlichen Fülle und Entgrenzung entgegengesetzt wird.

469

Gess 2013: 12.

470

Ebd. 10.

471

Das folgende Kapitel versteht sich als unmittelbarer Anschluss an Kap. 4 Ludwig Wittgenstein und die »Krankheit einer Zeit«.

472

Vgl. Gertzen 2020: 167 ff.

473

Vgl. Brusotti 2014: 42–54.

474

»Die Geburt, die Krankheit und der Tod, die Wahnfantasien, die Katalepsie, der Schlaf und die Träume hatten damals eine übermächtige Wirkung und selbst heute sind nur wenige in der Lage, klar zu erkennen, dass die Ursache dieser Phänomene in uns selbst liegt.« (Übers. TH)

475

Vgl. Gess 2018: 186 f.

476

Vgl. Kap. 9 ›Vortrag über Ethik‹.

477

Vgl. Hoffmann 2012: 151 f.

478

Longinus Peri hypsous 1(3).

479

Kant KdU A 103.

480

Kant KdU A 85.

481

Vgl. Kap. 9 ›Vortrag über Ethik‹.

482

Vgl. Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis.

483

Vgl. Rothaupt 2016: 46.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12