Kapitel 15 Aphoristik

In: Quadraturen des Staunens
Author:
Tim Hofmann
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Im Vorwort zu Wittgensteins Vermischten Bemerkungen schreibt Henrik von Wright über die Anordnung der ›Aphorismen‹ innerhalb der von ihm herausgegebenen Nachlassauswahl:

So z. B. stellte ich mir anfangs vor, man könne die Bemerkungen nach den behandelten Gegenständen gruppieren – etwa ›Musik‹, ›Architektur‹, ›Shakespeare‹, ›Aphorismen zur Lebensweisheit‹, ›Philosophie‹, u. dgl. Manchmal sind die Bemerkungen ohne Zwang in solche Gruppen einreihbar, aber im Ganzen würde eine derartige Aufspaltung des Materials wohl künstlich wirken. Ich hatte ferner einmal gedacht, auch bereits Gedrucktes mitaufzunehmen. Viele der eindrucksvollsten ›Aphorismen‹ Wittgensteins findet man ja in den philosophischen Werken – in den Tagebüchern aus dem ersten Weltkrieg, im Tractatus und auch in den Untersuchungen. Ich möchte sagen: inmitten dieser Kontexte üben die Aphorismen Wittgensteins tatsächlich ihre stärkste Wirkung aus. Aber eben darum schien es mir nicht richtig, sie aus ihrem Zusammenhang zu reißen. […] Einem Leser, der nicht mit den Lebensumständen oder mit der Lektüre Wittgensteins vertraut ist, werden manche der Bemerkungen ohne eine nähere Erklärung dunkel oder rätselhaft vorkommen.604

In einem posthumen Porträt und im Zusammenhang mit der ersten Rezeptionswelle thematisiert auch Ingeborg Bachmann Wittgensteins Aphoristik:

Seine knappe, spröde Sprache wird jedem, der sich damit beschäftigt, zuerst auffallen. Und auffallen wird ihm, daß es nicht eine systematisch aufgebaute philosophische Schrift ist, sondern aus lose aufeinanderfolgenden nummerierten Aphorismen besteht. Nicht immer wird ein Gedankengang zu Ende geführt, nicht immer von einem zum andern ein hilfreicher Übergang geschaffen. Darum wurde der Tractatus, trotz seinen klaren präzisen Formulierungen, oft ein dunkles Buch genannt, ein esoterisches Buch, das nur Eingeweihten, also Fachwissenschaftlern, zugänglich sei.605

Dass Wittgenstein sich in »aphoristisch anmutenden Bemerkungen«606 ausdrückt, Auslegungen von Textstellen mit »Wittgenstein meint in seinem Aphorismus«607 anheben und ›Aphorismus‹ sich als Sammelbegriff für seine vielfältigen Gestaltungsformen zwischen »Behauptung, Erwägung, Begründung und Widerlegung […][,] Fragen, Bekräftigung, Ausrufen, Beispielen und bisweilen dialogischen Sequenzen«608 durchgesetzt hat, ist in der Wittgenstein-Forschung allgemeiner Konsens.

Als philosophisch-literarische Textklasse, um an dieser Stelle eine allgemeine Definition zu geben, zeichnet sich der Aphorismus nach Heike Gfrereis »durch Denk- und Stilfiguren […] aus, die verblüffende Verbindungen (Analogie) herstellen und dazu führen, daß der Aphorismus nur schwer widerlegt werden kann: Ein Aphorismus leuchtet ein oder nicht, er ist nicht richtig oder falsch.«609

Diese Positionierung Wittgensteins als Aphoristiker werde ich in den folgenden Gliederungseinheiten aufgreifen und sie auf rhetorische Evokationsformen von Staunen hin befragen. Meine These: Die Textklasse ›Aphorismus‹ weist strukturelle Beziehungen zu Wittgensteins epistemischen Konzepten von Staunen auf;610 intentional aktualisiert sich hierbei vor allem das angesprochene Auseinanderbrechen von Signifikantenketten, die Desorientierung aufgrund von gegebenen Sinnesdaten. Wenn Staunen unter anderem »neue[] Wahrnehmung[en]« (LS 518) hervorbringt, leuchtende »Aspektwechsel« (BBP 565) hervorruft, Kontemplation bedingt, »Widersprüche« (BGM 57) und ›wilde Semiose‹ auslöst, so ist Aphoristik als Form des sprachlichen Ausdrucks das korrespondierende Gegenstück.

Begegnet wird dieser These mit Wittgensteins Bezugsgrößen Georg Christian Lichtenberg und Karl Kraus. Beide werden von mir theoretisch befragt und exemplarisch auf Wittgensteins Werk bezogen. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einer komprimierten Genrediskussion, die Wittgensteins Aphoristik innerhalb anderer ›Staunenstexte‹ verortet und Überlegungen zum Zusammenhang mit der ebenfalls in der Zwischenkriegszeit anzutreffenden Textklasse ›Denkbild‹ anstellt.

15.1 Aphoristik I – Georg Christoph Lichtenberg

In den in Kap. 13 Wittgensteins (Un-)Form der Philosophie skizzierten werkimmanenten Lektürespuren, Wittgensteins Schreiben ›mit‹ literarischen Autoren und über diese, habe ich den Naturforscher und Begründer der deutschen Aphoristik Georg Christoph Lichtenberg ausgespart, da er sich als impulsgebende Größe für Wittgenstein deutlich von anderen Referenzen abhebt.611 Hierzu Allan Janik und Stephen Toulmin:

Einer der wenigen philosophischen Schriftsteller, die ihn [Wittgenstein, TH] schon früh beeindruckten, war Georg Christoph Lichtenberg. […] Um die Jahrhundertwende wurden Lichtenbergs Schriften von den Wiener Intellektuellen viel gelesen. Mehr noch als Schopenhauer prägte er […] den aphoristischen Stil des Philosophierens, der zu jener Zeit beliebt wurde und den der Tractatus in markanter Weise dokumentiert.612

Oder in den Worten von Wrights: »An author, however, who reminds one, often astonishingly, of Wittgenstein is Lichtenberg. Wittgenstein esteemed him highly. […] It is deserving of mention that some of Lichtenberg’s thoughts on philosophical questions show a striking resemblance to Wittgenstein’s.«613 Bei seiner Lichtenberg-Rezeption sind es jedoch weniger die inhaltlich-thematischen Bezugnahmen (vgl. BüF 3, 5; VB S. 542; DB S. 58; MS 115, 109; TS 213, 422), die ins Gewicht fallen, vielmehr ist ihm Lichtenberg eine Instanz der Form. Er lieferte die Blaupause für Wittgensteins Strategien philosophisch-literarischer Verschriftlichung.

Der Begriff ›Aphorismus‹ war zu Lichtenbergs Zeit, zur Zeit der Spätaufklärung dem physikalischen, vor allem dem medizinischen Lehrsatz vorbehalten.614 Allein in dieser Weise verwendete Lichtenberg ihn auch.615 Seine literarisch-philosophischen Äußerungen und das, was man heute als ›Aphorismus‹ bezeichnet, nannte er dagegen uneinheitlich ›Bemerkungen‹, ›Gedanken‹ oder ›Einfälle‹.616 Darunter finden sich auch poetologische Reflexionen. Sie weisen in eine Richtung, die den Aphorismus unabhängig von seiner naturwissenschaftlichen Herkunft als atomisierende, kontingente, auf Überraschung und Unvorhersehbarkeit zielende Form des Schreibens und Denkens versteht.

Als poetisches Prinzip spielen beim Aphorismus vor allem Kürze, Prägnanz und die detractio, also der bewusste Einsatz semantischer Leerstellen617, eine tragende Rolle. Diese »besondere Art« des sprachlichen Ausdrucks hat sich nach Lichtenberg nicht an epischer Länge in »stark ausgezogene[r] Linie«, sondern an pointiertem bzw. »punktuierte[m]« Schreiben zu orientieren:

Da wo einen die Leute nicht mehr können denken hören, da muß man sprechen, sobald man dahin kommt wo man nun wieder Gedanken voraussetzen kann, die mit unsern einerlei sind, da muß man aufhören zu sprechen. Ein solches Buch ist Sterne’s Reise, aber die meisten Bücher enthalten zwischen zweien merkwürdigen Punkten nichts als den allergemeinsten Menschen-Verstand, eine stark ausgezogene Linie, wo eine punktierte zugereicht hätte. Alsdann ist es erlaubt, das Gedachte auszudrücken, wenn es auf eine besondere Art ausgedrückt wird, doch dieses ist schon mit unter der ersten Anmerkung begriffen.618

Es gilt, »Sachen kurz und stark zu sagen«619, um durch diese »Sparsamkeit« Aufmerksamkeit zu erzeugen: »Nicht alle Reichen sind es durch Glück geworden, sondern viele durch Sparsamkeit. So kann Aufmerksamkeit, Ökonomie der Gedanken und Übung den Mangel an Genie ersetzen.«620

In der Maxime der poetologischen Kürze erblickt er eine Entsprechung zu all den kleinteiligen, chaotischen Gedanken, die einem Menschen »durch seinen Kopf« fahren:

So wie Linné im Tierreiche [der Naturforscher Carl von Linné mit seinem zoologisch-biologischen Gattungssystem, TH] könnte man im Reiche der Ideen auch eine Klasse machen die man Chaos nennte. Dahin gehören nicht sowohl die großen Gedanken von allgemeiner Schwere, Fixstern-Staub mit sonnenbepuderten Räumen des unermeßlichen Ganzen, sondern die kleinen Infusions-Ideechen, die sich mit ihren Schwänzchen an alles anhängen, und oft im Samen der Größten leben, und deren jeder Mensch wenn er still sitzt [eine] Million durch seinen Kopf fahren sieht.621

Den »großen Gedanken von allgemeiner Schwere«, den ›Fixsternen‹ des großen metaphysischen Ganzen, stellt Lichtenberg die kleinen, durch- und eindringenden, jedoch chaotischen Gedanken, die mit einem Diminutiv versehenen »Ideechen« gegenüber. Sie sind assoziativ und unsystematisch, eben nicht fixiert.

