Kapitel 14 Staunen als Konventionsbruch: Vorworte

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Die Textklasse ›Vorwort‹, ob als Marginalie in Gestalt eines Prologs, eines materiellen Paratexts, einer Digression, eines Parergon, einer Ouvertüre, einer Präambel oder eines Editorials etikettiert, kann viele Funktionen einnehmen. Rhetorisch als exordium564 verstanden, ist es der Anfang eines Texts, der darauf abzielt, die Aufmerksamkeit der Leserschaft für den Autor bzw. die Autorin und für den Inhalt zu gewinnen. In narratologischer Hinsicht zeichnet sich ein eigenartiges Konglomerat bestehend aus Meta-, Extra- und Intradiegese ab. Als Rahmen ist es Innen und Außen zugleich, es gehört zum Darauffolgenden und doch nicht. Es ist der erste ›Ort‹ der Textbegegnung. Im Fortschreiten der Lektüre verschwindet es und ist dennoch aus einer Latenzposition in der Text- bzw. Folgeentwicklung präsent. Vorworte sind Transiträume, die man durchschreitet, um sich im erweiterten Textfeld orientieren zu können. Nicht selten sind sie ›Gatekeeper‹, an denen man vorbei muss, und gibt sich der Autor bzw. die Autorin darin zu erkennen.

Wie und in welcher Form Wittgenstein sich die Textklasse ›Vorwort‹ zu eigen machte, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. Ich werde die These ausführen, dass er im Vorwort des Tractatus ausgehend von programmatischem Hintergrund Konventionsbrüche bewusst forcierte, um Aufmerksamkeit im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie und Momente des Staunens zu erzeugen.

14.1 Vorwortprogramme

Uwe Wirth bewertet das Vorwort in zweierlei Hinsicht als ›Vorschrift‹: Es besitzt Instruktionscharakter bzw. stellt eine Lektüreanweisung dar (wie und was soll gelesen werden); zugleich ist es ein konventionalisiertes rhetorisches Ritual (was soll in einem Vorwort stehen) für viele Formen der Verschriftlichung:

[Das Vorwort] hat als Einführung des Lesers in die Ordnung des Textes Instruktionscharakter – ist mithin ein direktiver Sprechakt. Neben dieser illokutionären Funktion als explizites Performativ erweist sich das Vorwort jedoch auch als ein rhetorisches Ritual, das heißt als Performativ im Sinne der Ritualtheorie, das mit dem Äußern bestimmter, vorgeschriebener Eingangsformeln einen Anfang ›macht‹.565

Der Instruktionscharakter des Vorworts eröffnet den Lesenden »einen interpretativen Zugang zum Werk«. »Das Minimalziel ist, daß das Vorwort überhaupt eine Lektüre bewirkt, das Maximalziel ist, daß ein guter Verlauf der Lektüre ermöglicht wird.« Als Leseanweisung kann es erste inhaltliche Perspektiven skizzieren, »indem es über die Ordnung und die Disposition, die sich im Haupttext ›beobachten‹ lassen«, Auskunft gibt. So verstanden ist das Vorwort als Vorschrift auch »Vorbericht«566, indem es einen »Plan bzw. das Programm jenes Werks vor[stellt], als dessen diskursive Antizipation es in Erscheinung tritt«567.

Der Ritualcharakter des Vorworts findet sich in Gestalt des Musenrufs schon sehr früh. In hohem Maße konventionalisiert, steht es bereits ›vor‹ den ältesten Epen, Dramen und Gesängen. Unter den Vorzeichen der Säkularisierung wurde aus der Kontaktaufnahme mit dem Göttlichen die nicht weniger konventionalisierte und ausgehöhlte »rhetorische[] Kontaktaufnahme mit dem Publikum«.568 Der Zweck ist hierbei nun nicht mehr die Fühlung mit dem Göttlichen; den Lesenden soll der Autor bzw. die Autorin in direkter Ansprache begegnen. »Das heißt, das Vorwort markiert als rituelles Performativ aus Eingangsformeln die ›Schwelle eines Textes‹ […].«569

Diese aus Instruktion und Ritual bestehende Perspektive auf das Vorwort ist für Wittgensteins Rhetorik des Staunens interessant. In einem programmatischen Eintrag zur Textklasse ›Vorwort‹ von 1930 heißt es in den Vermischten Bemerkungen:

