Bereits in der von Johann Georg Krünitz begründeten, ab 1773 in 242 Bänden herausgegebenen Oeconomischen Encyclopädie oder Allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft – ein enzyklopädischer Klassiker der Aufklärung – findet sich das Lemma ›Fliegenglas‹. Hierzu heißt es:
Zum Fange dieser Insecten, bedient man sich der so genannten ›Fliegengläser‹. Diese sind eine Art von Cylinder, welche oben einwärts gedrückt sind, und mitten in der obern Vertiefung eine kleine Oeffnung haben. Diese Gläser füllet man zur Hälfte mit Milch, Bier, oder Wasser und Honig oder Syrup, an, und stellt sie in Wohnzimmern an unterschiedenen Orten auf. Die Fliegen entdecken, vermöge ihres seinen Geruchs, diese Lockspeise gar bald, und der Eingang dazu wird ihnen sehr bequem, der glückliche Abzug aber ist ein bloßer Zufall. Unter tausenden glückt es nicht einer, im Fluge den engen Paß, durch den sie hinein marschiert sind, zu treffen; sie bleiben also darin liegen, und ersaufen.712
1989 spielt das Fliegenglas auch in Blumenbergs auf Platon aufbauenden Höhlenausgängen eine tragende Rolle. Unter der Überschrift »Im Fliegenglas« heißt es, die »Philosophie der Neuzeit« sei eine »Beschreibung von Gefangenschaften«. Beginnend mit Kants Kritik der reinen Vernunft – ein philosophischer Klassiker der Aufklärung – wurde Blumenberg zufolge erstmals der »Grundriß der Einsperrung« benannt:
Theoretische Erkenntnis bleibt auf Erscheinungen eingeschränkt, jeder Ausblick der Vernunft über deren Grenzen versagt. Verglichen mit den Erwartungen aller vorhergehender Jahrhunderte der Philosophie […] war dies bei Zusicherung neuer Gewißheiten eine enttäuschende Zurückweisung in die Höhle der eigenen Gesetzlichkeit bloßer Erscheinungen. Die dabei gewonnene Sicherheit war keine andere als die, daß einer in Schutzvorrichtungen gegen ein äußeres Unbekanntes auf der Enge des abgeschirmten Raumes zwar gefangen, dafür jedoch in Exaktheit geborgen und auf Vorsorge eingerichtet ist.713
Kants Transzendentalphilosophie zieht gemäß Blumenberg die Grenze zwischen transzendental und transzendent – zwischen dem, was theoretisch erkennbar ist, und dem, was reine Spekulation bleiben muss. »Die Kritik der Vernunft war nur der Höhepunkt des Anfangs einer Serie von Mitteilungen über die Minimalität und Enge des menschlichen«714 Erkenntnisvermögens.
In metaphorologischer Manier folgt Blumenberg dem Fliegenglas-Motiv durch die Geistesgeschichte. So schrieb Paul Yorck von Wartenburg 1893 an Wilhelm Dilthey:
Wissenschaftlich bin ich noch immer tot. Ich spüre keine Lust, wissenschaftliche Bücher in die Hand zu nehmen. Das Denken bewegt sich im Zirkel und die Leute erscheinen mir wie die Fliegen, die immer wieder an die Glasfenster sich stoßen, bei dem Versuche hinaus und weiter zu kommen.715
Christian Morgenstern griff Kant direkt auf:
Wer sich an Kant hält, dem muß alle Metaphysik erscheinen wie das hartnäckige Surren einer großen Fliege an einem festgeschlossenen Fenster. Überall wird das Tier einen Durchlaß vermuten und nirgends gewährt die unerbittliche Scheibe etwas anderes – Durchsicht.716
Mit einer Bezugnahme auf Glas und Gefangenschaft stellt sich auch der rumänisch-französische Aphoristiker und Kulturkritiker Emil Cioran in diese Reihe:
Woher kommt es, daß die Durchsichtigkeit einer Glasscheibe uns derartig vom Leben trennt? Im Grunde entfernt uns ein Fenster weiter von der Welt als eine Gefängnismauer. Durch vieles Beobachten des Lebens vergessen wir es schließlich.717