Diese gedankliche Partikularität findet sich als »Chemie [der] Auflösung« auch in folgendem Sudelbuch-Eintrag wieder. Im Modus des Experimentierens sind es die suspendierten »einzelnen Teile«, welche »die größte Entdeckung bewirken könn[en]«:

Wie viel Ideen schweben nicht zerstreut in meinem Kopf, wovon manches Paar, wenn sie zusammen kämen, die größte Entdeckung bewirken könnte. Aber sie liegen so getrennt, wie der Goslarische Schwefel vom Ostindischen Salpeter und dem Staube in den Kohlenmeilern auf dem Eichsfelde, welche zusammen Schießpulver machen würden. Wie lange haben nicht die Ingredienzen des Schießpulvers existiert vor dem Schießpulver! Ein natürliches aqua regis gibt es nicht. Wenn wir beim Nachdenken uns den natürlichen Fügungen der Verstandesformen und der Vernunft überlassen, so kleben die Begriffe oft zu sehr an andern, daß sie sich nicht mit denen vereinigen können, denen sie eigentlich zugehören. Wenn es doch da etwas gäbe, wie in der Chemie Auflösung, wo die einzelnen Teile leicht suspendiert schwimmen und daher jedem Zuge folgen können. Da aber dieses nicht angeht, so muß man die Dinge vorsätzlich zusammen bringen. Man muß mit Ideen experimentieren.622

Für mein mit Sprache bzw. Lebensform und mit Staunen verbundenes Unternehmen ist interessant, dass Lichtenberg den »Begriff« in das Zentrum seiner »Chemie [der] Auflösung« stellt. Das »[Aneinander]kleben« von Begriffen fußt auf »Verstandesformen und […] Vernunft«. Die »größten Entdeckung[en]« gelingen Lichtenberg zufolge jedoch dann, wenn diese Verbindungen und die damit zusammenhängenden Kognitionen gelöst werden. Im angeführten Auszug hält er ein Plädoyer für die Zersetzung und das Rearrangieren bestehender Semantiken auf der Grundlage von Sprache bzw. Begriffen.

An anderer Stelle nennt Lichtenberg diesen Modus experimentellen Denkens auch »närrischen Einfall«. Die Verbindungen von Gedanken und Ideen geschehen übersprungsartig; dem »närrischen Einfall« ist etwas Unerwartetes, Seltsames eigen:

Das ist ein närrischer Einfall, sagt man von einer gewissen Art Einfälle, die nicht weniger als unklug sind, auch das Ding ist doch närrisch. Gewiß hat der erste Mann, der die Redensart brauchte, etwas dabei gedacht. Es kann das Unerwartete und das Seltsame in der Verbindung der Ideen bezeichnen, das Überspringende, dergleichen man bei närrischen Leuten vieles findet.623

Lichtenberg sieht in dieser »Chemie [der] Auflösung«624 und im »närrische[n] Einfall«625, also mit dem, was konventionalisierte »Verstandesformen und […] Vernunft«626 zersetzt, die Möglichkeit gegeben, »aus dem Schutt fremder Dinge herauszufinden«, um dadurch »selbst anfangen zu fühlen […] und selbst zu sprechen«.

Bei unsrem frühzeitigen und oft gar zu häufigen Lesen, wodurch wir so viele Materialien erhalten, ohne sie zu verbauen, wodurch unser Gedächtnis gewöhnt wird, die Haushaltung für Empfindung und Geschmack zu führen, da bedarf es oft einer tiefen Philosophie, unserm Gefühl den ersten Stand der Unschuld wiederzugeben, sich aus dem Schutt fremder Dinge herauszufinden, selbst anfangen zu fühlen, und selbst zu sprechen und ich möchte fast sagen auch einmal selbst zu existieren.627

Ein weiteres aus den Sudelbüchern hervorgehendes und für Wittgensteins Aphorismusbegriff zentrales Charakteristikum liegt in der Zwischenstellung der Textform: Aphorismen sind textbasierte Ausdrucksformen der Schwelle und artikulieren sich als philosophische Dichtung bzw. gedichtete Philosophie. Intellekt und Empfinden werden dabei in cartesianischer Tradition nicht gegeneinander in Stellung gebracht, sondern in gemeinsamem Bezugsrahmen in Form einer fortlaufenden Konfrontation wechselseitig aufeinander bezogen. Der damit für Lichtenberg einhergehende Effekt ist Taumel und Desorientierung:

So hänge ich in der Welt zwischen Philosophie und Aufwärterinnen-List, zwischen den geistigsten Aussichten und den sinnlichsten Empfindungen in der Mitte, taumelnd aus jenen in diese, bis ich nach einem kurzen Kampf zur Ruhe meines beiderseitigen Ichs dereinst völlig geteilt hier faule und dort in reines Leben aufdunsten werde. Wir beide, Ich und mein Körper sind noch nie so sehr zwei gewesen als jetzo, zuweilen erkennen wir einander nicht einmal, dann laufen wir so wieder einander, daß wir beide nicht wissen, wo wir sind.628

Doch was haben diese Ausführungen mit Wittgenstein zu tun? Er adaptierte diese von Lichtenberg ausgehenden Facetten der Aphoristik und funktionalisierte sie für seine eigene Schreibdirektive und Form des Denkens. So findet sich das Lichtenberg-Diktum der sprachlichen Verknappung und der textuellen Kürze bereits zu Beginn des Tractatus. Das vom österreichischen Feuilletonisten Ferdinand Kürnberger stammende Motto des Tractatus lautet: »[A]lles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.« (TLP S. 7)629 Zieht man den jeder eröffnenden Voranstellung eigenen ornamentalen Gestus des Satzes ab, artikuliert sich schon an dieser Stelle von Wittgensteins Frühschrift ein Bekenntnis zur sprachlichen Reduktion. Dass es sich beim Kürnberger-Zitat nicht allein um einen zierenden ›Vorsatz‹ handelt, zeigen die darauffolgenden nur 77 Seiten umfassenden, an Aphoristik angelehnten Ausführungen des Tractatus.

In den Untersuchungen ist Lichtenbergs auf Verdichtung ausgerichtetes Programm dann in Wittgensteins eigenen Worten ausformuliert. In einem Aphorismus über den Aphorismus heißt es: »Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre.« (PU S. 565) Für Wittgenstein haben Texte demzufolge unterschiedliche ›Aggregatzustände‹, die neben der kompositorischen Seite und der damit verbundenen Intention von der Leserschaft unterschiedliche Lektüremodi einfordern. Da in einem »Tröpfchen Sprachlehre« (PU S. 565) keine weitläufigen textuellen Ausführungen enthalten sind, müssen die Leser:innen die durch semantische Reduktion entstandenen Leerstellen selbstständig füllen. Der Autor, in diesem Fall Wittgenstein, tritt zurück und das lesende Subjekt in den Vordergrund der Sinnkonstruktion. Kondensation bedingt eine Lektürehaltung der Exploration bzw., nun wieder mit Lichtenberg, eine des »[E]xperimentieren[s630. Aphorismen lösen hermeneutische Prozesse aus, die Texte mit konventionellen Strategien der Versprachlichung – »ganze Wolke[n] von Philosophie« (PU S. 565, s. o.) – ob der vermittelten Kohärenz und Stringenz nicht zulassen.