Die Gefahr eines langen Vorworts ist die, daß der Geist eines Buchs sich in diesem zeigen muß, und nicht beschrieben werden kann. Denn ist ein Buch nur für wenige geschrieben, so wird sich das eben dadurch zeigen, daß nur wenige es verstehen. Das Buch muß automatisch die Scheidung derer bewirken, die es verstehen, und die es nicht verstehen. Auch das Vorwort ist eben für die geschrieben, die das Buch verstehen. Es hat keinen Sinn jemandem etwas zu sagen, was er nicht versteht, auch wenn man hinzusetzt, daß er es nicht verstehen kann. […] Willst Du nicht, daß gewisse Menschen in ein Zimmer gehen, so hänge ein Schloß vor, wozu sie keinen Schlüssel haben. Aber es ist sinnlos, darüber mit ihnen zu reden, außer Du willst doch, daß sie das Zimmer von außen bewundern! Anständigerweise, hänge ein Schloß vor die Türe, das nur denen auffällt, die es öffnen können, und den anderen nicht. […] Alles rituelle (quasi Hohepriesterliche) ist streng zu vermeiden, weil es unmittelbar in Fäulnis übergeht. (VB S. 460)

Programmatisch kommt hier zum Ausdruck, was Wittgenstein von den historisch aufgeladenen Vorwort-Kategorien ›Instruktion‹ und ›Ritual‹ hält – nämlich nichts. Antiphilosophen müssen Antivorworte schreiben. Aspekte wie Einladung zur Lektüre oder »ein guter Verlauf der Lektüre«, Darstellung von »Ordnung und die Disposition, die sich im Haupttext ›beobachten‹ lassen«570, sind ihm ebenso fremd wie »Kontaktaufnahme« mit einem breiten Publikum oder das »rituelle[] Performativ aus Eingangsformeln«571.

Wittgenstein verabschiedet sich im angeführten Notat aus den Vermischten Bemerkungen von der inhaltlichen Tradition des Vorworts, um im gleichen Atemzug das Gegenteil entgegenzusetzen: die Einführung einer »automatisch[en] […] Scheidung« (VB S. 460) zwischen Verständigen und Nicht-Verständigen der Inhalte des Haupttexts. Ausschluss statt niederschwelliger Einladung soll nach Wittgenstein Ziel des Vorworts sein. Neu ist diese Strategie nicht. Nach Mireille Schnyder findet sie sich als Mittel zur Exklusivitätserzeugung bereits im 17. Jahrhundert im Zuge der Etablierung des Buchmarkts:

Das Buch als etwas, das nur Eingeweihten offensteht, wie es das Buch – ob sakral oder säkular – in einer Zeit der beschränkten Lesefähigkeit war, das Buch als Gefäss einer Magie des Intellekts und Ausdruck der Macht, war plötzlich davon abhängig, möglichst viele Käufer zu finden, damit aber in der Gefahr, seine ihm anfänglich immanente Magie und Macht zu verlieren. So finden sich nicht wenig gedruckte Bücher in dieser seltsamen Spannung zwischen kommerziellen Interessen und gesuchter Exklusivität. Je mehr Hände nach dem Buch griffen, umso sorgfältiger versuchten sich gewisse Bücher davor zu schützen, so dass sich in den Buchanfängen in feinster Verknüpfung ausschliessende und einnehmende Elemente wiederfinden.572

Wittgensteins Überlegungen zum Vorwort münden in ein elitäres Projekt, das eine intellektuelle Hierarchie aufmacht. Er nimmt die Gegenposition ein zu floskelhaften Versatzstücken wie dem »geneigten Leser«573 (Hebel), dem »Urteil von guten Kunstrichtern«574 (Jean Paul), der »Befriedigung meiner Wohlwollenden«575 (Goethe), der »Anlockung« und Vereinigung des Lesers mit den »Bemühungen […] des Verfassers«576 (Kant) oder der Bekundung von »Dank und Treue«577 (Adorno).

