In einer Arbeitsmappe aus Hans Blumenbergs Nachlass mit dem Titel Die Verführbarkeit des Philosophen – eine essayistische Folge von Einzelstudien, die das anekdotische Potenzial der Philosophiegeschichte ernst nimmt und werkgebunden rückbezieht – heißt es, den Zeitindex eines Werks unterstreichend:
Kommt es bei einem bedeutenden Werk des ›reinen‹ Denkens, der Mathematik oder der Philosophie etwa, darauf an, wann es veröffentlicht wird und damit wenigstens die Möglichkeit zu seiner Wirkung bekommt? Gleichgültig ist dieses ›Wann‹ keinesfalls, wenn man von vornherein die Frage nach der faktischen Wirkung einbezieht. Sie hängt von Bedingungen ab, die vom Datum der Publikation nicht getrennt werden können.486
Dieses »›Wann‹« liegt bei Wittgenstein in der Zeit zwischen den Weltkriegen, zwischen 1918 und 1939. Als Wittgenstein die Bühne der Öffentlichkeit betrat, war viel los: 1924 finden sich die Akteure der Frankfurter Schule unter dem Dach des Instituts für Sozialforschung zusammen. Theorie wird ›kritisch‹. Arendt legt mit ihrer Biografie über Rahel Varnhagen eine Arbeit vor, die terminologische Maßstäbe für die Auseinandersetzung mit jüdischem Leben in Deutschland setzt. Heidegger hebt mit Sein und Zeit die Phänomenologie auf eine neue Stufe, begründet die Fundamentalontologie und will nur wenige Jahre später Führer des Führers werden. 1929 steigt er anlässlich des ›II. Internationalen Hochschulkurses‹ auf dem ›Mythenberg von Davos‹ mit Cassirer in den philosophischen Ring. Seit 1923 hatte dieser mit Philosophie der symbolischen Formen viel Aufsehen erregt. Die Disputation der beiden Schwergewichte wird legendär. Das als bieder anmutende ›Arbeitsgemeinschaft E. Cassirer und M. Heidegger‹ angekündigte »Starduo« begründet die ›Event-Philosophie‹ mit dazugehörigem »Ereignischarakter«487. Die Begegnung der dramatis personae Cassirer und Heidegger wird zum »Schauspiel« hochstilisiert, das noch heute Anlass zur »Legenden-Bildung«488 gibt.489 Zeitgleich schreibt Benjamin seine Einbahnstraße und will in einer Lesegemeinschaft mit Brecht »den Heidegger […] zertrümmern«490. Brecht wiederum bricht 1928 zusammen mit Weil mit der Dreigroschenoper alle Zuschauerrekorde. In Österreich wütet Kraus mit seiner Fackel. Musil veröffentlicht ab 1930 seinen Mann ohne Eigenschaften, Broch zeitgleich Die Schlafwandler, und ein Plagiatsstreit entfacht. Ob zustimmend oder ablehnend, nahezu alle der aufgeführten Autor:innen setzen sich mit Spenglers Der Untergang des Abendlandes auseinander. Nicht nur inhaltlich wird dieser kontrovers diskutiert, mit dem Titel seiner kulturmorphologischen Schrift bringt er vielmehr ein Zeitempfinden auf den Begriff, das von gesamtgesellschaftlichen Dynamisierungen, Reizüberflutungen, Verfallserscheinungen und Krisen gekennzeichnet ist.491
In dieser zusätzlich durch Politik und aufkommende Massenmedien überformten literarisch-intellektuellen Gemengelage ist es nicht leicht, wahrgenommen zu werden. Es braucht etwas Besonderes, einen spezifischen Attraktor492, eine singularisierende Attraktivität493, um aufzufallen, Beachtung zu finden und die Konkurrenz auf ihren Platz zu verweisen. Übersetzt in die Kultursoziologie und den abstrahierend-nüchternen Ton Pierre Bourdieus:
In dem historisch ausgebildeten Raum miteinander koexistierender und daher konkurrierender Werke, die durch ihre Wechselbeziehungen den Raum möglicher Positionierungen, Fortsetzungen, Überholungen, Brüche umreißen, weist das durch Besetzung einer distinkten, erkennbaren Position bekannt gewordene und anerkannte Werk durch eine Evaluation in actu seinerseits den anderen ihren Platz zu.494
Diese durch Distinktion vermittelte Platzzuweisung und Positionierung auf der Skala des Bekannten und Anerkannten speist sich aus der Ressource Aufmerksamkeit. Georg Franck mit seiner ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ ist hier Stichwortgeber. Allein wer sich im »anwachsenden Schwall von Reizen« behauptet und heraussticht, erhält ihm zufolge die »knappe[] Ressource« Aufmerksamkeit.495 ›Gewöhnliches‹ oder ›Durchschnittliches‹ werde von den Rezipient:innen, vom Publikum, von den Fachleuten und Mitproduzent:innen496 nicht beachtet. Bezogen auf die Subjekt- bzw. Distributionsebene eines Attraktors bedeutet dies: »Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. […] Der Ruhm ist die schönste der irdischen Belohnungen, weil er den Status des Großverdieners an Aufmerksamkeit noch über den Tod sichert.«497 Die Dynamik der Aufmerksamkeitsökonomie konstituiert sich entsprechend wechselseitig.