Hieraus ist ein ethisches Argument abzuleiten: Hinsichtlich Wittgensteins synkopisch-aphoristischem Schreiben führt Stanley Cavell den Begriff des »intellectual peace« ein. In einer sich auf die Untersuchungen und deren »literary achievements« beziehenden Passage heißt es: »In Investigations, accordingly, the literary achievements of aphorism and parable equally represent, together with the methods of language games, instances of the moments of intellectual peace it is for philosophy to achieve.«631 Gleich ob Lichtenberg oder Wittgenstein – den Textsinn gibt es in einer aphoristischen Programmatik nicht. In diesem Sinn ist der »intellectual peace«632 zu verstehen. Die kondensierte Sprachform des Aphorismus befähigt, aus dem mit Lichtenberg benannten »Schutt fremder Dinge herauszufinden«633 und durch das aphoristische Textangebot sich dem eigenen Denken und Empfinden frei und ohne Vorgaben hinzugeben. Wie die Beispiele in Kap. 15.2.1 Philosophieren mit zahnlosem Mund und Kap. 15.2.2 Rosinenkuchen zeigen werden, forciert Wittgenstein in seiner Aphoristik genau dies: ein Denken ohne Leitplanken auf der Grundlage eines kondensierten, kontingenten Textangebots.

Die Effekte einer solchen Verbalisierungsstrategie habe ich bei Lichtenberg aufgrund fortwährender konfrontativer Bewegungen von Intellekt und Empfindung mit »[T]aumel[]«634 angesprochen. Das wiederholte Ineinanderlaufen von »geistigen Aussichten und den sinnlichsten Empfindungen«635 macht Desorientierung zum formalen Charakteristikum der Aphoristik. Bei Wittgenstein firmiert dieser Gesichtspunkt als definitorische Kategorie für das, was er als Wesenskern eines jeden »philosophische[n] Problem[s]« ausmacht. Dessen Eigenheit benennt er mit der schlichten Aussage: »›Ich kenne mich nicht aus.‹« (PU 123) Er überträgt die Desorientierung als Strukturmerkmal der aphoristischen Textform in einen kognitiven Problemzusammenhang. »›Ich kenne mich nicht aus‹« (PU 123) meint einen Modus des Denkens, bei dem aufgrund einer gegebenen Partikularität alles kontingent bzw. – mit Lichtenberg – »Chaos«636 ist.

Der desorientierende aphoristische Taumel bietet keinen Halt. Er ist als fortlaufende Denkbewegung zu verstehen. In den Bemerkungen ist dieser Moment über das Aufgeben eines ›festen Standpunkts‹ zugunsten eines andauernden Positionswechsels angesprochen:

Es ist für mich wichtig, beim Philosophieren immer meine Lage zu verändern, nicht zu lange auf einem Bein zu stehen, um nicht steif zu werden. Wie, wer lange bergauf geht, ein Stückchen rückwärts geht, sich zu erfrischen, andre Muskeln anzuspannen. (VB S. 488)

Oder in anderer Wendung: »Wenn ich für mich denke […], so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürliche Denkweise. In einer Reihe gezwungen, fortzudenken, ist mir eine Qual.« (VB S. 489) Gleich Lichtenberg, der das »[Aneinander]kleben [der] Begriffe«637 aufzulösen sucht, läuft Wittgensteins Selbstcharakterisierung darauf hinaus, in intellektueller Hinsicht nicht an einer Position zu ›kleben‹, sondern im Hin und Her des Denkens Standpunkte und Aspekte fortwährend zu wechseln; der Aphorismus ist für ihn die dafür geeignete Textklasse.

Textuelle Kürze und Sparsamkeit, Kleinteiligkeit und Chaos, Auflösung von Begriffsketten und Experiment, Unerwartetes und Seltsames, Affekt und philosophischer Intellekt: Ob in bewusstem Rückgriff oder aus unbewusster Lektüreerfahrung heraus, greift der Aphoristiker Wittgenstein auf den Aphoristiker Lichtenberg zurück. Sein Werk ist an vielen Stellen Echokammer der von Lichtenberg angeführten Facetten zum Aphorismus. Wittgenstein reflektiert die poetologisch-philosophischen Versatzstücke und aktualisiert sie für seine eigenen aphoristischen Verbalisierungsstrategien. Dabei fällt auf, dass sowohl Lichtenberg als auch Wittgenstein zwischen textueller und intellektueller (Un-)Form keine scharfe Trennlinie ziehen – die Grenzen sind fließend.

Für meine auf Staunen zulaufende Lektüre sind Lichtenbergs Versatzstücke zum aphoristischen Schreiben und Wittgensteins Adaptionen insofern von Bedeutung, als sie textbasiert etwas aktualisieren, was den dargelegten epistemischen Gesichtspunkten von Staunen tief eingeschrieben ist: Aphoristik und Staunen verfolgen ein auf Kontingenz beruhendes Programm der (De-)Konstruktion von Sinn. Beiden Aspekten ist das Moment der ›wilden Semiose‹, der Such- und Denkbewegung eigen, beide Aspekte bewegen sich generativ außerhalb von geschlossener (Lebens-)Form und eröffnen dadurch das Potenzial, aus Unterbestimmtheit heraus »neue[] Wahrnehmung[en]« (LS 518) und Gesichtspunkte zu entdecken.

15.2 Aphoristik II – Karl Kraus

Die zweite, nicht minder gewichtige Referenz für Wittgensteins Aphoristik ist Karl Kraus. Dies jedoch nicht wie Lichtenberg als Instanz der Form, sondern vielmehr als dialogisch-diegetisches Gegenüber und Maßstab in seinen Aphorismen.

Brecht schrieb über Kraus: »Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand.«638 Was aus seiner Hand an Kultur- und Sprachkritik nicht nur in der Fackel, sondern auch in seinen Prosawerken, Essays und theatralischen Inszenierungen veröffentlicht wurde, hatte für eine ganze Generation von Intellektuellen und Schriftsteller:innen große Bedeutung.639 Als opponierende Stimme gegenüber den Verfallserscheinungen der Moderne nahm Kraus auch für Wittgenstein eine herausragende Position ein. Hierzu Wittgensteins langjähriger Freund Paul Engelmann:

I am convinced that the way of thinking which he found in Kraus’s writings exercised a decisive and lasting influence on the objectives of his philosophical activity. Indeed, this influence goes much deeper than can ever be suspected by those who have not really understood what Kraus is really after […].640

Kraus war für Wittgenstein die intellektuelle Kapazität seiner Zeit. Mehr noch: In seiner Haltung gegenüber dem Sprach- und Kulturkritiker zeichnet sich eine nahezu demütige Unterordnung ab. Das von ihm selbst entworfene, von der Wittgenstein-Forschung weitergepflegte Bild des »selfmade-Philosoph[en]«641 verwässert sich in Bezug auf Kraus. So findet sich in den Denkbewegungen beispielsweise folgender Eintrag: »Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen daß ich nicht besser bin als Kraus […] & es mir mit Schmerzen vorgehalten. Welche Unsumme von Eitelkeit liegt aber in diesem Gedanken.« (DB S. 55) Sowie: »Kraus war ein, ausserordentlich begabter, Satzarchitekt.« (DB S. 91)

Auch in einer brieflichen Rückmeldung zu einem Text des Freunds Ludwig Hänsel vom 10. März 1937 wird diese Haltung ersichtlich:

Aber gerade so hättest Du Deinen Zuhörern helfen sollen. – Nicht, daß Du ihnen das ›ungenügend Verdaute‹ gegeben hast, ist das Schlimme, sondern, daß Du es ihnen als ein Verdautes gegeben hast. – Wer in Aphorismen, Bemerkungen, schreibt, der muß verdaut haben. [S]onst ist der Aphorismus ein Schwindel. (Ich weiß freilich, wie sehr die aphoristische Schreibweise – besonders durch Kraus – in unserer Zeit liegt. Und wie sehr bin ich von ihm beeinflußt. Auch im schlechten Sinne.)642

Neben der direkten Ansprache von Kraus und dessen – nach eigener Aussage nicht nur positiven – Wirkung auf sein eigenes Schreiben (»wie sehr bin ich von ihm beeinflußt«) ist die Passage in ihrer Wendung hin zum Aphorismus aufschlussreich. Wittgensteins Brief an Hänsel enthält die einzige direkte Thematisierung dieser Textklasse im Gesamtwerk. Die seiner Meinung nach misslungenen aphoristischen Versuche des Freunds veranlassen ihn zu einer Reflexion über die Form des Aphorismus und zu einer sententia – einem normierenden Merkspruch, einer Feststellung mit Gebotscharakter643 – für den Aphorismus.