Fliegengläser waren also nicht nur für die Krünitz’schen »Wohnzimmer[]«718 des 18. Jahrhunderts interessant; in metaphorischen Variationen zählen sie auch zum semantischen Inventar von philosophischen Reflexionen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Auch in Wittgensteins Werk steht ein Fliegenglas. Es findet sich recht unvermittelt – und gerade deshalb exponiert – im Umfeld seiner Überlegungen zu grammatischen Fiktionen in den Philosophischen Untersuchungen. In Form einer an Affektevokation ausgerichteten subiectio – ein »fingierter (also monologischer) Dialog mit Frage und Antwort«719 – heißt es darin:
Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen. (PU 309)
Ich werde im Folgenden die These profilieren, dass es das Staunen ist, das der Fliege den »Ausweg aus dem Fliegenglas« zeigt. Staunen befreit von ungesehenen, unbewussten Limitierungen, von der Gefangenschaft der erworbenen Lebensformen. Es ist der Aus- und Aufbruch ins Offene. Mein analytischer Fluchtpunkt lautet entsprechend: Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Dem Menschen durch Staunen den Ausbruch aus Lebensformen zeigen. Hierbei vertrete ich den Standpunkt, dass in der zweigliedrigen Periode eine Vielzahl der bisher von mir verhandelten Motivkreise zusammenlaufen und der Fliegenglas-Aphorismus tragende Konzeptionen von Wittgensteins Staunensbegriffs in nuce enthält. Er ist, auf seinen Begriff des Staunens gewendet, besagte »ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre« (PU S. 565) und bildet das epistemisch-rhetorische Zentrum der vorliegenden Arbeit.
16.1 Spuren der Gefangenschaft in Wittgensteins Werk
Motive des Eingeschlossenseins und Spuren von semantischen Bezugnahmen auf Gefangenschaft ziehen sich durch Wittgensteins Gesamtwerk. Die Metaphoriken der Grenzziehung, des Innen und Außen, weisen in den Texten des »Spezialist[en] für […] Gefangenschaft«720 Wittgenstein eine Kontinuität auf: Bereits im Tractatus von 1922 finden sich Wegmarken, die zum Fliegenglas weisen. Besagtes »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt« (TLP 5.6) ist hierbei nur die offensichtlichste Referenz. Verstellt hinter dem Bild von Körper und Kleid, werden auch im Zusammenhang des ›sinnvollen Satzes‹ (TLP 4 ff.) das Äußere und das Innere, das Sichtbare und das Unsichtbare gegeneinander in Stellung gebracht:
Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen. (TLP 4.002)
Verbunden mit der für Wittgensteins Umfeld nicht nachvollziehbaren Entscheidung, in den Schuldienst einzutreten, meinte dieser gemäß der Erinnerung seiner Schwester Hermine Wittgenstein nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung des Tractatus, angesprochen auf seine psychische Verfassung:
Du [Hermine Wittgenstein, TH] erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält.721
Diese Topik der Gefangenschaft wird in Cambridge 1939 in Wittgensteins Vorlesungsreihe Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik mit einer Hinwendung zu den materiellen Grenzen, den ›Mauern‹ der Gefangenschaft, in Form einer Raumsemantik weiterentwickelt: »Ein Mensch ist in einem Zimmer gefangen, wenn die Tür unversperrt ist, sich nach innen öffnet; er aber nicht auf die Idee kommt zu ziehen, statt sie zu drücken.« (BGM 37) Der Ausweg ist da, allein die Türöffnungsstrategie ist falsch. Freiheit entsteht durch Ziehen. Nicht durch Drücken.
Die Fliegenglas-Metaphorik wird erstmals in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik angeführt:
Denken wir uns die physikalischen Eigenschaften der Teile des Geduldspiels so, daß sie in die gesuchte Lage nicht kommen können. Aber nicht, daß man einen Widerstand empfindet, wenn man sie in diese Lage bringen will; sondern man macht einfach alle andern Versuche, nur den nicht und die Stücke kommen auch durch Zufall nicht in diese Lage. Es ist gleichsam diese Lage aus dem Raum ausgeschlossen. Als wäre hier ein ›blinder Fleck‹, etwa in unserm Gehirn. – Und ist es denn nicht so, wenn ich glaube, alle möglichen Stellungen versucht zu haben und an dieser, wie durch Verhexung, immer vorbeigegangen bin?