Vor der unwiderstehlichen Droge ›Aufmerksamkeit‹ sind auch Wissenschaft und Wissenschaftler:innen nicht gefeit. Im Gegenteil: Gebunden an ein ›doppeltes Staunen‹, wirken aufmerksamkeitsökonomische Programme hinter dem Gestus objektiver Nüchternheit sogar in besonderem Maße. Hierzu Franck:
Die Wissenschaft ist ein einziger Tanz um die Aufmerksamkeit. Es ist nämlich keineswegs nur das eigene Staunen und die eigene Neugierde, die einen zum Wissenschaftler werden lassen. Es ist auch das Staunen, das man bei anderen Menschen zu erregen, es ist auch das Interesse, das man auf die eigene Person zu lenken hofft. Nicht die Aussicht auf ein hohes finanzielles Einkommen gibt den Ausschlag, die Forschung als Beruf zu wählen. Wenn es ein Einkommen ist, das die Berufswahl des Wissenschaftlers motiviert, dann ist es das an Aufmerksamkeit. Es gehört sogar zur Berufsehre des Forschers, daß ihm Reputation wichtiger ist als Geld. Reputation ist das konsolidierende Einkommen an kollegialer Aufmerksamkeit. […] Selbst das Größte, was ein Mensch für sich im Stillen erreicht, bleibt klein, wenn es nicht die Beachtung anderer Menschen findet. Wohl erhebt auch das stille Glück des Gelingens, aber nur kurz. Wenn ihm keine äußere Bewunderung zu Hilfe kommt, ist bald wieder alles gewöhnlich. Schon ein Achtungserfolg bringt aber Licht in den grauen Alltag des Forschens. Freilich sollte ein bißchen Bewunderung schon auch dabei sein. Bloß registrierendes Abgefertigtwerden reicht nicht. Wie die eigene Hingabe, so soll auch die Reaktion der anderen aus dem Herzen kommen. Die Gemüter sollen sich erhitzen. Begeisterung und Betroffenheit sollen sich ausbreiten. In aller Munde will man sein. Und die Münder sollen sich zerreißen.498
Es ist hier nicht der Ort, die Sequenz bis in die letzten Winkel auszumessen. Zweifel kann man vor allem gegenüber Francks Rede über die Motivation der Berufswahl und dem »stille[n] Glück des Gelingens« bei Wissenschaftler:innen anbringen. Worauf es mir ankommt, ist Francks Quadrierung des Staunens, sein ›Staunen2‹, wobei der eine Bestandteil epistemische und der andere performative Eigenschaften besitzt: Als Wissenschaftler:in staunt man über ein Phänomen und beginnt es zu erforschen. Staunen steht am Anfang der Erkenntnis. Nach Francks Aufmerksamkeitsökonomie liegt die Absicht einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers nun jedoch auch darin, dass andere Menschen über die gewonnenen Erkenntnisse staunen. Staunen so verstanden ist also doppelt generativ. Hier öffnet sich die Rezeptionsebene, und es verbinden sich Formen von Eitelkeit mit akademischem Renommee. Die wissenschaftlichen Akteur:innen möchten Anerkennung für den Ertrag ihres wissenschaftlichen Staunens. Sie wollen Aufmerksamkeit für die von ihnen gewonnene und so eng mit ihrem Namen verbundene Erkenntnis. Das eigene Staunen soll zum Staunen der anderen werden, das eigene Wirken im sozialen Resonanzgeschehen Reputation und Bewunderung erzeugen:
Die seelenfremde Wissenschaft ist nicht so seelenlos, wie ihre Theorien und die Theorien über sie glauben machen. Sie hat sehr wohl mit Fragen zu tun, die die Seele bewegen. Wer träumt nicht von der Bewunderung des staunenden Publikums? Wer versteht nicht den Ehrgeiz, den dieser Traum entfacht? […] Auf der Ebene des forschungspraktischen Miteinander geht es nun einmal nicht wertfrei zu. Hier wird mit allen Mitteln um Aufmerksamkeit gekämpft. Hier zählen nicht nur Wahrheit, Triftigkeit und Relevanz. Hier spielt die Schau und die Verblüffung des staunenden Publikums eine nicht zu unterschätzende Rolle. Hier wird Propaganda und Politik gemacht […].499
Franck benennt die Mittel, mit denen um »Aufmerksamkeit gekämpft« und die »Verblüffung des staunenden Publikums« erzeugt wird, und welcher Techniken sich die wissenschaftliche »Propaganda« bedient, nicht. Er fragt nicht nach der provozierten Aufmerksamkeitserzeugung und -lenkung, nicht danach, wie das ›Staunenmachen‹ gemacht wird, und auch nicht nach den Spezifika des Aufmerksamkeit generierenden ›Marketings‹500.