Doch was meint der Satz: »Wer in Aphorismen, Bemerkungen, schreibt, der muß verdaut haben«644? Das von Wittgenstein angesprochene Verdauen ist Aufruf zur gedanklichen Auseinander- und Zersetzung. Obschon die bereits im Zusammenhang mit Lichtenberg ausgeführte Kürze strukturelles Kennzeichen des Aphorismus ist, heißt das mit Wittgenstein nicht, dass jener auch als Spontanäußerung geschrieben ist. Wittgensteins Schreibszene, sein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«645 bestehend aus zahllosen Umarbeitungen, Streichungen, Wiederaufnahmen, Rearrangements und Umgruppierungen, Bewegungen zwischen Manus- und Typoskripten, ist ein eindrückliches Zeugnis davon. Der ›Verdauungsprozess‹ eines Gedankens und die kompositorische Übersetzung in einen Aphorismus sind für Wittgenstein eine komplexe, zeitintensive Arbeit. Kraus bringt diesen Prozess in seinem Aphorismen-Band Sprüche und Widersprüche wie folgt auf den Punkt: »Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche.«646

In Wittgensteins sich um Kraus drehender sententia ist neben der Produktionsseite über die Verdauungs-Metaphorik jedoch auch die Rezeptionsseite angesprochen: Über eine Anmerkung im Braunen Buch, in der Wittgenstein die Lehre der ewigen Wiederkunft647 streift (vgl. BB S. 151), lässt sich der Lektürenachweis von Nietzsches Also sprach Zarathustra erbringen. Für meine sich auf den Aphorismus konzentrierende Perspektive ist darin folgender Passus von Bedeutung: »An deren Worten will ich lange nun kauen gleich als an guten Körnern; klein soll mein Zahn sie mahlen und malmen, bis sie mir wie Milch in die Seele fliessen!«648 Auch in der mit dem Zarathustra eng verwobenen Genealogie der Moral649 ist dieser Punkt thematisiert:

Freilich tut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur ›Lesbarkeit‹ meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ›moderner Mensch‹ sein muß: das Wiederkäuen650

Die Gleichsetzung von aphoristischer Lektüre und metabolischem Prozess ist bei Wittgenstein als Motiv entsprechend vom Aphoristiker Nietzsche vorgeprägt. Aphorismen sind von Autorenseite so konstruiert, dass sie im Rezeptionsprozess ›wiedergekäut‹ bzw. in mehrfachen Durchgängen gelesen werden sollen. Ihre ›Verdauung‹ bzw. der Prozess der Verarbeitung und semantischen Erschließung wiegt schwer; ihre Gehalte erschließen sich, wenn überhaupt, nur sehr mühevoll.

Der Grund hierfür liegt in der dem Aphorismus eigenen rätselhaften Struktur. Sie speist sich aus dem rhetorischen Begriff des aenigma – ein sprachliches Agieren mit »dunkle[n], rätselhafte[n] Anspielung[en]«, die oftmals mit dem »Unerklärlichen« verknüpft sind.651 Dass aber dieses Rätsel nicht angenommen werden muss, der Aphorismus auch ›unverdaut‹ und zumeist in altväterlicher Pose, in kokettierender, bildungsbeflissener Rede und selbst als Content in den sozialen Medien652 Verwendung findet, zeigen die sprichwörtlich gewordenen Aphorismen: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (TLP 5.6), und: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« (TLP 7) Dass sich im »Wiederkäuen«653 der beiden Sätze eine filigrane, hochkomplexe Sprachphilosophie eröffnet, die im 20. Jahrhundert maßgeblich den linguistic turn beeinflusste, bleibt dadurch meist verkannt.

Wie aenigmatisch654, wie dunkel diese »dunkle[n], rätselhafte[n] Anspielung[en]«655, die Aporien und die Kontingenz in Wittgensteins aphoristischem Schreiben sein können, lässt sich anhand zweier Aphorismen zu Karl Kraus aus den Vermischten Bemerkungen ausführen. Was es heißt, ›Verdauung‹ auf Rezeptionsseite zu betreiben, wird hier exemplarisch ersichtlich. Im modus per incrementa, der steigernden Gewichtung des Gesagten hin zum Schlussglied,656 ist Kraus jeweils als hinzugefügte Nachschaltung (paragogé)657 positioniert. Hochachtung und eingeräumte Autorität finden sich neben dem an Hänsel gerichteten Brief, nun über rhetorische Strategien vermittelt, auch hier. In beiden Texten hat Kraus für Wittgenstein die Funktion einer selbstvergewissernden Instanz, die Anlass zur Reflexion der eigenen aphoristischen Schreibpraxis gibt. Es ist auffallend, dass das an Physiologie bzw. Nahrung gekoppelte Leitmotiv dabei wiederholt Anwendung findet; der metabolische Bildspeicher und Aphoristik sind für Wittgenstein eng miteinander verbunden. Hinsichtlich der Versprachlichungsstrategie bildet die mit »Ich kenne mich nicht aus« (PU 123, s. o.) angesprochene Desorientierung das tragende Moment. Für beide Aphorismen gilt, was Wittgenstein verallgemeinernd zur Sprache sagt: Sie sind je »ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.« (PU 203)

15.2.1 Philosophieren mit zahnlosem Mund

Es kommt mir manchmal vor, als philosophierte ich bereits mit einem zahnlosen Mund und als schiene mir das Sprechen mit einem zahnlosen Mund als das eigentliche, wertvollere. Bei Kraus sehe ich etwas Ähnliches. Statt, daß ich es als Verfall erkennte. (VB S. 482)

Mit aenigmatischer Motivation irritiert der Text zunächst durch die Neubesetzungen des darin aufgeführten Symbols bzw. mit dem Durchkreuzen der damit assoziierten semiotischen Positionen: Ein zahnloser Mund ruft für gewöhnlich Vorstellungen von Alter und Verfall (Zahnausfall und die ›dritten Zähne‹), Unverständlichkeit (es können keine Alveolare gebildet werden) und fehlende Durchsetzungskraft (›zahnloser Tiger‹) auf. Dagegen wendet Wittgenstein das Bild in Richtung einer produktiven Potenz. Der zahnlose Mund wird als zu erreichender Zustand positiv umkodiert und zum »wertvollere[n]« Zustand erhoben. Die Antwort auf die Frage, warum dieser Zustand als erstrebenswert gelte, bleibt dabei jedoch ausgeklammert. Durch eine detractio, eine semantische Einsparung mit überraschender Wirkung, werden »ungewöhnliche[]« Beziehungen hergestellt, die den Gesamtzusammenhang »in der Schwebe«658 lassen. Wittgenstein arbeitet im angeführten Aphorismus mit der rhetorischen Technik der obscuritas, dem unklaren und uneindeutigen Gebrauch von Wörtern, der einen Text in hohem Maße interpretationsbedürftig macht und ihn in eine »anspruchsvolle Dunkelheit«659 hüllt.

Gesteigert wird die aenigmatische Ausrichtung durch den Gebrauch des Konjunktivs II. Wittgenstein philosophiert nicht; es ist ihm, als »philosophierte« er bereits. Die Verwendung des Irrealis rückt den Aphorismus in die Nähe einer Traumsequenz. Dass es im Wien der Traumdeutung ab 1900 durchaus en vogue war, von ausgefallenen Zähnen zu sprechen, unterstreicht diese Annahme.660 In der Traumlogik bzw. -unlogik ist das gewohnte, aus kognitiven Strategien hervorgehende »Flussbett der Gedanken« (ÜG 97) unterminiert, Signifikationen sind gelockert und aufgelöst. Der Irrealis nimmt die desorientierende Umcodierung des zahnlosen Mundes auf und verstärkt sie auf modaler Ebene.

Das Philosophieren mit zahnlosem Mund stellt orientierte Wittgenstein-Leser:innen vor ein weiteres Rätsel: Der Aphorismus entstand vermutlich zwischen 1932 und 1934 (vgl. VB S. 482), mithin genau zu jener Zeit, die in der Wittgenstein-Forschung, verbunden mit dessen Rückkehr nach Cambridge, als Phase des Übergangs vom Früh- zum Spätwerk bezeichnet wird. Im Tractatus postulierte Wittgenstein noch, dass die »Wahrheit der hier [im Tractatus, TH] mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv« und mit seiner Schrift alle philosophischen »Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst« (TLP S. 10) seien.661 Der berühmte Schlusssatz: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« (TLP 7), kann vor dem Hintergrund der Analyse des Aphorismus nicht nur sprachphilosophisch, sondern auch performativ als selbst auferlegtes Schweigegelübde gelesen werden. Sind der Aphorismus und die darin angesprochene Unverständlichkeit im Zusammenhang des zahnlosen Mundes als Fortführung dieses Verdikts einzuordnen? Ist das angeführte »eigentliche« (VB S. 482) Sprechen dann ein Schweigen? Andererseits: Warum ist dieses Schweigen nicht vollkommen? Ein Sprechen mit zahnlosem Mund mag zwar unverständlich sein, dennoch ist es ein Sprechen. Oder spricht im Aphorismus jemand mit zahnlosem Mund, der das (philosophische) Sprechen wieder- oder anders erlernt? Jemand, der sich auf dem Weg hin zu den Untersuchungen befindet? Jemand, der im Begriff ist, sein Schweigegelübde zu brechen? Der in den Untersuchungen vollzogene Stil lässt auch diese Interpretation zu. Der darin angeschlagene Ton hat nichts mehr mit der analytischen Schärfe, dem Stakkato des numerischen Prinzips, dem im Tractatus vollzogenen ›Festbeißen‹ an Sprachlogik zu tun. Die Untersuchungen beißen sich nirgendwo fest. Im Gegenteil: Die einzelnen, lose angeordneten Paragrafen bilden vielmehr semantische Korrespondenzräume, die eher assoziativ denn strukturiert sind. Das Diktum der Unverständlichkeit, das im Aphorismus aufgeführte Sprechen und Philosophieren mit zahnlosem Mund, könnte so auch als Selbstvergewisserung hin zu einer neuen Form des sprachlichen Ausdrucks, hin zu seiner ›Philosophie der normalen Sprache‹662 gelesen werden.

