Wie in den epistemischen Stoßrichtungen in Kap. II.1 Episteme eingeführt, ist dem Staunen das Ungewöhnliche und Nichtalltägliche eigen. Es korreliert mit dem »Seltsame[n]« (LS 174) und »[M]erkwürdigen« (VB S. 520). Gemessen an philosophischen Systementwürfen und ihrem Stil, sind auch Wittgensteins Begriff von Philosophie und deren Artikulation seltsam, merkwürdig und ungewöhnlich: Sein Werk ist neben den philosophischen gleichsam von bisher wenig beachteten poetischen Qualitäten bestimmt. Hierzu Tea Lobo: »[A]nd indeed most mainstream readings of Wittgenstein ignore his scattered mentions of ›aesthetics‹ and the enigmatically poetic quality of his texts.«528 Wittgenstein spielte mit formalen Kategorien und unterminierte sie. Gemessen an klassisch artikulierten Philosophien ist seine literarische Form des sprachlichen Ausdrucks unförmig.
Wittgensteins Freund und akademischer Wegbegleiter Georg Henrik von Wright mutmaßte 1954 in einer Erinnerungsskizze über Person und Werk: »It would be surprising if he were not one day ranked among the classic writers of German prose.«529 Auch wenn Wittgenstein in diesem Sinne bis heute keinesfalls als »classic writer[] of German prose« kanonisiert wurde, ist mit von Wrights Aussage eine Lektürerichtung angezeigt, der ich in den folgenden Unterkapiteln nachgehen werde.
13.1 Poetologie
Was die Poetologie seiner Philosophie angeht, war Wittgenstein ein Verwandter530 der Frühromantik und der »progressive[n] Universalpoesie«, deren Programm darin bestand, »die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung«531 zu bringen. Philosophie und Dichtung sind bei Wittgenstein eng miteinander verschränkt. Badious These, dass sich jede Antiphilosophie aus einem »›schriftstellerischen‹ Stil«532 speise, ist bei Wittgenstein programmatisch ausformuliert.
An Ludwig von Ficker – Entdecker Georg Trakls und Herausgeber von Der Brenner, einer avantgardistischen Literaturzeitschrift, die sich insbesondere für den literarischen Expressionismus stark machte – schreibt Wittgenstein 1919, um einen Erscheinungsort für den Tractatus werbend: »Die Arbeit ist streng philosophisch und zugleich literarisch, es wird aber doch nicht darin geschwefelt.«533 In den Vermischten Bemerkungen ist dieser Gedanke variiert: »Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.« (VB S. 24) Und in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik kommt er wie folgt zum Ausdruck: »Denke dir, der Beweis wäre eine Dichtung, ja ein Theaterstück.« (BGM 33) In einer Wiederholung dieser Strategie – und über die Blume in salbungsvoller Verwendung nun auch des Bildspeichers der Frühromantik534 – findet sich in einem Manuskripteintrag auch folgender mit allerlei Manierismen angereicherter, den hohen Stil imitierender Abschnitt, der mit einem klagenden Ausruf einsetzt: »O, warum ist mir zumute, als schrieb ich ein Gedicht, wenn ich Philosophie schreibe? Es ist hier, wie wenn hier ein Kleines wäre, das eine herrliche Bedeutung hat. Wie ein Blatt, oder eine Blume.« (MS 133, 13) Was Wittgensteins Bewusstsein für die »rhetorische[] Situation«535 von Philosophie bzw. den Mehrwert von Literarizität für Philosophie angeht, ist auch folgende Sequenz interessant: »Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand.« (VB S. 451) Aus der Verweisstruktur dieser programmatischen Auszüge zeichnet sich eine Haltung ab, die in ihren Denkbewegungen und deren Artikulation eine literarische Grundausrichtung von Wittgensteins Philosophie erkennen lässt.