In seiner angeführten Vorwort-Programmatik wird diese Strategie prosaisch überformt und im Bild des Vorhängeschlosses verdichtet. Fast schulmeisterlich rät Wittgenstein, gewissermaßen als Merkspruch für den philosophischen Nachwuchs, der das Handwerk des »Marketing of Philosophy«578 noch zu erlernen hat: »Willst Du nicht, daß gewisse Menschen in ein Zimmer gehen, so hänge ein Schloß vor, wozu sie keinen Schlüssel haben.« (VB S. 460)

Diese Form der Ausschließung verleiht einem Werk bereits über das vorangestellte Vorwort den Charakter einer Geheimlehre; und ein Geheimnis weckt Neugierde und eben auch Aufmerksamkeit.579 Den Uneingeweihten, die dem intellektuellen Niveau des Texts nicht gewachsen sind oder denen der Zugang wegen der »rhetorischen Situation«580 verstellt ist, bleibt allein das ›Von-Außen-Bewundern‹ (vgl. VB S. 460), das paradoxerweise gerade dadurch erzeugt wird, dass man als Außenstehende:r nicht Teil des erlauchten Kreises der Kenner:innen dieser Geheimlehre ist. Man kann den Text durchaus lesen, also ›in‹ ihn hineinkommen, doch verstehen sollen ihn nach Wittgenstein nur wenige. Niederschwelligkeit soll inhaltlicher oder rhetorischer Komplexität Platz machen. Unverfügbarkeit erzeugt Begehren und Aufmerksamkeit – auch in der Ökonomie der Aufmerksamkeit gelten die Regeln von Angebot und Nachfrage.

Interessant ist, dass Wittgenstein im angeführten Auszug aus den Vermischten Bemerkungen der Textklasse ›Vorwort‹ keineswegs ihre Legitimation abspricht. Das Gegenteil ist der Fall. Das Vorwort als kodifizierter, rituell aufgeladener Paratext im Gesamtgefüge eines Textapparats ist für ihn Ausgangspunkt und Kontrastfolie einer auf das Staunen zu beziehenden Strategie. Sein Credo: formale Affirmation bei gleichzeitiger inhaltlicher Subversion. In der klassischen Rhetorik findet sich für diese Bewegung der Begriff per adiectionem bzw. per detractionem – das Hinzufügen, Neuarrangieren oder die »Wegnahme eines Bestandteils oder mehrerer Bestandteile vom Phänomenganzen«581. Die durch Sprachkritik angesprochene Umgruppierung, das Herausreißen aus Verbindungen (vgl. TS 213, 423, s. o.) und die Verfremdung sind hier Bezugspunkt.582 Diese Vorwort-Programmatik folgt Wittgensteins epistemischen Überlegungen zum Staunen insofern, als auch diese auf das Ungewöhnliche abzielen. Wie beim relativen Staunen, das als Staunen der Desorientierung, der leerlaufenden, unerfüllten Erwartungen vorgestellt wurde,583 ist der Ausgangspunkt auch hier die Normabweichung bzw. das, wenn etwas im »gewöhnlichem Sinne des Wortes aus dem Rahmen fällt« (VE S. 15). Die Erwartungen an ein Vorwort sollen nach Wittgenstein durchkreuzt und die gewöhnlichen Lektüreerwartungshaltungen des Paratexts, nun mit Blumenberg und meiner Konfiguration von Staunen als Sprengmetapher, ›aufgesprengt‹584 werden.

14.2 Das Vorwort des ›Tractatus‹

Der Ausgangspunkt dieses 1930 in den Vermischten Untersuchungen ausformulierten Programms liegt bereits Jahre zurück. Was er hierin ›hohepriesterlich‹ ausformuliert hat, ist im Tractatus von 1921 schon unterschwellig angelegt.585 Bei einer Veröffentlichung herrschen jedoch andere Funktionsmechanismen vor als bei einer programmatischen Überlegung. Aufgrund der Bedeutung für mein interpretatives Anliegen und meine nun folgende Detaillektüre ist das Vorwort zunächst in Gänze aufgeführt:586

Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es Einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete.

Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube –, daß die Fragestellung dieser Probleme auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.

Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken läßt).

Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.

Wieweit meine Bestrebungen mit denen anderer Philosophen zusammenfallen, will ich nicht beurteilen. Ja, was ich hier geschrieben habe, macht im Einzelnen überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat.