In dieser abgedunkelten Seite der Aufmerksamkeitsökonomie liegt das Anschlusspotenzial für das mit Quadraturen des Staunens verfolgte Unternehmen. Die Frage lautet: Wie schaffen es Wissenschaftler:innen, dass ihr Publikum über das Ergebnis ihres eigenen Staunens staunt? Die zweite, die Episteme supplementierende Form des von Franck angesprochenen Staunens gerät damit in den Blick. Meine von Franck ausgehende These: Bei Wittgenstein ist es die Poiesis des Staunens, die ihm dank der Ökonomie der Aufmerksamkeit Rendite und eine herausgehobene, mit Aufmerksamkeit versehene Stellung einbringt. Dieser Gedanke ist mit Badious Begriff der Antiphilosophie weiterzuführen.
Blumenberg 2005: 9.
Meyer 2014: 110.
Ebd.
Vgl. Eilenberger, Wolfram, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929, Stuttgart: Klett-Cotta, 2018, S. 355–372.
Benjamin 1978: 514.
Vgl. Kap. 3 Krise und Staunen.
Vgl. Kap. 17.3 Bewunderung und Vertikalspannung.
Vgl. Kap. 17.4 Bewunderung als Singularisierung.
Bourdieu 2001: 380.
Franck 1998: 49 f.
Vgl. ebd. 161.
Franck 1998: 10.
Ebd. 37 ff.
Franck 1998: 39 f.
Der meine Argumentation zusammenfassende Begriff ›Marketing‹ wurde in Anwendung auf den akademischen Sektor von Peter Trawny in seinen Heidegger-Fragmenten geprägt. Bei ihm auf die Philosophie bezogen als »The Marketing of Philosophy«, scheint es ertragreich zu sein, beispielsweise auch Martin Heidegger vor dem Hintergrund der Aufmerksamkeitsökonomie mit seinen spezifischen ›Marketingstrategien‹ eingehend zu thematisieren. Als Beispiel für einen Analysegegenstand seien an dieser Stelle Heideggers sprachliche ›Heideggereien‹ sowie die innerstädtische Marburger Flanerie des in Schwarzwaldtracht gekleideten ›außerordentlichen‹ Professors Heidegger genannt (vgl. Löwith, Karl, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart: Metzler, 1986, S. 43). Trawny überträgt das ›Marketing of Philosphy‹ nicht ganz ohne Ironie auch auf die Gegenwart: »Es ist eine unpassende Kritik, dass das [Leben] der Philosophen und Philosophinnen, ihre Auftritte […], ihre Anwesenheit in den Talkshows, in den populären Illustrierten oder auch in sozialen Netzen nichts mit Philosophie zu tun hat. Im Gegenteil – das ist Philosophie. Daher müsste darüber nachgedacht werden, ob nicht zur akademischen Ausbildung der Philosophen und Philosophinnen ein Pflichtmodul des self-marketing hinzutreten sollte […]. Man könnte unterrichten, wie […] Bücher produziert werden. Zu studieren wäre, wie man in der Öffentlichkeit auftritt, ohne dem Auditorium unangenehme Gefühle zu bereiten.« (Trawny 2018: 152 ff.)