Kann man nicht sagen: die Figur, die dir die Lösung zeigt, beseitigt eine Blindheit; oder auch, sie ändert deine Geometrie? Sie zeigt dir gleichsam eine neue Dimension des Raumes. (Wie wenn man einer Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigte.) (BGM 44)
Der nicht von ungefähr im selben Zeitraum wie die Philosophischen Untersuchungen (1936–1946) entstandene Auszug ist als letzte Vorstufe hin zur endgültigen ›Kondensation‹ (vgl. PU S. 565, s. o.) des Fliegenglas-Aphorismus in Form der zweigliedrigen subiectio einzuordnen. Er ist insofern aufschlussreich, als Wittgenstein darin die analytische Stoßrichtung, die Intention hinter dem Ausspruch »Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen« (PU 309) preisgibt. So lassen sich vor allem die für seine Aphoristik einschlägigen rhetorischen Strategien von detractio, obscuritas und aenigma mit der angeführten Passage aus den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik aushebeln und dechiffrieren. – Des aenigmas Lösung liegt beim Fliegenglas im Geduldspiel. Das Fliegenglas aus den Untersuchungen wird durch das Fliegenglas aus den Bemerkungen lesbar.
16.2 Lebensform als Fliegenglas
Doch was heißt das konkret für mein Anliegen? Zunächst ist der im ersten Abschnitt auf den »›blinde[n] Fleck‹ […] in unserm Gehirn« zulaufende Problemhorizont abzustecken: Die im Geduldspiel angewendeten Lösungsstrategien führen alle nicht zum gewünschten Ergebnis, nicht in die »gesuchte Lage« der richtigen Anordnung. Die Lösung »ist gleichsam […] aus dem Raum« der kognitiven Möglichkeitsformen »ausgeschlossen« (BGM 44). Sie ist da, wird aber von den Akteur:innen übersehen.
Wittgenstein reformuliert an dieser Stelle sein sich aus Sprache, Denken und Handeln synthetisierendes Lebensformkonzept: »[D]as Flussbett der Gedanken« (ÜG 97) verwehrt eine geglückte Versuchsanordnung innerhalb des von Wittgenstein beschriebenen Spiels. »Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems.« (ÜG 105) Hierin besteht die (kognitive) Gefangenschaft. Der »›blinde[] Fleck‹« (BGM 44) resultiert aus einem unverrückbaren Ideal, das die Lösung verdeckt:
Das Ideal, in unseren Gedanken, sitzt unverrückbar fest. Du kannst nicht aus ihm heraustreten. Du mußt immer wieder zurück. […] Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen. (PU 103)
Die Spieler:innen des Geduldspiels tragen eine Lebensformbrille.
Von dem mit Lebensform verwobenen Bild des Brillenglases zum Fliegenglas ist es nicht weit: Eine Fliege im Fliegenglas fliegt fortwährend an die Innenwand des Glases, fliegt kontinuierlich gegen die materiellen Limitationen, gegen die innere Begrenzung des Glases, kann aber nicht aus »ihm heraus[]« (PU 103). Da es unsichtbar ist, spürt sie es zwar bei ihren Durchdringungsversuchungen, aber gerade wegen der Durchsichtigkeit, einer ›immateriellen‹ Materialität, fehlen ihr Handlungsmöglichkeiten auf Grundlage von (er-)fassbar Gegebenem. In Bezug auf den Menschen artikuliert Wittgenstein diese Ausgangslage an anderer Stelle in den Untersuchungen mit dem »Anrennen an die Grenzen der Sprache« (PU 119) bzw. dem unbewussten Anrennen gegen die Limitationen von Lebensformen. Handlungsmöglichkeiten sind auf »Lebensmuster« (u. a. BPP 652) begrenzt. Es fehlt Handlungsmacht. – Das Glas des Wittgenstein’schen Fliegenglases ist Lebensform. Mit anderen Worten: Die Fliege im Fliegenglas ist ein Mensch, gefangen in seiner Lebensform.