Nur das will ich erwähnen, daß ich den großartigen Werken Freges und den Arbeiten meines Freundes Herrn Bertrand Russell einen großen Teil der Anregung zu meinen Gedanken schulde.

Wenn diese Arbeit einen Wert hat, so besteht er in Zweierlei. Erstens darin, daß in ihr Gedanken ausgedrückt sind, und dieser Wert wird umso größer sein, je besser die Gedanken ausgedrückt sind. Je mehr der Nagel auf den Kopf getroffen ist. – Hier bin ich mir bewusst, weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben zu sein. Einfach darum, weil meine Kraft zur Bewältigung der Aufgabe zu gering ist. – Mögen andere kommen und es besser machen.

Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind. (TLP S. 9 f.)

Ungewöhnlich ist zunächst Wittgensteins vorangestellte Positionierung des Tractatus im ersten Absatz: Von einem Buch, das kryptisch mit Tractatus logico-philosophicus überschrieben ist und dessen Titel sich philosophiegeschichtlich imposant an Spinozas Tractatus theologico-politicus587 anlehnt, erwartet man nicht, dass es »kein Lehrbuch« sein soll. Auch die Intention bzw. der »Zweck […] Vergnügen« (TLP S. 9) irritiert. In der Eigenlogik des Buchmarkts sind diese Klassifizierungen gewöhnlich der Prosa vorbehalten, nicht der Philosophie. Die poetologisch ausformulierte (Un-)Form seines Denkens und Schreibens, die angesprochene Zwischenstellung von Philosophie und Literatur, ist im Vorwort seines wirkmächtigen Erstlingswerks als eröffnende Standortbestimmung umgesetzt.

Nach dieser Verortung sind die Absätze zwei bis vier konventionell gehalten. Dem Instruktionscharakter folgend, gibt Wittgenstein inhaltliche Perspektiven sowie Auskunft über die »Dispositionen« des Haupttexts, er liefert einen »Vorbericht«588 und ein »Programm«589 für die folgenden Inhalte: Er beabsichtigt, die »Mißverständnis[se] der Logik unserer Sprache« (TLP S. 9) aufzudecken, und legt bereits im Vorwort seine peroratio, den im tradierten Sinn letzten Teil einer Argumentation590, offen, indem er mit »Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen« (TLP S. 9) bereits § 7 des Tractatus wortwörtlich anführt. Konventioneller kann ein Vorwort zumindest bis zu diesem Punkt kaum sein. Das »Minimalziel«, eine »Lektüre [zu] bewirk[en]«, mag angesichts des angekündigten Programms und der angekündigten These erreicht sein. Auch das »Maximalziel«, einen guten »Verlauf der Lektüre« zu ermöglichen,591 ist nicht nur durch die Skizzierung seiner theoretischen Ambitionen, sondern vor allem auch durch die sehr klare und reduzierte Sprache erreicht. Lediglich die Parenthese, die selbstkommentierende Klammerung und die effektvolle Herausstellung durch Gedankenstriche stören das »explizite[] Performativ«592 hinsichtlich des Leseflusses.

Beginnend mit dem fünften Absatz (»Wieweit meine Bestrebungen« [TLP S. 9]) setzt jedoch ein Konventionsbruch ein. Hier beginnt etwas »aus dem Rahmen [zu fallen]« (VE S. 15). Der Zeilenbeginn bildet in der formalen Komposition des Vorworts die architektonische Mitte. Als ›Relaisstelle‹ schaltet der Schreibmodus hier von ›gewöhnlich‹ auf ›ungewöhnlich‹ um, von ›alltäglich‹ auf ›nicht alltäglich‹, das Vorwort auf Anti-Vorwort und der Philosoph Wittgenstein auf den Anti-Philosophen Wittgenstein. Ab dem fünften Absatz bedient er sich des rhetorisch vorgeprägten admirabile genus, das eine »Schockierung [des] allgemeinen Wert- und Wahrheitsempfindens« in Bezug »auf die Person«593 hervorruft.