Unter Bezugnahme auf Schiller und sich damit implizit in einen Vergleichszusammenhang mit den Größen der deutschen Klassik stellend, spricht Wittgenstein in einem Notat aus den Vermischten Bemerkungen diesbezüglich auch von einer »poetischen Stimmung«, die ihn beim Schreiben begleite. Der von mir skizzierte literarische Ansatz seiner Philosophie überträgt sich darin auf die affektive Seite seiner Schreibszene: »Schiller schreibt in einem Brief (ich glaube an Goethe) von einer ›poetischen Stimmung‹. Ich glaube, ich weiß, was er meint, ich glaube sie selbst zu kennen.« (VB S. 543) Wittgenstein bezieht sich in diesem Versatzstück auf Schillers Brief an Goethe vom 17. Dezember 1795. Darin heißt es: »Wie beneide ich Sie um Ihre jetzige poetische Stimmung, die Ihnen erlaubt recht in Ihrem Roman zu leben.«536 Aufschlussreich für die Charakterisierung von Wittgensteins (Un-)Form des Philosophierens ist jedoch vielmehr Goethes Beschreibung dessen, was Schiller in jenem Brief unter ›poetischer Stimmung‹ zusammenfasst. Goethe hatte Schiller am 15. Dezember 1795 folgende Gemütslage geschildert:
Zum Jennerstücke arbeitete ich gerne etwas, aber der Roman nimmt mir jetzt, zu meinem Glücke, alle Zeit weg. Dieser letzte Band mußte sich nothwendig selbst machen oder er konnte gar nicht fertig werden, und die Ausarbeitung drängt sich mir jetzt recht auf, und der lange zusammengetragene und gestellte Holzstoß fängt endlich an zu brennen.537
Die dem Professor für Philosophie Wittgenstein aus seiner eigenen Schreibszene bekannte ›poetische Stimmung‹ hat demnach mit sterilen Hervorbringungen in sachlich-analytischem Duktus nicht viel gemein. Seine Herangehensweise an philosophische Problemfelder ist mit dieser Selbstqualifikation ein Verzehren am und im Werk, ein rauschhaftes Fließenlassen der Gedanken in der ›poetischen Stimmung‹. An unterschiedlichen Orten seines Werks formuliert Wittgenstein eine Poetologie seiner Philosophie.
13.2 Intention
Was diese poetologische Positionierung für das Werk Wittgensteins leistet, wurde früh, wenn auch nur mit geringfügigem Echo, von seinem Mentor Gottlob Frege, dem Wegbereiter der analytischen Philosophie, erkannt. In einem Brief an Wittgenstein vom September 1919 schrieb dieser, die »anderen Wege[]« von Wittgensteins philosophischem Ausdruck ansprechend und den ästhetischen Gehalt seines Schreibens unterstreichend:
Und ich habe in langen Gesprächen mit Ihnen einen Mann kennen gelernt, der gleich mir nach der Wahrheit gesucht hat, z. Tl. auf anderen Wegen. Aber gerade dies lässt mich hoffen, bei Ihnen etwas zu finden, was das von mir Gefundene ergänzen, vielleicht noch berichtigen kann. […] Die Freude beim Lesen Ihres Buches kann also nicht mehr durch den schon bekannten Inhalt, sondern nur die Form erregt werden, in der sich etwa die Eigenart des Verfassers ausprägt. Dadurch wird das Buch eher eine künstlerische als eine wissenschaftliche Leistung; das, was darin gesagt wird, tritt zurück hinter das, wie es gesagt wird.538
Die Intention hinter dieser von Frege angesprochenen ästhetischen Prämisse findet sich in einem Notat von 1931, in dem Wittgenstein das Abgenutzte und Verbrauchte der bisherigen sprachlichen Verfasstheit von Philosophie kritisiert:
Man hört immer wieder die Bemerkung, daß die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, daß die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so sein muß. Der ist aber, daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum ›sein‹ geben wird, das zu funktionieren scheint wie ›essen‹ und ›trinken‹, solange es Adjektive ›identisch‹, ›wahr‹, ›falsch‹, ›möglich‹ geben wird, solange von einem Fluß der Zeit und von einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird, usw., usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können. (VB S. 470)
Ein mündliches Zeugnis, das diesen Auszug aus den Vermischten Bemerkungen ergänzt, bietet eine Erinnerungsskizze von Drury. Diesem gegenüber äußerte Wittgenstein Folgendes: »[W]enn diese Wörter ständig in oberflächlicher Weise verwendet werden, setzt sich soviel Schlamm an ihnen fest, daß man auf diesem Weg nicht mehr gehen kann.«539 Auch das folgende Zitat aus den Untersuchungen ist im Umfeld von Wittgensteins Sprachkritik anzusiedeln. Sprache (und die damit verbundene Lebensform) sei eine »alte Stadt«, in der sich nur schleppend und nur geringfügige Änderungen und Entwicklungen abzeichneten. ›Ansichten‹ verschöben sich nur marginal, alles lediglich Anbauten auf demselben Gebiet:
Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. (PU 18)
Neben der Kritik an einer sich mehr oder weniger gleich gebliebenen Sprache steht die Forderung nach einer ›neuen‹ Sprache für Philosophie im Raum. Die alten sprachlichen »Luftgebäude« gilt es zu »zerstören«, »nur Steinbrocken und Schutt [sollen] übrig« (PU 118) bleiben. Es brauche eine neue Sprache für neue Denkwege. »Wir kämpfen mit der Sprache. Wir stehen im Kampf mit der Sprache.« (VB S. 466)
Die Menschen sind tief in den philosophischen, d.i. grammatischen Konfusionen eingebettet. Und, sie daraus zu befreien, setzt voraus, daß man sie aus den ungeheuer mannigfachen Verbindungen herausreißt, in denen sie gefangen sind. Man muß sozusagen ihre ganze Sprache umgruppieren. (TS 213, 423)
Die Poetologie seiner Philosophie zielt auf dieses Herausreißen, die Befreiung aus etablierten Formen philosophischer Verfasstheit, auf die Sackgasse, in die sich das Denken seit der Antike manövriert habe, da sie sich ihre Probleme vor dem immer gleichen sprachlichen Hintergrund vorgelegt habe. Mit einer neuen Sprache des Philosophierens zielt Wittgenstein letztlich auf »neue[] Wahrnehmung[en]« (LS 518, s. o.).