Diese sozialkonstruktivistische Situierung des Fliegenglases ist auch im Feld des Politischen zu verhandeln, dezidiert auch in Diskursen von Macht. Obwohl sie das Fliegenglas an keiner Stelle erwähnt, greift hier eine Kategorie, die Hanna Fenichel Pitkin in ihrer einflussreichen, Wittgensteins Sprachphilosophie für die Politische Theorie722 öffnenden Studie Wittgenstein and Justice mit »power to« bezeichnet. Ebenfalls mit den »Forms of Life«723 argumentierend, entwickelt sie den Begriff in Opposition zu »power over«:
[T]he idea of power in ›power to‹ may be significantly different from the idea of power in ›power over‹. […] One man may have power over another or others, and that sort of power is indeed relational […]. But he may have power to do or accomplish something all by himself, and that power is not relational at all […]. That a man has the power to do something may be proved by the actual doing, though he may well have the power without exercising it, without doing the thing. That a man has power over another may be proved by his getting the other to do something, but also by his doing something to the other (though this verges on having him in one’s power); and again the power may exist without being exercised.724
Im Gegensatz zu »power over«, einem exekutiv sanktionierenden oder permittierenden asymmetrischen Machtgefüge, bezeichnet die Kategorie »power to« ein subjektzentriertes Potenzial, eine kognitive Disposition und die Möglichkeit des Ausagierens persönlicher Interessen. Ob dieses Vermögen in aktives Handeln überführt wird, hat in einem ersten Schritt keine Bedeutung; »power to« meint auch die Freiheit, etwas nicht zu tun, selbst wenn man es könnte.
Öffnet man hinsichtlich des Fliegenglases die Machtposition gegenüber der Strukturseite, so bedeutet dies zugespitzt: Der Fliege im Glas wie auch dem Menschen in den ihn umgebenden Lebensformen fehlt »power to«. Das prädeterminierende Lebensformkorrelat steckt den Handlungsspielraum, die Grenzen der Freiheit eines Subjekts ab. Fliegengläser und Lebensformen besitzen »power over« gegenüber einer Fliege oder einem Menschen. Sie limitieren die »power to« und die damit verbundenen Handlungsoptionen.
Wie ist die Fliege jedoch in das Glas, in die Gefangenschaft und hinter die unsichtbare Grenze gekommen? Der die Lebensform konstituierende Prozess der »Abrichtung« (PU 6)725, die sprachliche Enkulturalisierung eines Menschen in ein bestehendes System konventionalisierter Lebensformen, gibt hier die Antwort. Wiederholt greift Wittgensteins Setzung, dass der Spracherwerb eines Kindes gleichzeitig der Erwerb von Denkformen sei. Der Kern dieses Prozesses ist in Über Gewißheit beschrieben:
Das Kind lernt eine Menge Dinge glauben. D.h. es lernt z.B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten. (ÜG 144)
Und in anderer Wendung:
Wir lernen als Kinder Fakten, z.B. daß jeder Mensch ein Gehirn hat, und wir nehmen sie gläubig hin. Ich glaube, daß es eine Insel, Australien, gibt von der Gestalt usw. usw., ich glaube, daß ich Urgroßeltern gehabt habe, daß die Menschen, die sich für meine Eltern ausgaben, wirklich meine Eltern waren, etc. Dieser Glaube mag nie ausgesprochen, ja der Gedanke, daß es so ist, nie gedacht werden. (ÜG 159)
Es ist also die sprachliche Abrichtung bzw. Enkulturation, die normierende Annahmen, Paradigmen, Hypothesen und Axiome herausbildet. Das Fliegenglas ist Synonym für diese durch Abrichtung erworbenen Denkskripte, für das sich auch im Geduldspiel reflektierende »System von Geglaubtem« (ÜG 144).726
16.3 Ausbruch
Neben dem deskriptiven Geduldspiel-Lebensform-Komplex im ersten Absatz führt der zweite Absatz der Sequenz aus den Bemerkungen die Semantiken in die Lösung des vorangegangenen Problemzusammenhangs über. Nochmals:
Kann man nicht sagen: die Figur, die dir die Lösung zeigt, beseitigt eine Blindheit; oder auch, sie ändert deine Geometrie? Sie zeigt dir gleichsam eine neue Dimension des Raumes. (Wie wenn man einer Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigte.) (BGM 44)
Es gibt einen ›blinden Fleck‹ in der Komposition dieses Absatzes. Das entscheidende Bindeglied fehlt: Wittgenstein spart im Narrativ des Geduldspiels aus, wie es zur Lösung, wie es zur Beseitigung der Blindheit, wie es zur Änderung der Geometrie, wie es zur neuen Dimension des Raums und zum Ausbruch der Fliege aus dem Fliegenglas kommt. Er beschreibt Ausgangslage und Resultat. Die Antwort auf die Frage nach dem dazwischenliegenden Prozess, nach jener »Figur, die […] die Lösung zeigt« (BGM 44), bleibt Wittgenstein schuldig.