Als Person zeigt sich Wittgenstein, einsetzend mit dieser Textstelle, in präpotentem Charakter bzw. fügt er damit der Textklasse ›Vorwort‹ eine neue Facette hinzu. Redlichkeit, Integrität und ›Best Practice‹ in der Wissenschaft beruhen auf dem Umgang mit Quellen, verbürgtem Material und gesichertem Wissen. Der Hypertext ›Wissenschaft‹ wurde und wird so geschrieben. Mit völliger Gleichgültigkeit und Geringschätzung gegenüber dieser akademischen Konvention formuliert Wittgenstein bezogen auf die methodische Ausrichtung des Tractatus: »[D]arum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat.« Einen solchen Satz in einem Vorwort können sich selbst etablierte Wissenschaftler:innen nach allen institutionalisierten Qualifikationsarbeiten nicht ohne Reputationseinbuße leisten. Ludwig Wittgenstein, zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal PhD in Cambridge, schon. Das Vorwort verkündet entsprechend nicht nur den Bruch mit akademischen Konventionen (»keine Quellen«), sondern in prätentiösem Tonfall auch Erhabenheit über diese Konvention (»gleichgültig« [TLP S. 9]). Die consuetudo, die übereinstimmenden akademischen Konventionen mit entsprechendem Sprachgebrauch,594 ist damit suspendiert. An antiphilosophischer »Selbstgefälligkeit«595 ist der aufgeführte Passus kaum zu überbieten.

Der Dank an »Frege[]« und »Herrn Bertrand Russell« (TLP S. 9) im sechsten Abschnitt ist auf den ersten Blick zunächst noch vom ›Ritualcharakter‹ getragen. Es ist das, was Wittgenstein neun Jahre später in den Vermischten Bemerkungen »quasi [h]ohepriesterlich[]« (VB S. 460, s. o.) nennen wird. In der textgenetisch vorangegangenen Version des Vorworts im Prototractatus ist der Ritualcharakter mit »Meinem Onkel Herrn Paul Wittgenstein und meinem Freund Herrn Bertrand Russell danke ich für die liebevolle Aufmunterung, die sie mir haben zuteil werden lassen« (MS 104, 121) sogar noch stärker konturiert. Die Passage aus dem Prototractatus hat den Charakter kindlicher Dankbarkeit. Als Versatzstück schlägt die Widmung noch einen asymmetrischen Ton der Unterordnung und Bedürftigkeit an, der in der finalen Version des Vorworts im Tractatus zurückgenommen ist.

Diese Tilgung der Prototractatus-Passage ist für das damit verbundene Hierarchiebewusstsein Wittgensteins aufschlussreich. Ein vormals asymmetrisches Verhältnis wird in ein symmetrisches überführt. Die »liebevolle Aufmunterung« (MS 104, 121) weicht dem nüchternen Dank für die »Anregung zu meinen Gedanken« (TLP S. 9) an Frege und Russell. Dadurch macht sich Wittgenstein größer und die Dankempfänger kleiner. Das Kindliche wird kollegial. Man darf nicht vergessen: Der rund 30-jährige Wittgenstein stellt sich dadurch auf eine Stufe mit dem maßgeblichen Impulsgeber der analytischen Philosophie und Logik (Frege) und mit dem Autor der ab 1910 epochemachenden Schrift Principia Mathematica (Russell). Aufmerksamkeit ist einem gewiss, wenn man sich (zumindest rhetorisch) in die Reihe der Geistesgrößen einer Zeit, der auctoritas, der Gemeinschaft der Gebildeten596, stellt. So betreibt man »Marketing of Philosophy«597.

Eine massive Steigerung erfährt diese Überheblichkeit in der abschließenden Sequenz des Tractatus-Vorworts. Nochmals: »Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.« (TLP S. 10) In rhetorischer Hinsicht ist der Satz rein faktisch als (iudicem) attentum parare einzuordnen. Hierbei wird durch »die Beteuerung ›ich bringe noch nie Gesagtes‹« ein »Aufmerksamkeitseffekt hergestellt«, der die Leser:innen »zur Staunensbereitschaft veranlaßt«.598 Wittgenstein verkündet in schlichtem Tonfall und damit umso effektvoller durch die Entdeckung der unantastbaren endgültigen Wahrheit nichts Geringeres als das Ende der Philosophie – etwas noch nie Gesagtes. Dieser Absolutheitsgestus der Sequenz elektrisiert und versetzt in Staunensbereitschaft gegenüber allem Folgenden.