Was Wittgenstein hier als Intention seiner Philosophie formuliert, war zu seiner Zeit keineswegs neu oder innovativ. Seine Polemik gegen abgenutzte, verbrauchte sprachliche Ausdrucksformen trägt einen historischen Index. Das Thema Sprachkritik und Sprachskepsis, die Forderung nach sprachlichen Innovationen wurde naheliegenderweise vorrangig auf dem Feld der Literatur geführt; Wittgenstein fährt im Windschatten. Wieder mit Lobo: »One way of reading Wittgenstein’s thoughts on aesthetics is from the context of modernist movements – he did, after all, live and work during the modernist heyday in the early twentieth century.«540
Die oft nur in Manifesten und programmatischen Versuchsanordnungen hervorgebrachten Kritikpunkte und sprachlichen Innovationsbemühungen in diesen Jahren sind unzählig. Als elaboriertes, wirkmächtigstes Zeugnis ist Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief zu nennen. Wenngleich nicht mit Sicherheit zu bestimmen ist, ob Wittgenstein diesen kannte, liegt allein über das Wiener Kulturleben – Wittgensteins Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein führte einen der einflussreichsten Salons der Wiener Moderne – die Vermutung nahe, dass er in seinen sprachkritischen Überlegungen zumindest diskursiv von Hofmannsthal beeinflusst wurde. Konfrontiert man die Aussage mit der oben aufgeführten Passage aus den Vermischten Bemerkungen (VB S. 470, s. o.) mit dem Chandos-Brief, fällt vor allem das »unerklärliche[] Unbehagen« gegenüber tradierten, jedoch ausgehöhlten Begriffen auf:
Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen. […] [D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. […] Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. […] Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.541
Es gilt dem »vereinfachende[n] Blick der Gewohnheit« und der damit verbundenen Determiniertheit entgegenzutreten. Die Literatur der Moderne findet mit der Lautpoesie Christian Morgensterns, Brechts Verfremdungseffekt, Benjamins Denkbildern, dem surrealistischen Rausch in Aragons Le Paysan de Paris, der Ostranenie des russischen Formalismus – man denke allein an Gogols Nase – und dem Cabaret Voltaire ihre eigenen Antworten darauf. Wittgenstein tut dies mit einer Poetologie der dichtenden Philosophie bzw. mit philosophischer Dichtung. Im schon von Platon ausgerufenen »alte[n] Streit zwischen Philosophie und Dichtung«542 entscheidet er sich für ein Sowohl-als-auch.