Hier setzen die epistemischen Motivkreise von Staunen als »stationäre[m] Zustand« (TS 232, 734)727 ein: Staunen ist der Moment, der den »blinde[n] Fleck« (BGM 44) erhellt und die Lösung des Geduldspiels, die neue ontologische Qualität, hervorbringt. Diese sich um dunkel und hell, um blind und sehend gruppierende Dichotomie ruft die Gehalte des in Kap. 8 Staunen und Aspektwechsel verhandelten Aspektwechsels hervor. Vermittelt über das Hase-Ente-Kippbild – von seiner strukturellen Anlage her eine Variation des Geduldspiels in den Bemerkungen –, habe ich dort zunächst das »stetige[] Sehen« (PU S. 520) als einen arretierten optischen Wahrnehmungsmodus vorgestellt und diesen im Lebensformkonzept aufgehen lassen. Man hat einen »blinden Fleck« (BGM 44) bei seinen Lösungsversuchen im Geduldspiel bzw. sieht beim Vexierbild entweder ›nur‹ den Hasen oder ›nur‹ die Ente. Mit Wittgenstein muss man jedoch »zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden« (PU S. 520). Kommt es zu einem Umschlagsmoment zwischen den beiden Positionen, spricht Wittgenstein von besagtem Aspektwechsel; und dieser »Wechsel ruft ein Staunen hervor« (PU S. 528), ihm »wesentlich [ist das] Staunen« (LS 565), es »ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung« (PU S. 522). Staunen ist der Moment, durch den der Ausweg aus der scheinbar ausweglosen Lage gelingt, die Fliege ihren Weg aus dem Fliegenglas findet und ein Mensch seine enkulturalisierte Lebensform überwindet.
Aber wie kommt es zu diesem Staunen? Probleme und Dissonanzen können neben der Möglichkeit des Hinzufügens von Wissensbeständen zu bereits bestehenden kognitiven Formationen durch Modi des externen Aufzeigens von Lösungsstrategien gelöst werden. Im vorliegenden Fall des Geduldspiels greift die erste Option nicht und die zweite ist nicht gegeben. Als dritter Modus Operandi ist es der Zufall, der den von Staunen begleiteten Weg aus Problemzusammenhängen und Dissonanzerleben weist. Für die Fliege im Fliegenglas benennt schon Krünitz diese Option in seiner eingangs angeführten Oeconomischen Encyclopädie: »Die Fliegen entdecken, vermöge ihres seinen Geruchs, diese Lockspeise gar bald, und der Eingang dazu wird ihnen sehr bequem, der glückliche Abzug aber ist ein bloßer Zufall [Herv. TH].«728 Auch in Wittgensteins Bemerkungen, im Text über das Geduldspiel und das Fliegenglas, wird der Zufall angesprochen: »[…] sondern man macht einfach alle andern Versuche, nur den nicht und die Stücke kommen auch durch Zufall [Herv. TH] nicht in diese Lage.« (BGM 44) Dass der Zufall im von Wittgenstein beschriebenen Geduldsspiel-Zusammenhang nicht die gewünschte Lösung erbringt, liegt an der Terminierung bzw. der diegetischen Grenzziehung des Aphorismus. Die Versuchsreihe ist nur bis zu einem bestimmten Punkt angesprochen, was im Umkehrschluss jedoch nicht bedeutet, dass weiterfolgende Versuchsanordnungen keine zufällige Lösung erbringen könnten. Da alle kognitiven Lösungsstrategien leerlaufen, bleibt allein der Zufall, das fortlaufende Versuchen und das Hoffen auf ein zufälliges Gelingen der Anordnung. Nicht von ungefähr ist Wittgensteins beispielgebendes Spiel ein Geduldspiel.
