Nachdem ich im vorangegangenen Kap. II.1 Episteme das Staunen in seinen epistemischen Variationen beschrieben habe, wird in den folgenden Kapiteln Wittgensteins Poiesis des Staunens untersucht. ›Poiesis‹ verstehe ich dabei in der ursprünglichen Bedeutung als intentionales Tun, als Produzieren, Evozieren, Herstellen, Hervorbringen.484 Mit Poiesis des Staunens geht es mir darum, wie man bei einem Gegenüber durch bestimmte Techniken Staunen hervorrufen kann – um das ›Staunenmachen‹ und das ›Staunenmachende‹.
In meinem auf Wittgenstein ausgerichteten Untersuchungszusammenhang bietet sich hierfür die Analyse der Felder Rhetorik und Performanz an. So artikuliert sich Wittgensteins Poiesis des Staunens in den Kapiteln ›Rhetorik des Staunens‹ (Kap. II.2 Rhetorik) und ›Performanz des Staunens‹ (Kap. II.3 Performanz). Opus und actio sind die beiden Zielgrößen in einem akteursbezogenen Resonanzraum.485
Dadurch wird der Staunensbegriff vermehrt auf seine praxeologischen Implikationen hin befragt, wodurch sich die Perspektive verschiebt: Die epistemischen Gesichtspunkte treten zugunsten von Wirkungsästhetiken des Staunens und des Bewunderns in den Hintergrund. Das bedeutet jedoch nicht, dass die in Kap. II.1 Episteme gewonnenen epistemischen Formationen verschwinden. Im Gegenteil: Wie sich zeigen wird, beziehen sowohl Wittgensteins Rhetorik des Staunens als auch seine Performanz des Staunens wesentliche Strukturmerkmale aus den dargelegten epistemischen Facetten – Staunen wird zu einem integrativen Begriff mit interdependentem Charakter. Die Motivkreise sind reziprok, sie wiederholen, transformieren und quadrieren sich.
Mit den genannten Positionen geht ein Wechsel der Begründungskategorien einher: Wurde bis zu diesem Punkt meiner Arbeit in der Hauptsache philosophisch argumentiert, so artikulieren sich die folgenden Gliederungseinheiten in literatur-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen. Dass die damit suggerierten Trennlinien zwischen den Disziplinen gerade bei Wittgenstein nicht zu halten sind und dieser den disziplinären Grenzübertritt effektvoll zu nutzen wusste, wird in den folgenden Überlegungen mehrfach thematisiert.
Bevor ich hierauf ausführlich eingehe und mit Rhetorik und Performanz den akteursbezogenen Resonanzraum von Staunen bei Wittgenstein abschreite, wird in den beiden folgenden Zwischenkapiteln durch das Theorieangebot der Aufmerksamkeitsökonomie von Georg Franck und durch den Begriff der Antiphilosophie von Alain Badiou zunächst eine Heuristik für die Poiesis des Staunens aufgestellt. Beide Gesichtspunkte sind als Hintergrundfolie für die darauffolgenden Themenkreise in Kap. II.2 Rhetorik und Kap. II.3 Performanz je mitzudenken. Mit Franck und Badiou mache ich also zunächst einen Schritt von Wittgenstein weg, um anschließend umso näher an ihn und seine Poiesis des Staunens herantreten zu können.