Auf der anderen Seite lässt sich der Satz rhetorisch jedoch auch unter dem Gesichtspunkt von ab nostra persona lesen – Floskeln in einführenden Sätzen, die zwar Eigenlob enthalten, bei denen jedoch vor allem der »Verdacht der Arroganz«599 vermieden werden soll. Eigenlob enthält die Sequenz gewiss, in hohem Maße jedoch auch Arroganz. Mit dem im Vorwort geäußerten Anspruch, die endgültige Wahrheit gefunden und alle philosophischen Probleme gelöst zu haben, erhebt sich Wittgenstein über die Philosophiegeschichte, indem er proklamiert, etwas erreicht zu haben, was seine philosophischen Vorgänger:innen allesamt nicht geschafft haben. Für gewöhnlich zielt das exordium, im vorliegenden Fall das Vorwort, auf die Sympathiegewinnung bei der Leserschaft. Es soll eine »Affekt-Brücke zwischen dem Redner und dem Publikum«600 aufbauen. Mit dem von Arroganz und Präpotenz gekennzeichneten Satz: »Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben« (TLP S. 10), sprengt Wittgenstein diese Brücke in die Luft.

Er plustert sich im Vorwort, an der Schwelle zum Haupttext des Tractatus, gewaltig auf. Wittgenstein gibt sich als Autor zu erkennen, der alle Aufmerksamkeit möchte. Mit der Selbststilisierung als Endpunkt einer rund 2500 Jahre währenden Geistesgeschichte geriert er sich als Heros und Primus in der Riege der Geistesgrößen. Badious Charakterisierung des Antiphilosophen als jemand, der »gegen Jahrtausende von Philosophie« opponieren und »allein und im eigenen Namen einen aktiven und erlösenden Bruch«601 mit dieser Geschichte herbeiführen kann, findet hier ihren Anschluss. Bezeichnet ein Vorwort die Stelle in einem Buch, an der sich eine Autorin oder ein Autor zu erkennen gibt, so präsentiert sich Wittgenstein hier in messianischer Pose als fleischgewordener Superlativ. Die Textklasse ›Vorwort‹ funktioniert er zum Gründungsdokument seines eigenen Mythos um.

An dem mit Georg Franck aufgeworfenen »stille[n] Glück des Gelingens« der eigenen wissenschaftlichen Arbeit war es Wittgenstein also nicht gelegen. Rhetorisch versiert, stieg er mit dem Vorwort des Tractatus mit voller Wucht in den »Tanz um die Aufmerksamkeit« ein. Die »kollegiale[] Aufmerksamkeit« war ihm dadurch gewiss. Als Wissenschaftler wollte er »Staunen […] bei anderen Menschen […] erregen« und das »Interesse […] auf die eigene Person« lenken. Dass sich durch diese den Tractatus eröffnenden knapp anderthalb Seiten – die programmatisch formulierte »Gefahr eines langen Vorworts« (VB S. 460) war ihm entsprechend schon 1921 bewusst – die »Gemüter […] erhitzen«, sich »Begeisterung und Betroffenheit« ausbreiten, man »[i]n aller Munde« sein und sich alle »Münder« über dieses Vorwort auch »zerreißen«602 würden, ist ein kalkulierter Effekt von Wittgensteins Rhetorik.

Im von Wittgenstein noch autorisierten Vorwort zu den Untersuchungen, dem zweiten, nicht weniger epochemachenden Hauptwerk, hatte er diese aufmerksamkeitserzeugende Rhetorik nicht mehr nötig. Das Publikum hatte die Augen und Münder ob des Tractatus noch immer aufgerissen.603 Jenes kommt vergleichsweise konventionell und nüchtern daher. Einzige Ausnahme: »Daß es dieser Arbeit […] beschieden sein sollte, Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich nicht wahrscheinlich.« (PU S. 232 f.) Die Selbsteinschätzung als fleischgewordener Superlativ findet sich also teilweise auch hier. Dass Wittgensteins Philosophie, ob nun mit oder ohne Schlüssel zum verschlossenen Zimmer (vgl. VB S. 460), ungewöhnlich und nicht alltäglich ist, hatte sich inzwischen herumgesprochen.