Im Werkkontext kommt dem Zufall erst auf den zweiten Blick eine bedeutsame Rolle zu: Zufall lässt sich über den Tractatus und den im Eröffnungsparagrafen ausgeführten »Fall« perspektivieren: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« (TLP 1) Einen Fall hat man sich mit Wittgenstein als Konglomerat aus Sachen und Dingen, als »Verbindung von Gegenständen« (TLP 2.01) zu denken. Wittgenstein nennt dies »Sachverhalt«. »Wenn das Ding [oder die Sache] im Sachverhalt vorkommen kann, so muß die Möglichkeit des Sachverhaltes im Ding [oder die Sache] bereits präjudiziert sein.« (TLP 2.012) »Wenn die Dinge in Sachverhalten vorkommen können, so muß dies schon in ihnen liegen.« (TLP 2.0121) Der Fall als Sachverhalt ist in seiner Gesamtheit demnach als Möglichkeitsraum zu denken.
Vor dem Hintergrund dieser analytischen Setzung ist der Zufall also eine unvorhergesehene Fallwerdung. Die Präfigierung von Fall zu Zufall zeigt es an: Etwas fällt jemandem zu, etwas wird jemandem ohne intentionales Zutun zum Fall. Durch die präjudizierte Veranlagung tritt in einem Sachverhalt etwas in Erscheinung, das als Potenzial bereits vorhanden war. Durch den willkürlichen Zufall wird die Welt willkürlich erweitert. Bezogen auf den Aspektwechsel heißt das: Das präjudizierte Hase-Ente-Bild wird von Staunen begleitet gesehen, es erscheint dem Betrachter bzw. der Betrachterin ohne Anwendung kausaler Strategien. Bezogen auf das Geduldspiel heißt das: Die präjudizierte Lösung wird von Staunen begleitet gefunden, sie fällt dem Akteur bzw. der Akteurin ohne kausale Strategieanwendung zu. Bezogen auf den durch seine enkulturalisierten Lebensformen determinierten Menschen heißt das: Die Limitationen der Lebensformen werden von Staunen begleitet durchbrochen, die »Grenzen [einer] Sprache«, die »Grenzen [einer] Welt« (TLP 5.6) sind überwunden, und es werden ohne kausale Strategieanwendung vormals präjudizierte Möglichkeitsräume ausgefüllt, ein Sachverhalt und der ›Welt‹-Begriff eines Menschen erweitert. Bezogen auf das Fliegenglas heißt das: Der präjudizierte Ausgang wird von der Fliege gefunden, er wird zum Fall, zu einer Erweiterung ihrer Welt. Die jeweilige Folge des Zufalls: »Die neue Lage ist wie aus dem Nichts entstanden. Dort, wo früher nichts war, dort ist jetzt auf einmal etwas.« (BGM 46) Und in anderer Wendung: »Unsere Welt erscheint ganz, ganz anders, wenn man sie mit anderen Möglichkeiten umgibt.« (UW S. 106)
16.4 Befreit! Zurück ins Glas!
Ich möchte diesen Gesichtspunkten noch von einer anderen Seite her begegnen, da sich die Frage aufdrängt, was außerhalb des Glases geschieht. Was passiert nach dem durch Zufall eingeleiteten und von Staunen begleiteten Befreiungsakt aus der gläsernen (Lebens-)Form? Dass es dieses ›Außerhalb‹ gibt, steht für Wittgenstein fest. Das Präteritum in folgender Sequenz aus den Untersuchungen markiert die Position eines Befreiten: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie [die Sprache, TH] schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.« (PU 115) Hier spricht jemand, der gefangen war und es nicht mehr ist. Die Limitation ist keine Gegenwart mehr, sie ist abgeschlossene Vergangenheit.
Auch auf die Beschaffenheit dieses ›Außerhalb‹ gibt Wittgenstein Antwort. Ich habe es bereits mit der Erinnerungsskizze seiner Schwester Hermine angesprochen. Nochmals:
Du [Hermine Wittgenstein, TH] erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält.729
Außerhalb der gläsernen, durchsichtigen Limitation, außerhalb des Fliegenglases finden sonderbare und unerklärliche (Denk-)Bewegungen statt. Das Subjekt ist sprichwörtlich aus dem Gleichgewicht geraten, eine erworbene und stabilisierte Lebensform hat sich aufgelöst. Der wütende Sturm zeigt es an: Außerhalb der Form kollabieren die Signifikantenketten, ist nichts am angestammten Platz; außerhalb der Form ist nur Platz für ›wilde Semiose‹.