Und die Kraus-paragogé? Das »Bei Kraus sehe ich etwas Ähnliches« (VB S. 482)? Der Entstehungszeitraum des Philosophieren-mit-zahnlosem-Mund-Aphorismus (ca. 1932–1934) verweist auf das laute Schweigen von Karl Kraus im Zusammenhang der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und des zunehmend repressiver werdenden Klimas im Austrofaschismus. Der schärfste Publizist des deutschsprachigen Raums, der laut Walter Benjamin mit Sprache bewaffnete und mit »Schwerter[n] schwingend[e]« Krieger in »uralte[r] Rüstung«663, der »Silbenstecher«664, dem sonst nur »Flamme[n] […] über die Lippen«665 gingen, entzog sich vorerst einer öffentlichen Äußerung. Die fällige Frühjahrsausgabe der Fackel blieb aus.

Dass Kraus in diesem Zeitraum der publizistischen Zurückhaltung keineswegs untätig war, belegt, entgegen seiner ausbleibenden Veröffentlichungen und Auftritte, das rund 300 Seiten starke Konvolut Dritte Walpurgisnacht. Die umfassende, an Goethes Faust-Szenen angelehnte Analyse beschreibt die kommenden Entwicklungslinien des Nationalsozialismus mit bisweilen erschreckender Klarheit. Da der bereits in Druckfahnen gesetzte und mit den berühmten Worten »Mir fällt zu Hitler nichts ein«666 einsetzende Text jedoch erst 1952 veröffentlicht wurde – Kraus befürchtete Repressionen gegen ihn und seine Leserschaft –,667 kann die von Wittgenstein gesetzte Ähnlichkeitsbeziehung, seine paragogé »Bei Kraus sehe ich etwas Ähnliches« (VB S. 482), nicht auf diesen Text bezogen sein.

Die Fackel erschien erst wieder im Oktober 1933. In der nur vier Seiten umfassenden Ausgabe Nr. 888 bricht Kraus sein Schweigen und rechtfertigt dieses mit dem gestiegenen öffentlichen Druck. Das Gedicht »Man frage nicht«668 ist als Erklärung seiner Zurückhaltung und als lyrische Konzentration seiner Überlegungen des Walpurgisnacht-Konvoluts zu lesen:

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.669

Dass Wittgenstein in seinem Aphorismus und der damit verbundenen paragogé auf das Kraus-Gedicht anspielt, ist nicht auszuschließen. Bei seiner Veröffentlichung löste »Man frage nicht« erwartungsgemäß große Resonanz aus. Kraus widmete den zum Teil heftigen Repliken auf das Gedicht die gesamte Ausgabe Nr. 889 vom Juli 1934.670 Dass der Fackel-Leser und Kraus-Verehrer Wittgenstein – obwohl zu dieser Zeit in Cambridge mit Vorlesungen beschäftigt, vor allem aber mit dem Diktat des Blue Book und ersten Ausarbeitungen seiner Sprachspiel-Konzeption (vgl. BB) – »Man frage nicht« kannte, liegt nahe. Spätestens bei seinem Wien-Aufenthalt an Weihnachten 1933671 muss er im politisch-kulturell beflissenen Hause Wittgenstein von der hitzig geführten Kraus-Debatte in Kenntnis gesetzt worden sein.

Das bei Wittgenstein über den Irrealis vermittelte Traumsujet (s. o.) ist als Zustandsbeschreibung auch im Gedicht von Kraus realisiert (»man spricht nur aus dem Schlaf. / Und träumt von einer Sonne, welche lachte«). Mit »Kein Wort, das traf« und »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte«672 ist ferner der Topos der Sprachlosigkeit im Zusammenhang des zahnlosen Mundes angesprochen (vgl. VB S. 482, s. o.). Der gesuchte Verweis auf »Man frage nicht« kommt hier jedoch bereits zu seinem Ende. Außer allgemeinen Motiven wie Traum und Schweigen läuft eine auf Ähnlichkeitsbeziehungen beruhende intertextuelle Interpretation der paragogé ebenfalls leer.

Oder spielt »Bei Kraus sehe ich etwas Ähnliches« (VB S. 482) auf die Fackel-Ausgabe Nr. 890–905 Ende Juli 1934 mit dem Titel »Warum die Fackel nicht erscheint« an? Kraus begründet darin auf über 300 Seiten seine publizistische Enthaltsamkeit im Frühjahr 1933. In der mit Versatzstücken aus der Walpurgisnacht673 arbeitenden Apologie findet sich folgender Abschnitt:

Selbst der Dichter der Nation, deren Erweckung solche Vorsicht eingibt, er wäre es nicht mehr, wenn er heut die Anspielung wagte, daß des Tigers Zahn ein Kinderspiel sei gegen den schrecklichsten der Schrecken, den Menschen, der seine Landsmannschaft erlebt, den Heimatschein als Diplom erkennt und keinen Paß mehr hat, nur das besondere Kennzeichen: ein Deutscher zu sein. Da gibt es so viel zu staunen, daß man nicht leicht Worte findet. Um zu sagen, was geschah, kann es die Sprache nur stammelnd nachsprechen.674

Die Querverbindungen des Auszugs zu Wittgensteins Philosophieren-mit-zahnlosem-Mund-Aphorismus sind offensichtlich: »[D]es Tigers Zahn«, Kraus positioniert sich hier über seinen aggressiven Gestus der Kritik als »Dichter der Nation«, greift in Anbetracht des »schrecklichsten der Schrecken« nicht. Gleich Wittgensteins »zahnlose[m] Mund« (VB S. 482) versagt etablierte sprachliche Nomenklatur und Artikulation gelingt nur noch »stammelnd«. Liest man Kraus in diese Richtung, überschreiten die Geschehnisse die bekannten Lebensformen (›Dergleichen habe ich noch nie gesehn‹). Der aufziehende Faschismus übersteigt alles bislang sprachlich Erfasste und die damit verbundenen Relationen und Kategorien. Was bleibt, ist Staunen: »Ich sehe was, und staune!«, sowie: »[Es] gibt […] so viel zu staunen.«675

Eine auf diesem parallelen Stellenbefund aufbauende und vor allem am Zahnmotiv ausgerichtete Kontextualisierung von Kraus ist natürlich wenig belastbar. Sieht Wittgenstein seine Probleme der philosophischen Artikulation, sein Philosophieren mit zahnlosem Mund, tatsächlich so gewichtig, dass er sie in eine Linie mit dem Schweigen von Kraus angesichts der ethisch-politischen Zäsur des Faschismus deutscher Prägung stellt? Selbst für den nicht gerade für zurückhaltende Selbsteinschätzungen bekannten Wittgenstein, man denke an das Vorwort des Tractatus676, scheint eine solche Ähnlichkeitsbeziehung zu weit zu gehen. Der Aphorismus bleibt durch die Aussparungen und Weglassungen (detractio) vage, die aenigmatische Grundausrichtung lässt sich auch durch intertextuelle Lektüren und hohen interpretativen Aufwand nicht auflösen.

Zusammengefasst sind alle Lesarten des Philosophieren-mit-zahnlosem-Mund-Aphorismus bis zu einem bestimmten Punkt gültig: Sowohl eine Kontextualisierung über den Traum, die Interpretation des Aphorismus als Wegmarke zwischen Früh- und Spätwerk als auch die intertextuelle Referenzierung der paragogé im Zusammenhang der Fackel liefern Ansatzpunkte, um die rätselhafte Gestalt des kurzen Texts aufzulösen. Stringent und belastbar ist allerdings keine der vorgestellten Lesarten. Selbst mit viel affirmativem Bemühen lässt sich der kurze Text nicht erhellen, die Semiose bleibt ›wild‹.