Ob nun philosophischer Autor mit literarischem Anspruch, literarischer Autor mit philosophischem Schwerpunkt, philosophischer Künstler oder ästhetischer Denker – es ist nicht weiter von Bedeutung, hier eine Entscheidung zu treffen und Wittgenstein eindeutig zu positionieren. Denn schon allein durch seine Poetologie bewegt er sich zwischen tradierten sprachlichen Formen und Ordnungsstrukturen jenseits von akademischen Orientierungsbedürfnissen. Dieses ›Dazwischen‹ ist reizvoll und weckt Aufmerksamkeit, es bietet Gesprächsanlass, ist erklärungsbedürftig, stößt Diskurse an und macht Wittgenstein für mehrere Disziplinen der klassischen philosophischen Fakultät und ihre fachspezifischen Ausdifferenzierungen interessant und anschlussfähig. Der dichtende Stil, das gleichnishafte Denken eröffnet interpretatorische Freiräume, die in unterschiedlichster Art gefüllt werden können: analytische Philosophie, Ethik, Logik, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft und Musikwissenschaft, aber auch Theologie und Architektur erheben in unterschiedlichem Ausmaß Anspruch auf Wittgenstein. Philosophische Dichtung bzw. dichtende Philosophie macht es möglich. »[T]he magic of his […] style«543 hat eine vereinnahmende Wirkung und entfaltet einen ›Bannzauber‹.
Um eine überkommene Form der Sprache zu überwinden – ich werde in den Folgekapiteln ausführlich darauf eingehen –, spielt Wittgenstein in der »rhetorische[n] Situation«544 seiner Philosophie mit Kontingenz, sie verharrt durch ihre Verfasstheit in unablässiger hermeneutischer Bewegung. Die Herangehensweise, dass seine »Arbeit […] streng philosophisch und zugleich literarisch«545 ist, lässt Erwartungshaltungen an Philosophie und Literatur als jeweils eigene Regelsysteme mit eigenen Gesetzen implodieren. Seine (Un-)Form wird so zum Ereignis im Sinne Badious; sie ist »eine Störung in der Ordnung«546.
Angesichts seiner philosophisch-dichterischen Doppelstrategie kommt Wittgenstein eine Rolle zu, die Blumenberg mit Blick auf die stilistischen Eigenarten manches Philosophen als »Lieferant unaufhellbarer Dunkelheiten« bezeichnet hat:
Auch als Lieferant unaufhellbarer Dunkelheiten und verqueren Tiefsinns bedient die Philosophie einen Sektor von Bedürfnissen, der durch die Kargheit aufklärender Vernunft eher größer als kleiner, vielleicht im Effekt nicht einmal harmloser geworden ist. Für ein Wesen, das immer weniger zu wissen als zu fragen gelernt hat, ist die Dunkelheit von Sprüchen mit dem Trostgewinn verbunden, es könne sich im Dunkel noch verbergen, was sonst mit der Endgültigkeit des Bescheids abgewiesen werden mußte […].547
Gleich einem Abenteuer weckt die »Dunkelheit von Sprüchen« bei der Lektüre die Hoffnung, durch langes Suchen und Weitersuchen ein dem Gesamtwerk tief eingeschriebenes Geheimnis, ja eine leuchtende, endgültige Wahrheit zu finden.
Dies deckt sich mit einer Aussage Wittgensteins gegenüber Drury: »Das Philosophieren gleicht dem Versuch, einen Safe mit Zahlenschloss zu öffnen: Keine der einzelnen Einstellungen der Zahlenräder scheint zu etwas zu führen; erst wenn alles an Ort und Stelle ist, läßt sich die Tür öffnen.«548 Öffnete sich die Türe, so wäre das Wittgenstein-Rätsel gelöst und die Aufmerksamkeit käme gleich dem Rumpelstilzchen-Märchen nach dem Aussprechen des Namens bzw. der Wahrheit zum Erliegen. Wittgensteins poetologisches Programm und die davon ausgehende Rhetorik verhindern jedoch genau dies: Generationen von akademischem Personal suchen den ›richtigen‹ Wittgenstein und drehen am »Zahlenschloss« und an den »Zahlenräder[n]« herum. So bleibt man in aller Munde, so betreibt man »Marketing of Philosophy«549.