Ausgehend vom Aphorismus: »Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen« (PU 309), ist das über Einsperrung (Abrichtung), Gefangenschaft (Lebensform) und Ausbruch (Staunen) aufgespannte Befreiungsnarrativ nun eigentlich an sein Ende gekommen. Wittgenstein will der Fliege ›nur‹ den Ausweg zeigen. Nicht mehr. Nicht weniger.
Da Wittgenstein Staunen terminiert und als »stationäre[n] Zustand« (TS 232, 734) denkt, kann dies jedoch nicht befriedigen. Wittgensteins Geschichte der ausgebrochenen Fliege ist an diesem Punkt nicht auserzählt; es bedarf einer ergänzenden Sequenz, denn im ›wütenden Sturm‹ kann man sich nur eine gewisse Zeit »mit Mühe auf den Beinen«730 bzw. im Flug halten. Mit anderen Worten: Kann eine Fliege ohne Unterbrechung fliegen, kann ein Mensch dauerhaft außerhalb von Lebensformen leben? Für Erstere bedeutete dies den sicheren Tod; für einen Menschen mündete das dauerhafte Agieren außerhalb von Lebensformen, Semiosphäre, von Sprechen, Denken und Handeln – ein Leben in dauerhafter Kontingenz, in permanentem Ausnahmezustand, ein fortwährendes Staunen – entweder in wahnhafte Pathologie oder ebenfalls in den Tod. Also: Wie sieht das von Wittgenstein ausgesparte Ende des Aphorismus aus?
So ernüchternd die Pointe des Befreiungsnarrativs der Fliege sein mag – der »Ausweg aus dem Fliegenglas« (PU 309) weist notwendigerweise in ein anderes Fliegenglas. Der Weg aus einer Gefangenschaft führt in die nächste Gefangenschaft. Ob dies ein Happy End ist? Vielmehr ist es ein notwendiges Ende. Die Vorzeichen von Wittgensteins sich um Lebensform gruppierender anthropologischer Setzung sowie die stationäre Situierung des staunenden Ausnahmezustands (vgl. TS 232, 734) lassen kein anderes Ende zu. Staunen ist ein Transitraum; nach der Lebensform ist vor der Lebensform. Die Fliege bzw. der Mensch folgt der durch das relative Staunen vorgezeichneten Prozesslogik von Staunen zu Entstaunen731. Über den einem Menschen wachsenden Löwenkopf habe ich diese als Verifikationsvorgang beschrieben, bei dem ein Ereignis neuerlich in ein »wissenschaftliches System« (VE S. 17) integriert bzw. ein neuer Syllogismus etabliert wird. Aus »Ich kenne mich nicht aus« (PU 123) wird ›Ich kenne mich wieder aus‹, hier nun in einem neuen »Sachverhalt« (TLP 2.01, s. o.). Orientierungslosigkeit weicht wiedergewonnener Orientierung auf der Grundlage von Sprache.
Wittgensteins Fliegenglas ist so verstanden also nicht nur Gefängnis. Es ist gleichsam auch Schutzraum vor ›draußen wütenden Stürmen‹732 sowie vor ins Pathologische reichender Kontingenz. Die Limitierungen von Lebensformen, ich hatte es über Pitkin angesprochen, ist gewiss einschränkend und bedeutet Unfreiheit; Lebensformen sind jedoch auch Voraussetzung für Orientierung, für Handlungs- und Planungssicherheit.