Mit Cavell kann man diese aporetische Struktur positiv konnotieren und den an einen sehr vagen Begriff von Freiheit geknüpften »intellectual peace«677 (s. o.) anführen, mit Gess und ihrer Analyse hinsichtlich »literarische[r] Verfahren der Staunensproduktion«678 hingegen ›Verdunkelung‹. Dieses mit autoritärem Gestus verbundene poetische Verfahren beabsichtigt eine Überwältigung der Rezipierenden:

[Verdunkelung ist] eine in ihrer Bedeutung unklare, von Metaphernketten und Symbol-Akkumulation geprägte Sprache […], die sowohl Fülle und Bedeutung suggeriert als auch [einen] autoritativen Gestus […] unterstützt […]. Denn die Verdunkelung verunmöglicht das rationale Verstehen ebenso wie die diskursive Auseinandersetzung, die dem […] Text eigentlich angemessen wären. Nicht auf einen Aha-Moment wird hier also gezielt, sondern auf Mystifikation […]. Das ›Staunen‹, das [das Verfahren der Verdunkelung] hervorruft, verbindet sich mit der Überwältigung des Rezipienten durch und der bewundernden/ehrfürchtigen Unterordnung unter das Große, Geheimnisvolle und dessen Instanzen […].679

Die von Wittgenstein in seinem Aphorismus gegebenen und von mir bereits über die ›wilde Semiose‹ angesprochenen680 Metaphernketten und Symbolakkumulationen besitzen also nicht nur das Potenzial einer autonomen Sinnkonstruktion durch das lesende Subjekt. Konträr dazu evozieren sie im Philosophieren-mit-zahnlosem-Mund-Aphorismus als poetisches Verfahren der Verdunkelung mit der alleinigen Suggestion von Bedeutung eine Hierarchie, in der sich Wittgenstein seinen Leser:innen gegenüber als geheimnisvolle Instanz aufstellt. Durch die Verunmöglichung rationalen Verstehens und die Einschränkung diskursiver Auseinandersetzung überwältigt er die Rezipient:innen, wobei das durch Verdunkelung ausgelöste Staunen Bewunderung und ehrfürchtige Unterordnung bewirkt.681

Dass diese anhand des Philosophierens-mit-zahnlosem-Mund-Aphorismus eingeführte Ambivalenz, das Sowohl-als-auch von autonomer Sinnkonstruktion und auf Hierarchisierung abzielender Verdunkelungsstrategie, keinesfalls einen Einzelfall darstellt, lässt sich als weiterer, nicht weniger exemplarischer Beleg anhand des folgenden Rosinenkuchen-Aphorismus belegen.

15.2.2 Rosinenkuchen

Rosinen mögen das Beste an einem Kuchen sein; aber ein Sack Rosinen ist nicht besser als ein Kuchen; und wer im Stande ist, uns einen Sack voll Rosinen zu geben, kann damit noch keinen Kuchen backen, geschweige, daß er etwas besseres kann. Ich denke an Kraus und seine Aphorismen, aber auch an mich selbst und meine philosophischen Bemerkungen. Ein Kuchen, das ist nicht gleichsam: verdünnte Rosinen. (VB S. 544)

Der zweite, wenngleich nun weniger ausführlich verhandelte Aphorismus, der von einem Rosinenkuchen handelt, ist hauptsächlich durch ein Zuteilungsproblem gekennzeichnet. Der ordo naturalis, die gewöhnliche und »angesehene Ordnung«682 und Abfolge seiner Aussage, ist aufgelöst. Auch hier ist die Semiose ›wild‹: Zwischen Rosinen im Kuchen, einem Sack Rosinen, dem Kuchen an sich, dem Backen eines Kuchens und dem durch Rosinen ›verdünnten‹ Kuchen eröffnen sich semantische Verschiebungen, Kurzschlüsse und mit qualitativen Aussagen versehene Ergänzungen, denen mit sinnentnehmendem Lesen nicht beizukommen ist. Dabei ist die Frage, was jene allegorische Sequenz über eine Mehlspeise mit Karl Kraus und seiner Aphoristik zu tun hat, noch gar nicht berührt (»Ich denke an Kraus und seine Aphorismen« [VB S. 544]). Die in Kap. 7 Begriffliche Annäherungen thematisierte, an Staunen gekoppelte Frage: »Was hat diese Sache an sich, das mir Rätsel aufgibt?« (PES S. 47), ist auch hier omnipräsent.

Egal mit welcher Intention und welcher hermeneutischen Strategie die subordinierenden Positionen kombiniert werden, Kohärenz im Sinne eines systematisch-teleologisch ausgerichteten Narrativs lässt sich hier nicht herstellen. Das »Flussbett der Gedanken« (ÜG 97), eine auf Sinn gerichtete Lektürepraxis, unterliegt einer massiven Störung. Die Maxime: »Es ist für mich wichtig, beim Philosophieren immer meine Lage zu verändern, nicht zu lange auf einem Bein zu stehen, um nicht steif zu werden. Wie, wer lange bergauf geht, ein Stückchen rückwärts geht, sich zu erfrischen, andre Muskeln anzuspannen« (VB S. 488), wird hier in die inhaltliche Komposition übersetzt. Der vordergründig als Syllogismus dargebotene Aphorismus verharrt in Aporien: Wo mit der Lektüre einsetzen? Wenn der Rosinenkuchen Metapher für Wittgensteins »philosophische[] Bemerkungen« ist, sind dann die Rosinen das Äquivalent und Kleinteiligkeit das Tertium Comparationis? Ist der Rosinenkuchen-Aphorismus ein metaphorisches ›Rezept‹ für Aphoristik, insofern es ›schmackhaften‹ prosaischen Ausdruck braucht, um das Beste, die philosophischen Rosinen sozusagen, überhaupt anbieten zu können? Oder spricht Wittgenstein ein kompositorisches Prinzip an? Wer wäre imstande, »uns einen Sack voll Rosinen zu geben« – die Philosophie der literarischen Umschreibung? Oder anders herum: Sind die süßschmeckenden Rosinen Metapher für die literarischen Gehalte im ›Kuchen‹ der Philosophie? Oder umgekehrt? Worauf will Wittgenstein mit dem nachgeordneten, ein Fazit suggerierenden letzten Satz: »Ein Kuchen, das ist nicht gleichsam: verdünnte Rosinen« (VB S. 544), hinaus? Der Rosinenkuchen ist gespickt mit Fragen, ohne eine befriedigende Antwort zu enthalten.

Über die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik habe ich jenen aus Widerspruch und Unentschlossenheit bestehenden Nexus bereits angesprochen. Wesentlich sind beide Motive der Evokation von »Staunen« (BGM 57) zuzuordnen.683 Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit ist im Aphorismus nichts in Form, sondern alles im Prozess der intellektuellen Formung. Wittgenstein greift auch hier auf das Prinzip der suspensiven detractio zurück, bei der durch Auslassung und Einsparung sprachlicher Elemente die syntaktisch-semantische Beziehung aufgelöst wird, sodass eine »intellektuelle[] Überraschung« entsteht, »die den syntaktisch-semantischen Zusammenhang in der Schwebe läßt«684.

Eingebettet sind die den Text konstituierenden Mechanismen in »hausbackene[s]« (PG 66)685, der »Physiognomie [des] alltäglichen Leben[s]« (PU 235) entnommenes Vokabular, das mit dem aenigmatischen Gehalt der Textstelle stark kontrastiert. Das »vertraute Gesicht [der] W[ö]rte[r]« (PU S. 560) zerfällt in besagte »Steinbrocken und Schutt« (PU 118), da in Wittgensteins metaphorischen Rochaden nicht mehr einzuholen ist, welche konnotativen Beziehungen aufgerufen werden. Sein Rosinenkuchen – so lässt sich die aphoristische Sequenz mit dem Vokabular der vergangenen Ausführungen zusammenfassen – löst beim »Wiederkäuen«686 und beim »Verdau[en]«687 den mit Lichtenberg benannten »[T]aumel[]«688 aus. Er bereitet nicht Bauch-, sondern Kopfweh.

15.3 Gattungsdiskussion

In Staunen. Eine Poetik wirft Gess die Frage auf, »ob [es] bestimmte literarische Gattungen« gebe, die »eine besondere Affinität zum ›Staunen‹ als ästhetische Emotion« haben; Gattungen, die »dem ›Staunen‹ stärker verbunden sind als andere, ja sich zum Teil geradezu auf die Produktion von Staunen, Verwunderung, Bewunderung […] und Überraschung spezialisiert haben«.689 Als Beispiele nennt sie das Kunstmärchen, Science Fiction, den Ritterroman, das Erhabene der Hymnik und der Tragödie, die Gothic und Mystery Novel, den Abenteuerroman, die Novelle und auch die Zauberoper. Mit dem Aphorismus Wittgenstein’scher Prägung ist dieser Reihe eine weitere Textklasse, ein weiterer ›Staunenstext‹ hinzuzufügen.

Wittgensteins Aphoristik ist in doppeltem Sinn mit Staunen verbunden, zumal darin eine konzentrierte Verschränkung und eine wechselseitige Affirmation epistemischer und rhetorischer Programme von Staunen zu beobachten sind. Zentrale Eigenschaften, ich fasse den Ertrag der vergangenen Kapitel zusammen, wie Sinnkonstruktion und Sinndekonstruktion, ›wilde Semiose‹, Desorientierung und das Erleben von Kontingenz finden sich auf der einen wie auch auf der anderen Seite. In Wittgensteins Aphorismen werden die rhetorische Strategie und die daran gekoppelte Absicht, das Staunenmachen als Auslöser von Denkprozessen, in den Vordergrund gerückt.

