Im Hintergrund des von Alain Badiou geprägten Begriffs der Antiphilosophie501 steht die Auseinandersetzung mit dem Ereignisbegriff502. In seiner Minimaldefinition fasst Badiou das Ereignis als »eine Störung [in] der Ordnung der Welt«503. Es zieht eine »Demarkationslinie«504 zwischen dem Normalen, Alltäglichen, Gewohnten und dem Unnormalen, Nicht-Alltäglichen, Ungewohnten.
Diesen Gesichtspunkt überträgt Badiou nun auf die Philosophie, wobei er der Antiphilosophie Ereignischarakter zuweist und sie gleichzeitig gegen die ›normale‹ systemische Philosophie mit ihrem integrativen, auf Kohärenz und geschlossene Repräsentation angelegten Charakter in Stellung bringt.505
Entgegen der systemischen Philosophie ist Antiphilosophie die »Verabschiedung der Kategorie der Wahrheit«506 und nach Slavoj Žižek – dessen präzisierende Lektüre von Badious Antiphilosophie ich für mein Anliegen produktiv mache – entsprechend eine »Gefahr für […] repräsentative System[e]«507 ; sie »preist die Mannigfaltigkeit und verabscheut [deren] ›zweiwertige Logik‹ [wahr/falsch, TH]«508. Ihr ist nicht daran gelegen, ein theoretisches Gebilde in alle Richtungen abzudichten und heterogene Bestände zu synthetisieren. Das Offene und das Fragmentarische zeichnen sie aus. Ihre Struktur ist gemäß Badiou aporetisch, intuitiv und assoziativ, weniger diskursiv: »Es ist charakteristisch für die Antiphilosophie, dass sie niemals Wert darauf legt, philosophische Thesen zu diskutieren (wie es der dieses Namens würdige Philosoph tut, indem er seine Vorgänger oder Zeitgenossen widerlegt), denn dazu müsste man ihre Normen teilen (z. B. wahr oder falsch).«509
Anstatt sich an Formen der Kritik und Textexegese abzuarbeiten, zielt Antiphilosophie auf Evidenz. Badious Grundannahme: »Philosophie [ist] in letzter Instanz nicht auf ihre diskursiven Erscheinungen, auf ihre Sätze, auf ihr täuschendes theoretisches Äußeres reduzierbar.«510 Deshalb konstruiere Antiphilosophie »hochsubtile Netze von Relationen, um ihre Unvollständigkeit aufzuspüren und den Rest für die Erfassung durch den Akt freizugeben«.511 Der Effekt des antiphilosophischen Lektüreakts: »›Das ist es, das Echte, die wahre Bedeutung‹, obwohl wir nie genau sagen können, was diese Bedeutung eigentlich ist.«512 Um diese Evidenz zu erzeugen, braucht es laut Badiou auf Seiten des Antiphilosophen deshalb einen »›schriftstellerischen‹ Stil«513 und einen anderen, fragmentarischen Sprachduktus. Die systemische Philosophie schreibt argumentativ; die Antiphilosophie schreibt fragmentarisch und evidenzorientiert.
Die performative Kehrseite der hier zunächst allein über Form-Inhalt-Kategorien vorgestellten Antiphilosophie besteht in der Figur des Antiphilosophen. Badiou skizziert diesen Sozialtypus als akademisches enfant terrible, dem neben der inhaltlichen Produktion der an »Selbstgefälligkeit« grenzende »biographische Trieb«514, das Produzieren des Selbst mit entsprechendem Gebaren, Mitteilungsbedürfnissen und Bekenntnissen, ein zentrales Anliegen ist. Dabei verkündet er nichts weniger als eine »radikale[] Neuheit«515 und dass er »gegen Jahrtausende von Philosophie allein und im eigenen Namen einen aktiven und erlösenden Bruch«516 herbeigeführt habe. Badiou lässt hier etwas Messianisches anklingen, die Figur des Erlösers scheint durch.
Im Übrigen fordert es die Antiphilosophie, dass der Antiphilosoph ununterbrochen als existenzielle Singularität zur Schau gestellt wird. Es gibt keine Ausnahme. Von Pascals Mémorial bis zu Lacan, der sein persönliches und institutionelles Schicksal in seine Seminare integriert, von Rousseaus Bekenntnissen bis zu Nietzsches ›Warum ich ein Schicksal bin‹, von den Missgeschicken Kierkegaards und Regines bis zu Wittgensteins Kämpfen gegen die sexuelle und suizidäre Versuchung – stets betritt der Antiphilosoph persönlich die öffentliche Bühne seines Denkens. Warum? Anders als die geregelte Anonymität der Wissenschaft und in Opposition zu dem, was in der Philosophie im Namen des Universalen sprechen will, hat der antiphilosophische Akt – beispiel- und garantielos, wie er ist – nur sich selbst und seine Effekte als Bestätigung seiner Wahrheit.517
Dieser motivierte Akt des Zuschaustellens von Singularität, das Verschwimmen von Persönlichkeit und Ausdruck des Denkens verdichten sich zu einem Bild, das sich für meine Unternehmung in folgender definitorischer Rahmung zusammenfassen lässt: Der Antiphilosoph ist ein beispielloses, aufmerksamkeitserregendes Ereignis, bei dem ein antisystemischer, theoretischer Exzess auch durch expressives, exzentrisches Verhalten zum Ausdruck kommt. Theorie, Rhetorik und Performanz sind dabei eng miteinander verzahnt.