13.3 Literarische Standpunkte
Das beschriebene Bewusstsein dafür, welches Gewicht und welche Wucht Sprache haben kann, kommt beim Zögling des großbürgerlichen Hauses Wittgenstein nicht von ungefähr. Über das Werk und die Korrespondenz verteilt, lässt sich eine Vielzahl literarischer Standpunkte und Bezugnahmen ausmachen. Dabei ist es vor allem Wittgensteins sieben Jahre ältere Schwester Margarethe, ich habe es bereits erwähnt, die dem heranwachsenden Bruder zur intellektuellen Impulsgeberin wird: »Gretl was acknowledged as the intellectual of the family, the one who kept abreast of contemporary developments in the arts and sciences, and the one most prepared to embrace new ideas and to challenge the views of her elders.«550 Über sein Umfeld und den damit verbundenen kulturellen Habitus lernte Wittgenstein sehr früh und beiläufig, was eine »rhetorische[] Situation«551 ist. Dass er sich in seinem Gesamtwerk wiederholt an literarischen Autoren abarbeitet, wundert bei Wittgenstein, aufgewachsen mit einer Sensibilität für stilistische Fein- und Gepflogenheiten, nicht. Die Hausbibliothek hat Spuren hinterlassen. Hierzu sein Freund von Wright: »Wittgenstein received deeper impressions from some writers in the borderland between philosophy, religion, and poetry than from the philosophers, in the restricted sense of the word.«552
An verschiedenen Stellen in Wittgensteins Werk verschwimmen seine Anmerkungen zur Philosophie mit literarischen Reflexionen: Für Goethes Farbenlehre interessiert er sich ausführlich in seinen Bemerkungen über die Farben (vgl. BüF-III 125), Faust wird anlässlich von Ausführungen zum Erfahrungssatz herangezogen (vgl. ÜG 402); Shakespeare wird zumeist ablehnend und dennoch ehrfürchtig angesprochen (vgl. u. a. VB S. 572); Kleists Hermannsschlacht wird in einem Tagebucheintrag zur Überwindung der heftigen, letztlich unerfüllten Liebe zu Marguerite Respinger herbeizitiert (vgl. DB S. 42); Hebels Schatzkästlein dient der Erläuterung des Sprachspiels ›Absicht‹ (vgl. Z 582); dass die Bedeutung eines Gegenstands in seiner allgemeinen Verständlichkeit liege, wird mit Tolstoi untermauert (vgl. VB S. 474, S. 558); was Technik und Sprache miteinander zu tun haben, skizziert Wittgenstein mit Grimmelshausens Simplicissimus und dessen Rede über den Bau einer Brücke (vgl. VB S. 470), während die Erörterung des Sinnes des Lebens Dostojewski vorbehalten ist (vgl. TB S. 168).
Mit einer Schilderung von Theodore Redpath, einem Studenten Wittgensteins, den er neben inhaltlichen Erörterungen auch zwecks Aufzeichnungen in seinem Privatwohnraum empfing, lässt sich dieser Kanon unterstreichen:
He had also in the bedroom, however, a small bookcase full of books. I can remember seeing among them works of Novalis and of Keller, and also Goethe’s Faust. He remarked on the books not being philosophical and said: »I wonder what people would think. He calls himself a philosopher, but he has no philosophical books!« There was an element of pride in this, and also something suggesting the panache of a conjurer, or French cook, who reputedly makes something out of nothing.553
Wittgenstein kommentierte den klassisch-konservativen Bildungskanon mit großer Selbstverständlichkeit durch; von der Literatur seiner Zeit und der literarischen Moderne hingegen nimmt er mit wenigen Ausnahmen wie etwa Rilke oder Agatha Christie554 keine Kenntnis. Folgende Aussage Wittgensteins unterstreicht seine diesbezügliche Haltung: »Nun, [man könnte] auch über eine Menge der Bücher sagen, die heute geschrieben werden: Man sollte sie wegwischen und kein Wort mehr darüber verlieren.«555
Auch als literarischer Mäzen betätigte sich Wittgenstein. Inspiriert durch einen Artikel von Karl Kraus in der Fackel, schrieb er 1914 dem ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Ludwig von Ficker mit der Bitte – Wittgenstein war zu dieser Zeit in Norwegen –, 100 000 Kronen »an unbemittelte österreichische Künstler nach Ihrem Gutdünken zu verteilen. Ich wende mich in der Sache an Sie, da ich annehme, daß Sie viele unserer besten Talente kennen, und wissen, welche von ihnen der Unterstützung am bedürftigsten sind.«556 Nach eigenem »Gutdünken« verteilt von Ficker das Geld an Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Carl Dallago, Karl Hauer, Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Adolf Loos, Theodor Haecker, Theodor Däubler, Ludwig Erik Tesar, Richard Weiss, Frank Kranewitter, Hermann Wagner, Josef Oberkofler, Karl Heinrich und Hugo Neugebauer. Zumindest einige Autor:innen der Liste lesen sich wie ein Who’s who der neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte. Die Dankesbriefe der Autor:innen ignorierte Wittgenstein oder er gab sie verstimmt an von Ficker zurück.557