Bei der Thematisierung der Aphorismen zum Philosophieren mit zahnlosem Mund und dem Rosinenkuchen konnte beobachtet werden, dass Wittgensteins aphoristische Textangebote nicht auf eine faktische Erkenntnis abzielen, sondern vielmehr auf den Prozess, die fortwährende Erkenntnissuche. Die Aphorismen zielen nicht auf Kommunikation einer abgeschlossenen gedanklichen Form, sondern auf fortlaufende gedankliche Formung. So ergaben die beiden exemplarischen Lektüren keine abschließende Antwort, sondern verharrten in hermeneutischen Suchbewegungen. Eine Erschließung der Texte durch die Analyse seiner rhetorischen Strategien blieb verwehrt. Wittgensteins Anliegen besteht in beiden Aphorismen darin, fortwährende Relektüren anzustoßen. In beiden geht es ihm auf der Rezeptionsseite darum, besagte intellektuelle »Lage zu verändern, nicht zu lange auf einem Bein zu stehen, um nicht steif zu werden« (VB S. 488). Rhetorisch provoziert sind diese Bewegungen unter anderem durch die Techniken der obscuritas, der detractio, des aenigma, der irritierenden paragogé und durch die Auflösung des ordo naturalis.

Ich möchte, wenn auch nur in Form einer vorläufigen Überlegung, in der Gattungsdiskussion zu ›Staunenstexten‹ einen Schritt weitergehen und unter meiner methodischen Direktive der »Wichtigkeit des Findens und Erfindens von Zwischengliedern« (PU 122) danach fragen, in welchem »Netz von Ähnlichkeiten« (PU 66)690 Wittgensteins Aphorismen in der Zwischenkriegszeit stehen.

Eine »Familienähnlichkeit« (PU 67) sehe ich hier vor allem bei der Textklasse des Denkbilds. Dabei liegt mein Interesse nicht auf dessen gesellschaftskritischen, politischen oder marxistischen Implikationen. Der ›Unter-‹ und ›Überbau‹ des Begriffs sowie die richtungsweisende, von Heinz Schlaffer formulierte These, dass sich in Denkbildern »[n]otwendig […] die Erkenntnis von Gesellschaft«691 einzustellen habe, stelle ich im Zusammenhang meines ›familienähnlichen‹ Anliegens zurück. Für gewöhnlich werden Benjamin (Einbahnstraße), Bloch (Spuren), Brecht (Keuner-Geschichten) und Adorno (Minima Moralia) unter dieser Leitperspektive verhandelt.692 Die von den einzelnen Autoren je unterschiedlich gefassten Programme können für meine vorläufigen Überlegungen ausgeklammert werden. Vielmehr interessieren mich die formalen und kompositorischen Motive der zwischen »Parabel, Aphorismus [und] Maxime«693 changierenden Prosaform. Denkbilder, so meine Annahme, zielen wie Wittgensteins Aphoristik ebenfalls auf die Evokation von Staunen ab.

In einem programmatischen, auf die Zwischenkriegszeit zurückblickenden Beitrag in der Zeitschrift Texte und Zeichen von 1955 führt Adorno die aus Prosa und Philosophie bestehende »zwitterhafte Gestalt«694 ›Denkbild‹ wie folgt aus:

[Denkbilder] sind eher gekritzelte Vexierbilder als gleichnishafte Beschwörungen des in Worten Unsagbaren. Sie wollen nicht sowohl dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten als durch ihre Rätselgestalt schockieren und damit Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und veraltet dünkt. Was nicht im üblichen Stil sich beweisen läßt und doch bezwingt, soll Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen und, ohne buchstäblich genommen zu werden, durch eine Art von intellektuellem Kurzschluß Funken entzünden, die jäh das Vertraute umbeleuchten, wenn nicht gar in Brand stecken. Für diese philosophische Form war es wesentlich, eine Schicht zu finden, in der Geist, Bild und Sprache sich verbinden. […] Denken verzichtet auf allen Schein der Sicherheit geistiger Organisation, auf Ableitung, Schluß und Folgerung, und gibt sich ganz dem Glück und Risiko anheim, auf die Erfahrung zu setzen und ein Wesentliches zu treffen. Nicht zuletzt liegt darin das Schockierende […].695

Wüsste man nicht, dass Adorno im angeführten Zitat den Charakter der prosaisch-philosophischen Form Denkbild skizziert – der Auszug hätte auch als Versuch einer Zusammenfassung der vorangegangenen Kapitel zu Wittgensteins Aphoristik seine Gültigkeit.696 Es ist verblüffend, wie nah die Adorno-Sequenz an Wittgensteins epistemisch-rhetorischen Konzeptionen von Staunen liegt. Dies geht in Teilen sogar so weit, dass mitunter dasselbe Vokabular auftaucht: Adornos Einordnung des Denkbildes als »Vexierbild«697 ruft Wittgensteins »Vexierbild[]« (PU S. 523), den Hase-Ente-Komplex, den Bruch mit dem »›stetige[n] Sehen‹«, das »›Aufleuchten‹ eines Aspekts« (PU S. 520) und die »neuen Wahrnehmungen« (PU S. 523) auf698. Weiterhin korrespondieren auch die dem Denkbild eigene »Rätselgestalt« und die »gleichnishafte[n] Beschwörungen des in Worten Unsagbaren«699 mit der von mir ausgeführten aenigmatischen Grundausrichtung von Wittgensteins Aphorismen. Auch hier ist die rhetorische Technik der detractio, die Aussparung und »Weglassung von Gedanken«700, ein tragendes Formelement. Verschränkung ergibt sich auch über Adornos Satz, dass Denkbilder »Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen Gestalt erstarrt, konventionell [und] veraltet dünkt«, und sie die »Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen«701. In Wittgensteins Überlegungen zum Staunen und der Unterminierung von Lebensform besteht das dazugehörige Äquivalent im ›Sprengsatz‹ am »erstarrt[en] […] Flussbett der Gedanken« und der daraus hervorgehenden neuen »Bewegung des Wassers im Flussbett« (ÜG 96 f.). Eine weitere Verbindungslinie zu Wittgenstein ist auch über den durch Denkbilder hervorgerufenen »Funken«, den »intellektuelle[n] Kurzschluß«, das »[U]mbeleuchten« und »[I]n[-]Brand[-][S]tecken« des »Vertraute[n]«702 zu ziehen. Gleich dem an Staunen gekoppelten Aufleuchten eines Aspekts (PU S. 519 ff.) ist Lichtmetaphorik703 auch bei Adorno ein dominierender Gesichtspunkt. Mit diesem »[I]n[-]Brand[-][S]tecken« des »Vertraute[n]«704 sind aber auch die Wechselmodi von Alltäglichem/Nichtalltäglichem und Gewöhnlichem/Ungewöhnlichem angesprochen.705 Analog zu Wittgensteins epistemischem Staunen und dessen rhetorischen Reflexionen rufen Denkbilder ein Denken hervor, das »auf allen Schein der Sicherheit geistiger Organisation, auf Ableitung, Schluß und Folgerung«706, verzichtet. Denkbilder sind nicht syllogistisch. Übereinstimmend mit Wittgensteins Aphoristik provozieren auch sie Fehllektüren, Aporien und die Auflösung des ordo naturalis. Zusammenfassend heißt dies, wenn wir im Wortfeld ›Bild‹ bleiben und die ausgeführte Koinzidenz mit der Aphoristik in der Prägung Wittgensteins verknüpfen: Auch bei Denkbildern fällt etwas »im gewöhnlichen Sinn des Wortes aus dem Rahmen« (VE S. 15) und die sich aus rhetorischen Strategien des Staunens speisende Atomisierung des Sinns schafft auch hier Raum für Rekonfigurationen.

Folgende exemplarische Auswahl aus Werken von Autoren des Denkbilds – Benjamin, Brecht, Adorno – unterstreicht diese Annahme. Die Miniaturen folgen ähnlichen Verbalisierungsstrategien bzw. einer ähnlichen »strategische[n] Kommunikation«707 wie Wittgenstein im formalen Aufbau seiner Aphorismen. Bei der Lektüre entsteht auch hier das mit Desorientierung verbundene Gefühl von »Ich kenne mich nicht aus« (PU 123).

Der Ausdruck der Leute, die sich in Gemäldegalerien bewegen, zeigt eine schlecht verhehlte Enttäuschung darüber, daß dort nur Bilder hängen.708

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: »Sie haben sich gar nicht verändert.« »Oh!« sagte Herr K. und erbleichte.709

Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.710

Ich beende meine Überlegungen zur Genrefrage an diesem Punkt. Eine vertiefende, über Koinzidenz hinausgehende Diskussion der Textklassen Aphorismus und Denkbild muss einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Festzuhalten ist Folgendes: Wittgensteins Praxis und Programmatik des Aphorismus korrespondieren mit dem Denkbild. Sowohl die Form als auch die damit verbundene Intention und Motivation weisen in dieselbe Richtung. Auch wenn das Staunen beim Denkbild nicht programmatisch ausformuliert ist, zeigt sich wie bei Wittgenstein eine Ansammlung von Motiven, die auf die Evokation von Staunen abzielen.