Das Konzept der Antiphilosophie wird von Badiou an verschiedenen Stellen seines Werks mit Nietzsche, Lacan und eben auch Wittgenstein ausgeführt (vgl. Nietzsche. L’antiphilosophie 1, Paris: Fayard, 2015; Lacan. Antiphilosophie 3, Wien: Turia + Kant, 2015). In meiner Darlegung konzentriere ich mich jedoch auf das konzeptionelle Theorem von Antiphilosophie. Seine daraus hervorgehenden konkreten Wittgenstein-Lektüren haben eine andere Stoßrichtung mit zum Teil unzureichenden Ausführungen und Polemiken. Ihm geht es allein um den Tractatus und dessen sprachphilosophischen Anspruch. »Dem gesamten Rest sollte man […] nur den Status einer immanenten Glosse, eines persönlichen Talmuds zubilligen.« (Badiou 2008: 9) Damit beschneidet Badiou die Leistungsfähigkeit seines eigenen Begriffs, der im Zusammenhang mit Wittgenstein – ich werde es ausführen – wesentlich breiter angelegt ist als von ihm nachvollzogen. Dies gilt vor allem für den performativen Aspekt von Antiphilosophie, der in seinen theoretischen Ausführungen zwar benannt ist (s. o.), dabei jedoch unausgeführt bleibt. Neben dem von mir vorgestellten Antiphilosophie-Konzept von Alain Badiou ist weiterhin Boris Groys’ Anti-Philosophie zu nennen. Auch hier ist der ›Gegner‹ die systematisch argumentierende Philosophie. Groys’ Konzept von Antiphilosophie bzw. Anti-Philosophie konzentriert sich jedoch auf den imperativen Gestus, den sich Teile der Philosophie ab dem 18. Jahrhundert – Groys analysiert in seinen Essays neben Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Heidegger, Benjamin, Jünger auch Bachtin, Bulgakov, Kojève und McLuhan – zu eigen gemacht haben. Groys zufolge konzentrierten sich Autoren ab diesem Zeitpunkt auf das Geben von »Anweisungen [in] Lebensführung« (S. 15). Es entstand »ein neuer Zweig der Philosophie, den man in Analogie zur Anti-Kunst als Anti-Philosophie bezeichnen kann. Diese Wende, die mit Kierkegaard und Marx beginnt, operiert nicht mit Kritik, sondern mit Befehl. Es wird befohlen, die Welt zu verändern, statt sie zu erklären. […] Es wird befohlen, alle philosophischen Fragen zu verbieten und über das zu schweigen, was nicht gesagt werden kann [Herv. TH]. […] Alle diese Befehle wurden erteilt, um die Philosophie als ultimative Quelle der konsumistischen, kritischen Einstellung abzuschaffen und dadurch die Wahrheit aus ihrer Warenförmigkeit zu befreien. […] Die Grundvoraussetzung der befehlsgebenden (Anti-)Philosophie besteht nämlich darin, dass sich die Wahrheit erst zeigt, wenn der Befehl erfüllt wird: Erst muss die Welt verändert werden, dann zeigt sie sich in ihrer Wahrheit. Erst muss der Sprung des Glaubens erfolgen, dann manifestiert sich die Wahrheit der Religion etc.« (Groys, Boris, Einführung in die Anti-Philosophie, München: Hanser, 2009, S. 12 f.) Dass dieses Konzept zumindest fragwürdig ist – die Werke Jüngers oder McLuhans unter der Rubrik ›Ratgeberliteratur‹? Bachtin und Benjamin als Philosophen der Tat? Warenförmigkeit von Philosophie? – soll hier unkommentiert bleiben. Hervorzuheben ist, dass Groys in seiner Anti-Philosophie sowohl Wittgenstein als auch Badiou keinen Platz einräumt. In der angeführten Sequenz führt er Ersteren zwar stillschweigend an (siehe Herv.), eine eingehende Thematisierung entfällt jedoch, obwohl gerade der sprachliche Duktus des Tractatus prädestiniert wäre für seine These des imperativen Gestus von Philosophie ab dem 18. Jahrhundert.
Vgl. hierzu ausführlich Badiou, Alain, Das Sein und das Ereignis, Berlin: Diaphanes, 2005, insb. S. 119–298; sowie ders.; Tarby, Fabien, Die Philosophie und das Ereignis. Mit einer kurzen Einführung in die Philosophie Alain Badious, Wien: Turia + Kant, 2012.
Badiou 2010: 85.
Badiou 2008: 11.
Exemplarisch steht hierfür Kants ›Architektonik der reinen Vernunft‹ aus der Kritik der reinen Vernunft. Gerade das inkorporierende Moment und die synthetisierende Grundstruktur als Wesensmerkmal der Systemphilosophie kommen hier deutlich zum Ausdruck: »Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt, und sie gehört also notwendig zur Methodenlehre. Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen, macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmte Grenzen habe, stattfindet. Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.« (Kant KrV A 832 f.)
Badiou 2008: 8.
Žižek 2016: 1156.
Žižek 2016: 1152.
Badiou 2008: 9.
Ebd. 8.
Ebd. 20.
Žižek 2016: 1151.
Badiou 2008: 16.
Ebd.
Ebd. 8.
Ebd. 16.
Badiou 2008: 16.