564

Vgl. Lausberg 1960: 150 ff.

565

Wirth 2004: 608.

566

Ebd.

567

Ebd. 614.

568

Ebd. 613.

569

Ebd.

570

Wirth 2004: 608.

571

Ebd. 613.

572

Schnyder 1999: 194.

573

Hebel 1950 [1811]: 5.

574

Jean Paul 1986 [1797]: 454.

575

Goethe 1994 [1831]: 9.

576

Kant KrV A XIX.

577

Adorno 2003a [1951]: 17.

578

Trawny 2018: 152.

579

Vgl. zu dieser Wechselwirksamkeit ausführlich Assmann, Aleida; Assmann, Jan, »Die Erfindung des Geheimnisses durch die Neugierde«, in: Geheimnis und Neugierde, hg. v. dens., München: Fink, 1999, S. 7–11.

580

Blumenberg 2001b: 417.

581

Lausberg 1960: 251.

582

Vgl. Kap. 13 Wittgensteins (Un-)Form der Philosophie.

583

Vgl. Kap. 9.2 Relatives Staunen.

584

Vgl. Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis sowie Blumenberg 1998: 178 ff.

585

Die einzig mir bekannte ebenfalls an rhetorischen Kriterien orientierte Lektüre des Tractatus-Vorworts wurde mit Formen des Klärens. Literarisch-philosophische Darstellungsmittel in Wittgensteins Schriften von Christian Erbacher vorgelegt. Entgegen meiner auf Präpotenz und Aufmerksamkeitsökonomie gerichteten Analyse will er in seinen affirmativen und nur in Teilen nachvollziehbaren Ausführung im Vorwort des Tractatus sogar »implizites Lob der Leserschaft« und »Bescheidenheit des Autors« erkennen (Erbacher, Christian, Formen des Klärens. Literarisch-philosophische Darstellungsmittel in Wittgensteins Schriften, Münster: Mentis, 2015, S. 79) – eine Stoßrichtung, die meiner Lesart entgegensteht, deshalb nicht weiter berücksichtigt wird und allein wegen des Forschungsstands zum Vorwort des Tractatus an dieser Stelle genannt sei.

586

Das Vor- bzw. Geleitwort zum Wörterbuch für Volksschulen (vgl. Wittgenstein, Ludwig, Wörterbuch für Volksschulen, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1977 [1926], S. XXV–XXX) wird aufgrund seiner pädagogischen Intention und der damit verbundenen inhaltlichen Gewichtung von mir nicht thematisiert. Für die von mir nachvollzogene Rhetorik des Staunens ist es wegen des Ritualcharakters und der Übereinstimmung mit der Konvention auch nicht weiter relevant. Gleiches gilt für das Vorwort der Philosophischen Untersuchungen (PU S. 231 ff.), das sich mit den von Wirth aufgestellten Kategorien von Instruktions- und Ritualcharakter deckt. Das Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen (PB S. 7) findet aufgrund des ungesicherten Status der Textgenese bzw. der Herausgabe aus dem Nachlass von Rush Rhees und dessen fragwürdiger Methode der »Einschätzung, was [Wittgenstein] gewollt hätte« (Erbacher, Christian, »Die Wittgenstein-Editionen im Kontext. Über editorische Defizite und ihre konstruktive Kontextualisierung«, in: Editio, 30 (2016), S. 197–221, hier S. 213), ebenfalls keine Betrachtung.

587

Vgl. Spinoza, Baruch, Tractatus theologico-politicus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989 [1670].

588

Wirth 2004: 608.

589

Ebd. 614.

590

Vgl. Lausberg 1960: 236 ff.

591

Wirth 2004: 608.

592

Ebd.

593

Lausberg 1960: 58.

594

Vgl. ebd. 256.

595

Badiou 2008: 16.

596

Vgl. Lausberg 1960: 256.

597

Trawny 2018: 152.

598

Lausberg 1960: 153.

599

Ebd. 157.

600

Lausberg 1960: 141.

601

Badiou 2008: 16.

602

Franck 1998: 37 ff.

603

Vgl. Kap. 18.1 Wittgenstein, Karl Popper und der Schürhaken.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12