Innerhalb der von Gess angestoßenen Gattungsdiskussion711 sind ausgehend von diesen vorläufigen Überlegungen und unter den Gesichtspunkten dieser ›familienähnlichen‹ Beziehung nun auch die Denkbilder der Zwischenkriegszeit in den hyperonymen Sammelbegriff ›Staunenstext‹ aufzunehmen.

604

von Wright in VB S. 447 f.

605

Bachmann 1978: 103.

606

Göppelsröder 2007: 7.

607

Fleming 1998: 256.

608

Erbacher 2015: 13.

609

Gfrereis 1999: 13. Vgl. zur Formgenese des Aphorismus und zu historischen Artikulationsformen ausführlich Spicker, Friedemann, Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer, 2000; sowie Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, hg. v. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche, Tübingen: Niemeyer, 2007.

610

Vgl. Kap. II.1 Episteme.

611

Vgl. ausführlich zu den Querverbindungen von Lichtenberg und Wittgenstein, zur Quellenlage und den Spuren im Gesamtwerk Nordmann, Alfred, »Noch einmal zu Lichtenberg und Wittgenstein – Die gegenwärtige Quellenlage«, in: Lichtenberg Jahrbuch 2001, hg. v. Lichtenberg-Gesellschaft, Saarbrücken: SDV, 2002, S. 163–170.

612

Janik/Toulmin 1984: 237 f.

613

von Wright 2018 [1954]: 17.

614

Vgl. Spicker 1997: 21 ff.

615

Vgl. Lichtenberg 1968 [1789 u. 1799]: J 1647, L 90.

616

Vgl. Spicker 1997: 62.

617

Vgl. Lausberg 1960: 346.

618

Lichtenberg 1968 [1771]: B 86.

619

Lichtenberg 1968 [1776]: E 455.

620

Lichtenberg 1971 [1796]: G 207.

621

Lichtenberg 1968 [1789]: J 850.

622

Lichtenberg 1971 [1796]: K 308.

623

Lichtenberg 1968 [1789]: J 529.

624

Lichtenberg 1971 [1796]: K 308.

625

Lichtenberg 1968 [1789]: J 529.

626

Lichtenberg 1971 [1796]: K 308.

627

Lichtenberg 1968 [1771]: B 264.

628

Ebd. B 263.

629

Vgl. Kürnberger, Ferdinand, Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritik, Wien: Rosner, 1877, S. 340.

630

Lichtenberg 1971 [1796]: K 308.

631

Cavell 2005: 209.

632

Ebd.

633

Lichtenberg 1968 [1771]: B 264.

634

Ebd. B 263.

635

Ebd.

636

Lichtenberg 1968 [1789]: J 850.

637

Lichtenberg 1971 [1796]: K 308.

638

Brecht in Benjamin 1991a: 348.

639

Vgl. hierzu die durchweg in verehrungsvollem Ton gehaltenen Bezugnahmen auf Kraus von Else Lasker-Schüler, Richard Dehmel, Frank Wedekind, Thomas Mann, Hermann Hesse, Georg Trakl, Adolf Loos, Arnold Schönberg, Albert Ehrenstein, Hermann Broch, Franz Werfel und Oskar Kokoschka in Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare, Bd. 1, hg. v. Dietmar Goltschnigg, Berlin: Erich Schmidt, 2015.

640

Engelmann 2018: 120.

641

Blumenberg 2001: 248.

642

Wittgenstein 1994 [1937]: 143.

643

Vgl. Lausberg 1960: 431 f.

644

Wittgenstein 1994 [1937]: 143.

645

Campe 1991: 760. Vgl. ferner Stingelin, Martin, »Schreiben. Einleitung«, in: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hg. v. dems., München: Fink, 2004, S. 7–21, 15.

646

Kraus 1986 [1909]: 116.

647

Nietzsche 1980a [1885]: 270 ff.

648

Ebd. 327.

649

Vgl. Nietzsche 1980b [1887]: 337.

650

Ebd. 255 f.

651

König 1992: 187 ff.

652

Ein flüchtiger Blick auf Instagram und die Hashtags #Wittgenstein und #Ludwigwittgenstein genügt, um die Verwendungsweisen jener beiden Aphorismen ›unverdaut‹ zu betrachten.

653

Nietzsche 1980b [1887]: 256.

654

In Anlehnung an den spezifischen rhetorischen Terminus aenigma wird für das entsprechende Adjektiv statt des allgemeinen Ausdrucks enigmatisch fortan aenigmatisch verwendet.

655

König 1992: 187.

656

Vgl. Lausberg 1960: 246.

657

Vgl. ebd. 251.

658

Lausberg 1960: 346.

659

Ebd. 513.

660

Vgl. Freud, Sigmund, Die Traumdeutung, Frankfurt am Main: Fischer, 1991 [1899/1900], S. 54 f., 100.

661

Vgl. Kap. 14.2 Das Vorwort des ›Tractatus‹.

662

Vgl. die einführenden Überlegungen zu Beginn von Kap. II.1 Episteme bzw. exemplarisch PU 293, 432.

663

Benjamin 1991h [1928]: 121.

664

Benjamin 1991g [1931]: 347.

665

Benjamin 1991h [1928]: 121.

666

Kraus 1989 [1933]: 12.

667

Vgl. Wagenknecht in Kraus 1989: 335, 340.

668

Vgl. für eine umfassende Detailanalyse dieses Gedichts Weissenberger, Klaus, »Zum Rhythmus der Lyrik von Karl Kraus. Das schöpferische Prinzip eines ›Epigonen‹«, in: Karl Kraus. Diener der Sprache. Meister des Ethos, hg. v. Joseph P. Strelka, Tübingen: Francke, 1990, S. 19–37, hier insb. S. 36 f.

669

Kraus 1933: 4.

670

Vgl. Kraus 1934a.

671

Vgl. Monk 1992: 359 ff.

672

Kraus 1933: 4.

673

Vgl. u. a. Kraus 1989 [1933]: 12 f.; sowie Wagenknecht in Kraus 1989: 337.

674

Kraus 1934b: 155.

675

Ebd.

676

Vgl. Kap. 14.2 Das Vorwort des ›Tractatus‹.

677

Cavell 2005: 209.

678

Gess 2019: 125.

679

Ebd. 132.

680

Vgl. Kap. 9.1 Semiotische Vorüberlegungen mit ›Rumpelstilzchen‹.

681

Vgl. Gess 2019: 132.

682

Lausberg 1960: 245.

683

Vgl. Kap. 7 Begriffliche Annäherungen.

684

Lausberg 1960: 346.

685

Vgl. Kap. 7 Begriffliche Annäherungen.

686

Nietzsche 1980b [1887]: 256.

687

Wittgenstein 1994 [1937]: 143.

688

Lichtenberg 1968 [1771]: B 263.

689

Gess 2019: 146 f.

690

Vgl. Kap. 5.2 Methodik.

691

Schlaffer 1973: 143.

692

Vgl. Picker, Marion, »Denkbild«, in: Handbuch Literatur & Philosophie, hg. v. Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt, Berlin: De Gruyter, 2021, S. 401–414.

693

Schlaffer 1973: 142.

694

Ebd. 138.

695

Adorno 2003b [1955]: 680 ff.

696

Vgl. zu Adornos Bezugnahmen auf Wittgenstein sowie den Schnittmengen der beiden sprachphilosophischen Projekte Zill, Rüdiger, »›Sagen, was sich eigentlich nicht sagen lässt‹ – Adorno, Blumenberg und andere Leser Wittgensteins«, in: Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, hg. v. Emmanuel Alloa und Alice Lagaay, Bielefeld: Transcript, 2008, S. 41–60.

697

Adorno 2003b [1955]: 681.

698

Vgl. Kap. 8 Staunen und Aspektwechsel.

699

Adorno 2003b [1955]: 681.

700

Lausberg 1960: 435.

701

Adorno 2003b [1955]: 681.

702

Adorno 2003b [1955]: 681.

703

Vgl. Kap. 8 Staunen und Aspektwechsel.

704

Adorno 2003b [1955]: 681.

705

Vgl. Kap. 7 Begriffliche Annäherungen.

706

Adorno 2003b [1955]: 681.

707

Uhlmann 2019: 17.

708

Benjamin 1991h [1928]: 138 f.

709

Brecht 2006 [1932]: 64.

710

Adorno 2003a [1951]: 55.

711

Vgl. Gess 2019: 146 f.

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Quadraturen des Staunens

Episteme, Rhetorik und Performanz bei Ludwig Wittgenstein

Series:  Poetik und Ästhetik des Staunens, Volume: 12