Mit diesem Sowohl-als-auch öffnet sich eine anthropogenetische Dimension. In den Höhlenausgängen bezeichnet Blumenberg diesen Sachverhalt als »Ambivalenz der Höhle«733 :
Rückzüge sind in der Geschichte der Menschheit als Bewegungsformen nicht weniger charakteristisch als Fortschritte. Aus den schrumpfenden Regenwäldern des Tertiär auf die wachsende Steppe vorzustoßen, die den Überlebensvorteil des aufrechten Gangs erlernen ließen, nötigte Umsicht nach neuen Zufluchten auf, die die Deckung des Waldes zu Schlaf und Aufzucht ersetzen konnten. Der Rückzug in die Höhle gab dem Fortschritt in die Weite der Savannen den Rückhalt, ermöglichte die Intermittenz von äußerster Anspannung aller Sinne im Jägerlebensraum und sorglosem Tiefschlaf als der symmetrisch zugehörigen Errungenschaft einer Gattung, die der ummauerten Seßhaftigkeit zustrebte.734
Mit Blumenberg gilt: kein Fortschritt ohne Rückschritt. Es braucht Schutzräume und die »Einkehr in eine Geborgenheit«735 für neuerliche Exploration einer sich sukzessiv erweiternden Welt. Ohne die »Behaglichkeit« eines bestehenden »theoretischen Geheges«736 können keine neuen entstehen. Das Gewöhnliche, Alltägliche und Etablierte – hier ganz wörtlich im Sinne von ›niederlassen‹ und ›einrichten‹ – dient als Ausgangs- und Absetzungspunkt für Anthropogenese. Die Behaglichkeit innerhalb des Schutzraums »ist es auch, die zu jenen Überbefestigungen und risikovergessenen Seßhaftigkeiten führt, wie sie schließlich die Unhaltbarkeit ihres Bestandes zur abrupten Nötigung werden lassen, das […] Paradigma zu wechseln, den switch zu riskieren«.737
Mit Wittgensteins Fliege im Fliegenglas, dem Menschen in seiner Lebensform und Blumenbergs Homo erectus und seiner Höhle lässt sich Staunen als Risikounternehmung, als Wagnis mit offenem Ausgang verstehen, an dessen Ende aufgrund von fehlendem Ertrag entweder die Rückkehr in eine bekannte Lebensform oder eben der Gewinn einer neuen, die Welt vergrößernden Lebensform steht. – Alte oder neue Lebensform, Schutzräume sind beide.
Krünitz 1788: 234 f.
Blumenberg 1996: 752.
Blumenberg 1996: 753.
Yorck von Wartenburg in Blumenberg 1996: 761.
Morgenstern in Blumenberg 1996: 762.
Cioran in Blumenberg 1996: 762.
Krünitz 1788: 235.
Lausberg 1960: 381.
Blumenberg 1996: 753.
Wittgenstein 2015: 158.
Vgl. u. a. Johannis, A. A., »Wittgenstein in Pitkin’s Republic«, in: Wittgenstein and Normative Inquiry, ed. by Mark Bevir and Andrius Gališanka, Leiden: Brill, 2016, p. 103–126; Pansardi, Pamela and Bindi, Marianna, »The new concepts of power? Power-over, power-to and power-with«, Journal of Political Power, 14 (2021), S. 51–71; sowie Abizadeh, Arash, »The Grammar of Social Power: Power-to, Power-with, Power-despite and Power-over«, in: Political Studies, 71 (2023), S. 3–19.
Vgl. Pitkin 1972: 116–139.
Ebd. 1972: 276 f.
Vgl. Kap. 6 Lebensform – Philosophie als Praxis.
Es ist auffallend, dass Wittgenstein das Bild des Fliegenglases für sein Anliegen folgenreich verkürzt: Er klammert den bereits schon bei Krünitz angesprochenen todbringenden Zweck der Falle aus (»sie bleiben also darin liegen, und ersaufen« [Krünitz 1788: 235]). Auch interpretativ anhand anderer Werkgruppen und Versatzstücke ist diese Verkürzung nicht aufzulösen. Mit dieser Entscheidung entzieht sich Wittgenstein der Frage, welche Folgen für ein Subjekt zu erwarten seien, wenn es dauerhaft in einer gleichbleibenden Lebensform lebt.
Vgl. Kap. 8 Staunen und Aspektwechsel.
Krünitz 1788: 235.
Wittgenstein 2015: 158.
Wittgenstein 2015: 158.
Vgl. Kap. 9.2 Relatives Staunen.
Vgl. Wittgenstein 2015: 158.
Blumenberg 1996: 799.
Ebd. 805.
Ebd. 57.
Ebd. 62.
Ebd.