Auch auf sein Urteil als ›Literaturkritiker‹ gab Wittgenstein viel. Frank Raymond Leavis – einer der renommiertesten englischen Literaturwissenschaftler während Wittgensteins zweiter Zeit in Cambridge – empfiehlt er, »die Literaturwissenschaft an den Nagel [zu] hängen«558 : »Geben Sie die Literaturwissenschaft auf!«559 Er sprach ihm seine akademische Profession ab. In einer Diskussion über ein Gedicht entgegnete er Leavis: »Es ist völlig klar, daß Sie das Gedicht gar nicht begriffen haben. Geben Sie mir das Buch [zurück] […].«560
Weiterhin stellte er Überlegungen zu Übersetzungsfragen an. In einem Bericht Drurys heißt es in Bezug auf die englische Übertragung Kierkegaards vernichtend: »Als Kierkegaard einige Jahre später ins Englische übertragen wurde, […] nahm Wittgenstein Anstoß an dem dürftigen Stil dieses Übersetzers. Es sei ihm völlig mißlungen, die Eleganz des dänischen Originals wiederzugeben.«561
Ohnehin scheint Drury in literarischen Angelegenheiten Wittgensteins bevorzugter Gesprächspartner gewesen zu sein. In einer Erinnerungsskizze heißt es:
Bei diesem Besuch unterhielten wir uns hauptsächlich über das Thema englische Literatur. Wittgenstein sagte, es habe zwar keine wirklich hervorragenden englischen Komponisten gegeben, doch die englische Literatur könne den Vergleich mit der Literatur jeder anderen Nation aushalten. Er meinte, der Stil der englischen Literatur sei großenteils aristokratisch, verglichen etwa mit der russischen Lyrik, die aus einer bäuerlichen Tradition hervorgegangen sei.562
Solche Aussagen leistet sich nur jemand, der sich seiner Fähigkeiten auf dem Feld der Literatur sicher ist.
Wittgenstein schreibt und spricht über und mit Literatur. Ihre Programme sind ihm Reflexionsmedium, Impuls- und Stichwortgeber für die eigenen Denkbewegungen. Wie er die poetologisch dargelegte (Un-)Form seiner Philosophie vor dem Hintergrund von Staunen in rhetorische Mittel umzusetzen wusste, wird Gegenstand der folgenden Auseinandersetzungen sein.563
Lobo 2019: 7.
von Wright 2018 [1954]: 17.
Hinsichtlich stilistischer Aktualisierungen und der Wiederaufnahme vergangener geistes- und kulturgeschichtlicher Strömungen ist folgendes Zitat aus den Vermischten Bemerkungen aufschlussreich: »Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neueren Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neu aufführen in einem Tempo, das unsrer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechtstutzen eines alten Stils. Man nimmt nicht die alte Form und richtet sie dem neuen Geschmack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewußt, in Wirklichkeit die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art und Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört.« (VB S. 535)
Schlegel 1991 [1801]: 107.
Badiou 2008: 16.
Wittgenstein 1980: 95.
Vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, in: Schriften, Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977 [1802], S. 195–202; vgl. zur Blume als literarischem Motiv der Romantik Lexikon literarischer Symbole, hg. v. Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart: Metzler, 2008, S. 58.
Blumenberg 2001b: 417.
Schiller 1969 [1795]: 132.
Goethe 2019 [1795]: 198.
Frege 1989 [1919]: 21.
Drury 1987b: 120.
Lobo 2019: 10.
Von Hofmannsthal 1999 [1903]: 25 f.
Platon Pol. 607b; sowie ausführlich Lausberg 1960: 44 und Uhlmann 2019: 29 ff.
von Wright 2018 [1954]: 15.
Blumenberg 2001b: 417.
Wittgenstein 1980: 95.
Badiou 2010: 85.
Blumenberg 2005: 23.
Drury 1987b: 122.
Trawny 2018: 152.
Monk 2018: 29.
Blumenberg 2001b: 417.
Von Wright 2018 [1954]: 16.
Redpath 2018: 266.
Vgl. Drury 1987a: 186.
Ebd. 187.
Wittgenstein 1969 [1914]: 11.
Vgl. Monk 1992: 126 f.
Leavis 1987: 104.
Ebd. 96.
Ebd. 106.
Drury 1987b: 131.
Drury 1987a: 208.
Bei der Identifikation und Benennung dieser rhetorischen Mittel werde ich mich in den folgenden Abschnitten von Kap. II.2 Rhetorik auf das umfassende, historisch weit aufgefächerte Standardkompendium Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft von Heinrich Lausberg beziehen (vgl. Lausberg 1960).